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Von Schatztruhen, der Neurosenzucht und ewigen Werten
ОглавлениеEin Vorwort von Jens Böttcher
Karl May, 1906
Herzlich willkommen auf den ersten Seiten dieses besonderen Buches, liebe Leserinnen und Leser. Ich stelle mir gerade verschiedene Möglichkeiten vor, warum Sie es zur Hand genommen haben. Vielleicht, weil Sie einfach gern Biografien über außergewöhnlich spannende Menschen lesen. Oder weil Sie sich nicht nur für den Text, sondern auch für das exklusive Hörspiel interessieren, das parallel zu diesem Buch entstanden ist und in dem mitzuspielen ich übrigens die Freude und Ehre hatte (Karl May: Abenteuer mit Winnetou und Old Shatterhand. Old Cursing Dry, Brendow 2012). Vielleicht aber auch, weil Sie mit den weltberühmten Stoffen von Karl May etwas sehr Persönliches verbinden – etwas, das womöglich auf den ersten Blick profan scheint, es aber spätestens auf den zweiten schon nicht mehr ist: die Erinnerung an ein Stück heile Welt, oder wenigstens: die Erinnerung an die Sehnsucht danach. Gemeint ist die Sorte Sehnsucht, die einem Jugendlichen viel weniger illusorisch oder auf peinliche Weise schwärmerisch erscheint als uns sogenannten Erwachsenen, die wir zu unserem »realistischeren« Lebenskonzept erklärt haben, dass sie wohl unerfüllt bleiben wird, diese Gute.
Vielleicht verbinden Sie mit dem Namen Karl May also die Reise in eine Zeit – wie kurz oder lange diese auch zurückliegen mag –, in der Sie vor Ihrem eigenen oder dem elterlichen Bücherregal knieten, saßen oder standen und voller Ehrfurcht und mit positiver Anspannung diese ungewöhnlichen, grüngefärbten Buchrücken betrachteten. Und vielleicht können Sie sich sogar an einen dieser Momente des leichten Seelenfiebers erinnern, als gleich zu Beginn der soundsovielten Fernsehausstrahlung von »Winnetou III« die erhabene Titelmusik des Komponisten Martin Böttcher ganz sanft Ihre nach Abenteuer und Freiheit dürstende Seele berührte und irgendetwas in Ihnen zum wohligen Seufzen brachte. Es würde mich nicht wirklich überraschen, wenn Sie zu all denen gehören, die sich in diesen Erinnerungen wiederfinden. Viele von uns tragen solche schönen Momente aus der Jugend in einer unsichtbaren Schatztruhe mit sich herum, um wenigstens hin und wieder mal einen kurzen, nostalgischen Blick auf die Diamanten und Rubine zu werfen, die darin merkwürdig unversehrt vor sich hin funkeln und uns an einen noch größeren Glanz erinnern, den wir immer wieder schon verloren glaubten.
In zahllose dieser Diamanten ist wohl der Name Karl May graviert.
Die Buchrücken also, die Vorspannmusik, die Filme, das Pferdegetrappel. Und natürlich Pierre Brice, Lex Barker und der junge Terence Hill, als er noch Mario Girotti hieß. Oh, und nicht zu vergessen: die wunderbaren Hörspiele. Die befinden sich selbstverständlich ebenfalls in der Schatztruhe. Auch sie ein Relikt aus dieser geheimnisvollen Zeit, als Schallplattenhüllen noch kräftig nach Pappe rochen und die Nadel des Plattenspielers beim Aufsetzen auf zerkratztes Vinyl noch klang wie die Ankündigung eines nahenden Wunders.
Sie haben bestimmt längst gemerkt, dass ich hier aus eigener Erfahrung schreibe. Meine eigene Schatztruhe ist voll mit wundervollen Erinnerungen dieser Art, gefüllt mit schönen Momenten, mit toller Musik, mit Literatur und Filmen, mit der abenteuerlichen Poesie des Reisebeginns zu diesem geheimnisvollen, dynamischen Gebilde, das wir selbst waren, in diesem Moment sind – und eines Tages sein werden.
