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Kapitel 03

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Wenn das Teleskop nicht kaputt gewesen wäre, hätte Kira keinen Gedanken daran verschwendet, die Grenze zu überqueren. In der amerikanischen Hälfte gab es genügend Orte, an denen sie ungestört spielen konnte – zumindest, solange Celia und ihre Freunde nicht in der Nähe waren.

Es war so früh am Morgen, dass die Sterne noch nicht ganz verschwunden waren. Wie ein galaktisches Band spannten sie sich über die Insel. In der allumfassenden Stille war nur das entfernte Rauschen des Ozeans zu hören. Manchmal hatte Kira das Gefühl, dass er die Insel fest umschloss und unentwegt versuchte, an ihr emporzuklimmen. Sie stellte sich vor, wie die Wassermassen bei dem Versuch immer wieder abrutschten. Die Insel hatte keinen Namen, denn die Völker hatten sich nie auf einen einigen können. Für Khan Elliott war dies Amerika, für Basílissa Hana war es Ruan. Manche behaupteten, dass auch das Gestein der Insel aus zwei Kontinenten geformt war.

Kira erinnerte sich kaum an die Katastrophe. Ihre Mutter sagte immer, dass die meisten Menschen schlimme Erinnerungen verdrängten, und dass sie froh darüber sein sollte.

Mit einem Lederbeutel, in dem sie das Teleskop und einige Münzen verstaut hatte, um Augustin zu bezahlen, stieg sie die dunkle Treppe hinunter. Eugene war auf der Arbeit und Emilia schlief. Sie ließ sich nicht leicht wecken, allerdings wollte Kira kein Risiko eingehen. Als sie das untere Ende der Treppe erreicht hatte, atmete sie erleichtert auf. Breit grinsend streifte sie ihre Schuhe über und ließ die Haustür sanft ins Schloss einrasten. Die Tür zum Innenhof hatte sie schon am Abend aufgelassen, da sie keinen Schlüssel für das Haus besaß. Wenn Celia es schaffte, über den Bambuszaun zu klettern, schaffte Kira das auch.

Gebannt blieb sie stehen und blickte die Straße hinunter. Keine einzige Laterne brannte, dazu fehlte schon seit Monaten der Strom. Ohnehin sollte niemand zu dieser Uhrzeit auf den Straßen umherirren. Kira überlegte, dass es trotzdem ganz gut wäre, zumindest ein paar Lichter anzuschalten – dann würde niemand aus Versehen vom Rand der Insel fallen.

Die Gasse zum Marktplatz war nachtblau und schummrig, trotzdem keimte in ihrem Inneren Wärme auf. Es kam ihr nicht vor, als würde sie etwas Verbotenes tun.

Die Luft war abgekühlt, der Ozean rauschte in der Ferne und den Ohren. Sie hatte ihre flachen Schuhe angezogen, damit sie niemanden mit dem Geräusch der Absätze aufweckte. Ihre Mutter liebte es, wenn sie schöne Lackschuhe trug, obwohl Kira sie bei jeder Gelegenheit zerkratzte und beschmutzte.

Sie trat auf den Marktplatz und sah sich angestrengt um. In den Schatten waren weder Wachleute noch die Betreiber der Marktstände zu sehen. In einigen Stunden würden sie kommen, um ihre wenigen Waren für den neuen Tag vorzubereiten.

Kira bemerkte erst, dass sie die Grenze übertreten hatte, als sie sich nach ihr umdrehte. Sie war mitten über den Platz gegangen und blieb nicht stehen.

