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Kapitel 07

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Blubbernd sickerten Kiras Gedanken durch ihren Kopf, so langsam, als würden sie vor jeder Gehirnwindung anhalten, durchatmen und weiterfließen. Ihre Erinnerung kam nur zähflüssig zurück. Es verging eine Weile, in der sie damit beschäftigt war, die Dunkelheit in all ihren Facetten wahrzunehmen. Sie war nicht blank und rein, stattdessen rauschte sie wie die Pixel eines Monitors. Nur war Kira nicht vor, sondern auf gewisse Weise im Monitor. Als Francas Gesicht vor ihrem inneren Auge auftauchte, schrak sie hoch und stieß sich den Kopf an der Schwärze. Stöhnend rieb sie ihre Stirn und versuchte, etwas zu erkennen. Dann begriff sie.

Gänsehaut legte sich wie ein Schimmelpilz über ihren Körper. Hektisch atmend ertastete sie die Umrisse ihres Gefängnisses. Die Wände waren kühl, wahrscheinlich aus lackiertem Metall. Sie konnte die winzigen Luftblasen ertasten. Als Kira einen Spalt fand, der eisige Luft hereinließ, fiel ein Brocken aus Furcht von ihrer Brust. Wenigstens hatte Franca sie nicht lebendig begraben. Das hätte Kira ihr ohne Zögern zugetraut. Einen Ausweg gab es trotzdem nicht, so sehr sie auch nach oben oder zu den Seiten drückte. Sie atmete in ihre Handflächen, bis ihr Atem sich beruhigt hatte. Ihre Lippen kribbelten, das Herz lag quer in Kiras Kehle. Dann setzte eine unendlich lange Phase des Wartens ein. Sie beobachtete die Schwärze, kaute auf ihren Nägeln und der Unterlippe, versuchte vergeblich, ihr Magengrummeln zu unterdrücken. Stand Franca neben dem Sarg und wartete darauf, dass sie um Hilfe flehte? Den Gefallen wollte sie ihr nicht tun. Doch je mehr Zeit verging, desto stärker wurde ihre Sorge. Allmählich fand sie den Gedanken verstörender, dass niemand dort stand, dass niemals jemand kam, um sie zu befreien. Wie lange es dauern würde, bis sie starb? Und ob Kira dann einfach auf einem Server landete? Klebrige Grübeleien über das Sterben nisteten sich in ihr ein und zogen lange Fäden, die sich nicht fortdenken ließen. Was sollte nur aus ihrem Leben werden? Sie würde Aaron quer durch die Experimente folgen, aber gleichzeitig wusste sie, dass der Administrator bestimmte, wann sie sich wiedersahen. Falls überhaupt.

Kira erkannte, dass sie sich dringend ablenken musste. In der Enge war es allerdings nicht leicht, eine Beschäftigung zu finden. Dabei hatte sie es früher nie gestört, Zeit mit sich allein zu verbringen. Die unendlichen Nachmittage auf den Dächern von Insel 317 würden ihr für immer im Gedächtnis bleiben.

Sie schlich sich damals in einsturzgefährdete Gebäude, baute Treppen aus Schrott und kletterte so weit nach oben, wie es ging. Dort war sie allein, niemand würde sie stören. Dabei stimmte das gar nicht, einige Male hatte sie Geräusche in den unteren Etagen vernommen. Viele Bewohner der Insel waren ständig auf der Suche nach brauchbarem Baumaterial.

Kira konnte sich gut an einen Nachmittag erinnern, an dem sie eine Holzleiter zu einem verfallenen Dachboden genommen hatte. Eine Weile hatte sie mit dem Spielzeug aus einer muffigen Truhe gespielt, als sie Schritte im Haus und anschließend auf der Leiter hörte. Hastig versteckte sie sich in der Kiste und hoffte, dass sie nicht entdeckt wurde. Erwachsene motzten nur, darauf hatte sie keine Lust. Der Mann, der dieses Haus durchwühlte, schnappte sich einen zusammengerollten Teppich und ließ ihn unsanft vom Dachboden fallen. Dann stieg er die Leiter hinunter und nahm sie mit, was Kira feststellte, nachdem sie sich aus der Truhe getraut hatte. Ratlos sah sie durch die rechteckige Öffnung des Dachbodens und erkannte, dass sie besser nicht springen sollte. Sie war gerade zehn geworden und hatte sich geschworen, ein ganzes Jahr lang nicht aufzufallen. Wenn sie sich jetzt etwas brach, saß sie in der Patsche.

