Читать книгу Ganz oder gar nicht! - Jennifer Weise - Страница 2

Wer ist Jessica Barnes?

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„Entschuldigen Sie!“

Ron sah auf. Wie lange stand Jessica schon im Raum? Er hatte sich mitreißen lassen von ihrem Geschriebenen.

„Ja?“

„Dürfte ich,… ich würde gerne…“

Geduldig guckte er die Frau an.

„Ich hab mich schon seit Tagen nicht mehr gewaschen und…“

„Sie können gern das Bad benutzen“, meinte Ron nur und wollte schon weiter lesen.

Ihm fiel auf, dass Jessica sich nicht von der Stelle rührte.

„Stimmt etwas nicht?“

„Da ist kein Schlüssel.“

„Was?“

Im selben Moment, indem er das aussprach, verstand er, was sie meinte. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Wenn er einmal nicht an die erotischen Geschichten dachte, sondern diese Frau mit dem in Verbindung brachte, was er gerade las, wunderte ihn ihr Verhalten nicht mehr. Sie war mit vier fremden Männern in einem Haus, welche Frau wäre da nicht verunsichert?

Ron griff in die Schublade des Schreibtisches, an dem er saß, dann reichte er Jessica einen Schlüssel.

„Der ist für das Bad im ersten Stock, das ist direkt gegenüber von deinem Zimmer.“

„Danke!“

„Jessica?“

Wieder sagte sie kein Wort und schaute ihm auch nicht in die Augen.

„Du kannst dir aus Annas Schrank was zum Anziehen nehmen.“


Während Jessica in der heißen Wanne lag, dachte sie nach.

Zumindest versuchte sie es, aber irgendwie kam ihr immer das Bild von einem der Männer aus diesem Haus dazwischen.

So begann ich über jeden einzelnen von ihnen nachzudenken. Diesen Jake hatte ich schnell abgehakt. Sein gutes Aussehen machte sein Verhalten nicht ungeschehen, ihm konnte ich nicht trauen.

Dieser farbige Mann, wie hieß er noch? Blane? Nein, Kane, das war sein Name. Er hatte mich von Anfang an besser behandelt als alle anderen, hatte mir Respekt entgegen gebracht. Diese beschützende Geste, als er für mich sein T-Shirt auszog kam mir in den Sinn. Doch anstatt über ihn und seine Art nachzudenken, hatte ich nur noch das Bild seiner nackten Brust vor Augen. Als ich spürte, wie es zwischen meinen Beinen zu kribbeln anfing, ging ich schnell weiter zu Ron. Er war hier so anders zu mir, als noch in dem alten Versteck. Sein neues Verhalten mir gegenüber konnte ich nicht so recht einordnen. Auch hier begannen meine Gedanken abzuschweifen.

Also Benedikt, auch ein schwer durchschaubarer Mann. Anfangs so freundlich und rücksichtsvoll und dann diese Härte, als er meinen Namen erfuhr. Aber ich konnte es ihm nicht einmal übel nehmen, die Journalistin war über Leichen gegangen. Ruhm und Anerkennung um jeden Preis. Es war diese eine Recherche, die mich damals aufwachen ließ. Es ging um einen sehr jungen Mann, gerade einundzwanzig und er saß im Gefängnis, in der Todeszelle. Ich hatte es geschafft ein Exklusivinterview zu bekommen. Dieser Mann, fast noch ein Kind, beteuerte mir seine Unschuld. Ich kam ins Grübeln. Natürlich wäre das eine spitzenmäßige Story gewesen, es hätte mir nicht nur Ruhm sondern auch eine Menge Geld einbringen können. Doch statt des gewohnt bissigen Berichtes, schrieb ich etwas komplett anderes. Mit keinem Wort schrieb ich über die Schuld des Jungen, aber auch nicht über seine Unschuld. Ich stellte stattdessen das Rechtssystem in Frage. Ließ mich über die Todesstrafe an sich aus. Und ich stellte die Frage, ob man das Recht hatte, das Leben eines Menschen einfach so auszulöschen.

Mein Boss war stinksauer, er stellte mich vor die Wahl, entweder ein gewohnt bissiger Bericht oder er würde mich feuern.

Wenn ich mich nicht an die Spielregeln hielt, war das Vertragsverletzung, mein Boss könnte mich zu einer hohen Geldstrafe verdonnern.

Also ging ich zu der Familie des Opfers. Es war ein kleines Mädchen, das der junge Mann auf bestialische Art umgebracht haben sollte. Mein Mitgefühl für die Familie wuchs. Doch ich konnte nicht anders, ich musste auch mit der Familie des angeblichen Täters reden. Danach waren meine Zweifel perfekt. Nun passte nichts mehr zusammen.

Ich begann im Büro einen Artikel zu schreiben, er wurde sehr lang, glich eher einem Bericht, aber nicht dem Bericht über das Verbrechen an einem kleinen Mädchen sondern vielmehr der Frage, ob irgendjemand diesem Jungen einen Mord anhängen wollte.

Gegen ein Uhr morgens verließ ich das Büro nachdem ich meinen Bericht ausgedruckt und dem Boss auf den Schreibtisch gelegt hatte. Ich war von meinem Verdacht überzeugt und rechnete mit der Anerkennung meines Chefs, doch das Gegenteil war der Fall. Er holte mich am nächsten Morgen telefonisch aus dem Bett und zitierte mich zu sich. Dort fragte er mich, ob ich den Verstand verloren hätte. Dass er ein aufbrausender Mensch war, war mir bekannt, aber diese Hektik und Nervosität erlebte ich zum ersten Mal an ihm.

„Jessica, ich entbinde Sie von dieser Story!“

Erstaunt sah ich ihn an.

„Aber, Sir, da steckt viel mehr hinter, als…“

„Vergessen Sie’s!“ schrie er mich an.

„Bei allem Respekt, Sir, ich werde nicht zulassen, dass man diesen Jungen…“

Wieder fuhr er mir ins Wort.

„Halten Sie sofort den Mund! Sie dürfen so etwas nicht einmal denken!“

Ich saß damals über eine Stunde in seinem Büro, noch nie hatte er so vehement versucht, mich von etwas zu überzeugen. Und ich war noch nie so stur gewesen. Schließlich verließ ich das Gebäude mit meiner fristlosen Kündigung in den Händen. Eine Klage wegen Vertragsbruch verlor ich und aus irgendeinem Grund schaffte ich es auch nicht, eine neue Anstellung zu finden.

Erst als ich unter falschem Namen diese Erotikgeschichten an einen Verlag sandte, verdiente ich endlich wieder eigenes Geld. Das war auch höchste Zeit gewesen. Nach dem Prozess hatte ich mein Haus sowie meinen Wagen verkaufen müssen, um die Strafe wegen Vertragsbruches begleichen zu können und mein Erspartes war auch fast aufgebraucht.


Langsam wurde Jessica kalt, also zog sie den Stöpsel aus der Wanne und stand auf. Während sie sich mit beiden Händen am Wannenrand festhielt, stellte sie ein Bein vor der Wanne ab. Im nächsten Moment durchzog sie ein stechender Schmerz, zu allem Überfluss verlor sie den Halt in der glitschigen Wanne und rutschte aus. Vor Schreck schrie sie auf, dann knallte sie mit dem Gesicht gegen die Armatur. Jessica schmeckte Blut.

„Miss Barnes?“

Das war Benedikts Stimme.

„Ist alles in Ordnung, Miss Barnes?“

Mühsam versuchte sie sich aufzurichten, doch sofort rutschte sie wieder mit dem Fuß weg, diesmal mit der ohnehin schon schmerzenden Hüfte gegen den Rand der Wanne. Schmerzvoll stöhnte sie auf.

Im nächsten Moment hörte Jessica, wie Holz barst, jemand hatte die Tür aufgebrochen.


