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Kapitel 04

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Juniper Hewlett war eine Dame ohne besondere Eigenschaften. Reinlich, ruhig und routiniert. Sie war Forscherin von Insel 002, aber sie selbst bezeichnete sich stets als Neurowissenschaftlerin. Juniper konnte Muster in Gehirnen erkennen, wo andere nur Wirbel und Wolken sahen. Ihre Aufgabe war es, die gestrandeten Seelen ihrer Insel zu kalibrieren, ihren Leben einen neuen Sinn zu geben. Meistens gelang das, und das machte sie glücklich.

Heute war sie allerdings mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht, das sich im Laufe des Tages verschlimmert hatte. Erst erlitt ihre Freundin einen Nervenzusammenbruch, dann entpuppte sie sich als Flüchtling einer weit entfernten Insel. Schließlich erfuhr Juniper, dass sie den Namen der Frau vergessen hatte, die sie am meisten liebte. So sehr sie sich auch konzentrierte: Der einzige Name, der ihr sofort einfiel, war Carla. Doch Carla war offenbar diese Kira gewesen, der Name ihrer Seele. Und Juniper verfluchte diese Seele. Wie konnte es dieses junge Ding wagen, sich in einen fremden Körper zu schleichen und die alte Seele zu überschreiben? Das gehörte sich nicht. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie das Leben auf Insel 002 aus dem Gleichgewicht gebracht.

Mortimer hatte das Programm verlassen und sie angewiesen, unverzüglich zu folgen. Noch saß Juniper allein auf dem hellen Sofa in der Bibliothek und betrachtete die unberührte Tasse Tee. Sie hatte geahnt, dass es passieren würde. Befürchtet. Nun war auch der Körper von Carla fort. Die Fremde hatte ihn mitgenommen, dieses Biest. Jetzt hatte sie weder den Namen noch den Körper der Person, die sie liebte. Der Verlust nistete wie ein Kuckuck in ihrem Brustkorb.

Immer wieder fuhr sie mit dem Daumen über die Stelle, an der sich in der Realität das U-USB-Kabel befand. Es schickte ihre Seele regelmäßig von ihrem eigentlichen Körper in das Programm, aber nie dauerhaft. Sobald das Kabel gezogen wurde, war sie zurück. Nur ein Teil von ihr lebte auf Insel 002, obwohl es sich längst anfühlte, als wäre dies ihre wahre Heimat.

Sie brauchte nur den Stecker ziehen und sich hinter die Monitore klemmen, vielleicht fand sie dann einen Hinweis auf den gefräßigen Vogel in ihrem Herzen. Doch etwas hielt sie zurück. Wie konnte es sein, dass sie vergessen hatte, wer mit ihr zusammenlebte? Sie hatte ihr Gesicht vor Augen, ihr Lachen im Ohr. Juniper war keine umprogrammierte Seele. Sie war nicht nur Bestandteil eines Codes, der beliebig erweitert oder verkürzt werden konnte. Juniper hatte ein Recht auf ihre Erinnerungen.

Nervös nestelte sie an dem Stecker herum. Gleich würde sie ihn ziehen. Aber was, wenn der Administrator wieder so unwirsch zu ihr war, keine Zeit hatte? Sie teilte schon seit zehn Jahren das Labor mit ihm und kannte seine Launen.

Juniper holte tief Luft und ließ die Hand wieder sinken. Warum scherte sie sich um ihr Herz? Dort draußen gab es Probleme, die größer waren als ihre. Und sie hatten in all den Jahren keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Allmählich ging ihnen die Zeit aus.