Die Insel war nicht allzu groß. Kira wusste, dass sie Augustins Geschäft schon einmal gesehen hatte, allerdings konnte sie sich kaum an den genauen Standort erinnern. Sie beschloss, eine kleine Runde durch die Stadt zu drehen, und betrat eine Gasse, die auf der rechten Seite des Platzes tiefer in die Häuserschluchten der Ruaner führte. Zu dieser Uhrzeit waren die Ruinen ziemlich unheimlich. Der Wind bewegte die zerschlagenen Fenster mit unsichtbaren Händen, alles knarrte und schien zu leben. Bunte Tücher hingen über der Straße, sie wehten wie Gespenster. Kira folgte den Gassen an einigen halbwegs intakten Wohnhäusern vorbei, bis sie in einer langen Ladenstraße endeten. Früher waren diese Geschäfte voller Leben, heute waren sie verwaist. Die Ladenbesitzer hatten die Innenleben geplündert, um aus ihnen Stände für den Markt zu bauen. Kiras Herz wummerte, trotzdem blieb sie nicht stehen.

Zersprungene Leuchtreklame warb für einen vergangenen Sommerschlussverkauf und die Schuhkollektion einer ihr völlig unbekannten Prominenten namens Debra Hemingway. Von einem gigantischen Plakat sah diese Frau auf sie herab, ihr bleiches Gesicht durchbrach die Nacht wie ein mageres Monster. Nur die Wangen waren aufgespritzt, und ihre Lippen glühten förmlich. Sie hatte modifizierte, hellblaue Augen und trug trotzdem eine topmodische Brille, was Kira absurd vorkam. Sie wusste, dass die Modifikation dafür sorgen sollte, dass sie keine Brille mehr benötigte, aber vor der Katastrophe waren runde Brillen bei allen der letzte Schrei gewesen. Nirgendwo auf dem Plakat war ein Schuh der angepriesenen Kollektion zu sehen.

Kira wappnete sich mit einem Lächeln gegen das Model und zog kopfschüttelnd daran vorbei, um schließlich in der Mitte der Ladenstraße stehen zu bleiben. Schuhe, Bücher, eine Apotheke … sie ließ den Blick schweifen, bis sie das große Drahtmodell einer Brille an einem der Häuser entdeckte. Zufrieden näherte sie sich dem Schaufenster. Darin lagen auf flachen Regalen Sehhilfen, die meisten von ihnen hatten kreisrunde Gläser. Eine Brille mit eckigen Gläsern zu bekommen war seit der Katastrophe schwer, aber bei Weitem nicht das größte Problem der Bevölkerung.

Ihr Blick fiel auf einen eigenartigen Kasten, der inmitten der Brillen auf einem hölzernen Quader thronte. Es hatte einen runzeligen Schlauch, der sie an eine Ziehharmonika erinnerte, und besaß nur eine Linse. War das auch ein Teleskop?

Kira presste ihre Nase gegen die Scheibe, konnte dadurch jedoch nicht besser sehen. Dafür fiel ihr etwas Anderes auf.

»Oh«, machte sie und trat von dem Schaufenster zurück.

Das Geschäft hatte geschlossen. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Wenn die ganze Insel schlief, war es nicht gerade klug, ein Optikergeschäft zu betreiben. Obwohl diese klare Nacht zugegebenermaßen perfekt dafür war, ein Teleskop zu erwerben. Unschlüssig ging Kira einige Schritte zurück und betrachtete die Fenster des Hauses. Augustin wohnte bestimmt oberhalb des Geschäftes. Sie hatte keine andere Wahl, als ihn aufzuwecken. Sobald die Sonne aufging, konnte ein halbwegs intelligenter Ruaner feststellen, dass sie auf dieser Seite nichts verloren hatte.

Etwas hilflos sah sie sich um und versuchte, kleine Steine auf dem Boden zu entdecken. Sie ging in die Hocke und tastete sich durch die Dunkelheit, wobei die Münzen in ihrem Lederbeutel klimperten. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Augustin seinen Lohn auf unkonventionellem Wege zu übergeben, da fand sie eine Handvoll kleiner Kiesel.

Sie wählte einen mittelgroßen, ovalen Stein für ihren ersten Versuch. Kira entschied sich für das rechte Fenster, zielte und warf. Das Geräusch konnte selbst sie kaum wahrnehmen. Wie sollte jemand davon aufwachen?