Benedikt war gerade auf dem Weg zur Toilette, als er den Schrei und ein lautes Geräusch hörte. Das hatte sich angehört, als wäre jemand gefallen. Er klopfte sofort an die Badezimmertür, von wo er Jessica Barnes Stimme gehört hatte. Nie wäre er, ohne vorher anzuklopfen, eingetreten. Als sie jedoch auf seine Rufe nicht reagierte, er aber schmerzverzerrtes Stöhnen vernahm, wollte er die Tür öffnen, die zu seiner Verwunderung verschlossen war. Kurzerhand trat er sie ein.

Er entdeckte Jessica Barnes in der Badewanne, zumindest halbwegs. Und er sah das Blut vor sowie in der Wanne. Dann fiel ihm auch ihre Blöße auf, sofort zog er sich seinen Bademantel aus und bedeckte sie damit, dann erst hob er sie vorsichtig aus der Wanne und setzte sie auf dem Toilettendeckel wieder ab. Benedikt beobachtete wie sie seinen Bademantel fester um sich zog. Sie wich seinem Blick aus, sicher war ihr die Situation unangenehm.

„Meine Güte!“

Benedikt drehte sich um, hinter ihm war Kane aufgetaucht.

„Wir brauchen Verbandszeug.“

„Miss Barnes?“


Jessica musste sich zwingen, Benedikt in die Augen zu sehen. Nachdem er seinen Bademantel ausgezogen hatte, war ihre eigene Nacktheit vergessen gewesen. Nur noch in einer Boxershorts stand er vor ihr. Seine Haut war braun gebrannt, selbst seine Beine waren muskulös. Dann entdeckte sie die riesige Narbe auf seiner Brust, sie zog sich vom Bauchnabel bis fast zum Hals. Das sah nicht nach einem chirurgischen Eingriff aus, dafür war sie nicht gerade genug.

„Miss Barnes?“

Sie versuchte nicht mehr auf diesen traumhaften Körper zu starren, stattdessen sah Jessica in die Augen des Mannes, der so einen atemberaubenden Körper hatte.

„Ich bin irgendwo reingetreten“, versuchte sie zu erklären.

Der Mann hob ihren Fuß und betrachtete die Fußsohle, dann suchte er den Boden ab. Kurz darauf hielt er eine Rasierklinge in Händen.

„Hier.“

Kane reichte Benedikt den Verbandskasten.

Als auch Ron und Jake an der Tür auftauchten, kam Jessicas Angst zurück. Unwillkürlich begann sie zu zittern.

„Raus!“ forderte Benedikt.

Als die Männer nicht augenblicklich auf ihn hörten, ging er zur Tür und schloss sie wieder. Während er Jessica kurz den Rücken zudrehte, zog sie seinen Bademantel schnell richtig an.

„Danke, Mr. ähh, ich kenne nicht einmal Ihren Namen“, fiel ihr auf.

Der Mann kniete sich vor ihr hin und begann den Fuß zu säubern, dann legte er einen Verband an. Danach kümmerte er sich um die Wunde in Jessicas Gesicht.

„Das wird ein Veilchen geben.“

Sie zuckte mit den Schultern. Was machte das schon, ein paar Verfärbungen mehr oder weniger!

„Sonst alles okay?“

Jessica brachte kein Wort heraus, kein Wunder, wieder war ihr Blick über seinen Körper gewandert. Sie schluckte schwer. Wahrscheinlich deutete der Mann das verkehrt.

„Ich bringe Sie in Ihr Zimmer, dann können Sie sich in Ruhe anziehen.“

Benedikt hob sie auf seine Arme, Jessica ließ es einfach geschehen. Als sie mit dem Kopf so dicht an seiner Brust war, konnte sie nicht widerstehen, sie ließ ihren Kopf gegen ihn sinken. Dabei fiel ihr auf, dass der Mann nicht nur atemberaubend aussah, sondern auch noch unwahrscheinlich sinnlich roch.

Als er sie eher unsanft auf dem Bett absetzte fand sie zurück in die Wirklichkeit.

„Danke, Sir.“

„Sir?“

„Sie haben mir Ihren Namen nicht verraten.“

„Ben“, murmelte er vor sich hin.

So wohl fühlte ich sie sich hier doch noch nicht, dass sie irgendjemanden beim Vornamen ansprechen würde. Vielleicht brauchte sie auch diese förmliche Distanz, um den letzten Funken Anstand in sich zu bewahren.

„Danke, Mr. Ben“, sagte sie also.

Wahrscheinlich klang das noch bescheuerter als das Sir davor. Wie sollte man in einem Haus mit solchen Männern auch einen klaren Gedanken fassen entschuldigte sie ihr Verhalten vor sich selbst.


Jessica hatte sich ein langes Kleid von Anna ausgesucht, zumindest für diese kleine Person muss es sehr lang gewesen sein, bei Jessica bedeckte es gerade die Knie. Den dazugehörigen Gürtel ließ sie weg, denn sie wollte nichts unnötig betonen. Es war ihr schon unangenehm genug, überhaupt ein Kleid zu tragen, aber die Hosen drückten einfach zu sehr an ihrer ohnehin schon schmerzenden Hüfte. Auf Schuhe und Socken verzichtete sie und humpelte barfuß nach unten. Das war gar nicht so einfach, denn sie konnte ihre Fußsohle mit dem Verband nicht voll aufsetzen. Warum auch immer die Wunde beim Auftreten brannte, sie nahm es hin und versuchte mit dem verletzten Fuß lediglich mit den Zehenspitzen aufzutreten.

„Kann ich dir helfen?“

Ron kam sofort zu ihr, als er sie entdeckte.

„Geht schon, danke.“

Jessica humpelte ins Wohnzimmer und setzte sich dort auf die Couch. Als Ben den Raum betrat, konnte sie es nicht vermeiden, dass sie rot wurde. Jessica war erleichtert, denn entweder bemerkte er es nicht oder er ignorierte es taktvoll.

„Wie geht es Ihnen?“

Kane blieb vor ihr stehen und sah sie freundlich an.

„Danke, es geht schon“, wiederholte sie sich.

„Fühlen Sie sich fit genug, den Rest Ihrer Geschichte zu erzählen?“

„Natürlich, wenn es Anna hilft.“

„Das hoffen wir.“

Damit war das Gespräch anscheinend für den Mann beendet. Er ging zu Ron und Jake, die mal wieder am Schreibtisch vor dem Laptop saßen.

Die Drei waren in ein Gespräch vertieft. Als Ben sich zu ihnen stellte, humpelte Jessica in die Küche. Nachdem sie sich mit einer Tasse Tee zurück auf das Sofa gesetzt hatte, empfahl Ron:

„Du solltest auch etwas essen.“

Sämtliche Augenpaare waren auf Jessica gerichtet. Sie überlegte gerade, was sie erwidern sollte, als den Männern die Blutspur auffiel.

Ben verließ den Raum, während Ron sich zu ihr setzte und ihren Fuß hochhob.

„Tut mir leid“, sagte sie entschuldigend, als sie merkte, was sie für eine Sauerei hinterlassen hatte.

Sofort wollte Jessica aufstehen und sich darum kümmern.

„Sitzen bleiben!“

Jessica sah zu Ben auf, der mit dem Verbandsmaterial vor ihr stand. Ron begann damit, den blutdurchtränkten Verband abzuwickeln.

„Du solltest dein Bein hochlegen.“

„Vielleicht sollte das genäht werden.“

Kane kam zu ihnen und sah sich nun auch den verletzten Fuß an.

„Ich denke es reicht, wenn Sie den Fuß hoch lagern und nicht rumlaufen.“

Klasse Idee! Wie stellten die Männer sich das vor? Sollte sie zur Toilette fliegen? Jessica beschloss für den Moment, sich nicht weiter dazu zu äußern und ließ es geschehen, dass Ben ihr einen frischen Verband machte. Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie Jake ihre Spuren aufwischte.

