Читать книгу Ganz oder gar nicht! - Jennifer Weise - Страница 1
Auf der Flucht
ОглавлениеDie Straße war menschenleer, sonst wäre die junge Frau in ihrem weißen Kleid oder vielmehr dem, was von dem einstmals vermutlich schönen, weißen Kleid übrig war, sicherlich sofort hervorgestochen. Aber die paar Wagen, die hier vorbeifuhren hielten sich nicht an irgendwelche Geschwindigkeitsbegrenzungen und so fiel sie wohl auch niemandem auf.
Es war schon ein eigenartiges Bild wie diese Frau in ihrem zerrissenen, dreckigen Kleid zielstrebig entlang schritt. War das etwa getrocknetes Blut auf ihrem Kleid? Bei genauerem Hinsehen fiel auch die Platzwunde an ihrer Stirn auf. Das Blut lief ihr quer übers Gesicht, doch entweder ignorierte sie es oder aber sie bemerkte es gar nicht. Ihr Blick war starr, keine Gefühlsregung zu erkennen, doch ein genauer Blick in ihre Augen genügte und man erkannte blanke Angst und Entsetzen.
Nach einer Weile betrat sie ein Grundstück. Statt den direkten gepflasterten Weg zu wählen, ging sie quer über den Rasen zur Hintertür des Hauses. Sie schien sich hier auszukennen, zumindest ihr zielstrebiger Gang und dass sie sich nicht einmal genauer umsah ließen darauf schließen.
Ron und Benedikt saßen im Wohnzimmer, als es klopfte. Fragend sah Ron Benedikt an, doch dieser zuckte nur mit den Achseln und ging dann zur Hintertür, die er vorsichtig öffnete. Erstaunt sah er auf die blutverschmierte Frau. Sie stammelte irgendetwas von Hilfe, Benedikt verstand nicht wirklich, doch er kam nicht dazu nachzufragen. In dem Moment, als die Fremde zusammenbrach, reagierte er augenblicklich, fing sie auf und trug sie ins Haus - nicht ohne sich vorher davon zu überzeugen, dass sie niemand beobachtete.
„Was geht denn jetzt ab?“ wollte Ron wissen, als sein Kollege mit einer bewusstlosen Frau, die allem Anschein nach verletzt war, auf den Armen ins Wohnzimmer kam.
„Ich hab keine Ahnung“, erwiderte der, während er sie auf dem Sofa ablegte.
„Hat sie was gesagt?“ wollte Ron wissen, gleichzeitig reichte er Benedikt den Verbandskasten.
„Irgendwas von wegen sie braucht Hilfe.“
„Das seh’ ich selbst.“
„Nein“, flüsterte die Fremde.
Dann schlug die Frau die Augen auf und bemerkte, dass sie auf einem Sofa lag. Der Mann, der ihr geöffnet hatte, kniete vor ihr und tupfte ihre Stirn ab.
„Na, junge Frau, wieder da?“ begrüßte er sie ohne dabei mit seiner Arbeit inne zu halten.
„Was `nein`?“ wandte der Andere sich an die Unbekannte.
Sie sah zu dem Mann rüber, er saß seitlich von ihr auf einem Sessel. Selbst im Sitzen war seine Größe unverkennbar. Er trug sein blondes Haar sehr kurz und der Anzug sah adrett aus.
„Ich bin hier, um Ihnen zu helfen“, eröffnete sie den beiden.
Ron und Benedikt tauschten vielsagende Blicke aus.
„Sie haben sich wohl ziemlich heftig den Kopf angestoßen“, mutmaßte Benedikt, während er ihr ein Pflaster auf die Stirn klebte.
„Kennen Sie eine Frau im mittleren Alter, lange blonde Haare, blaue Augen, Schmetterlingstätowierung auf dem Schulterblatt?“ fuhr sie unbeirrt fort.
Kurz darauf richtete Ron eine Waffe auf sie.
„Was hast du mit Annas Tod zu tun?“
Erschrocken sah sie ihn an, die Waffe in seiner Hand machte ihr Angst und sie brachte keinen Ton mehr heraus.
„Nun rede schon!“ befahl Ron.
Sie öffnete ihren Mund, doch durch seinen Revolver konnte sie keinen klaren Gedanken fassen.
„Ron, steck die Waffe weg!“ forderte Benedikt ihn auf.
Fragend sah Ron seinen Kollegen an.
„Siehst du nicht, wie blass sie geworden ist, als du sie bedroht hast? So kriegst du bestimmt nichts aus ihr raus!“
„Meinst du, du kannst es besser?“
Wieder ein kurzer Blickkontakt zwischen den Männern, schließlich legte Ron seine Waffe zur Seite. Benedikt setzte sich zu ihr.
„Besser?“ fragte er nur.
Sie nickte.
„Ja, danke“, flüsterte sie kaum hörbar.
„Was wissen Sie über Anna?“ wollte Benedikt von ihr wissen.
Sie griff in ihren Ausschnitt. Sofort griff Ron erneut nach seiner Waffe.
„Ron!“
Dieses eine Wort und ein scharfer Blick genügten, um Ron von dem, was er gerade tun wollte, abzuhalten.
Auffordernd sah Benedikt ihren ungebetenen Gast an.
Die Frau zog eine kleine memory card aus ihrem BH und reichte sie Benedikt mit den Worten:
„Die hat sie mir gegeben.“
Benedikt nahm die Karte an sich und ging wortlos zum Schreibtisch.
„Warum sollte sie dir was gegeben haben? Benedikt, das ist eine Falle! Da ist bestimmt ein Virus drauf!“ warnte Ron seinen Kollegen.
„Sieh dir das an!“ Benedikt klang erstaunt. Sofort ging Ron zu ihm.
„Wer sind Sie?“ wandte Benedikt sich interessiert an die Frau.
„Eigentlich niemand.“
„Eigentlich? Wie soll ich das versteh`n?“
„Ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
„Erklären Sie mir das!“ forderte Benedikt sie auf, nachdem er sich wieder zu ihr auf die Couch gesetzt hatte.
„Ich war in einem Club und dort sah ich Anna zum ersten und letzten Mal.“
„Was für ein Club?“
„Der heißt `Chez Fabienne` oder so ähnlich…“
„Der Homoclub?“ fiel Ron ihr ins Wort.
„Es ist ein Club, in den alle gehen können, aber in erster Linie findet man dort gleichgeschlechtliche Partner.“
Benedikts erstaunter Blick blieb ihr nicht verborgen.
„Du willst mir doch nicht weis machen, dass Anna in so einem Club gewesen sein soll!“ machte Ron sie unfreundlich an.
Bei seinem Tonfall zuckte die Fremde zusammen.
„Erzählen Sie bitte weiter!“ forderte Benedikt.
„Ich saß am Tresen, als Anna den Club betrat. Ihr knallrotes Kleid fiel einfach auf. Sie guckte sich kurz im Raum um und kam dann direkt auf mich zu.“
„Jetzt willst du uns wohl auftischen, dass sie dich angegraben hätte!“
Rons Misstrauen war unverkennbar, er glaubte ihr kein Wort. Sie sah Benedikt an und glaubte in seinem Blick zumindest Neugierde zu erkennen, also fuhr sie fort:
„Sie forderte mich zum Tanzen auf, also ging ich mit ihr auf die Tanzfläche. Es war irgendwie merkwürdig, denn sie sagte kein Wort, ihr Blick war zum Boden gerichtet. Schließlich bat ich sie, mich anzusehen. Anna sah zu mir auf und ich erkannte Tränen in ihren Augen.“
„Was geschah dann?“ wollte Ron nun doch wissen.
„Sie legte ihre Hand auf meine Brust und forderte: `Vernichte das!` Danach brach sie zusammen. Dann entstand ein ziemliches Gewusel, eine Menge Leute standen um uns herum. Ich verzog mich in die Menge der Gaffenden. Dann kamen einige Männer. Zwei von ihnen trugen sie raus, die Restlichen begannen die Gäste auszufragen. Da hab ich mich durch ein Toilettenfenster davon geschlichen. Dabei ist mir auch mein Kleid zerrissen.“
„Du trägst dieses Kleid seit dem Vorfall?“ fragte Ron erstaunt.
„Wie lange ist das her?“ hakte Benedikt nach.
„Ich schätze etwa 48 Stunden.“
„Was ist seit dem geschehen? Und wie sind Sie hierhergekommen?“
„Könnte ich ein Glas Wasser haben?“ bat die Frau ohne auf Benedikts Fragen zu antworten.
„Sicher“, meinte er und stand auch schon auf. Plötzlich blieb er stehen.
„Haben Sie auch Hunger?“
Sie nickte, ihre Unsicherheit war deutlich zu spüren.
„Was hat Anna dir gegeben?“
„Was?“ fragend sah sie Ron an, der sich an sie gewendet hatte.