Sie ließ die Steinchen unwirsch zwischen ihren Fingern kreisen, dann schleuderte sie alle auf einmal gegen das Fenster. Ein kurzer Regenschauer ergoss sich darüber, trotzdem regte sich im Inneren nichts. Wütend suchte Kira nach einer Alternative.

Sie fand vor dem Schaufenster einen größeren Stein, der wie ein Ball in ihrer Hand lag. Ihre Zungenspitze lugte zwischen ihren Lippen hervor. Kira kniff angestrengt die Augen zusammen und steckte all ihre Kraft in den Wurf.

Die Scheibe zersplitterte krachend, Scherben fielen vor ihre Füße. Kira zuckte zusammen, dann hörte sie jemanden fluchen – allerdings aus dem linken Zimmer. Dort wurde eine Flamme entfacht, der Schein einer flackernden Lampe nahm den Raum ein. Alles in Kira schrie danach, zu verschwinden, aber ihre Füße waren wie festgenagelt. Das Licht verließ das linke Zimmer, um gleich darauf im rechten aufzutauchen. Jemand fluchte erneut, und Kira glaubte, die Stimme zu erkennen. Im nächsten Moment sah sie Aaron, der wutentbrannt in der zerbrochenen Scheibe auftauchte und auf Kira herunterstarrte.

»DU!«, rief er aus. »Was fällt dir ein!«

»Ich, ähm, habe das Ei gefunden, das du gelegt hast!«, entgegnete sie. »Es tut mir leid, dass ich damit euer Fenster kaputt gemacht habe, wirklich!«

»Willst du dich für irgendetwas rächen oder so? Man geht nicht zu fremden Leuten und wirft ihnen die Scheiben ein!«

»Ich habe mich doch entschuldigt!«, rief Kira. »Außerdem ist dein Papa Optiker, ihr habt bestimmt genug Glas da!«

Einige Häuser weiter öffnete sich ein Fenster. »Ruhe, ihr blöden Blagen! Wir wollen verdammt nochmal schlafen!«

»Dann halt den Mund!«, brüllte Aaron. Er hatte die Lampe abgestellt und das Fenster aufgestoßen, wobei sich eine Scherbe aus dem Rahmen löste und klirrend in einem leeren Blumenkasten landete. Der Junge beugte sich vor, um Kira besser sehen zu können.

»Was willst du?«, fragte er unwirsch.

Hastig zog sie das Teleskop aus dem Beutel hervor. »Jemand hat es kaputt gemacht, dein Papa ist der Einzige, der es reparieren kann.«

Aaron stöhnte. »Und jetzt willst du, dass ich ihn wecke, richtig?«

»Das wäre furchtbar nett«, meinte Kira. »Dann kaufe ich dir auch ab, dass du kein feiges Huhn bist.«

»Was soll das denn schon wieder!? Meinst du, ich traue mich nicht, meinen eigenen Vater zu wecken?« Aufgebracht wedelte er mit den Händen in der Luft herum. Kira hob die Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht.

»Verdammt, mir reicht es!«, fluchte Aaron und schloss das Fenster. Seinem Blick war anzumerken, dass ihm die Sinnlosigkeit dieser Aktion zu spät auffiel. Er starrte durch die zersprungene Scheibe in den Morgen und atmete langsam aus. Dann stieß er das Fenster wieder auf, betrat mit Schwung das Fensterbrett und nahm plötzlich den Rahmen ein.

»Siehst du! Ich bin kein feiges Huhn!«, rief er.

»ABER DAFÜR BIST DU VERDAMMT LAUT!«, brüllte der Nachbar so deutlich, dass vermutlich auch alle anderen Bewohner der Ladenstraße aufgewacht waren. Aaron verkniff sich seinen bissigen Kommentar, stattdessen wurde er bleich.

»Wow, in einem Fensterrahmen kann ich auch stehen«, rief Kira unbeeindruckt. Aaron hingegen krallte sich fester in das Holz des Rahmens, als plötzlich zwei Hände seine Hüfte umfassten.