„Danke!“ sagte sie, wenn auch etwas widerwillig, denn sie hatte ihre erste Begegnung nicht vergessen.

Jake sah sie an.

„Tut mir leid.“

Was war denn das für eine merkwürdige Antwort?

„Das war meine Rasierklinge“, fügte er noch erklärend hinzu.

„Dann kannst du sie jetzt auch bedienen!“ entschied Ben, nachdem er den Verband fertig gestellt hatte.

„Kein Problem, sag’ einfach Bescheid, wenn du was brauchst.“

Ganz bestimmt würde Jessica Barnes diesen Mann nicht um Hilfe bitten! Lieber würde sie auf der Couch versauern.


Nachdem ihre Wunde versorgt war, kümmerten die Männer sich wieder ausschließlich um sich, was Jessica auch ganz recht war. Sie lag halbwegs auf der Couch, konnte keinen von ihnen sehen und auch nicht genau verstehen, worüber sie redeten. So schaffte sie es tatsächlich zur Ruhe zu kommen. Dadurch, dass sie keinen der Männer sah, gab es auch nichts, was sie ablenken konnte. Ihre Gedanken gingen zurück zu dem Abend, an dem sie Anna kennen gelernt hatte.

„Der Conelly-Bunker!“ rief Jessica plötzlich aus.

„Was ist damit?“

Sie setzte sich mit dem Oberkörper auf und sah zu Ron und Jake, die anderen waren nicht mehr im Zimmer. Jessica hatte gar nicht mitbekommen, dass sie gegangen waren.

„Ich glaub’, da haben sie Anna hingebracht.“

„Warum sagst du uns so was Wichtiges nicht gleich?“ fuhr Ron sie an und rief Ben und Kane.

„Was ist los?“

„Sie weiß, wo die Anna festhalten.“

Die Männer sahen Jessica an, Bens Mund wurde zu einem schmalen Strich.

„Ich weiß das nicht genau.“

„Aber du hast doch eben den Carnelly-Bunker erwähnt!“

„Carnelly?“ fragte sie Ron.

„Sie meinte was von Conelly“, wiederholte Jake ihre genauen Worte.

„Erzählen Sie!“ forderte Ben.

„Ich sagte doch, dass ich die Typen vor meiner Wohnung belauscht hab.“

„Und die haben gesagt, dass sie Anna in diesen Bunker gebracht haben?“

„Nein.“

„Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“ schimpfte Jake.

Jessica fasste sich an den Kopf und versuchte sich zu konzentrieren.

„Kopfschmerzen?“ war Kanes kurze Frage.

Sie nickte. Wieder mal verschwand Ron aus dem Zimmer.

„Die haben sich aber über einen alten Bunker unterhalten und meinten, dass der besser ist, als er aussieht.“

Ron reichte ihr eine Aspirin sowie ein Glas Wasser.

„Danke!“

„Ist noch ne Aspirin da? Mein Schädel brummt auch“, während Jake das sagte, strich er sich über die Stelle an seinem Kopf, auf die Jessica die Glasflasche geschlagen hatte.

„War die Letzte.“

„Hier“, mit dem einen Wort reichte sie Jake eine halbe Tablette. Ron nahm sie ihr ab und brachte sie seinem Kollegen.

„Würden Sie jetzt endlich fortfahren?“ forderte Ben genervt.

„Womit?“

Er verdrehte die Augen. Kane stieß ihm in die Seite, dann setzte er sich auf einen Sessel.

„Ich denke, es ist an der Zeit, dass sie uns alles verraten.“

Ben und Jake setzten sich auf die anderen beiden Sessel. Ron hob Jessicas Beine hoch, setzte sich auf die Couch und legte ihre Beine schließlich auf seinem Schoß ab. Irgendwie kam sie sich in dieser Situation wieder blöd vor, doch sie sagte nichts.

„Ich kann mich nicht an alles erinnern, worüber die beiden geredet haben.“

„Tut mir leid“, fügte sie noch hinzu, als keiner der Männer etwas sagte.

„Woran können Sie sich erinnern?“

Wieder waren sämtliche Augenpaare auf Jessica gerichtet, das machte sie nervös. Also lehnte sie sich zurück und schloss ihre Augen.

„Sie wollten auf jeden Fall zwei Männer hochgehen lassen und so wie sie redeten war klar, dass Anna lebte und sich in ihrer Gewalt befand. Sie redeten über einen alten Bunker, der mehr hergibt, als sie dachten. Der hieß Conelly oder so ähnlich.“

„Carnelly oder Conneby?“

„Kann beides sein, ich glaub’ aber eher Carnelly.“

„Welcher denn nun?“

Angestrengt dachte Jessica nach.

„Kann ich was zu schreiben haben?“ bat sie.

„Was soll denn das jetzt schon wieder?“ fragte Ben angenervt.

„Bitte lassen Sie es mich versuchen.“

Schließlich reichte Kane ihr einen Zettel und einen Bleistift. Sie setzte sich wieder auf und versuchte auf ihrem Schoß zu schreiben, was ihr natürlich misslang. Ron reichte Jessica ein Buch als Unterlage.

„…ohne den Geländewagen hast du da keine Chance, Lukas! - Wo bringen wir die Zeugin hin? - Mensch, Lukas, frag’ nicht so blöd! - Und wenn wir die Typen haben? - Einen von ihnen will Duck persönlich haben. - Wieso? - Er meinte, er hätte noch eine alte Rechnung offen. - Ist der auch in dem Versteck am Stadtrand? - Nein, den haben wir noch nicht aufgetrieben, aber wenn du dich beim Boss einschmeicheln willst, solltest du den Kerl aufgabeln. - Wie erkenn’ ich den? - Ganz einfach, groß, muskulös, Ende dreißig,…“

„Warum hörst du auf?“

Jessica sah zu Ron auf. Er hatte mitgelesen und den anderen verraten, was sie schrieb.

Die Frau legte einen Finger auf ihre Lippen und bat Ron dadurch still zu sein, denn sie musste sich konzentrieren. Dann schrieb sie weiter.

„…der Schuss in den Nacken der Kleinen hat echt gesessen! - Klar, wenn Steven was macht, dann auch richtig. - Was hat die Kleine in so nem Club getrieben? - Getanzt. - Was? - Ich denke, sie wollte sich da vor uns verstecken. - Vor uns? Das hat noch keiner geschafft. - Aber den Plan hast du dir von ihr abnehmen lassen, du Grünschnabel! - Sie hatte doch gar keine Möglichkeit, den weiter zu geben. - Das entschuldigt deinen Fehler auch nicht! Außerdem könnte sie der Frau im Club was verraten haben. - Wer ist diese Frau überhaupt? Gehört sie zu der Kleinen? - Keine Ahnung, sie steht aber auf der Abschussliste von…“

Wieder fasste Jessica mit den Händen an ihre Schläfen, niemand sagte ein Wort, dann schrieb sie weiter:

„… was war das? - Da ist doch jemand! - Bleib steh’n! - Schnell, hinterher!...“

Jessica sah auf. Verwundert las sie ihre eigenen Notizen. Während des Schreibens hatte sie nicht darüber nachgedacht, was sie zu Papier brachte, die Worte flossen von alleine und so hatte sie auch ihren Sinn nicht erkannt.

„Wieso steh’ ich auf irgendeiner Abschussliste?“

„Es muss auf jeden Fall der Carnelly-Bunker sein, um den Anderen zu erreichen, braucht man keinen Geländewagen.“

Die Männer unterhielten sich über das, was ihr Gast aufgeschrieben hatte. Ignoriert zu werden, war Jessica mittlerweile gewohnt.