Dann schüttelte sie den Kopf und zog an dem unsichtbaren Stecker. Einen Moment lang war alles so weiß, dass sie hoffte, endlich zu sterben und im Programm bleiben zu können, ohne Verpflichtungen. Für immer in dem schönen Haus, für immer versorgt, für immer jung, aber für immer allein. Sie riss die Augen auf und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Mortimer sollte sie nicht hören, denn es hatte etwas furchtbar Erniedrigendes, wenn er sie direkt nach der Rückkehr aus dem Programm sah. Juniper setzte sich langsam auf und stellte fest, dass sie nassgeschwitzt war. Beim Anblick ihrer faltigen Hände, die nach dem grauen Pullover griffen, wurde ihr schwer ums Herz. Wyoming Wonders stand unter dem orangenen Dreieck, das drei minimalistische weiße Bäume zeigte. Das Logo prangte auf ihrer Brust, obwohl es hier niemanden gab, der nicht wusste, wo er sich befand. Wozu brauchte es Konformität, wenn alle im selben Boot saßen? Juniper schüttelte die Gedanken hinfort und setzte sich mühevoll auf. Ihre Knie knackten. Sie ging an dem winzigen Spiegel vorbei, der zu gern ihr wahres Alter offenbarte. Seit zehn Jahren hatte sie ihre weißen Haare nicht mehr geschnitten. Sie waren schon in ihren Vierzigern ergraut und erinnerten Juniper stets an die Grausamkeit der Zeit.

Neben der Tür zum Monitorraum blieb sie stehen. Sie lauschte, hörte aber nur ein technisches Brummen und Finger auf einer Tastatur. Also verkniff sie sich ein Seufzen und trat ein.

»Mortimer.«

»Mo«, korrigierte er sofort.

»Juniper«, entgegnete sie.

»Hm?«

Der Administrator hatte keinen Humor. »Ich habe zu tun«, stellte er klar. »Kannst du warten?«

»Nun, Mortimer, ich bin die leitende Forscherin dieses Experiments. Meinst du nicht, dass ich mich selbst um meine Angelegenheiten kümmern kann?«

Beim Wort Angelegenheiten hob der Administrator die Augenbrauen.

»Aha«, machte er nur. »Dann sei bitte leise. Wir müssen uns konzentrieren.«

Erst jetzt bemerkte Juniper den R1 zu ihrer Rechten, der eng an der Wand stand und mit Kabeln an die zentrale Konsole angeschlossen war. Sein Lämpchen blinkte so schnell, dass es fast durchgängig leuchtete. Ein derart altes Modell hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen. Warum legte sich Mortimer ausgerechnet so eine lahme Ente zu?

»Was macht er hier? Wenn er länger bleibt, solltest du ihn mir vorstellen«, scherzte sie.

»Sollte ich?«, fragte der Administrator schmunzelnd und drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Das ist Augustin.«

»Er hat … einen Namen?«

»Ja. Auf Phil reagiert er ungern. Wir werden eine Weile mit ihm zusammenarbeiten. Und jetzt entschuldige mich bitte, es ist spannend.«

»Spannend?«, wiederholte Juniper und trat näher, ihre Hände in die Hüften stemmend. Wann war denn zum letzten Mal etwas Spannendes passiert? Doch als sie einen genaueren Blick auf die Bildschirme warf, erkannte sie, dass dort nicht Insel 002 zu sehen war. Stattdessen nahm tiefe Nacht die Monitore ein, nur unterbrochen von schummrigen Lichtern und Zahlenkolonnen, die der Administrator in einem beachtlichen Tempo bearbeitete oder löschte. Zeile für Zeile ratterte über das Bild, ein unaufhaltsamer Strom aus Informationen.

»Ich sehe nichts«, murmelte sie.

»Lies den Code, meine Güte. Für alles andere ist es ja offensichtlich zu dunkel.«

Juniper beugte sich vor, doch sie wurde nicht schlau aus dem, was in den Zeilen geschah. »Sieht chaotisch aus.«

»Nicht wahr? Ein richtiger Kampf, Frau gegen Frau! Herrlich.«

»Wenn Sie das meinen …«, meldete sich Augustin zu Wort. Juniper erschrak so sehr, dass es ihr peinlich war. Allerdings gehörte es sich nicht für einen Roboter, so einen drohenden Unterton in die Stimme zu legen – oder überhaupt unaufgefordert zu sprechen. Juniper fragte nicht weiter, sondern stellte sich neben Mortimer und zog eine Tastatur heran.