Wenn Sie nun also ebenso wie ich zu der Gruppe von Menschen gehören, die sich mit Behagen an all das erinnern und dieses nostalgische Gefühl unter anderem oder gar explizit mit den Werken von Karl May verbinden, dann kann ich es nach dieser kleinen Vorrede zur Vorrede jetzt wagen, Ihnen zu versprechen, dass dieses Buch Ihnen gefallen wird. Oh, und falls Sie überdies eben noch Freude an Biografien haben und gern Hörspiele hören, kann jetzt eigentlich überhaupt gar nichts mehr schiefgehen.
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Aber zunächst taucht mal die Frage auf: Warum verursacht denn nun die Erinnerung an das Werk von Karl May bei vielen von uns so wohlige Schatztruhengefühle? Ich vermute, die Antwort ist zumindest ambivalent. Vordergründig, hauptsächlich und ganz unkompliziert lautet sie: May war eben einer, der tolle Geschichten erzählt hat. Der uns darin den Glanz des menschlichen Edelmutes und den Lohn des Strebens nach innerem Wachstum immer wieder plakativ und auf sehr unterhaltsame Weise vor Augen geführt hat. Dazu, kreuz und quer durch sein Werk: die ganz großen Themen und hohen Werte. Das Gute. Die Wahrheit. Aufrichtigkeit. Brüderlichkeit. Abenteuer. Neue Horizonte. Bewegung. Reisen. Freundschaft. Und immer wieder diese wunderbare Freundschaft, die in Mays Werken zu einem Symbol für die gereifte Liebe unter Menschen schlechthin wird.
Nebenbei bemerkt: Wer von uns, um Himmels willen, wäre wohl nicht zutiefst gerührt, wenn ihm jemand gestehen würde: Hey, Alter, weißt du was? Ich muss dir mal was sagen. Du bist für mich ein Freund wie … Winnetou. Bam. Oh, ich … äh, und du, mein wertvoller Freund, bist für mich … ein echter Old Shatterhand. Pow. Ich glaube, so ein ins Herz gestempeltes Kompliment überträfe an Popularität und Wirkung sogar einen Verweis auf die klassisch-biblische Männerfreundschaft zwischen König David und seinem Herzenskumpel Jonathan. Von den meisten anderen literarischen Figuren mal ganz zu schweigen. Wer sonst könnte das wohl in uns auslösen? Mal ehrlich, weder Doc Holiday und Wyatt Earp noch Hanni und Nanni noch Susi und Strolch noch Starsky und Hutch können da doch wirklich mithalten. Und oh, um bloß die politische Korrektheit zu wahren und bevor nun die vielen lesenden Damen sich hier spontan benachteiligt fühlen: Ich glaube, »Du bist eine Freundin wie … Winnetou« ginge wohl auch vollkommen in Ordnung. Na ja, irgendwie. Sie wissen schon, was ich meine. Freundschaft von ewigem Wert. Vertrauen. Loyalität. Grenzenlose Liebe. Göttliche Verbindung. Darum geht es. Und das ist mal, jedenfalls wenn Sie mich fragen, eindeutig geschlechtsneutral.
Das Stichwort Männerfreundschaft allerdings veranlasst mich hier zwischendurch noch schnell zu folgender, sehr aufrichtig gemeinter Blümelei: Ein wichtiger Grund für meine ganz persönliche Freude, an diesem Projekt teilhaben zu dürfen, ist meine tiefe Freundschaft zu Rainer Buck, dem Autoren dieses Buches. Ich vermute, dass sein Name vielen von Ihnen bereits durch seine beiden hervorragenden Romane »Aljoscha« und »44 Tage mit Paul« ein Begriff ist. Für mich war es von Anfang an ein inneres Fest, zu wissen, dass nun ausgerechnet Buck dieses Karl-May-Buch verfassen wird. Nicht nur, weil er tatsächlich ein May-Exeget allererster Güte ist und offensichtlich liebt, worüber er schreibt, sondern auch wegen seines gepflegten, klaren Stils. Ich will sagen: Was für eine Freude. Es ist doch überaus erquicklich, wenn ein Schriftsteller über einen Schriftsteller schreibt (und wenn Sie jetzt denken, dieser Satz sei irgendwie komisch, möchte ich Ihnen von dem Gerücht erzählen, dass angeblich mal eine Colliehündin versucht hat, eine Biografie über Lassie zu schreiben. Glücklicherweise wurde der Plan schließlich aufgegeben, und die Colliehündin verfasste stattdessen eine Biografie über Winston Churchill).