„Wenn sie wollte, dass du etwas vernichtest, dann muss sie es dir wohl vorher gegeben haben.“
Das klang abfällig, als würde er mit einem kleinen, dummen Kind reden, doch sie ignorierte seinen Tonfall.
„Sie ließ mir die Karte, die ich Ihnen gegeben hab, in den Ausschnitt fallen.“
„Und warum hast du sie nicht vernichtet?“
Ron blieb misstrauisch.
„Da fiel eine Frau mitten auf der Tanzfläche einfach um, worauf da merkwürdige Gestalten auftauchten und alle befragten. Als ich in meine Wohnung wollte, sah ich von der Straße, das Licht brannte und sich dort Fremde aufhielten. Für mich sahen die genauso aus, wie die Typen in dem Club.“
„Vielleicht die Polizei?“
Wieder einmal merkte sie, dass Ron ihre Worte nicht ernst nahm.
„Ich wollte zur Polizei gehen.“
„Und warum hast du´s doch nicht getan?“
„Zwei von ihnen standen vor dem Hauseingang und unterhielten sich. Den Wortfetzen nach musste es um eine größere Sache gehen. Zumindest war meine Neugierde geweckt.“
„Neugierde? Komm schon, sag endlich die Wahrheit! Nach deiner Angst, als ich die Waffe auf dich gerichtet hab, nimmt dir das kein Mensch ab!“
Benedikt kam zurück. Höflich bedankte die Frau sich für Essen und Trinken.
„Was nimmt ihr keiner ab?“ fragte Benedikt seinen Kollegen.
Bereitwillig wiederholte Ron was die Fremde berichtet hatte. Nachdem er geendet hatte, sah Benedikt sie stirnrunzelnd an.
„Wer sind Sie?“
„Da stirbt angeblich eine junge Frau einfach so und nichts kommt in den Nachrichten, nicht mal eine Todesmeldung…“
„Wer bist du?“ unterbrach Ron sie.
Beide Männer sahen ihren Gast scharf an, sie erwarteten eine Antwort, doch die Dame versuchte erneut auszuweichen.
„Ich will Ihnen doch bloß helfen…“
„Jetzt reicht`s!“
Ron war aufgesprungen und ging wutentbrannt auf sie zu. Direkt vor ihr blieb er stehen.
„Zwing mich nicht noch mal nachzufragen!“ drohte er ihr.
Ihre Gedanken überschlugen sich. Was würde geschehen, wenn die Männer wüssten, wer sie ist, bevor sie alles sagen konnte? Würden die Herren ihr überhaupt noch zuhören?
Aus den Augenwinkeln sah sie wie Benedikt seine Hand hob, daraufhin setzte Ron sich auf den Sessel zurück. Sie stand auf, ging zum Fenster und sah hinaus.
„Bitte hören Sie mich zu Ende an!“
„Was…“
Benedikt fiel seinem Kollegen ins Wort:
„Wovor haben Sie Angst?“ fragte er weich.
Sie fühlte sich durchschaut, denn er hatte Recht, sie hatte Angst, so große Angst wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
„Sie werden mir nicht glauben…“
„Warum ist das so wichtig für Sie?“ hakte Benedikt nach, als die Frau verstummte.
„…diese Männer, sie werden mich… ich habe einiges auf der Karte entschlüsselt und gelesen…“
„Die wissen, wer du bist?“ vermutete Ron.
Sie nickte.
„…und sie wissen, dass ich sie belauscht habe.“
„Wegen Anna?“
Erneut nickte die Fremde nur.
„So wie es aussieht, stecken Sie in Schwierigkeiten und brauchen unsere Hilfe“, stellte Benedikt fest.
„Aber ich kann auch Ihnen helfen, Ihr Leben retten.“
Mit diesen Worten hatte sie sich umgedreht und sah Benedikt in die Augen. Es waren große, rehbraune Augen, die auf einmal sanft guckten. Wohin war die Härte verschwunden, die sie vorher bemerkt hatte? Sie erlaubte sich, auch diesen Mann genauer zu betrachten. Auch er war nicht gerade klein, aber wesentlich breiter gebaut als sein Kollege und unter dem Stoff seines Hemdes konnte man seine Muskeln erahnen.
„Warum willst du uns nicht verraten, wer du bist?“
Ihr Blick wanderte zu Ron, auch er hatte mittlerweile die Jacke seines Anzuges abgelegt und die Hemdsärmel hochgekrempelt. Kein Wunder, schon seit Tagen war es außergewöhnlich warm.
Als sie nicht antwortete, stand Benedikt auf und kam direkt auf sie zu.
„Wir haben keine Zeit für irgendwelche Spielchen!“
Nein, Zeit hatten sie wirklich nicht. Als dieser fremde Mann dicht vor der Fremden stehen blieb und sie auffordernd ansah, trat sie unwillkürlich einen Schritt zurück und stieß dabei mit ihrer Hüfte gegen die Fensterbank. Augenblicklich sank sie zusammen. Sie biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Auf einmal wurde sie gepackt und wieder hochgezogen, es war das Geräusch von zerreißendem Stoff zu hören und sie registrierte, dass es ihr Kleid war, das der Fremde zerrissen hatte. Beide Männer erkannten die leicht violette Verfärbung auf ihrer Haut.
Sofort sprang Ron auf:
„Ich hol` was zum Kühlen.“
„Setzen Sie sich hin!“ forderte Benedikt und drückte die Frau in Richtung Couch.
„Jessica Barnes“, presste sie schließlich hervor.
„Scheiße!“ war alles was Benedikt von sich gab.
„Was?“ Ron gab ihr einen Eisbeutel, den sie sich auf ihre Hüfte legte.
Benedikt sah seinen Kollegen an.
„Jessica Barnes“, meinte er dann tonlos.
„Und?“ Ron verstand nicht, was seinen Kollegen störte.
„Miss Barnes, würden Sie meinem Kollegen verraten, was Sie beruflich machen.“
Das war definitiv keine Bitte.
„Ich bin Schriftstellerin.“
„Keine Spielchen!“ schrie dieser Benedikt plötzlich.
Die ganze Zeit war er so ruhig gewesen und nun das. Vor Schreck zuckte Jessica zusammen.
„Gehen Sie!“ forderte er sie schließlich auf.
„Was ist denn los?“ fragte Ron erstaunt.
„Halten Sie uns nicht für blöd, Miss Barnes! Sich bei uns einschleichen, um einen Exklusivbericht zu bringen und dann auf der Karriereleiter ein Stückchen nach oben zu klettern, das ist alles was Sie wollen! Raus!“
Jessica Barnes stand auf und ging langsam rückwärts, dieser Fremde verunsicherte sie, aber er war auch ihre einzige Chance. Wen sonst hätte sie um Hilfe bitten können? Wer, wenn nicht diese beiden Männer, könnte ihr ihr Leben zurückgeben? Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, sah auf ihre Armbanduhr und schrie Benedikt an:
„Sie haben noch genau vier Stunden und sechsundvierzig Minuten Zeit, dann werden diese Typen Sie hochnehmen und erledigen. Wie wollen Sie dann An…“
„Raus!“
Dieser Benedikt war völlig unbeeindruckt von ihren Worten.
Aus einem Impuls heraus blieb sie jedoch im Flur stehen, ihr war klar, dass sie diese Männer überzeugen musste, sie konnte nicht einfach gehen. Alleine war sie absolut machtlos gegen diese Typen.
„Wäre ich doch bloß nicht so neugierig gewesen! Aber was hätte das schon geändert? Ich hätte gar nicht gewusst, mit wem ich es zu tun habe und sie hätten mich wahrscheinlich sofort eliminiert“, waren ihre stummen Gedanken.
„Nehmen Sie Ihre Waffe!“ forderte sie Ron unerwartet auf.
„Was?“
Verdutzt sahen beide Männer sie an.
„Wenn Sie mich wieder raus schicken wollen, können Sie es auch gleich selbst beenden! Ich hab seit Ewigkeiten nicht mehr geschlafen und ich hab keine Ahnung wie ich hier wieder rauskommen soll, aber ohne Sie hab ich keine Chance, also bringen Sie`s einfach gleich zu Ende und erschießen Sie mich!“
Die Männer wechselten einen Blick, blieben jedoch stumm.
„Ich kann nicht mehr!“ gab die Fremde auf einmal offen zu und glitt langsam an der Wand entlang auf den Fußboden, wo sie hemmungslos zu weinen anfing.
„Benedikt, wir können sie nicht gehen lassen!“
Es war das erste Mal, dass Ron etwas gegen Benedikts Entscheidung sagte.
„Lass dich von ein paar Tränen nicht in die Irre führen, Ron! Sie will doch bloß eine Story!“ regte Benedikt sich auf.
Ron kniete sich vor ihr hin und legte vertrauensvoll seine Hand auf ihre Schulter.