Also durchsuchte sie den Dachboden nach Seilen oder einer Ersatzleiter. Stattdessen fand sie nur leere Kisten, Truhen und Kartons, in denen langsam zerfallende Bücher auf ihren Tod hinarbeiteten. Sie kletterte auf eine dieser Kisten und stieß ein Fenster mit zersprungener Scheibe auf, um ihr Teleskop hindurchzustecken und die umliegenden Gebäude nach einer Fluchtmöglichkeit abzusuchen. Dieses Mal war ihr geliebtes Teleskop aber nicht sonderlich hilfreich, da es vor allem stark vergrößerte Wände oder einen strahlend blauen Himmel zeigte. Verärgert verstaute sie das Werkzeug wieder in ihrem Beutel. Dann beugte sie sich aus dem Fenster und sah hinab. Direkt unter ihr lag die Grenze, eine weiße Mauer, die wie eine Narbe von den Kämpfen der Stadt erzählte. Kira hatte gar nicht mitbekommen, dass sie sich so nah an der ruanischen Seite befand. Dann sah sie Aaron.

Wie der Blitz zuckte ihr Kopf nach hinten, als würde er jeden Moment hochschauen. Kira kaute an ihren Fingernägeln, während ihr Herz schneller pochte. Sie hatte Aaron manchmal gesehen, in letzter Zeit wurde das aber seltener. Vorsichtig linste sie über das Fensterbrett und presste die Lippen aufeinander. Aaron hatte seinen besten Freund dabei, Marv. Sie schienen Ball zu spielen, denn immer wieder hörte sie ein dumpfes Geräusch, wenn er gegen die Mauer gekickt wurde. Marv war wesentlich besser als Aaron. Ständig nahm er ihm den Ball ab, dribbelte um Aarons Beine oder ließ ihn auf seinem Knie hüpfen. Trotzdem schien es beiden Spaß zu machen, sie lachten. Plötzlich rief Marv etwas, aber da war es schon zu spät. Der Ball flog im hohen Bogen über die Grenzmauer.

»Ich sagte doch, dass du ihn halten sollst!«, rief Marv aufstöhnend.

»Wie denn, etwa mit der Hand?«, entgegnete Aaron.

»Na klar, wie sonst?«

»Aber hast du mir nicht eben erklärt, dass man nicht mit der Hand spielen soll?« Aaron hatte damals hin und wieder Regeln befolgt. Sein bester Freund schlug sich mit einem übertrieben lauten Stöhnen an die Stirn, woraufhin Kira schmunzelnd den Kopf schüttelte.

»Das war eine Ausnahme, du Granate. Wie kommen wir jetzt an den Ball heran?«

»Gibt eine leichte Lösung«, hörte sie Aaron sagen. Erneut duckte Kira sich, da er den Finger hob und hochsah. »Wir müssen nur über die Grenze klettern.«

»Ja, klaaar!«, rief Marv aus. »Dass ich da nicht eher drauf gekommen bin! Du bist so ein Genie. Über die Grenze zu klettern ist meine leichteste Übung.«

»Wir müssen uns doch nur einen Turm aus dem Müll hier bauen und rüber. Sieht keiner. In dieser Gegend ist niemand.«

»Dann pack an, ich will den Ball wiederhaben, bevor die Basílissa bemerkt, dass du ausgebüxt bist.«

»Ich bin nicht ausgebüxt«, meckerte Aaron, während seine Stimme leiser wurde. Kira wagte einen erneuten Blick und sah, wie der Zwölfjährige in einer schmalen Gasse verschwand, in der sich Schutt und Abfälle häuften. Er hatte keine Scheu, das musste sie ihm lassen.

Eine Weile lang sah sie dabei zu, wie die Jungen Kisten stapelten. Da kam ihr eine Idee. Warum machte sie es ihnen nicht nach? Schon sammelte Kira große Kartons, die sie sorgfältig zielend durch das Rechteck im Boden des Dachbodens warf. Sie wartete dabei immer auf den Moment, in dem Aaron oder Marv eine weitere Kiste abstellte. Einmal krachte der Turm draußen zusammen, weil Marv so übermütig war, ihn auszuprobieren. Schließlich stand in der Ruine ein wackeliger, schiefer Stapel, der darauf wartete, als Leiter zu dienen. Kira wünschte sich und ihren Knochen Glück und ließ sich rückwärts auf die erste Stufe hinab, während sie sich an der Kante der Luke festhielt.