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Ich möchte hier inhaltlich natürlich rein gar nichts vorwegnehmen (Sie werden im weiteren Verlauf nämlich ganz hervorragend informiert). Ein paar kleine Vorabbemerkungen zum Leben und Wirken Karl Mays kann ich im Sinne der Vorwortsache aber doch nicht unterdrücken. Da gibt es also zunächst die offenkundige biografische Seite. Wenn man gängige Lexika bemüht, lässt sich das Ganze etwa so zusammenfassen:
Karl May zählt seit mehr als 100 Jahren zu den meistgelesenen Schriftstellern der Welt. Sein Werk wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt. Die Weltauflage liegt bei mehr als 200 Millionen Bänden (davon ca. 100 Millionen in Deutschland). Große Popularität haben seine Bücher noch heute vor allem in Tschechien, Ungarn, Bulgarien, den Niederlanden, Mexiko und sogar Indonesien. In Frankreich, Großbritannien und den USA hingegen ist er beinahe unbekannt. Die erste Übersetzung erschien 1881 auf Französisch in LeMonde, und die neuesten stammen aus den letzten Jahren (Vietnam). Darunter sind Sprachen wie Esperanto und Volapük. In den 1960er-Jahren stellte die UNESCO fest, May sei der meistübersetzte deutsche Autor.
Ganze Generationen bezogen ihr Bild von den Indianern oder dem Orient aus seinen Werken. Auch einige Sprachbegriffe aus beiden Kulturkreisen, die May (teilweise nicht ganz korrekt) verwendete, fanden Eingang in die Umgangssprache. Die indianische Gruß- oder Bekräftigungsformel »Howgh«, das »Anhobbeln« der Pferde, die Verwendung von »Manitu« als Gottesname und die Anrede »Mesch’schurs« sind dem wilden Westen zuzuordnen. Die Rangbezeichungen »Efendi«, »Bey«, »Pascha« und »Wesir« sind durch seine Orientromane Allgemeingut geworden.
Kurzum: Karl May ist ganz offensichtlich ein wirklich bedeutender Schriftsteller und ein wichtiger Teil unserer Kultur. Sein ganzes Leben müsste eine klassische Erfolgsstory sein. Aber das ist natürlich nicht die ganze Wahrheit. Ist es ja nie. Da ist ja noch so viel mehr. Und auch dieses »viel mehr« beschreibt Rainer Buck mit bemerkenswerter Klarheit und dankenswerterweise beinahe ganz ohne Wertung in diesem Buch. Es ist die »andere Seite« der Erfolgsgeschichte, die hier so oft faszinierend durchschimmert, jener Teil, den man erspüren kann, wenn man sich auf den Menschen hinter der Legende Karl May einlässt: das Gläubige in ihm, das Suchende, das Zweifelnde, das Widersprüchliche, die Triumphe und die Irrwege – das Leben eines Pilgers auf fremden Pfaden. Und so komme ich nun zum zweiten Teil der Antwort auf die vorhin gestellte Frage: Warum ist nun ausgerechnet May ein so wirkungsvoller Teil unserer Nostalgieschatztruhe? Ich persönlich vermute, es liegt gerade daran, dass er gleichzeitig so widersprüchlich und eben echt war. Natürlich, da waren all diese tollen Geschichten, die großen, ewigen Wahrheiten, die Werte, die Moral, das Edle, sein Riesenerfolg. Und gleichzeitig, eben in der Überhöhung all dessen, auch die gefühlte Plage, die stets spürbare Sehnsucht, der unterschwellige Duft des Suchens und Scheiterns, gar des Übermenschlichen. Die unüberbrückbare Kluft und Klemme, in der auch ein Erfinder steckt, der soeben eine Rakete gebaut hat, die theoretisch zwar bis ans andere Ende des Universums fliegen kann, für die es aber leider niemals ausreichend Benzin geben wird.