»Was zum Teufel tust du da?«

»Papa!« Aaron ließ sich erleichtert zurückfallen, was sein Vater mit einem gedämpften Stöhnen quittierte.

»Uff, mit wem sprichst du?« Ein unausgeschlafenes Gesicht tauchte im Fenster auf. »Oh. Hallo, Kira!« Augustin fragte gar nicht erst, was sie auf dieser Seite der Insel verloren hatte. »Aaron, wir unterhalten uns später. Geh bitte runter und öffne ihr die Tür.«

Widerwillig verschwand Aaron, begleitet von unzufriedenem Grummeln.

»Die Scheibe ist ja kaputt«, bemerkte Augustin matt.

»Es tut mir sehr leid, wirklich!«, beteuerte Kira ängstlich. »Ich wollte nur–«

»Alles ist gut, ja? Komm erst mal herein, dann sprechen wir in Ruhe darüber.« Augustin lächelte und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

Im Geschäft wurde eine elektrische Lampe entzündet, die von den unzähligen Gläsern gespiegelt wurde. Die Tür schwang auf und Aaron erschien darin. Stumm bedeutete er Kira, einzutreten. Er trug einen blau-weiß-gestreiften Morgenmantel und Filzpantoffeln, sein dunkles Haar ähnelte einer breitgetretenen Wiese. Kira trat ein, in der Hoffnung, dass Augustin so freundlich war wie bisher.

Die elektrische Lampe tauchte die Mitte des Geschäfts in grelles Licht, sodass sie einige Male blinzeln musste, bevor sie sich daran gewöhnt hatte.

In ihrer Hälfte gab es viele Regale, eine kleine Theke zur Linken und eine Sitzecke aus gut erhaltenen Ledersesseln zur Rechten. Die Modelle lagen in Plastikhalterungen, die besonders teuren auf absolut staubfreien Holzregalen. Die Preise konnte sie nicht entziffern, aber Kira wusste von der Lesebrille ihrer Mutter, dass diese so viel wie acht Mahlzeiten gekostet hatte. Immerhin teilten sich die Völker eine gemeinsame Währung, wobei die meisten Einwohner mittlerweile zum Tauschhandel übergegangen waren. Nur diejenigen, die fest mit einer Rettung durch eine nicht zerstörte Großnation rechneten, häuften das Geld an wie Eichhörnchen ihre Nüsse. Die wenigsten Händler nahmen darum noch Geld an. Kira hatte auf die Schnelle nichts für den Tausch gefunden, darum hoffte sie einfach, dass ihre Dollarmünzen für Augustin reichten.

»Es ist ganz schön mutig, auf die andere Seite der Grenze zu schleichen«, meinte Augustin. Kira ging ihm entgegen, als er in seinem blauen Morgenmantel das Geschäft betrat. Er verlor kein Wort darüber, wie dumm und gefährlich das war. Es war mutig. In Kira entfachte das Freude, doch gleichzeitig schämte sie sich für ihren Besuch.

»Es tut mir leid, dass ich das Fenster kaputt gemacht habe«, beteuerte sie abermals. »Ich wollte das nicht, wirklich! Ich brauche Ihre Hilfe.«

»Kira, du darfst mich einfach duzen und Augustin nennen«, meinte dieser und zwinkerte ihr zu. »Warum brauchst du denn meine Hilfe?«

Sie kramte in dem Lederbeutel und holte das Teleskop hervor. Es machte ein besorgniserregendes Geräusch, ähnlich einer metallenen, fast leeren Spardose.

»Oh nein«, entfuhr es Augustin. »Wie konnte das denn passieren?« Sein Tonfall schwankte zwischen Neugierde, Wut und echter Trauer. Kira wurde schwer ums Herz.