»Okay«, flüsterte sie. »Kira, du schaffst das. Du kommst hier allein weg.«

Als sie sich endlich traute, ihre Finger von der Kante zu lösen, kippte der Turm wie in Zeitlupe nach vorne. Kira wusste nicht, wie ihr geschah, und gab erst einen Ton von sich, als sie zusammen mit den Kartons auf den Boden purzelte. Trotz Schmerzen sah sie sich um. Kein fremder Mann, der einen Teppich und eine Leiter trug, immerhin. Von draußen war wenig zu hören. Kira huschte zu einem Fenster, das nicht zerschlagen war, sondern vollständig fehlte. Sie beugte sich darin vor, um über die Mauer zu sehen, doch sie konnte nur die Füße der beiden Jungen erhaschen, die sich anscheinend auf den Boden gelegt hatten, um nicht entdeckt zu werden.

Grinsend eilte Kira die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, verließ mit ausreichender Vorsicht das Haus durch die Hintertür und stand direkt vor der Mauer. Sie brauchte nicht lange zu suchen, bis sie den Ball fand. Mit einem unbeholfenen Wurf katapultierte sie ihn zurück auf die ruanische Seite. Marv bedankte sich zögernd, während Aaron die Beine in die Hand nahm.

Als Kira nach Hause zurückkehrte, stellte sie fest, dass im Wohnzimmer ein neuer Teppich lag und im Hinterhof eine Leiter lehnte, die zuvor nicht dort gewesen war.

Kira lächelte in die Dunkelheit hinein und versuchte, sich dieses Lächeln zu bewahren. Es dauerte nur Sekunden, bis sich ihre Mundwinkel an die Kälte in ihren Gliedern erinnerten, an den Sarg. Sie lauschte mit angehaltenem Atem dem Rauschen, welches das Nichts verursachte. Dann ertönten gedämpfte Schritte. Sie waren ungewohnt rasch, Kiras Herzschlag passte sich daran an. Sie zuckte zusammen, als eine schwere Tür ins Schloss fiel.

»Also, Kiiira«, sang eine Stimme, die Kira den Magen umdrehte. In der Tat, es gab schlimmere Personen als Franca. Niemand sonst sprach ihren Namen so aus, und doch war es unmöglich, dass sie hier war. Celia – die Krähe, wie Kira sie nannte – war nach der Umprogrammierung vollkommen harmlos geworden, und sie lebte auf Insel 317. Nicht hier. Nicht hier. Das musste eine Halluzination sein, oder ein Streich von Franca.

»Bist du wach, Kiiira?«, säuselte die Stimme weiter. »Ich hoffe doch. Sonst hole ich ein wenig kaltes Wasser und wecke dich.«

»Nghhh«, machte Kira mit zusammengepressten Zähnen. Es war eine Mischung aus »Bin wach« und »Bin verrückt geworden«.

»Schön.« Der Tonfall wurde tiefer. »Weißt du, wie man dich am besten quälen kann, Kira?« Das war Aarons Stimme. Sanft, mit dem leichten ruanischen Akzent. Die Art, wie er ihren Namen aussprach, ließ sie beinahe weinen.

»Man erinnert dich an all die Leben, die du zerstört hast«, erklärte die Stimme von Augustin.

»W-was soll das?«, rief Kira. »Lass mich hier raus! Ich bitte dich, wir können doch über alles reden!«

»Reden!«, wiederholte Aarons Stimme spöttisch. »Gutes Stichwort.«

Plötzlich war es hell. Mit einem metallenen Knarzen hob sich der Deckel ihres Gefängnisses. Es klang, als würde ein rostiges Auto endgültig in sich zusammenbrechen.

»Reden wir doch einmal über dich und Aaron«, sagte Augustins Stimme. »Meinst du wirklich, dass das etwas wird? Wirst du ihm immer zur Seite stehen?«

Vor ihren Augen tanzten grelle Punkte, sie konnte nichts erkennen. »Würde ich ja gern«, knurrte Kira. »Wenn man mich nicht aus meiner Heimat gepflückt hätte, verdammt!«

»Ausreden«, zischte Aarons Stimme. »Ich bin doch hier, Kira. Genau hier. Wo warst du, als ich meinen Vater verloren habe? Wo warst du, als ich auf deine Briefe gewartet habe? Du kamst nur über die Grenze, als es gar nicht mehr anders ging.«

»D-das war nicht so einfach!«, schrie Kira und rieb sich erfolglos die Augen.