„Ganz ehrlich, Jessica, bist du auf der Suche nach einer guten Geschichte?“
Sie sah in zwei blaue Augen, zum ersten Mal wurde Jessica hier mit ihrem Namen angesprochen, das gab ihr ein Gefühl von Sicherheit.
„Normalerweise bin ich immer auf der Suche nach einer interessanten Story, aber das hier ist was anderes. Ich schreibe keine Spionagethriller…“
„Dafür reißerische Zeitungsberichte“, fiel Benedikt ihr ins Wort.
Sie schüttelte den Kopf.
„Ich arbeite schon seit einigen Jahren nicht mehr bei der Zeitung.“
„Das erklärt, dass mir dein Name nichts sagt.“
„Wären Sie Schriftstellerin, würde ich sicher einen Roman von Ihnen kennen, Ihr Name wäre mir sofort aufgefallen“, warf Benedikt abfällig ein.
Das konnte sie ihm nicht verübeln. Ihre Arbeit als Journalistin war nicht unbedingt beispielhaft gewesen, sie war damals so sehr im Sog des Erfolges, dass ihr jedes Mittel recht war, um an eine gute Story zu kommen, völlig egal, ob sie den Tatsachen entsprach.
„Wenn du willst, dass wir dir helfen, musst du ehrlich sein, Jessica!“
Die Fremde sah Ron an, der noch immer vor ihr kniete. Mit dem Handrücken wischte sie sich einige Tränen vom Gesicht, da reichte Ron ihr ein Taschentuch.
„Schon mal was von Stephanie Freston gehört?“ fragte sie nicht ohne dabei rot zu werden.
„Sie sind…“, verwundert sah Ron sie an, das beantwortete ihre Frage.
„Reden Sie endlich Klartext!“ schrie Benedikt sie an.
„Das hat sie gerade. - Warte mal!“ forderte Ron und verließ dann das Zimmer.
Kurz darauf kam er wieder und drückte seinem Kollegen ein Taschenbuch in die Hand.
„Ooh, Ron! Nicht eins von deinen…“
Benedikt hielt inne, sein Kollege hatte auf den Namen der Autorin getippt, dort stand `Stephanie Freston`.
„Das haben Sie…“
„Glauben Sie wirklich ich würde so was unter meinem richtigen Namen veröffentlichen?“ gab sie zurück.
„Warum schreiben Sie so einen Müll, wenn Sie gutes Geld als Journalistin machen können?“ Benedikt war weiterhin misstrauisch.
„Du solltest das mal lesen, Ben, ist echt gut!“
Benedikt schlug wahllos eine Seite auf und las laut:
„…stürmisch öffnete Kyle ihr Kleid. Die fremde Frau stand lediglich mit einem knappen Slip bekleidet vor ihm. Er konnte nicht anders, als ihr unverhohlen auf die wohlgeformten, prallen Brüste zu starren…“
Jessica war das peinlich. Wegen Gewissensbissen hatte sie mit dem Journalismus aufgehört und begonnen Romane zu schreiben, aber leider keinen Verlag gefunden, der bereit war, ihre Manuskripte zu verlegen. Also musste sie einen Weg finden, ihre Miete zu bezahlen und auch sonst genügend Geld fürs Alltägliche zu verdienen. Stolz war sie auf diese verruchten Liebesgeschichten nicht, aber sie gingen ihr leicht von der Hand, sie verdiente ausreichend und hatte nebenher noch genug Zeit, sich dem Schreiben ihrer bevorzugten Richtung zu widmen. Das waren zwar auch Liebesromane, allerdings ohne erotische Abenteuer, aus denen dieses Buch, das Benedikt noch immer in den Händen hielt, fast ausschließlich bestand.
Jessica hatte keine Lust, sich vor diesen Fremden zu rechtfertigen, also meinte sie schließlich etwas arrogant:
„Prüfen Sie´s doch einfach nach! Das sollte ein Mann wie Sie doch wohl können!“
Benedikts scharfer Blick entging ihr nicht, zu ihrem Erstaunen tat er dann allerdings genau das.
„Setz’ dich wieder auf die Couch!“ forderte Ron Jessica auf.
„Jetzt sind es noch vier Stunden und zweiunddreißig Minuten“, erinnerte sie mit einem Blick auf die Uhr.
„Was passiert in viereinhalb Stunden?“ ging Ron endlich auf das ein, was sie sagte.
„Die Typen werden hier auftauchen und…“
„Die kennen dieses Versteck? Hast du uns etwa verraten?“
„Nein, aber…“
Wieder baute der Mann sich drohend vor ihr auf, gerade als er loslegen wollte, fuhr sie ihm ins Wort:
„Wenn Sie mir endlich mal zuhören würden, statt mich dauernd zu bedrohen, dann könnten Sie…“
„Willst du mir jetzt vorschreiben, wie ich meine Arbeit zu machen hab?“
„Ich will, dass Sie mir zuhören, sonst könnte es zu spät…“
„Ihre Angaben stimmen“, mit einem verwunderten Gesichtsausdruck kam Benedikt wieder in den Flur.
„Was haben Sie denn erwartet? Glauben Sie, ich komme in Ihr Versteck und nachdem Sie mich mehrfach bedroht haben, erzähl` ich Ihnen dann auch noch was vom Pferd…“
Sie schrie diese fremden Männer tatsächlich an. Das dürfte ihnen sicher nicht gefallen, und Jessica wollte sie auf keinen Fall verärgern, denn sie war auf ihre Hilfe angewiesen. Trotzdem fauchte sie weiter. Jessica hatte längst keine Ahnung mehr, was sie den beiden an den Kopf warf, sie hörte einfach nicht auf. Erst eine schallende Ohrfeige ließ die Frau verstummen.
Mit großen Augen sah sie Ron, der sie zur Vernunft gebracht hatte, an.
„Okay, Jessica, du hast eine Menge mitgemacht, aber jetzt musst du dich wieder beruhigen.“
„Helfen Sie mir?“ diese Frage glich einem Flüstern, sie legte all ihre Hoffnung in Rons Antwort und sah ihn flehentlich an.
Der Mann nickte nur.
„Ron, du kannst doch nicht…“
Ron sah seinen Partner an.
„Du hast selbst gesagt, dass ihre Angaben stimmen. Dann die Verletzungen, ihre Ohnmacht, der hysterische Anfall… Wir können sie in dem Zustand nicht alleine lassen!“
„Warum sind Sie nicht zur Polizei gegangen?“ wandte sich Benedikt an Jessica, er war noch immer nicht bereit ihr zu helfen.
„Ich war in der Datenbank der Polizei und…“
„Du warst was?“ Ron war mehr als erstaunt.
„Journalistin halt, was hast du da erwartet, Ron?“
„Es gibt dort keine Meldung von Anna.“
„Was meinen Sie damit?“
„Es gab in jener Nacht keine Tote, weder als natürlicher noch als unnatürlicher Tod.“
„Bist du sicher?“
Nickend redete sie weiter:
„Auch keine Verletzte in irgendeiner Klinik, die auf Annas Beschreibung passen könnte. Dann erst habe ich mir diese Speicherkarte genauer angesehen.“
„Das heißt dann, Anna könnte noch am Leben sein“, mutmaßte Benedikt.
„Warum hast du das nicht gleich gesagt?“ fuhr Ron sie an.
Wieder zuckte Jessica zusammen.
„Das versuch’ ich doch die ganze Zeit“, erwiderte sie mit kippender Stimme.
Da wollte sie von zwei Männern Schutz und Hilfe, die sie in einer Tour bedrohten und ihr Angst einjagten. Was machte das für einen Sinn?
„Kannst du nicht einfach berichten, was vorgefallen ist?“ fragte Ron etwas versöhnlicher.
„Nein.“
Fragend sahen beide Männer sie an.
„Ich hab mit so was nicht jeden Tag zu tun, so wie Sie. Für mich ist das alles neu und erschreckend“, versuchte sie zu erklären.
„Und dennoch sind Sie hier.“
Jessica sah Benedikt an, er hatte sich mittlerweile gegen die Wand im Flur gelehnt, in dem Jessica noch immer saß.
„Wie meinst du das, Ben?“ fragte Ron seinen Kollegen.
„Jeder normale Mensch wäre zur Polizei gegangen“, erwiderte er überzeugt.
Das leuchtete auch Ron ein.
„Warum warst du nicht bei der Polizei?“ wurde sie zum wiederholten Male gefragt.
Beide Männer sahen Jessica durchdringend an, sie würden keine Ausflüchte dulden.
„Versprechen Sie, mir zu helfen?“ hakte sie besorgt nach.
Rons Gesichtsausdruck veränderte sich erneut, er war unverkennbar sauer. Zu ihrer Überraschung kam Benedikt ihm aber zuvor:
„Ja“, war seine knappe Antwort und sein Tonfall ließ keinen Zweifel offen, dieser Mann würde zu seinem Wort stehen.