„Gibt es noch etwas Wichtiges, was passiert ist?“

„Ich hab keine Ahnung was wichtig ist.“

„Und wir haben nicht ewig Zeit“, bemerkte Ben ungeduldig.

„Warum hören Sie dann nicht einfach nur zu?“ machte Jessica ihn an.

Verwundert sah er sie an, wohl zum ersten Mal hielt sie seinem Blick stand.

„Wir machen uns auf den Weg und du hörst ihr zu. Wenn Jessica was Wichtiges erzählt, ruf uns an!“ schlug Ron vor.

Die Anderen stimmten dem zu, sie hatten eine lange Fahrt vor sich.

Die Vier ließen Jessica allein. Sie stand auf und humpelte zum Bad. Als sie es wieder verließ, stand Ben vor der Tür und sah sie missbilligend an.

„Was wird das?“ fragte er vorwurfsvoll.

„Ich musste mal…“

„Nicht rumlaufen hab ich gesagt!“

„Soll ich aufs Klo fliegen?“

Wortlos kam Ben auf sie zu, hob sie auf seine Arme und trug Jessica zurück ins Wohnzimmer.

„Ich hab keine Lust wegen Ihnen das Risiko einzugehen einen Arzt zu holen!“ schimpfte er.

Wohl oder übel musste sie einsehen, dass er Recht hatte.

Jessica beobachtete, wie Ben zur Terrassentür ging und sie öffnete, um frische Luft reinzulassen.

„Ganz schön heiß heute.“

Auch Jessica schwitzte. Ben lehnte sich gegen die Wand, die Arme verschränkte er hinter dem Rücken. Dadurch spannte das Hemd so sehr, dass man jedes einzelne Stück Haut darunter mehr als nur erahnen konnte.

Wie sollte Jessica sich bei dem Anblick konzentrieren?

Also lehnte sie sich zurück und schloss erneut ihre Augen, doch sie bekam das Bild dieses Mannes einfach nicht aus dem Kopf.

„Ich hab keinen Bock ewig zu warten!“

Wie konnte sie ein derart unfreundlicher Mann bloß so schrecklich durcheinander bringen?

Es hatte keinen Sinn, sie konnte so nicht nachdenken. Also nahm sie sich Kanes Schreibblock und den Bleistift.

„Wollen Sie nicht mit mir reden?“

„Ich kann mich beim Schreiben besser konzentrieren“, verriet sie ehrlich.

Ben schüttelte verständnislos den Kopf, sagte aber nichts weiter.

Dennoch konnte Jessica nicht schreiben. Mit diesem Mann alleine in einem Raum zu sein lenkte sie viel zu sehr ab.

„Würden Sie mir eine Tasse Tee machen?“

Wenig begeistert ließ er die Frau endlich allein.

„…ich rannte auf die Lichter zu. Den Schmerz in meiner Hüfte ignorierte ich dabei. ‚Alles in Ordnung mit Ihnen?’ Ich sah auf eine Gruppe junger Leute. ‚Ja, alles bestens. Wisst ihr, ob hier irgendwo in der Nähe ein Internetcafé ist?’ Nachdem sie mir den Weg erklärt hatten, rannte ich die Straße entlang. Im Café angelangt setzte ich mich in die hinterste Ecke und sah mir diese Karte, die Anna mir gegeben hatte, genauer an. Zumindest den Teil, den ich entschlüsseln konnte.“

„Haben Sie den Originaltext irgendwo aufgeschrieben?“

Erschrocken zuckte Jessica zusammen. Ben stand hinter ihr und hatte bereits alles gelesen.

„Nein, nur gelesen.“

„Alles?“

„Nur das, was ich lesen konnte. Etwa zehn Prozent waren anders verschlüsselt. Ich schätze das war ein mathematischer Code, davon hab ich keine Ahnung.“

„Schreiben Sie weiter!“ forderte der Mann sie auf, während er zum Schreibtisch ging.

„Anna hatte gefordert, dass ich die Polizei raushalte. Nachdem ich nun so viel gelesen hatte, ergab das einen Sinn. Sie und ihr Team hatten nichts mit der Polizei zu tun, sie arbeiteten beim Geheimdienst eines anderen Landes. Zu welchem Land sie gehörten ging daraus nicht hervor. Allerdings waren Ergebnisse zu Recherchen verzeichnet, die zeigten, dass Anna einem ziemlich großen Verbrecherring auf der Spur war. Ich überprüfte einiges anhand des Internets und kam so zu der Überzeugung, dass Anna auf der richtigen Seite stand. Nun hatte ich die Wahl entweder zur Polizei zu gehen oder aber Sie aufzusuchen. Ein genauer Plan Ihres Verstecks befand sich auch auf dieser Karte. Auch wenn Anna mich gebeten hatte, die Polizei aus dem Spiel zu lassen, sah mein erster Impuls so aus, genau dort hinzugehen. Allerdings erinnerte ich mich an das Gespräch der Typen vor meiner Wohnung. Sie wollten zwei Menschen beseitigen und die Polizei hätte das sicher nicht verhindern können. Ob sie mir überhaupt glauben würden, bei meinem Ruf als Journalistin? Dennoch ging ich in Richtung Polizeistation, vor dem Eingang erkannte ich den Wagen. Es war derselbe wie der, an dem die Leute sich vor meiner Haustür unterhalten hatten.“

„…früher oder später wird sie hier auftauchen. - Was macht dich da so sicher? - Wo soll sie sonst hin? - Und wenn die Kleine ihr irgendwas verraten hat? - In der kurzen Zeit? Kein Mensch weiß, dass der alte Duck das Versteck im Osten entdeckt hat. Selbst wenn die Kleine irgendwas verraten haben sollte, ist es eh zu spät! - Wieso? - In genau sechs Stunden gehen die Beiden hoch. Wie soll die das verhindern? - Und wenn sie es doch schafft? - Dann nehmen wir sie in ihrem Hauptquartier hoch.“

Jessica war noch nicht fertig, da schrie Ben sie auf einmal an:

„Packen!“

Erschrocken fuhr sie zusammen.

Für einen Moment schien er irritiert, dass sie seinem Befehl nicht folgte, dann ordnete er an:

„Sitzen bleiben!“

Er selbst rannte die Treppen rauf. Kurze Zeit später kam er mit zwei Taschen wieder nach unten. Jessica hörte wie die Haustür ging, dann schien es, als wäre er in der Küche. Irgendwann stand er wieder vor ihr.

„Was wird das?“ fragte sie ihn irritiert, als er sie auf seine Arme hob.

„Wart’s ab!“

Ihr fiel auf, dass er die förmliche Anrede vergessen hatte. Sein entschlossener, harter Blick sorgte dafür, dass Jessica mal wieder stumm blieb.

Ben setzte die Frau in den Pickup. Sofort nachdem er gestartet war, stellte er den Lautsprecher seines Handys ein und wählte.

„Hast du noch was rausgekriegt?“ hörten sie Rons Stimme.

„So wie’s aussieht, kennen die unser Hauptquartier.“

„Was?“ fragte Jessica erschrocken.

Sie war so überzeugt davon, hier sicher zu sein, zumindest vor den Leuten, die Anna hatten.

„Und das fällt ihr erst jetzt ein?“

„So wie’s aussieht, hat sie das noch nicht mal begriffen.“

„Ich denke, sie hat dir das erzählt?“

„Aufgeschrieben“, war Bens knappe Antwort.

„Seid ihr unterwegs?“

„Klar.“

„Sonst noch was Wichtiges?“

„Nein.“

„Kane meint, du sollst sie weiter schreiben lassen.“

Ben beendete das Gespräch.

„Wo soll ich jetzt Stift und Zettel hernehmen?“ das klang mal wieder genervt.

„Der tut’s auch“, mit den Worten griff Jessica nach dem Laptop.