»Ein Mädchen hat es kaputt gemacht, weil ich es ihr nicht geben wollte«, erklärte sie und versuchte, nicht schon wieder zu weinen. »Meine Mama sagt, dass du der Einzige auf der ganzen Insel bist, der es reparieren kann.«

»Was für ein gemeines Kind«, entfuhr es Augustin, als wäre er selbst erst acht Jahre alt. Er hob das Teleskop vorsichtig an und neigte es nach vorne, wobei ihm ein Stück Glas entgegenrutschte.

»Celia ist gemein und stark. Und viel älter als ich!«, verteidigte Kira sich. »Sie hat ganz viele Freunde, die sind sogar eine Bande!«

»Celia, hm?«, machte Augustin. Aus einer Tasche seines Morgenmantels holte er plötzlich eine schmale Zange hervor.

»Ich hasse es, dass sich ständig alle streiten«, erklärte Kira bitter.

»Wieso, du bist auch nicht besser!«, warf Aaron ein.

»Aaron!«, mahnte Augustin, aber sein Sohn stellte sich taub.

»Du beschuldigst mich die ganze Zeit, ein feiges Huhn zu sein, dabei kennst du mich gar nicht. Ich glaube, du willst gar keine Freunde haben.«

»Aaron, es reicht.«

»Du hattest das Teleskop gar nicht wirklich verdient. Bestimmt hast du es sogar selbst kaputt gemacht!«

»Blödmann! Jetzt sagst du, dass ich ein feiges Huhn bin! Und du kennst mich auch nicht!« Kira verschränkte die Arme und streckte ihm die Zunge entgegen.

»Hey, es reicht! Niemand von euch ist ein feiges Huhn, ist das klar?« Augustin legte das Teleskop auf den Tresen und stellte sich wütend vor Kira und Aaron, welche die Köpfe einzogen.

»Kira, mein Sohn ist ein tapferer, wundervoller Junge. Er traut sich zwar nicht an den Rand der Insel, aber das sagt absolut nichts darüber aus, wie mutig er ist. Klar?«

»Ja …«, nuschelte Kira verlegen und sah zu dem Jungen im blauweißen Morgenmantel hinüber. »Entschuldigung.«

Dieser plusterte seine Backen auf und reagierte ansonsten nicht.

»Und Aaron«, fuhr Augustin fort, »du solltest dir trotzdem ein Beispiel an Kira nehmen. Sie spricht sehr offen, das ist eine tolle Eigenschaft. Ich wünschte, die Erwachsenen wären wie sie.« Er lächelte nachdenklich. »Aber sei nicht zu waghalsig, Kira. Du solltest nicht vom Rand der Insel fallen.«

»Ich weiß, was du meinst«, murmelte Kira und starrte zu Boden. »Es war dumm, so weit auf den Vorsprung zu gehen.«

»Neugierig warst du. Wäre ich an deiner Stelle auch gewesen«, berichtigte Augustin. Er griff wieder nach dem Teleskop. »Aber meistens lohnt es sich überhaupt nicht, nahe an eine Gefahr heranzutreten. Darum habe ich dir das hier geschenkt.« Er warf einen kurzen Blick auf das Teleskop. »Und darum sollte ich es reparieren.«

Kira strahlte über beide Ohren. »Das wäre toll!«

Der Optiker verschwand im hinteren Teil des Geschäftes, der sich hinter einigen mit Brillen gefüllten Regalen verbarg. Betreten standen Kira und Aaron nebeneinander, stur geradeaus blickend.

»Kira, es tut mir wirklich leid, dass ich dir nicht zur Hilfe gekommen bin«, nuschelte Aaron plötzlich. »Wenn ich an einem hohen Ort stehe, machen meine Beine nicht das, was ich will. Ich will mutig sein, aber … das kann ich nicht immer.«

»Augustin war ja da«, meinte Kira und lächelte ihn an. »Das nächste Mal passe ich besser auf.«

»Ich auch«, versprach Aaron.

Sie tauschten einen kurzen Blick, dann mussten sie lachen. Sei es, weil Kira mitten in der Nacht die Grenze überquert hatte, um Steine an ein Fenster zu werfen, sei es wegen des albernen Morgenmantels oder ihrer ständigen Streitereien.