Keine Stunde später saß Jessica Barnes auf der Vorderbank eines alten Pickups, Benedikt setzte sich neben sie hinters Steuer. Als sich Ron auf die andere Seite neben die Frau zwängte, wurde sie zwischen den beiden Fremden ziemlich eingequetscht. Keiner verlor ein Wort über diese beengte Situation. Benedikt gab Gas, als sie auf der Autobahn waren, forderte er:
„Legen Sie los, Miss Barnes!“
Darauf hatte sie gewartet. Nachdem die Männer sich beide dazu entschlossen hatten, ihr zu helfen, begannen sie zu packen. Sie schienen ihr zu glauben, dass ihr Versteck entdeckt worden war und hielten es für richtig, diesen Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
„Sie wollten wissen, warum ich nicht zur Polizei gegangen bin?“ begann Jessica.
Sie erwartete keine Antwort auf diese eher rhetorische Frage. Zu ihrer Verwunderung erwiderte Ron jedoch:
„Von Anfang an.“
„Was?“
„Das wird eine lange Fahrt, Miss Barnes, also erzählen Sie uns genau, was passiert ist.“
Also legte sie los:
„Ich ging am Samstagabend in diesen Club…“
„Allein?“
„Ja, ich war allein.“
„Warst du mit irgendjemandem verabredet?“
„Nein, ich…“
„Was hast du da…“
„Ron, lass sie einfach erzählen!“ forderte Benedikt, woraufhin Ron verstummte.
„Also, ich ging allein in diesen Club und setzte mich an die Bar. Das muss so gegen neun Uhr abends gewesen sein. Ich trank ein oder zwei alkoholfreie Cocktails und beobachtete die Leute. Es war nicht viel los und auch nicht sehr interessant. Dann betrat diese kleine Frau in einem knallroten Kleid den Club. Sie sah sich genau um, bevor sie zielstrebig auf mich zukam.
„Ist hier noch frei?“ fragte sie und setzte sich auf den Barhocker neben mich.
„Hi! Ich bin Anna!“
„Jessica.“
„Bist du auch zum ersten Mal hier?“
Ich nickte nur, dann fragte ich:
„Sieht man mir das an?“
Anna lächelte mich eigenartig an, bevor sie sich einen Whisky bestellte.
„Möchtest du auch einen?“ bot sie mir an.
„Nein, das ist mir zu heftig.“
„Trinkst du gar keinen Alkohol?“
„Muss ich das?“ gab ich giftig zurück.
Anna hob beide Hände.
„Das sollte kein Vorwurf sein, Jess. Ich darf dich doch Jess nennen, oder?“
Ihr Blick irritierte mich, diese Frau sah mich an, als würde sie genau abschätzen wer ich bin.
Statt einer Antwort griff ich nach meinem Glas und nahm einen kräftigen Zug.
„Hast du Lust zu tanzen?“
Erschrocken drehte ich mich um und sah die Frau hinter mir an. Sie war mindestens doppelt so alt wie ich und sah eher ungepflegt aus.
„Das ist meine!“ mischte Anna sich ein und schickte die Fremde weg.
„Danke!“ sagte ich erleichtert.
„Was machst du hier?“ wollte sie wissen.
„Wie meinst du das?“
„Du siehst nicht so aus, als wolltest du eine Frau aufreißen!“ stellte Anna fest.
Unwillkürlich musste ich lächeln. Diese Anna war mir sympathisch und ich fasste sofort Vertrauen.
„Mir gefällt eher so was!“ erwiderte ich und zeigte in eine der hinteren Ecken.
„Meinst du…“
„Könnten Sie sich auf das Wesentliche beschränken?“
„Bitte?“ erstaunt sah Jessica zu Benedikt.
„Heben Sie sich irgendwelche sexuellen Vorlieben für Ihre Romane auf!“ forderte Benedikt.
Wieder mal klang es abfällig.
„Ich fand’s interessant!“ Ron grinste breit.
Jessica beschloss nicht weiter darauf einzugehen.
„Wie Sie wollen. - Anna und ich unterhielten uns angeregt, als sie dann verstummte, folgte ich Ihrem Blick. Er ging in Richtung eines Außenfensters, ich konnte jedoch nichts erkennen.“
„Stimmt was nicht?“ fragte ich sie schließlich.
„Komm, tanz’ mit mir!“ forderte sie mich auf.
Verdutzt sah ich sie an.
„Bitte, Jess, tu’s einfach!“
Also gingen wir auf die Tanzfläche. Anfangs hatte Anna geredet wie ein Wasserfall, doch nun war sie verstummt und sah zu Boden.
„Sieh mich an!“
Als sie nicht reagierte, versuchte ich es erneut.
„Anna, ich bitte dich!“
Endlich blickte sie auf und zu meiner Verwunderung sah ich Tränen über ihre Wangen laufen.
„Was ist los?“
Anna sah mich an und schüttelte den Kopf.
„Du kannst mir vertrauen!“ versuchte ich es erneut.
Doch ihr Blick ging an mir vorbei in Richtung Ausgang. Plötzlich wurde Anna blass. Sie nahm ihre Hand von meiner Hüfte, um sie kurz darauf auf meine Brust zu legen. Sie lehnte sich dicht an mich und ich beugte mich zu ihr runter. Ich spürte wie etwas in meinen BH fiel, Annas Mund war dicht an meinem Ohr. Sie zuckte kurz zusammen, bevor sie langsam zu Boden glitt. Sofort bildete sich eine riesige Menge Schaulustiger. Mir war gar nicht aufgefallen, wie voll es mittlerweile geworden war.“
Jessica rieb sich die Augen, als wollte sie damit das Geschehene einfach wegwischen.
Als sie innehielt, wollte Benedikt wissen:
„Was hat Anna gesagt?“
„Ich habe leider nicht jedes Wort genau verstanden, aber die letzten beiden Worte waren mehr als deutlich. Sie forderte: ‚Keine Polizei!’“
„Was wollte Anna überhaupt in diesem Schuppen?“ überlegte Ron laut.
„Ich frag’ mich eher, wer dort auftauchte.“
„Wieso?“
„Anna hat noch nie jemand Unbeteiligten in irgendwas mit reingezogen, das passt nicht zu ihr.“
Ron dachte einen Moment nach, dann stimmte er seinem Kollegen zu:
„Sie muss schon mächtig in der Scheiße gesteckt haben.“
Nach einer kurzen Stille forderte Benedikt:
„Reden sie weiter, Miss Barnes!“
„Jessica?“
Ron sah neben sich, ihm fiel auf, dass die junge Frau neben ihm eingeschlafen war.
„Sie muss vollkommen erschöpft sein“, stellte Benedikt fest.
„Lassen wir sie erstmal schlafen?“
Benedikt nickte.
„Ich schätze, wir haben ihr Unrecht getan“, erkannte Ron, nachdem er einen Arm um Jessica gelegt hatte, damit sie sich an ihn lehnen konnte und es damit bequemer hatte.
„Sie hätte ja auch gleich sagen können, dass sie auf Annas Anweisung zu uns kam“, zeterte Benedikt ungehalten.
„Ich glaube nicht, dass Anna sie zu uns geschickt hat.“
„Wieso ist sie sonst bei uns aufgetaucht?“
„Jessica hat sich diese Speicherkarte angesehen, darauf ist unser Versteck genauestens beschrieben.“
„Und?“
„Sie hatte doch gar keine andere Wahl, als uns zu suchen, wenn sie auf Anna hören wollte.“
„Jeder andere wäre zur Polizei gegangen“, Benedikt war noch immer nicht überzeugt.
„Zu unserem Glück hat sie das nicht getan.“
„Dann hätten wir sie jetzt nicht am Hals!“
„Klar, dafür aber in knapp zwei Stunden Ducks Leute in unserem Versteck.“
„Ron, ich würde dieser Frau nicht alles glauben!“
„Ich glaube nicht, dass sie lügt.“
„Du bist doch bloß geblendet, weil sie so nen Schund schreibt!“
Zur Bekräftigung seiner Worte schlug Benedikt mit der Hand auf das Lenkrad.
Als Ron nichts erwiderte, fuhr er fort:
„Falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du hältst da gerade eine Lesbe in deinen Armen!“ Benedikt spuckte diese Worte geradezu verächtlich aus.
Ron sah seinen Partner an.
„Ach, das ist also dein Problem!“
Diesmal war es Benedikt, der stumm blieb. Hatte Ron etwa ins Schwarze getroffen?
„Obwohl ich mir das überhaupt nicht vorstellen kann.“
„Was?“ brummte Benedikt.
„So wie sie über Sex schreibt, und ich meine den Sex zwischen Mann und Frau, passt das einfach nicht zusammen.“
Benedikt erwiderte darauf nichts.