Ben riss ihn ihr aus der Hand.

„Kann ja wohl nicht so schwer sein, einfach mal zu erzählen!“

„Okay, ich versuch’s.“

Jessica dachte zurück an das zweite Gespräch, das sie belauscht hatte.

„Der eine Kerl redete dann über eine Tussi in einem Nachtclub. Die schien auch für diesen Duck zu arbeiten.“

„Name?“

„Wie der Nachtclub hieß, weiß ich nicht.“

„Und die Frau?“

„Madeleine Masskowski.“

„Woher wissen Sie das jetzt so genau?“

Jessica blickte angestrengt aus dem Seitenfenster und hoffte, dass der Mann die rötliche Verfärbung in ihrem Gesicht nicht bemerkte, als sie zugab:

„Das war der Name meiner Hauptdarstellerin in meinem ersten veröffentlichten Roman.“

„Merkwürdiger Zufall“, murmelte Ben.

„Ja, genau das dachte ich auch. Noch eigenartiger war allerdings der Name, den sie später erwähnten.“

„Welcher Name und wieso?“

Als sie nicht sofort etwas erwiderte, meinte er abfällig:

„Lassen Sie mich raten: das war der männliche Hauptdarsteller in Ihrem Schundroman?“

„Nein, das nicht, aber durch ihn… ach, das ist unwichtig.“

„Was unwichtig ist und was nicht, entscheide immer noch ich! Also, wer ist der Andere?“

„Sie meinen wohl, wer war er?“

„War?“

„Der Junge ist vor einigen Jahren zum Tode verurteilt worden.“

„Was haben die über ihn geredet?“

„Ich war schockiert, als ich den zweiten bekannten Namen hörte. Da hab ich den Rest nicht mehr mitgekriegt.“

„Na klasse!“

„Irgendwann warfen die zwei ihre Kippen weg und verschwanden auf dem Polizeirevier, das war für mich der Zeitpunkt den Ort zu verlassen.“

„Das heißt, Sie wollten ursprünglich zur Polizei gehen.“

„Ja, trotz Annas Anweisung“, gab Jessica offen zu.

„Aber Sie konnten nicht. Also sind Sie dann in unser Versteck gekommen?“

„Ja.“

„Und wie haben Sie das mit der Wunde an Ihrer Stirn hingekriegt?“

„Welche Wunde?“

„Schon vergessen? Ich hab Ihnen ein Pflaster drauf geklebt.“

Unwillkürlich fuhr sie mit ihrer Hand über ihre Stirn, dort klebte tatsächlich ein Pflaster unter dem Pony.

„Wo das getrocknete Blut auf Ihrem Kleid herkam, hab ich mittlerweile rausgekriegt, aber das mit Ihrer Stirn ist mir ein Rätsel.“

„Woher wissen Sie…“

Sie konnte sich nicht erinnern, dem Mann von ihrer Wunde am Oberschenkel erzählt zu haben. Dann fiel ihr ein, wie er sich ihren Bluterguss angesehen hatte.

„Aber das konnten Sie doch gar nicht sehen, als ich auf der Couch lag!“

„Nein, aber als ich Sie aus der Wanne holte.“

Warum musste er sie daran erinnern? Das war ihr schon peinlich genug, ohne dass er es erwähnte.

„Wie ist das mit Ihrer Narbe passiert?“

Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen. Wie konnte sie den Mann das nur fragen? Damit musste ihm klar sein, dass sie ihn sich genau angesehen hatte.

Er wusste sofort wovon Jessica sprach, das bewies seine Antwort, die eigentlich gar keine war:

„So was passiert, wenn man den Falschen vertraut.“

„Sie wurden hintergangen?“ wagte sie weiter zu forschen.

Das Handy unterbrach ihre Unterhaltung.

„Ja?“

„Was Neues?“

„Ne Menge Zufälle.“

„Ich dachte, du glaubst nicht an Zufälle?“

„Und bei euch?“

„Wir hatten gerade eine Unterhaltung mit einer gewissen Christine Geoffreys.“

„Mit wem?“ mischte Jessica sich in das Gespräch ein.

Da das Handy auf Lautsprecher geschaltet war, hatte sie jedes Wort mit angehört.

„Christine Geoffrey. Kennst du…“

„Das ist eine Falle!“ schrie die Frau aufgebracht.

„Was ist los?“ fragte Ron irritiert.

Ben hielt den Wagen und sah Jessica an.

Sie ignorierte ihn.

„Sie hat euch verraten, wo Anna ist und wie ihr die Wachen umgeht!“

„Woher weißt du…“

„Stimmt das etwa?“ unterbrach Ben seinen Kollegen.

„Ja, sie meinte, sie hätte…“

„…mit dem Alten noch eine Rechnung offen“, beendete Jessica den Satz für Ron.

„Halt an, Jake!“

„Jetzt verrat uns was das zu bedeuten hat!“ forderte Ron.

„Das ist völlig unmöglich, aber…“

„Reden Sie endlich!“ schrie Ben sie an.

„…das ist aus meinem allerersten Manuskript.“

„Wieder dieser Müll!“

„Nein, ich rede von meinem unveröffentlichten Roman, den kein Verlag haben wollte.“

„Woher kennt dann jemand die Handlung?“ wunderte sich Ron, der jedes Wort mit angehört hatte.

„Und den Namen“, ergänzte Jessica.

„Das kann auch dummer Zufall sein.“

War das Jakes Stimme im Hintergrund?

„Nicht der Erste in dieser Richtung“, wunderte sich Ben.

„Wir brechen ab!“ entschied Ron schließlich.

„Ich denke auch“, stimmte Ben zu.

„Aber wir sollten hier in der Nähe Quartier beziehen“, schlug Jake vor.

Zurück an den Ort des Geschehens? Jessica war nicht begeistert von der Idee. Zu ihrem Entsetzen war Ben einverstanden und wendete den Wagen.


Nachdenklich sah Jessica aus dem Seitenfenster.

„Ich muss doch irgendwas mit der Sache zu tun haben“, dachte sie laut.

„Was Sie nicht sagen!“

„Seien Sie endlich offen zu mir!“ forderte Ben nun versöhnlicher.

Offen? Sie hatte doch selbst keine Ahnung, was vor sich ging. Jessica fiel auf wie abschüssig es hier war, das erinnerte sie an ihren Weg in das Versteck.

„Auf dem Weg zu Ihnen war es auch so abschüssig, da bin ich so einen Abhang runtergeklettert. Zumindest hab ich’s versucht und mir dann den Oberschenkel aufgerissen.“

„Sie waren zu Fuß unterwegs?“

„Sicher, wie sonst? Ich hätte wohl kaum meine Kreditkarte nehmen können, um damit ein Taxi zu bezahlen.“

„Kein Bargeld?“

„Das war in meiner Handtasche.“

„Das erklärt warum Sie so erschöpft waren und die Wunde an Ihrer Stirn.“

„Wieso?“

„Sie müssen von Norden gekommen sein, ein langer Fußmarsch. Nach dem Abhang kommt ein dicht bewachsenes Wäldchen. War es ein Ast?“

Jessica erinnerte sich wieder.

„Ich war wohl nicht aufmerksam genug.“

„Oder am Ende“, murmelte Ben.

„Was hat das alles mit mir zu tun?“

Ben erwiderte nichts auf ihre Frage, wahrscheinlich hatte auch er keine Ahnung.

„Worum ging es eigentlich in diesem Roman?“

„Hmm?“

„Der, über den Sie gerade mit Ron redeten.“

„Meine Güte, das ist es!“

„Was?

Jessica wollte das Handy nehmen, doch Ben hielt sie am Arm zurück.

„Ich muss mit Ron reden.“

Ben drückte einen Knopf des Handys, wahrscheinlich Wahlwiederholung.