Geschäftig kehrte Augustin in den Laden zurück und begann damit, Schubladen zu öffnen. »Es ist eigenartig, irgendwo sollte ich noch passende Linsen haben«, murmelte er, mit dem Rücken zu den Kindern gewandt. Er zog eine Schublade nach der anderen auf, unzählige einzeln verpackte Linsen in allen Formen und Größen kamen zum Vorschein. »Verdammt, ich fürchte, ich habe die Linsen nicht mehr. Tut mir leid.«

»Warte kurz«, meinte Aaron und ging in Augustins Richtung. Dieser schob hastig eine Schublade zu, fuhr herum und lehnte sich dagegen. Doch Aaron nahm ohne einen weiteren Kommentar die Treppe nach oben. Sein Vater atmete langsam aus, wobei er Kira nicht aus den Augen ließ.

»Was ist das für ein eigenartiges Teleskop im Schaufenster?«, wollte sie plötzlich wissen.

»Im Schaufenster? Da habe ich kein Teleskop hingestellt«, meinte Augustin verwundert, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er sah hinüber zu der Scheibe, die allmählich vom Licht des nahenden Morgens erfüllt wurde.

»Ach, du meinst die alte Kamera.«

»Das ist keine Kamera«, spottete Kira. »Kameras sind viel kleiner und flacher.«

Augustin schüttelte den Kopf. »Alles hat irgendwann begonnen, Kira. Wusstest du, dass der erste Computer der Welt einen ganzen Raum ausgefüllt hat?«

Kira presste ihre Lippen aufeinander und verschwieg, dass sie nicht genau wusste, was ein Computer war.

Aaron brauchte keine Minute, bis er die Treppe herunterkam und eine kleine, schwarze Schachtel in den Händen hielt. Atemlos umrundete er den Tresen und streckte sie Kira entgegen.

»Hier, ich kann es sowieso nicht mehr gebrauchen«, meinte er verlegen. Mit großen Augen nahm Kira ihm den Karton aus den Händen und betrachtete ihn sorgfältig.

»Ist das etwa …«

Augustin lächelte breit, während Kira den Karton öffnete und darin ein schwarz glänzendes Teleskop fand. Es hatte unzählige weiße Punkte, die wie Sterne aussahen.

»Vielleicht können wir es uns teilen«, schlug Aaron vor. »Ich benutze es aber nicht besonders oft, darum kannst du es mit nach Amerika nehmen.«

Im nächsten Moment umschlang Kira seine Brust und schmiegte sich an ihn.

»Danke, danke, danke!«, rief sie. »Aaron, du bist gar nicht übel!«

Mit einem klickenden Geräusch drehte Augustin einen winzigen Schlüssel um und zog ihn aus der Schublade, gegen die er sich gelehnt hatte.

»Kira, du solltest langsam heimkehren«, sagte er sanft. »Es wird heller. Ich möchte nicht, dass du auf dieser Seite der Insel erwischt wirst.«

Das Mädchen machte ein betroffenes Gesicht. »Aaron, wie sollen wir denn das Teleskop teilen, wenn ich nicht herkommen darf?«

»Ich kenne einen tollen Ort, da können wir uns treffen. Die Erwachsenen werden uns nicht finden«, versprach er. Er warf Augustin einen vielsagenden Blick zu und erhielt ein unschuldiges Lächeln zur Antwort. Kira klemmte sich den Karton unter ihren Arm und strahlte. Jetzt wurde es mit jeder Minute heller auf der Straße, als hätte Kiras Lächeln die Sonne aus ihrem Schlaf geweckt. Die beiden Kirchtürme, jeweils einer in Amerika und Ruan, schlugen sechs Mal und waren dabei völlig im Einklang. Für Kira bedeuteten die Glocken nur eines: Dass es Zeit war, möglichst unauffällig in ihr eigenes Bett zu kriechen.

Zwei Kontinente auf Reisen

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