»Ich brauche gerade die gesamte Rechenleistung, June«, unterbrach er sie.

»Was zum Teufel tust du da genau? Ich möchte mich um meine Arbeit kümmern, und das, was du da machst, hat offensichtlich nichts mit Insel 002 zu tun.«

»Die können sich untereinander helfen«, winkte Mortimer ab und grinste, während er in eine Schüssel mit Popcorn griff.

»Hast du … den Mais geplündert?«, flüsterte Juniper entgeistert, aber er reagierte nur mit einer gelupften Augenbraue. Na klar, er war der Administrator. Er hatte das Sagen. Außerhalb der Experimente gab es nur ihn. Alle anderen Forscher verbrachten ihre Zeit in den Laboren und auf den Inseln. Sie warf Augustin einen zweifelnden Blick zu und ließ die Hände sinken.

»Eine Seele ist aus unserem Programm verschwunden, ich muss mich darum kümmern«, murmelte sie.

»Welchen Namen hat die Seele?«, fragte Mortimer, ohne sonderlich interessiert zu klingen. Er schob sich galant drei weitere Popcorn in den Mund und tippte mit der anderen Hand.

»Das … weiß ich nicht.«

»Dann solltest du dich besser informieren, June. Es ist immerhin dein Experiment, klar?« Sein Tonfall wurde frostig.

»Diese Carla Frenton hat die gesuchte Seele überschrieben, und irgendwie wurde auch der Name in … in meinem Kopf überschrieben, obwohl das gar nicht geht. Kannst du mir das erklären, Mortimer?«

Im nächsten Moment stand er auf, schnippte ein Maiskorn auf den Boden und sah dabei tief in Junipers Augen.

»Ich dachte, du hättest mir zugehört«, knurrte er. »Es wäre besser, wenn du mir den Gefallen tust und dich selbst darum kümmerst. Ich habe hier wichtige Dinge zu erledigen, die dich nichts angehen.«

»Die Bezeichnung ihrer Seele steht aber auf dem Bildschirm. Was stellst du mit ihr an?«

Plötzlich drängte Mortimer sie gegen die Wand neben Augustin und schnürte ihr mit seinem Unterarm die Luft ab. Juniper schnaufte, ins Mark erschüttert. Sie kämpfte gegen den Druck, trat nach ihm, ohne Erfolg. Seine hochgekrempelten Ärmel offenbarten zwei hellblau leuchtende Flächen. Direkt vor ihr leuchtete jenes Tastenfeld, das er nutzte, um die Roboter zu steuern. Wofür der Rest gut war, wusste Juniper nicht, aber sie ahnte, dass Mortimer einige Geheimnisse unter seiner Haut verwahrte.

Abrupt ließ er los. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, Mortimer schüttelte den Kopf. »Verzeihung, das hätte nicht sein müssen. Ich bin etwas gestresst.«

Juniper hätte es eher explodiert genannt. Schwer atmend trat sie zur Seite, weiter von ihm fort. Ihre Gedanken jagten einander und wurden dabei immer schneller.

Mit einem frustrierten Laut legte Mortimer seine Hände in den Nacken, wandte sich von ihr ab und ging zurück zu den Monitoren. »Ich kann mich nicht um dich kümmern, aber wir bekommen das hin. Hab ein wenig Geduld, June.«

Ihr Puls hatte sich längst nicht beruhigt, im Gegenteil. »Sicher«, presste sie hervor.

Der Administrator warf einen kurzen Blick über seine Schulter, seine Mimik verriet nichts. »Danke.« Dann widmete er sich einem Bedienfeld auf seinem rechten Arm und kontrollierte mit eiligen Kopfbewegungen die großen Bildschirme. »Ich kümmere mich persönlich um Carla, verlass dich darauf.«



Zwei Ozeane auf Abwegen

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