„Ja?“

„Ron, wo ist mein USB-Stick?“ fragte sie aufgeregt.

„Keine Sorge, Jessica, der ist bei mir in guten Händen.“

„Sie haben ihn bei sich?“

„Ja.“

„Auch einen Laptop?“

„Was willst du?“

„Auf dem Stick ist mein erstes Manuskript.“

„Du meinst, das, was uns hier passiert ist?“

„Genau.“

„Und was willst du jetzt?“

„Ich bin mir nicht sicher, aber irgendwo auf Seite fünfundneunzig bis neunundneunzig finden Sie genau die Szene wieder.“

„Worunter hast du das gespeichert?“

„Vertrauen wird dein Untergang sein!“

„Seite achtundneunzig“, hörten sie kurz darauf im Hintergrund Kanes Stimme.

„Gehen Sie genau dreizehn Seiten weiter.“

Es wurde still.

„Gefunden?“ fragte sie schließlich.

„Oh ja. Danke, Jessica, wir melden uns wieder.“

Ben hängte ein.

„Klären Sie mich auf!“ forderte er.

„Ich fand’s damals unheimlich clever genau nach dreizehn Seiten die Aufklärung zu dieser ominösen Dame zu schreiben.“

„Sie meinen die, die meine Kollegen in eine Falle locken wollte.“

„Ja, ich erkläre da genau woran man diese Falle hätte erkennen können, sämtliche Zeichen. Außerdem beschreibe ich, dass es kein Entkommen gibt und warum das so ist.“

„Warum haben Sie das den Anderen nicht selbst erklärt?“

„Es ist einige Jahre her, dass ich das geschrieben hab. Und ich weiß ja auch nicht wirklich, ob’s weiterhilft. Aber sollte es noch mehr Fallen geben, die sich auf meinen Roman beziehen, sind sie zumindest vorgewarnt.“

„Das war gut, Jessica.“

Sie sah Ben von der Seite an, zum ersten Mal, seit sie ihn kennen gelernt hatte, lobte er sie.

„Was glauben Sie, was die mit Anna anstellen?“

„Wie endet Ihr Roman?“

„Was hat das damit zu tun?“

Ben verstummte wieder. Jessica dachte über seine Worte nach. Wie konnte es sein, dass es so viele Zufälle in Verbindung mit dem, was sie geschrieben hatte, gab? Sie wurde das Gefühl nicht los, doch mehr mit dem Fall zu tun zu haben. Vielleicht hatte Anna sie doch nicht zufällig angesprochen? Aber was sollte gerade sie damit zu tun haben? Seit ihrer Kündigung als Journalistin lebte sie sehr zurück gezogen, hatte nicht wirklich Freunde. Ein paar Bekannte, sicher, aber sie ließ niemanden an sich heran, schon gar keinen Mann. Ihr Exfreund hatte sie verlassen, nachdem sie ihren gut bezahlten Job und das Haus verloren hatte. In dieser schweren Zeit war sie damals allein, ganz allein. Aber nachdem, wie skrupellos sie vorher in ihrem Journalismus war, war sie sich sicher, es nicht anders verdient zu haben. Bloß was konnte all das, was hier vorging mit ihr zu tun haben? Sie hatte keine Freunde, aber auch keine Feinde, davon ging Jessica zumindest aus.


Ben hielt den Wagen vor einem kleinen Holzbungalow. Sofort öffnete sich die Haustür und die anderen Männer kamen zu ihnen.

„Alles glatt gelaufen?“

„Keine Probleme. Und bei euch?“

Ben unterhielt sich angeregt mit Kane, Ron und Jake. Jessica wurde mal wieder ignoriert. Also öffnete sie die Wagentür und wollte aussteigen.

„Warte, ich helf’ dir!“

Schon stand Ron neben ihr.

„Willst du dich erstmal frisch machen?“

Sie nickte nur.

Als Jessica versuchte mit dem bandagierten Fuß aufzutreten, fing es sofort an zu brennen.

Mit den Worten:

„Ich seh’ mir deinen Fuß nachher noch mal genau an“, hob Ron sie einfach auf seine Arme und trug sie ins Haus.

Jessica Barnes hatte das Gefühl, eine halbe Ewigkeit im Bad zu brauchen, dennoch stand Ron geduldig vor der Tür und lächelte sie an, als sie das Bad wieder verließ.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, würde ich mich gerne ein wenig hinlegen.“

„Hab ich“, erwiderte er kurz, während er Jessica erneut auf seine Arme hob.

„Was?“

„Du wirst jetzt erstmal was essen!“ bestimmte er, trug sie in die Küche und setzte Jessica dort auf eine Bank.

Kane setzte sich zu ihr.

„Ich muss mich bei Ihnen bedanken, Jessica.“

„Wofür?“

„Ohne Sie wären wir in die Falle getappt.“

„Ich versteh’ das alles überhaupt nicht, aber irgendwie hab ich langsam das Gefühl, dass Anna mich nicht zufällig angesprochen hat. Auch wenn ich keine Ahnung hab, worum’s hier geht, scheinen meine Romane eine ziemlich große Rolle zu spielen.“

Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. Aber warum auch nicht, Kane war ihr gegenüber bisher immer höflich und respektvoll gewesen, warum sollte sie ihm nicht einfach vertrauen?

„Den Verdacht haben wir auch. Können Sie sich an irgendetwas erinnern, irgendeine Geste von Anna, die uns weiterbringen könnte?“

„Nein, leider nicht.“

„Denken Sie genau darüber nach“, forderte Kane.

Genau das tat Jessica, während sie aßen. Die ganze Zeit über dachte sie an die eigentlich recht kurze Begegnung mit Anna.

„Machen Sie das noch mal!“

Alle sahen Jessica an, doch ihr Blick war ausschließlich auf Ben gerichtet, der sich gerade ein Glas aus einem der oberen Hängeschränke genommen hatte.

Statt ihrer Bitte zu folgen, setzte er sich zurück an den Tisch.

„Das hat mich an irgendwas erinnert“, versuchte Jessica zu erklären.

Ron stand auf, drehte allen den Rücken zu und öffnete dann denselben Schrank wie zuvor Ben.

„Es war das Glas!“

Ron nahm eines aus dem Schrank.

„Würden Sie sich an den Küchentresen setzen?“ bat Jessica weiter.

Kane nickte Ron kaum merklich zu, der setzte sich. Die Frau stand von der Bank auf und humpelte zu ihm.

„Nein, Sie sind viel zu groß.“

Kurzerhand ließ Ron den Barhocker nach unten schnellen.

„Besser?“

Sie nickte, dann betrachtete sie nachdenklich Ron, dieses Glas und den Tresen. Jessica setzte sich neben ihn auf einen weiteren Barhocker und stellte den in der Höhe so ein, dass es vom Größenunterschied genau so war, wie damals zwischen Anna und ihr, als sie an dieser Bar saßen.

„Ich brauche eine Serviette - und einen Kugelschreiber.“

Ohne nachzufragen wurde ihr beides gereicht. Sie legte die Serviette vor Ron hin, dann führte sie seine rechte Hand mit dem Glas genauso an den Tisch, wie sie es bei Anna gesehen hatte.

„Sie ist Linkshänderin“, fiel ihr ein.

Ron nickte bestätigend.

„Nehmen Sie den Stift und schreiben Sie etwas auf die Serviette.“

Ron nahm den Stift in seine Linke und setzte ihn umständlich auf der Serviette ab, er war eindeutig Rechtshänder.

Wie Jessica so auf seine Hände sah, wurde das Bild dieser Serviette immer deutlicher, Anna hatte etwas darauf gezeichnet. Damals hatte Jessica sich noch gefragt, ob Anna nervös war, weil sie die ganze Zeit vor sich hin zeichnete.