»Nicht einfach?«, wiederholte Aaron. »Ich nenne das feige. Aber weißt du, das war gar nicht anders von dir zu erwarten. Von einem feigen Huhn.«

»Du hast nicht das Recht, mich so zu nennen, Franca!«

»Und wie ich das habe!«, rief die Stimme des Mädchens so schrill, dass Kira sich zusammenkrümmte, um all dem zu entkommen. Dem Licht, den Menschen. Sie waren nicht hier, aber … wie machte sie das? Wieso konnte Franca ihre Stimme derart verstellen?

Da fiel ihr etwas auf. Woher wusste Franca, was ihr liebster Spitzname für Aaron war? Ihre Leben hatten sich nur einmal gekreuzt, und zwar zu einem Zeitpunkt, an dem für solche Sprüche keine Zeit gewesen war.

»Wieso nennst du mich so?«

»Weil du feige bist, Kira«, antwortete Franca.

»Aber warum ein Huhn? Woher hast du diesen Begriff!?«

Sie blinzelte verärgert, sah immer noch nichts. Allmählich packte sie die stechende Angst, zu erblinden.

»Du hast Aaron so genannt«, stellte Franca fest.

»Aber du warst nicht dabei! Wer zum Teufel bist du!?«

»Ach, Carla«, murmelte der Administrator. »Manchmal bist du ein wenig zu clever.«

Das grelle Weiß verschwand so schlagartig, dass Kira vor Schmerz zusammenzuckte. Sie kannte dieses Gefühl sonst nur von Licht, das eingeschaltet wurde, doch das hier war schlimmer. Angst, Verwirrung und Zorn vermischten sich zu einem Wirbel zwischen ihren Ohren, der ihr den Atem raubte. Der Administrator! Schon wieder wollte er Details über ihre Beziehung wissen, über Aaron und sie. Warum zum Teufel machte er das? Verzweifelt schluchzend tastete sie um sich, doch die schwarzen Wände waren wieder dort. Kira hatte nicht den Hauch einer Ahnung, was die Nummer mit dem Licht zu bedeuten hatte, aber es war ihr auch egal. Alles, woran sie denken konnte, war Chaos.

Sie hörte nicht, dass die Tür ein zweites Mal aufschwang.

»Warum zur Hölle schreist du so?«, rief Franca. Ihre Stimme klang, als stünde sie weit entfernt. Wie eine Mutter, die ihre spielenden Kinder anbrüllte, sie sollten gefälligst leiser sein.

Kira antwortete nicht, wand sich nur weiter in ihrem Gefängnis. Im nächsten Moment fiel sie, riss die Augen auf und fand sich einen halben Herzschlag später auf dem Boden wieder. Was war passiert? Das war nicht die undurchdringliche Schwärze, die sie so lange erdulden musste. Stattdessen war das ein normales, langweiliges Zimmer in irgendeinem Haus. Kein nasses Kellergewölbe, kein futuristischer Friedhof. Also war sie in ein anderes Experiment geschickt worden, oder … der Administrator hatte an der Welt selbst herumgearbeitet.

»W-was war das?«, flüsterte sie zitternd.

»Ich habe ein wenig geforscht«, erklärte Franca gereizt. »Das tust du doch auch gerne, hm? Bist eine richtige kleine Forscherin.«

Kira richtete sich auf. Ihr liebster Gegenstand war nach wie vor das schwarze Teleskop mit den weißen Punkten, das Aaron ihr geschenkt hatte, aber sie konnte sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, es in den letzten drei Jahren benutzt zu haben.

»Ich bin keine Forscherin«, murmelte sie verwirrt. »Ich schaue nur gerne in den Himmel.«

»Pff, in den Himmel.« Franca pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Dabei musterte sie Kira so genau, als zählte sie ihre Sommersprossen. Dann überkam sie ein Lächeln, aus den Untiefen ihrer pechschwarzen Seele. Franca atmete hörbar durch die Nase aus. Was nun folgte, ließ Kira so tief in ihrem Inneren erschaudern, dass sie glaubte, einen Eisberg zu gebären. Franca trat einen großen Schritt vor und öffnete den Mund. In diesem Moment erschien der Teufel höchstpersönlich. Mit hellblau glühenden Armen rang er Franca nieder und überwältigte sie zwischen zwei Wimpernschlägen. Er sah auf, musterte Kira von oben nach unten, tippte sich an die Stirn und sagte: »Cheers.«

Dann tauchte Kiras Kopf in Schnee.


Zwei Ozeane auf Abwegen

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