Karl May war ein Erfinder und ein Wahrheitsträumer. Ein Reisender, der nie ankommen konnte. So wie wir alle. Möglicherweise ist das ein Hinweis darauf, warum wir uns mit seinen Geschichten und Figuren so sehr identifizieren können.
Es ist wahr, aber es ist unmöglich. Wir alle träumen diesen Traum.
Aber er konnte ihn so wunderbar erzählen.
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Sie werden in diesem Buch unter anderem lesen, dass May eine Weile gebraucht hat, bis er wirklich erfolgreich wurde. Und dass er zwischendurch allerlei zweifelhafte Wege eingeschlagen hat, die auf den ersten Blick so gar nicht zu jemandem passen, der sich sehr offensiv dazu bekennt, die Menschheit zum Guten und Reinen beeinflussen zu wollen. Auch das ist für mich eben Teil des größeren Bildes. May war offensichtlich Saulus und Paulus. Und zwar nicht unbedingt im klassischen Sinne nacheinander, sondern gleichzeitig. Das ist natürlich erstens verwirrend. Und zweitens überaus menschlich. Die meisten von uns drängen damit aber nicht an die Öffentlichkeit. Wer hat schon Lust, freiwillig mit einem Krokodil zu ringen?
Ich wage deshalb mal die Behauptung, dass man diesen inneren Konflikt, all die Seelenbewegungen des Schriftstellers May als Leser seiner Werke erspüren kann, auch wenn die Faszination des Guten und Reinen in seinem Schaffen natürlich überwiegt. Wenn es nun aber stimmt, dass besonders jene Menschen, die selbst mit der Dunkelheit vertraut sind, die Gabe besitzen, uns nachhaltig vom Licht zu künden, dann ist May ein ganz hervorragendes Beispiel für einen, der von höherer Stelle nie von den beiden Quellen der Inspiration getrennt wurde, weder von der himmlischen noch von der irdischen. Und somit ist und bleibt er, unterschwellig gefühlt, immer einer von uns: ein Sprachrohr der vielen Suchenden, die schon in der Verkündigung spüren, dass das Sprachrohr selbst nicht vom Menschsein »geheilt« ist, nur weil es uns das Ideal so wunderbar zu beschreiben weiß. Der zeitgenössische Schriftsteller Phillip Yancey, der eine Reihe von erfolgreichen Lebenshilfebüchern veröffentlich hat, sagte diesbezüglich einmal über sich selbst, er sei ein »professioneller Schizophrener«. Und meinte damit sinngemäß, dass er anderen Menschen mit seinen Büchern helfen kann, weil er weiß, worüber er schreibt, ohne dabei notwendigerweise zu wissen, wie er seine schönen Erkenntnisse fruchtbringend auf sein eigenes Leben übertragen könnte. Ich schätze, so ein »professioneller Schizophrener« war Karl May auch.