„Ich sollte mal nachsehen, was sie noch so veröffentlicht hat. Könnte interessant werden.“
Ron glaubte nicht daran, dass jemand, der so schrieb, lesbisch sein konnte. Vielleicht stand diese Frau auf beide Geschlechter? Als Ron weiter an den Inhalt des Romans der jungen Frau, die noch immer dicht an ihn gelehnt saß, dachte, merkte er, wie sich etwas in seiner Hose rührte.
‚Ron, lenk dich ab!’ befahl er sich selbst.
„Wie kriegen wir raus, wo die Anna haben?“ kehrte er zum Geschäftlichen zurück.
„Was macht ihr denn schon wieder hier?“
Von diesem Ausruf wurde Jessica Barnes wach. Sie öffnete langsam ihre Augen und erkannte einen weiteren Mann, der direkt auf den Pickup zukam.
„Wer ist die Kleine?“ fragte er sofort weiter.
Er war aus einem Haus getreten, ein schönes, altes Gemäuer. Der Mann sah den anderen beiden irgendwie ähnlich. Sie schätzte ihn auf Mitte bis Ende dreißig, auch er war sehr groß, muskulös und hatte sein Haar kurz geschnitten.
„Wer denn nun? Stephanie Freston oder Jessica Barnes?“ hörte Jessica den Mann fragen.
„Stephanie Freston ist mir lieber“, erwiderte Ron mit einem Grinsen, dann wandte er sich ihr zu:
„Komm mit!“
Also verließ sie den Pickup und folgte Ron und dem Fremden ins Haus, während Benedikt hinter ihr blieb.
Sie hatten gerade den Flur betreten, da drehte der Fremde sich um.
„Keller?“
Statt einer Antwort sah Ron Jessica direkt an.
„Jake möchte wissen, ob du in den Keller willst oder unsere Gesellschaft vorziehst.“
„Was? Wieso Keller?“ sie verstand kein Wort.
„Sie ist keine Gefangene“, mischte Benedikt sich ein.
„Zumindest noch nicht“, fügte er jedoch hinzu.
Erschrocken drehte die Frau sich zu ihm um.
„Wieso Gefangene? Was…?“
Die Drei gingen gemeinsam den Flur entlang und ignorierten sie. Auch wenn sie dieses Verhalten bereits gewohnt war, fühlte sie sich unwohl in Gegenwart dieser Männer. Ihre Gedanken und Gefühle fuhren Achterbahn.
Vielleicht wäre es von Vorteil, diesen Ort zu verlassen und sich alleine durchzuschlagen? Weit genug weg mussten sie ja jetzt sein. Allerdings wussten die Kerle noch nicht alles und wie sollten sie Anna helfen, wenn Jessica es ihnen nicht verriet?
Also folgte sie den Männern zögerlich. Sie kam in eine Küche, in der sich nur dieser Jake befand.
Unsicher sah Jessica ihn an.
Er ignorierte sie und setzte sich an einen Laptop. So beschloss sie die Tür am anderen Ende der Küche zu nehmen.
„Hier bleiben!“
„Was?“
Irritiert blieb sie stehen.
„Was hast du mit meiner Kollegin zu tun?“
„Was?“ fragte sie erneut, denn sie verstand nicht, was der Typ meinte.
Jessica ging zu dem Mann, der ihr noch immer den Rücken zudrehte. Als sie direkt hinter ihm stand, erkannte sie, dass er die Memory Card, die Anna ihr gegeben hatte, im Laptop hatte.
Auf einmal sprang der Kerl auf und drückte sie gegen die Küchenzeile.
„Verarsch mich nicht, Mädchen!“
Erschrocken sah Jessica ihn an. Was sollte das jetzt? Was hatte sie nun schon wieder verkehrt gemacht?
„Ich hab keine Ahnung was du hier willst, aber ich trau dir nicht!“ gab er drohend von sich.
Als sie darauf nichts erwiderte, sondern ihn weiterhin nur mit großen, verängstigten Augen ansah und sich nicht rührte, lockerte er seinen Griff um ihre Arme ein wenig.
„Ich weiß sehr wohl, wer du bist, Miss Jessica Barnes.“
Ihr Ruf als Journalistin holte sie also wieder ein.
„Ich arbeite nicht mehr als Journalistin“, brachte sie schließlich hervor.
„Deine Arbeit als Autorin gefällt mir auch um ein vielfaches besser!“ während dieser Worte begann er ihr über den Brustansatz zu streichen. Sie versuchte seine Hand wegzustoßen. Ihr Widerstand schien ihm zu missfallen, denn er riss an ihrem Kleid, so dass es ihren BH nicht mehr verdeckte.
Nun reichte es ihr endgültig, aus welchem Grund sollte sie sich das gefallen lassen? Für eine Frau, die sie nicht einmal wirklich kannte! Nein, das ging zu weit. Sie versuchte sich loszureißen.
„Was soll das werden?“ fragte der Kerl eher belustigt und nahm dabei seinen Blick nicht von ihrer Oberweite.
Ihr kam eine Idee.
„Willst du mehr sehen?“ fragte sie auffordernd.
Nun schien er mehr als erstaunt, nur für den Bruchteil einer Sekunde war er unaufmerksam, doch das genügte ihr. Sie griff nach der Glasflasche, die neben ihr stand und schlug mit voller Wucht auf seinen Kopf. Er ging zu Boden und sie rannte zur Tür.
Jessica ahnte nicht einmal, dass Jake viele Verhörmethoden kannte und sich aufgrund seiner Informationen über sie für das Streichen über ihren Brustansatz entschieden hatte. Ziel war es, ihr Angst zu machen und sie damit zum Reden zu bringen. Es war zwar ein heftiges Mittel gegenüber einer Frau, aber es ging um seine Kollegin Anna, genau genommen war ihm da fast jedes Mittel recht. Mit so starker Gegenwehr ihrerseits hatte er nicht gerechnet und war erschüttert, als er ihr Kleid zerriss. So hart hatte er nicht zupacken wollen. Die Sorge um Anna löste es wahrscheinlich aus. Überrascht von sich selbst starrte er auf das zerrissene Kleid. Viel irritierter war er, als die Frau ihm mehr von ihrem Körper zeigen wollte. Noch bevor er das aufklären konnte, ging er zu Boden. Wäre er von seinem eigenen Verhalten nicht so abgelenkt gewesen, hätte sie das niemals geschafft.
Sicher hatte Jessica den Typen nicht für lange Zeit außer Gefecht gesetzt, also musste sie sich beeilen. Leider war die Haustür verschlossen und der Schlüssel steckte nicht. Sie öffnete die nächstbeste Zimmertür, es war das Bad und hatte ein kleines Fenster. Mit Toilettenfenstern hatte sie mittlerweile Erfahrung. Jessica öffnete es und kletterte nach draußen, wo sie sofort zwei Arme packten.
„Wo soll’s denn hingehen?“
Erschrocken sah sie den farbigen Mann an und hielt sich dann die restlichen Stofffetzen ihres Kleides vor die Brust.
„Halt sie fest!“
Erschrocken drehte sie sich um. Am offenen Fenster tauchte der Kerl auf, den sie gerade zu Boden gehen ließ.
Unwillkürlich trat Jessica einen Schritt zurück, nicht bedenkend, dass dort der Farbige stand. Er hielt sie jedoch gar nicht fest, sondern zog sich einfach sein T-Shirt aus, das er ihr reichte.
„Danke!“ murmelte sie, während sie es schnell überzog. Dabei versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie seine nackte, muskulöse Brust faszinierte.
„Wo willst du denn hin, Jessica?“
Ron war draußen aufgetaucht und sah sie fragend an.
„Ihr Name ist also Jessica?“ folgerte der Mann, der ihr sein T-Shirt gegeben hatte.
Sie nickte nur.
„Ich bin Kane.“
Er sah sie an, als würde er eine Reaktion erwarten, doch Jessica hatte keine Ahnung, was sie sagen oder wie sie sich verhalten sollte.
Ron griff nach ihrem Arm und forderte:
„Komm zurück ins Haus!“
Sie versuchte sich auf der Stelle zu halten, denn sie wollte Ron nicht folgen. Als er ruckartig fester zog landete sie am Boden. Wieder rollten ihr Tränen über die Wangen, diese Situation war für Jessica fremd und beängstigend. Da wollte sie jemandem helfen und wurde hier wie der letzte Dreck behandelt.
„Darf ich?“
Der farbige Mann stand vor ihr und reichte ihr beide Hände, die sie ergriff. Schon hatte er sie wieder auf die Beine gezogen.
„Würden Sie uns bitte ins Haus begleiten, Jessica?“
Freundlich lächelnd sah er sie an. Jessica schüttelte den Kopf, auf keinen Fall wollte sie zurück.
„Erst bitten Sie uns um Hilfe und dann verschwinden Sie einfach?“
Verständnislos sah Benedikt, der auch am Badezimmerfenster erschienen war, Jessica an.