Sie nahm Ron den Stift aus der Hand und stellte sich dicht neben ihn, dann begann Jessica zu zeichnen. Es war, als würde sich der Stift allein über die Serviette bewegen.

Gebannt beobachteten die Männer ihren Gast. Ron rückte keinen Millimeter zur Seite, sicher wollte er sie in ihrer Konzentration nicht stören.

Als Jessica fertig war, setzte sie sich zurück auf den Barhocker und blickte kopfüber auf die Serviette.

„Irgendwas fehlt noch“, dachte sie laut.

Ron nahm den Stift mit seiner Rechten und zeichnete lediglich zwei Striche in das Bild.

„Ja, genau das ist es!“ rief Jessica aus.

„Das hat Anna in diesem Club gezeichnet?“

„Ja, während sie sich mit mir unterhielt, war sie die ganze Zeit am Kritzeln.“

Ron reichte den Anderen die Serviette.

„Was ist das?“ fragte Jessica nach.

„Eine Nachricht.“

„Was für eine Nachricht?“ sie verstand noch immer nicht.

„Wir müssen den Rest auf der Memory Card entschlüsseln.“

Außer diesem einen Satz von Kane, bekam Jessica nichts mehr zu hören.

„Bitte entschuldigen Sie uns, Jessica, wir haben zu arbeiten“, erklärte Kane höflich bevor alle vier die Küche verließen.


Gedankenverloren begann sie die Küche aufzuräumen. Die neuesten Ereignisse hatten sie zunehmend verunsichert. Anscheinend hatte Jessica mit Verbrechern und Agenten zu tun. Das einzig Gute an der Sache war, dass sie sich auf der richtigen Seite befand, zumindest hoffte sie das. Als Journalistin hätte sie diese Situation fasziniert, sie hätte eine unglaubliche Story gewittert und wäre niemals auf die Idee gekommen, allein in der Küche zu bleiben, während die Männer arbeiteten. Nein, sie hätte mit Sicherheit gelauscht, geschnüffelt, alles daran gesetzt Fakten zu sammeln.

Gab es diese Jessica Barnes noch? Schlummerte vielleicht noch irgendetwas aus dieser Zeit in ihr? Es konnte doch nicht restlos alles von dieser kalten, zielstrebigen und mutigen Frau verloren sein. Insbesondere den Mut wünschte sie sich im Moment sehnlichst zurück.

Schließlich gab Jessica sich einen Ruck und schlich leise zur Küchentür, dann auf den Flur. Die Haustür war diesmal nicht verschlossen.


„Hat einer von euch Jessica geseh’n?“

„Vielleicht im Bad?“

„Nein.“

Die drei Männer gingen an Ron vorbei und durchsuchten den Bungalow. Da er sehr klein war, trafen sie sich kurz darauf im Wohnzimmer wieder.

„Ob sie weggelaufen ist?“ mutmaßte Jake.

„Nachdem sie die Küche aufgeräumt hat?“ warf Kane ein.

Die Anderen gaben ihm Recht, das passte nicht zusammen.

„Die Wagen steh’n noch draußen.“

„Dann kann sie nicht weit sein. Ben, Jake, ihr fahrt getrennt und sucht sie. Du nimmst den Pfad zum Ort, Ron!“ befahl Kane.

Wie immer hörten alle auf ihn. Kane selbst wollte hinterm Haus suchen. Hier war es stockdunkel, es war spät geworden. Kane holte eine Taschenlampe. Er brauchte nicht lange suchen, schon von weitem erkannte er die Frau auf dem Rasen sitzend, ihre Schultern bebten leicht. Kanes Vermutung, dass sie weinte, bestätigte sich, als sie ihn bemerkte und sich kurz umdrehte. Ihre Augen waren gerötet. Mit dem Handrücken wischte sie sich übers Gesicht. Während er auf sie zuging, schrieb er eine kurze SMS an seine Kollegen. Kane setzte sich zu Jessica und legte wortlos den Arm um ihre Schultern. Es wunderte ihn nicht, dass sie es geschehen ließ, auch wenn sie sonst von ihnen allen Abstand hielt. Die einzige Ausnahme bestand in den Momenten, in denen sie versuchte sich an etwas zu erinnern. Insbesondere wenn sie schrieb, legte sie ihr Misstrauen vollständig ab. Als Jessica sich an ihn lehnte und schluchzte, streichelte er sanft über ihren Rücken.


Jessica verließ das Haus, schloss die Tür leise hinter sich und blickte sich dann um. Ihr fiel auf, dass im Pickup der Schlüssel steckte, aber sie hatte gar nicht vor, ihn zu benutzen. Sie wollte lediglich die frische Luft genießen und für einen Moment allein sein. Also ging Jessica hinter das Haus, wo sie eine riesige Rasenfläche entdeckte. Die Frau humpelte ein paar Meter vom Haus weg und setzte sich schließlich ins Gras. Ihr war deutlich bewusst geworden, dass es die starke Jessica Barnes nicht mehr gab. Sie bereute das nicht, denn sie wollte nicht kalt und skrupellos sein, aber sie wusste auch nicht, wie sie mit dieser Situation hier fertig werden sollte. Tränen liefen ihr unaufhaltsam über die Wangen, Jessica konnte und wollte es nicht verhindern, weil sie spürte, dass es ihr gut tat, sich einfach gehen zu lassen und ihren Gefühlen hinzugeben. Jessica wusste nicht wie lange sie so im Gras saß, erst der Lichtkegel einer Taschenlampe holte sie aus ihren Gedanken. Sie drehte sich nach hinten und entdeckte Kane. Mit dem Handrücken strich sie einige Tränen aus ihrem Gesicht.

Kane setzte sich zu ihr und legte seinen Arm um Jessica. Das war so tröstend, dass sie ihre Hemmungen und Ängste vergaß und sich vertrauensvoll gegen den Mann lehnte.

„Schwierige Situation, hmm?“ meinte Kane nach einer Weile.

Er klang so verständnisvoll, dass Jessica wieder anfing zu weinen, diesmal allerdings in Kanes Armen.

„Kann ich es Ihnen irgendwie leichter machen?“ fragte er, nachdem sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatte.

„Versprechen Sie mir, dass alles gut wird!“ forderte Jessica, auch wenn ihr klar war, dass der Mann das nicht mit ruhigem Gewissen tun konnte.

„Was bedeutet für Sie ‚gut’?“ wollte er zu ihrer Verwunderung wissen.

Sie dachte nach.

„Auf jeden Fall, dass es Anna gut geht und sie in Sicherheit ist.“

„Ich weiß.“

„Woher?“

„Sonst wären Sie sicher schon längst gegangen, Jessica.“

„Ich hatte gar keine Wahl, was ich tue.“

„Doch, die hatten Sie. Sie wollten einfach nur weit weg von Allem. Das waren Sie bereits. Sie hatten mehr als einmal die Chance einfach zu verschwinden, aber Sie sind mit Ben hierher zurückgekehrt.“

Kane hatte Recht, das war es, was sie ursprünglich gewollt hatte.

„Es wäre aber keine wirkliche Lösung gewesen.“

„Für Anna oder für Sie?“

„Für uns beide“, erwiderte Jessica nachdenklich.

„Was erwarten Sie von uns?“

Nun löste sie sich aus Kanes Umarmung und sah zu ihm auf.

„Dass Sie Anna helfen.“

„Und für sich?“

Jessica musste tatsächlich darüber nachdenken. Wie konnte das sein, da dachte sie die ganze Zeit über ihre derzeitige Situation nach und über all das, was ihr angst machte und sie verunsicherte, aber sie hatte nicht einen Gedanken daran verschwendet, was sie wollte oder was das Ganze zumindest annehmbarer für sie machen könnte.