„Unter Hilfe versteh’ ich was anderes!“ gab sie zurück.
„Wir haben Sie doch in Sicherheit gebracht!“
„Und der Preis dafür?“
Überrascht sah Benedikt sie an.
„Preis?“
Stumm sah sie zu seinem Kollegen, der noch immer neben ihm stand.
„Jake?“ wandte er sich direkt an ihn.
„Bei dem was sie so schreibt, wollte ich bloß…“, Jake kam nicht dazu, seine misslungene Verhörmethode zu rechtfertigen.
Noch bevor Benedikt etwas erwidern konnte, schrie die Frau Jake an:
„Genau das ist das Problem mit euch Idioten! Ihr könnt einfach Fantasie und Realität nicht unterscheiden! Nur weil ich so was schreibe, heißt das noch lange nicht, dass ich…“
Durch ihr Schluchzen gingen ihre letzten Worte unter. Es war nicht das erste Mal, dass sie solch ein Verhalten erlebte, aus dem Grund schrieb sie auch unter einem Pseudonym.
„Mädchen, komm schon, wer so was schreibt…“, begann dieser in ihren Augen widerliche Kerl.
Jessica ließ ihn erneut nicht ausreden, so hatte er keine Chance sein Denken und Handeln zu erklären.
„Das ist nichts als ein Job. Ich verdien’ damit meine Brötchen! Immer noch besser, als andere umzubringen!“ warf sie ihm vor.
„Da haben Sie natürlich recht, Jessica“, wandte sich der Farbige wieder an die Frau.
„Ihr habt ihr Hilfe versprochen?“ wandte Kane sich schließlich an Benedikt und Ron.
„Ja, sie kann uns bei Anna weiter helfen.“
„Was ist mit Anna?“
„Wir haben die Nachricht bekommen, dass sie tot ist, aber Jessica erzählt etwas anderes.“
„Tot? Wer sagt das?“
Die Männer schienen sich über Augenkontakt stumm zu unterhalten.
„Ist das bei euch etwa nicht angekommen?“
Kane schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Sie sind bereit uns dabei zu helfen, unsere Kollegin zu finden?“ wandte er sich wieder an Jessica.
„Das hatte ich vor, aber jetzt…“
Sie verstummte mitten im Satz.
„Was ist jetzt?“
„Seit ich bei den beiden aufgetaucht bin, werde ich angeschrien und bedroht. Und hier auch noch…“
Ihr Blick fiel zu Boden.
„Ich versteh’ Sie, Jessica. Unter den Umständen hätte ich auch keine Lust uns zu helfen.“
Sie sah zu ihm auf und überlegte, ob das bedeutete, dass er sie gehen lassen würde. Genau das fragte sie ihn schließlich.
„Es steht Ihnen selbstverständlich frei, was Sie tun. Aber ich bitte Sie inständig zu bleiben - für Anna.“
Sie sah ihm in die Augen, diese blickten sie freundlich und aufrichtig, aber auch bittend an. Sie sah zu dem Widerling rüber.
„Jake, entschuldige dich bei der Dame!“ forderte Kane.
„Du spinnst wohl!“
„Eine Entschuldigung ist hier wohl mehr als angebracht“, stimmte auch Benedikt zu. Wenn es das war, was diese Frau zum Bleiben und zum Finden von Anna bewegen konnte, war es ihm recht, egal was tatsächlich geschehen war.
Jessica war erstaunt.
„Tut mir leid, Mam“, brachte Jake zähneknirschend hervor und verschwand dann im Inneren des Gebäudes.
„Bitte helfen Sie uns!“
Mit einer direkten Bitte von Benedikt hatte sie nicht gerechnet.
„Wer garantiert mir, dass der mich nicht wieder anfasst?“
„Ich!“ versprach Benedikt augenblicklich.
Zweifelnd blickte sie in die Runde.
„Sie haben mein Wort, Jessica“, beteuerte auch Kane.
Zögernd sah sie ihn an, gab sich schließlich einen Ruck und ging neben ihm her zum Vordereingang.
Dennoch waren ihre Zweifel nicht restlos beseitigt. Ob es schlau war, freiwillig zurück ins Haus zu gehen? Wahrscheinlich hätten die Männer sowieso nie zugelassen, dass sie einfach geht.
„Wovor haben Sie Angst?“
Sie sah zu dem dunkelhäutigen Mann auf.
„Vor Ihnen“, erwiderte Jessica offen.
Er blieb stehen und sah sie fragend an.
„Habe ich Ihnen etwas getan? Mich Ihnen gegenüber unflätlich verhalten?“
„Nein.“
„Warum haben Sie dann Angst vor mir?“
„Sie gehören zu den Anderen.“
„Sie sind also zu Ron und Ben gegangen?“
„Ich denke, die beiden waren sich nicht sicher, ob sie Ihnen trauen können“, versuchte Kane zu erklären, als sie mal wieder stumm blieb.
„Sie spielt falsch!“ mit diesen Worten empfing Jake alle im Wohnzimmer.
Jessica zuckte zusammen. Da legte Kane schützend einen Arm um ihre Schulter. Sie war überrascht, ließ es aber zu.
„Wie kommst du darauf?“ fragte er ruhig.
„Sie meinte doch, sie wüsste, was auf der Memory Card steht und hätte so auch euer Versteck gefunden?“
„Richtig“, bestätigte Benedikt.
„Das ist unmöglich!“
„Wieso?“
„Die Aufzeichnungen wurden nicht entschlüsselt.“
Fragend und misstrauisch blickten die Männer ihren Gast an.
„Haben Sie dafür eine Erklärung?“ wollte Kane noch immer ruhig wissen.
„Das sind Anagramme“, erwiderte sie trocken.
„Verkauf uns nicht für dumm!“ schrie Jake sie an. Er war sauer auf die Frau, insbesondere nachdem ihm befohlen wurde, sich bei ihr zu entschuldigen.
Sie wich einen Schritt zurück.
„Was wollen Sie damit sagen?“ mischte sich wieder Benedikt ein.
„Auf der Karte bestehen neunzig Prozent der Informationen aus Anagrammen. Das sind Buchstabenrätsel, ich habe tagtäglich mit Worten zu tun…“
„Dann verrat uns was das bedeutet!“ forderte Jake und drückte ihr einen Zettel in die Hand.
Für einige Minuten wurde es still. Sie konzentrierte sich auf die Buchstaben auf dem Stück Papier. Als sie aufsah, starrten Jake und Benedikt sie böse und misstrauisch an. Diese Blicke und die Worte, die sie soeben entschlüsselt hatte, waren zu viel. Jessica begann nach Luft zu hecheln.
„Jessica?“
„Geht es Ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass!“
„Was hast du ihr gegeben, Jake?“
Wieder sah sie in die Runde, irgendwie drehte sich alles ganz merkwürdig. Die Stimmen der Männer klangen blechern. Einer von ihnen trat auf sie zu, da sank sie zusammen.
Benedikt war als Erster bei Jessica, diesmal hatte er den Fall nicht verhindern können. Er hob sie hoch und legte sie auf die Couch.
Kane nahm den Zettel an sich, den Jessica hatte fallen lassen. Streng sah er seinen Kollegen Jake an.
„Das ist ja wohl Beweis genug, dass Sie verschlüsselte Anagramme durchschaut!“
„Dann ist es tatsächlich Zeit für eine Entschuldigung“, begriff auch Jake.
„Was Bescheuerteres fiel dir wohl nicht ein?“
„Was steht auf dem Bogen?“ war auch Ron neugierig.
„Das ist der Befehl, die Gefangene zu foltern und zu eliminieren“, erklärte Kane missbilligend.
„Miss Barnes?“
Alle sahen zum Sofa, sie schien wieder zu sich zu kommen.
„Miss Barnes?“
Langsam öffnete sie ihre Augen, vor ihr kniete Benedikt. Täuschte sie sich oder drückte sein Blick Besorgnis aus?
Ihr viel das, was sie gelesen hatte wieder ein und sie wollte sich ruckartig aufsetzen. Dabei konnte sie einen schmerzvollen Aufschrei nicht verhindern, sogleich sank sie wieder zurück.
„Ihre Hüfte?“
Jessica sah den Mann, der noch immer vor ihr kniete, mit angsterfüllten Augen an.
„Ist sie auf die Hüfte gefallen?“ das war Rons Stimme.
„Scheint so.“
„Legen Sie sich auf die Seite!“
„Miss Barnes?“
Wieder öffnete sie ihre Augen. Wollte dieser Benedikt etwas von ihr?
„Ich lege Sie auf die Seite, dann wird es bestimmt gleich besser.“
Sie spürte eine Hand an ihrer Schulter, als er die zweite Hand auf ihren Oberschenkel legte, stöhnte sie laut auf. Sofort ließ der Mann sie los.
Jessica spürte wie ihr Kleid hochgeschoben wurde, aber sie fühlte sich außerstande, etwas dagegen zu tun.
„Warum haben Sie denn nichts gesagt?“ fragte Benedikt, nachdem er entdeckt hatte, dass der Bluterguss sich bis zum Oberschenkel herunterzog.
„Haben Sie noch mehr Verletzungen?“
War das Kanes Stimme?
„Jessica!“
Sie sah auf, der Mann erschien ihr übergroß wie er so hinter der Couch stand und auf sie hinabblickte. Unwillkürlich begann sie zu zittern.
„Ganz ruhig, niemand tut Ihnen etwas!“
Wessen Stimme war das? Es klang so vertrauensvoll.
„Wo sind Sie noch verletzt?“
Wieder diese melodische Stimme. Diesmal öffnete sie ihre Augen nicht, sondern versuchte in die Wärme dieser Stimme einzutauchen, sie klang so, als könnte sie all ihre Ängste in ihr ablegen.
„Ich weiß nicht“, erwiderte sie leise.
„Sie wissen es nicht?“
Eine andere, aufgebrachte Stimme störte die Ruhe, doch sofort ging diese melodische Stimme dazwischen, brachte den anderen Redner dazu, still zu sein.
„Wie ist das passiert?“
Jessica konnte nicht anders, als dieser Stimme, die für sie einer Melodie glich, zu antworten.
„Ich hab sie belauscht und dabei erfahren, dass sie die Männer im Versteck umbringen wollten.“
„Umbringen? Haben die das genau so gesagt?“
„Sorgt dafür, dass die Männer nicht mehr reden können und dann kümmert euch um die Kleine!“
„Das waren ihre Worte?“
Diesmal nickte sie nur.
„Wo war das?“
„Vor meiner Haustür.“
„Und was geschah dann?“
„Die beiden Kerle, die sich an einen Wagen gelehnt unterhielten, mussten mich bemerkt haben. Sie kamen auf das Gebüsch, in dem ich kauerte, zu.“
„Und weiter?“
„Ich rannte davon. Im Gegensatz zu ihnen kannte ich mich in der Gegend gut aus und wusste mich immer wieder zu verstecken. Das klappte ganz gut, zumindest schaffte ich es alleine bis zur Hauptstraße, als sie plötzlich aus einer Ecke mit dem Wagen geschossen kamen. Auf einmal war da ein stechender Schmerz in meiner Hüfte, dann spürte ich, wie ich unsanft auf dem Boden aufschlug.“
„Die haben Sie angefahren?“
„Jessica, ich habe hier einen Eisbeutel für dich.“
Die Frau sah auf, vor ihr stand Ron und hielt ihr etwas in ein Küchentuch gerolltes entgegen. Sie nahm ihm das Ganze ab und legte es sich auf die Seite. Die Kälte machte den Schmerz erträglicher.
„Erzählen Sie uns den Rest!“ forderte sie jemand auf.
„Welchen Rest?“ fragte sie etwas verwirrt.
„Was haben die mit Ihnen gemacht, nachdem die Sie angefahren hatten?“
„Gar nichts.“
„Wie ‚nichts’?“
„Ich stand auf und rannte.“
„Die kamen Ihnen nicht hinterher?“
„Ich weiß nicht…“, erwiderte sie stirnrunzelnd, darüber hatte sie nie nachgedacht.
„Woran erinnern Sie sich?“
„Ich rappelte mich auf und rannte. Ich muss dabei meine kleine Handtasche verloren haben, aber ich suchte nicht danach, sondern rannte einfach nur weiter.“
„Wohin sind Sie gelaufen?“
„Da waren Lichter und ich hörte Stimmen.“
„Sie sind an einen belebten Ort gelaufen?“
„Ich glaub’ schon“, erwiderte sie müde.
„Jessica?“
Das war nicht diese vertrauensvolle Stimme, sondern wieder Ron. Noch immer stand er direkt vor ihr.
„Ich werde dich in dein Zimmer bringen, dann kannst du dich ausruhen.“
„Mein Zimmer?“
Irgendwie begriff sie den Sinn seiner Worte nicht.
„Sie können Annas Zimmer haben, sie hätte bestimmt nichts dagegen.“
„Anna?“
Die vier Männer tauschten Blicke.
„Bring sie rauf!“ befahl Benedikt schließlich.
„Jessica?“
Ron wollte die Frau auf seine Arme heben und nach oben tragen, doch kaum hatte er sie berührt, wehrte sie sich.
„Ich bringe dich nur in dein Zimmer, damit du dich ausruhen kannst.“
Nun sah sie ihn an, ihre Augen drückten Angst aus, aber auch Verwirrung. Nachdem was sie alles mitgemacht hatte, wunderte Ron das nicht.
Langsam erhob sie sich, als sie sich aufstellen wollte, gaben ihre Beine nach. Sofort stützte Ron sie, doch sie hörte nicht auf zu zittern. Also hob er sie nun doch auf seine Arme und hoffte, ihre Angst damit nicht noch zu verstärken.
Nachdem er sie in Annas Bett gelegt hatte, zog er lediglich ihre Schuhe aus und deckte sie zu. Nachdenklich blickte er auf die schlafende Frau. Sie sah so zerbrechlich aus. Wo war die harte, unnachgiebige Journalistin geblieben, über die sich Benedikt so sehr aufregte? Ihm wurde klar, dass sie sie zu hart angepackt hatten. Als die Frau bei Ihnen aufgetaucht war, war sie bereits am Ende gewesen. Sie hätten ihr Misstrauen ablegen und ihr von Anfang an helfen müssen. Ihr Job machte sie viel zu misstrauisch und nun hatte eine unschuldige Person darunter leiden müssen. Er selbst hatte eine Waffe auf sie gerichtet, dabei hatte sie Hilfe gebraucht. Eine unschuldige, hilflose Frau, genau diesen Eindruck machte sie, jetzt wo sie schlafend vor ihm lag. Wie konnte eine so zerbrechliche Person nur so etwas schreiben? Er war immer davon ausgegangen, dass die Autorin seiner geliebten Romane eine äußerst selbstbewusste Frau sein musste.
Jessica drehte sich um, dabei fiel die Decke zu Boden. Ron ging zu ihr hin, um sie erneut zuzudecken, doch abrupt blieb er stehen. Ihr Kleid war hoch gerutscht und Ron konnte ihren Slip erkennen, diese unwahrscheinlich langen Beine… Hätte Jessica in diesem Moment zu ihm gesehen, die Beule in seiner Hose wäre nicht zu verstecken gewesen. Ruckartig drehte Ron sich um und schloss die Tür von draußen.
„Wer hat euch von Annas Tod erzählt?“ wollte Jake wissen.
„Kane“, erwiderte Benedikt.
„Ich?“
„Ich weiß, nachdem du davon nichts wusstest kann da wohl irgendwas nicht hinkommen“, hatte auch Benedikt erkannt.
„Wie hab ich euch informiert?“
„Per SMS.“
„Kanes Handy ist im Handschuhfach des Leihwagens liegen geblieben“, klärte Jake die Männer auf.
„Warum wurden wir nicht informiert?“
„Ich hab Anna eine Nachricht geschickt.“
Das erklärte einiges. Annas Entführer mussten diese Nachricht erhalten haben und wussten diesen Umstand für sich auszunutzen.
„Wenn die das Handy aus dem Leihwagen geholt haben, dann haben sie sicherlich auch diese Adresse“, befürchtete Benedikt.
„Keine Sorge, Ben. War wie immer unter falschem Namen“, beruhigte Kane seinen Kollegen.
„Gab’s Probleme?“ wandte Kane sich an Ron, der gerade das Wohnzimmer wieder betrat.
„Sie schläft.“
„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob wir ihr trauen können.“
Ron sah Benedikt an, wieder musste er an Jessica oben im Bett denken. Als sich erneut etwas in seiner Hose regte, zog er seinen Mund zu einem schmalen Strich zusammen und verschwand zur Toilette.
„Sie hat euch das Leben gerettet.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Schon die neuesten Nachrichten gesehen?“
Ben stellte sich neben Jake vor den Laptop. Vor sich sah er sein Versteck, indem er noch vor ein paar Stunden saß und sich sicher gefühlt hatte. Es war bis auf die Grundmauern niedergebrannt.
„Oder glaubst du, dass das Zufall war?“
„Nein“, an Zufälle glaubte Ben schon lange nicht mehr und auch wenn es in den Nachrichten als Unfall dargestellt wurde, war ihm klar, wer dahinter steckte.
„Gibt’s Infos über Opfer?“ mischte Kane sich ein.
„Bisher nicht.“
„Vielleicht sollten wir daran drehen, so dass Ducks Leute davon ausgehen können, dass sie euch erwischt haben.“
„Halte ich für keine gute Idee.“
Die drei sahen Ron an, der mit einem entspannten Gesichtsausdruck zu ihnen trat.