„Ich wünschte, ich hätte keine Angst.“

„Angst davor, wie es weiter geht?“

„Nein.“

„Das bedeutet dann, dass sie Angst vor uns haben.“

Kane hatte Recht, es fiel ihr nicht leicht es ihm gegenüber einzugestehen.

„Wir sind wohl manchmal etwas raubeinig, das liegt daran, dass wir zu viel unter uns sind.“

„Sie meinen, weil sonst keine Frau in der Nähe ist?“

„In Annas Anwesenheit verhalten wir uns nicht anders. Ich meinte bloß, es ist nicht so einfach mit einer Zivilistin umzugehen.“

„Wieso?“

„Für uns ist das alles Alltag, auch wenn wir uns natürlich große Sorgen um unsere Kollegin machen. Aber für Sie muss das schwer zu verarbeiten sein, nicht wahr, Jessica?“

Sie nickte.

„Gibt es etwas, wie wir es Ihnen leichter machen können?“

Wieder dachte Jessica nach. Die Art, auf die Kane mit ihr sprach, tat ihr gut. Und sie wusste diese Fürsorglichkeit durchaus zu schätzen. Was störte sie an den Männern? Und was würde sie sich anders wünschen?

Genau genommen, waren sie nicht unfreundlich, außer vielleicht Ben mit seiner extrem grummeligen Art. Jessica konnte bloß ihr Misstrauen nicht abschalten und zu allem Überfluss kam noch hinzu, dass alleine das Aussehen der Männer ihren Körper in Aufruhr brachte, so dass sie noch unsicherer wurde. Aber das konnte sie Kane nun wirklich nicht anvertrauen.

„Ich werde darüber nachdenken“, wich sie also einer direkten Antwort aus.

Als ein paar Regentropfen fielen, schlug Kane vor, zurück ins Haus zu gehen.

„Soll ich Sie tragen oder ist es Ihnen lieber, wenn ich Sie nur stütze?“

Jessica sah Kane an, konnte jedoch in der Dunkelheit sein Gesicht nicht erkennen.

„Danke!“

Das war alles, was sie sagte, als sie sich bei Kane einhakte und neben ihm her zum Haus zurück humpelte.


Im Haus zeigte Kane Jessica erstmal ihr Zimmer. Auf dem Bett lag eine Tasche mit Kleidung von Anna. Sie warf einen Blick hinein. Irgendwie war das typisch Mann, da hatte jemand achtlos irgendwelche Kleidungsstücke in die Tasche geworfen ohne einmal darüber nachzudenken, ob sie das überhaupt tragen konnte. Annas Oberteile waren so kurz, dass sie nicht einmal den Bauchnabel bedeckten und die Hosen kamen wegen ihrer verletzten Hüfte noch immer nicht in Frage. Ansonsten wären sie zwar viel zu kurz gewesen, aber das hätte sie nicht weiter gestört. In so einem knappen Shirt wollte sie allerdings auch nicht ins Bett gehen, denn sie konnte sich nicht einschließen.

Kane hatte ihr mitgeteilt, dass er in dem Zimmer links neben ihr schläft, also ging sie hin und klopfte zaghaft an.

Kurz darauf wurde die Tür schwungvoll geöffnet und Ben stand vor ihr.

„Gibt’s ein Problem?“ fragte er in seinem für ihn typischen ablehnenden Tonfall.

Jessica sah Kane im hinteren Teil des Zimmers stehen.

„Kann ich Sie um etwas bitten?“ fragte sie ihn schüchtern.

Er kam zu ihr an die Tür.

„Selbstverständlich, Jessica.“

„Würden Sie mir ein Hemd von sich…“

„Ich hab Ihnen Annas Klamotten aufs Bett gelegt“, ging Ben dazwischen.

Mit großen Augen sah sie Kane bittend an.

Kane griff in einen Kleiderschrank.

„Passen wohl nicht“, vermutete er.

„Ich glaub’, die entsprechen nicht so ganz ihrem Stil“, mischte sich Jake ein. Jessica hatte ihn hinter der Tür nicht bemerkt.

„Als ob wir uns so ein Tussigehabe im Moment leisten könnten!“ Ben sah sie angenervt an.

Jessica drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück in ihr Zimmer.

„Jessica?“

„Kommen Sie rein.“

Kane reichte ihr ein Hemd sowie ein T-Shirt von sich, dann warf er einen Blick in die Tasche, die noch immer auf dem Bett stand.

„Auf jeden Fall etwas kurz!“ kommentierte er die Kleidung und zog eine Jogginghose heraus.

„Damit müsste es doch gehen.“

Jessica schüttelte den Kopf.

„Und was ist mit der Jeans? Mit dem Gummizug…“

Kane hielt ihr die Hose an.

„Okay, etwas kurz, aber für den Anfang doch brauchbar.“

„…nur Kleider.“

Kane sah sie verwundert an.

„Jessica, in der jetzigen Situation können wir uns solche Marotten einfach nicht leisten…“, begann er ihr einen Vortrag zu halten.

Ihr war klar, dass er sie für eine verwöhnte Großstadtpflanze halten musste, ganz genau wie Ben es mit seiner Bemerkung angedeutet hatte. Schon wieder standen ihr Tränen in den Augen, sie brachte kein Wort hervor. Also schob sie einfach ihr Kleid nach oben. Kane sah sie irritiert an. Jessica drehte sich so, dass er auf den riesigen Bluterguss sehen musste.

Traurig blickte sie dem Mann in die Augen, endlich verstand er.

„Das muss ganz schön weh tun“, äußerte er mitfühlend.

Jessica nickte.

„Dann ist es wohl angenehmer, wenn das nicht von nem Hosenbund eingeschnürt wird.“

Während seiner Worte, strich sie das Kleid wieder glatt.

„Ich kümmer' mich darum!“ versprach er noch, bevor er sie allein ließ.


Es war zwei Uhr morgens als Jessica wach wurde. Ihr Magen knurrte fürchterlich und zu allem Überfluss hatte sie auch noch Schmerzen. Nur mit Kanes Hemd bekleidet, das ihr fast bis an die Knie reichte, ging sie in die Küche.

„Schlafen Sie auch mal?“ fragte sie Ron, der gerade eine Tasse Kaffee trank.

„Auch einen?“ bot er an.

„Nein, danke.“

Sie setzte sich an den Küchentisch und nahm sich einen Apfel.

„Kannst du nicht schlafen?“ fragte Ron.

„Sie anscheinend auch nicht.“

„Einer von uns schiebt nachts grundsätzlich Wache.“

„Dann scheinen Sie immer dran zu sein!“ stellte sie fest.

Ron lachte.

„Was macht dein Fuß?“

„Schon besser.“

„Soll ich dir einen neuen Verband machen?“ bot er an.

Jessica warf einen Blick auf den Verband, er war grün vom Rasen und verrutscht.

„Können Sie denn gleichzeitig meinen Verband wechseln und Wache halten?“

Nachdenklich sah der Mann sie an.

„Hab ich was Verkehrtes gesagt?“

„Komm’ mit ins Wohnzimmer“, forderte er sie auf.

Jessica setzte sich auf die Couch und ließ es zu, dass Ron sich um ihren Fuß kümmerte.

„Fahren Sie eigentlich auch mal in die Stadt?“

„Natürlich. Warum interessiert dich das? - Es ist viel zu gefährlich für dich, in die Stadt zu gehen!“

„Aber vielleicht könnten Sie mir etwas mitbringen?“

„Ben fährt morgen in den Ort, sag’ ihm einfach Bescheid. Aber vielleicht haben wir’s auch hier. Was brauchst du denn?“

Danach hatte sie bereits erfolglos gesucht.

„Ein Schmerzmittel.“

„Der Fuß?“

Jessica schüttelte den Kopf.

„Ich hol’ dir was.“

Wenigstens etwas, für das Andere würde sie morgen Ben fragen.

Ganz oder gar nicht!

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