„Jessica meinte, sie wollten erst uns erledigen und danach Anna. Ich möchte nicht, dass die auf Anna losgehen.“
„Leuchtet ein.“
„Was haltet ihr von einem Opfer und der Andere ist mit dem Wagen unterwegs gewesen?“
Jakes Idee gefiel allen.
„Wer von euch ist das Opfer?“ wollte Kane gleich wissen, schließlich mussten sie dieses Gerücht schnell verbreiten.
„Das übernehm’ ich“, bot Ron an.
„Hatte Jessica zu dir nicht mehr Vertrauen?“ wandte Kane sich an Benedikt.
„Keine Ahnung, ist mir auch gleich.“
„Doch, hatte sie eindeutig. Besser du bist das Opfer und bleibst in ihrer Nähe“, stimmte auch Jake zu.
Ben schien nicht sonderlich begeistert von dieser Lösung.
„Was ist mit dir los, Ben? Du verdankst dieser Frau dein Leben!“
Auch Jake war überrascht, lediglich Ron schien die Antwort zu kennen. Das blieb auch Kane und Jake nicht verborgen.
„Ron?“
„Ben hat was gegen Lesben.“
„Wie kommt ihr darauf, dass sie… erzähl keinen Blödsinn Alter, ich hab ihre Bücher gelesen!“ Jake wollte es nicht glauben.
„Ben?“
Fragend sah Kane seinen Kollegen an.
„Ist das dein Ernst?“
Forschend sah er seinem Partner in die Augen, die beiden kannten sich seit über zehn Jahren und noch nie waren ihm Vorurteile an Ben aufgefallen.
„Sie hat dir dein Leben gerettet!“ fügte er noch hinzu, als sein Freund weiterhin nichts sagte.
Als Jessica wach wurde, überlegte sie, wo sie war. Ihr fiel alles wieder ein und sie war erleichtert, als sie feststellte, dass sie noch bekleidet war. Leise verließ sie das Bett. Wie war sie in dieses Zimmer gekommen?
Vorsichtig öffnete Jessica die Zimmertür, niemand war zu sehen oder zu hören. Sie schlich den Gang entlang, folgte der Treppe nach unten, wo sie erstmal in das Badezimmer, dass sie bei ihrem Fluchtversuch entdeckt hatte, ging.
Danach schlich sie sich in die Küche und setzte sich dort mit einer Flasche Apfelsaft an den Küchentisch.
Als die Tür sich öffnete, zuckte Jessica zusammen.
„Entschuldige, Jessica, ich wollte dich nicht erschrecken.“
Ron stand vor ihr. Unsicher sah sie ihn an.
„Darf ich?“ fragte er.
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, saß auch Ron am Küchentisch.
„Es tut mir leid.“
Das war alles was Ron zu ihr sagte.
„Was tut Ihnen leid?“
„Du wolltest mir helfen und ich habe dich bedroht, das war nicht okay.“
Der Mann schien es ernst zu meinen.
„Berufskrankheit.“
„Was?“
Sie versuchte Ron in normalem Plauderton zu erklären, was sie meinte. Vielleicht konnte sie so zu etwas Normalität zurückkehren.
„Sie sind in Ihrem Beruf grundsätzlich misstrauisch, so wie ich immer neugierig und auf der Suche nach einer Geschichte bin.“
„Du suchst Stoff für deine Romane?“
Rons Blick zeigte ihr, dass er an ihre erotischen Geschichten dachte. Was musste er jetzt bloß wieder von ihr denken? Sie bemühte sich schnell, das richtig zu stellen.
„Nein, ich schreibe den Kram wirklich nur, um über die Runden zu kommen.“
„Wofür suchst du dann nach Geschichten?“
„Ich schreibe noch in einer anderen Richtung, einer Richtung, die mir besser gefällt, in der ich total aufgehe…“
Ron sah den verträumten Blick, Jessica war in diesem Moment weit weg.
„Ich würde gerne etwas von dir lesen.“
„Ich denke nicht, dass Ihnen das gefallen würde“, erwiderte sie sofort abwehrend.
„Warum nicht?“
„Weil Sie…, ähh, ich… ähm,… das ist nicht wie die Romane, die Sie lesen.“
Der Mann lächelte sie freundlich an.
„Glaubst du, ich lese nichts anderes?“
„Ich dachte,… ich meine,… Sie sind…“
Sie hielt inne, schließlich konnte sie diesem Mann nicht sagen, was sie wirklich dachte. Nicht nur, dass er diese wenig anspruchsvolle Literatur von ihr las, sein Aussehen deutete nicht unbedingt auf einen sonderlich intellektuellen Menschen hin. Ihr war Rons Männlichkeit nicht entgangen. Bisher hatte sie sich eher für prüde gehalten. Das was sie schrieb hatte nichts mit ihrem wahren Leben zu tun, Männer ließen sie kalt. Viel zu oft war sie verletzt worden. Doch mit diesen vier Fremden in einem Haus zu sein, ließ Jessica völlig neue Seiten an sich entdecken. Sie alle waren äußerst attraktiv und immer wieder musste sie sich beherrschen, um niemanden anzustarren. Es passte nicht zu der Angst, die sie hatte und sie schalt sich selbst einen Dummkopf. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass sie schon wieder auf den Ausschnitt von Rons Hemd sah, wo ein paar Brusthaare hervorlugten.
„Jessica?“
Verlegen sah sie Ron an. Hatte er etwas gesagt? Mit der Zunge glitt sie über ihre trockenen Lippen.
„Ja?“
„Ich habe gefragt, ob ich etwas von dir lesen dürfte.“
Ihr war klar, dass er nicht mehr von ihren erotischen Romanen sprach. Sie beschloss, auf das, was er wollte, einzugehen. Vielleicht würde es sie von ihren abwegigen Gedanken ablenken. Ihr fiel auf, dass sie schon wieder auf seine Brust starrte.
„Würden Sie sich umdrehen?“ bat sie ihn schließlich.
„Was?“
Bittend sah sie ihn an und wunderte sich ein wenig, als er ihrer Aufforderung tatsächlich nachkam. Nachdem sie nun seinen breiten Rücken vor sich hatte, schluckte sie schwer, noch immer hatte sie den Anblick dieser männlichen Brust vor Augen. Sie riss sich zusammen, griff unter Kanes T-Shirt in ihren BH und zog umständlich einen kleinen USB-Stick heraus. Nachdem sie sich wieder einigermaßen richtig angezogen hatte, sagte sie:
„Hier.“
Ron drehte sich zurück und sah erstaunt auf den Stick.
„Wo hast du den auf einmal her?“
„Eine Schriftstellerin geht nie ohne ihre Manuskripte los.“
„Hattest du deine Handtasche nicht verloren?“
„Da drin würde ich so was nicht aufbewahren.“
„Jessica, versteh’ mich bitte nicht falsch, aber ich muss wissen, ob du noch mehr versteckst.“
So wie Ron das sagte, konnte sie es gar nicht falsch verstehen. Er musste in seinem Job misstrauisch sein, das war ihr klar.
„Nein“, erwiderte sie ehrlich.
Ron sah sie forschend an ohne ein Wort zu sagen.
Jessica stand auf und streckte ihre Arme aus.
„Wollen Sie mich durchsuchen?“
Als ihr klar wurde, was sie da gerade von sich gegeben hatte, setzte sie sich schleunigst wieder hin. Was hatte sie geritten, so etwas zu sagen?
Ron war erstaunt, so hatte er sich die Autorin seiner Lieblingsromane nun wirklich nicht vorgestellt. Er war irritiert, weil sie ihm nicht in die Augen sah. Konnte eine Frau so schüchtern sein? Noch dazu eine Frau mit solch einer Fantasie?
Er war neugierig auf das, was diese Frau noch so schrieb. Vielleicht erklärte das ein wenig diesen Unterschied zwischen der Frau, die vor ihm saß und der Autorin.
Woher kam auf einmal dieses Vertrauen? Wie kam es, dass sie ihm ihre Arbeit einfach so aushändigte? Natürlich hatte er sie fragen müssen, ob sie noch mehr versteckte und es hätte zu ihren Vorschriften gehört, sie zu durchsuchen. Ron war drauf und dran genau das zu tun, als sie sich vor ihm hinstellte, doch als sie sich so schnell an den Tisch zurücksetzte und zu Boden blickte, entging ihm die Röte in ihrem Gesicht nicht. Mit einer Durchsuchung hätte er sämtliches Vertrauen wieder zerstört.
Ron versuchte ihre Unterhaltung wieder in Gang zu bringen, doch Jessica war wieder in die verängstigte Rolle geschlüpft.
„Fühl dich wie zu Hause!“ bot er ihr noch an, dann ließ er sie allein und setzte sich im Wohnzimmer an den PC. Ron war neugierig auf das, was diese rätselhafte Frau ihm gegeben hatte.