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Sie werden außerdem in diesem schönen Buch viele interessante Hintergrundgeschichten zu Mays persönlichem Glauben finden. Und zu seinen Irrwegen. Als einem Leser, der sich mit Mays Biografie bislang nur sehr oberflächlich beschäftigt hat, kamen mir einige davon wirklich ziemlich haarsträubend vor, dazu geradezu boulevardesk – heute würde er es damit sicher regelmäßig in die Sendung »RTL-Explosiv« schaffen. Es scheint wirklich erstmal schwer vorstellbar, dass dieser Vorzeigemoralist May offensichtlich kühn genug war, sich selbst immer wieder als Scharlatan und Gesetzesbrecher zu betätigen. Und was für wilde Stories gibt es da bitte schön! Die Episoden aus seinem frühen Leben etwa, in denen er sich auf fantasievollste Weise als Trickbetrüger versuchte, haben mich spontan an den Film »Catch me if you can« erinnert, in dem Leonardo di Caprio einen solchen Hochstapler spielt, dem es ziemlich glanzvoll gelingt, in die absurdesten Lebensrollen zu schlüpfen. Auch der junge Karl May hat diese tragikomischen Münchhausen-Geschichten in seinem eigenen Lebenstheater aufgeführt. Überdies erfand er dauernd irgendwelche neuen, abenteuerlichen Details seiner eigenen Biografie und behauptete lange Zeit öffentlich, er hätte die Abenteuer von Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand auf seinen Reisen selbst erlebt (obwohl er diese Reisen natürlich nie angetreten hatte).
Noch zusätzlich verwirrend dabei eben: Mays christliches Gedankengebäude, immer wieder vermischt mit einer eher selbst geschnitzten Theologie, das schließlich alles zusammen in den großen Suppentopf der eigenen Fantasie geworfen und stets mit dem heiligen Ernst eines Missionars vorgetragen. Es ist wirklich faszinierend, das alles zu lesen. Zum Ende seines Lebens, als die Wahrheit mehr und mehr ans Licht kam, musste der große Schriftsteller eine Menge Schelte dafür einstecken. Aber ist das nun eigentlich wirklich verwerflich? Oder ist eine solche Scharlatanerie im Falle eines solchen Künstlers nicht eher grundsympathisch?
Mir persönlich kommt das alles ungemein spannend vor, eben echt und aufregend, ganz dem literarischen Werk des Künstlers entsprechend. Ich stelle es mir gerade vor: Die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen, während der Schriftsteller und der Mensch May am Schreibtisch abwechselnd die Feder führen, die Worte formen sich auf Papier zu wunderbaren Geschichten, deren Held im Grunde immer eine fantastische und übertriebene Ausgabe des Verfassers selbst ist. So etwas ist womöglich schlimm, wenn einer Automechaniker ist und Chirurgen ausbildet oder wenn ein Hafenarbeiter sich irgendwann selbst für ein Schiff hält. Wenn man sich vor Augen hält, was für ein gewaltiges Werk bei Karl May daraus entstanden ist, erscheint es doch eher grandios und stimmig. May ist in all seinen schöngeistigen Fantastereien wohl eher lebendige Herausforderung, den Menschen, also in ihm auch uns, als Ganzes und Widersprüchliches zu betrachten. Seine Fantasie gab ihm eine überhöhte Wahrheit ein, die er zwar selbst nicht wirklich leben konnte, mit der er dann aber gleichzeitig unendlich vieles über den Menschen, der er war, und darüber hinaus den Menschen an sich, verriet. Und – das ist ja das Beste daran – mit der er unzählige Menschen glücklich machte. Ein professioneller Schizophrener eben. Und vielleicht gerade deshalb ein so hervorragender Geschichtenerzähler.
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In all dem war May eben auch dieser feurige Gläubige, der sich selbst mehr und mehr als Missionar sah und dabei zunächst einen Weg gegangen war, den viele von uns ebenfalls aus eigener Erfahrung kennen: Aus der persönlichen Enttäuschung der eigenen Lebensumstände entfaltet sich die Hinwendung zu Gott. Es folgt das zähe Hadern mit den Dogmen und gerade mit jenen Menschen, die sich am eindrucksvollsten als Gottes irdische Stellvertreter ausgeben. Dazu die kontinuierliche Suche nach Vollkommenheit (wahrscheinlich eine Künstlerkrankheit), der Versuch, sich weiterzuentwickeln, es zu schaffen, sich unterwegs zu krönen mit der Wahrheit, an einem Erkenntnisstand anzukommen, der uns verstehen und wissen lässt, wie »alles funktioniert«, nach welcher kosmischen Uhr jede Form von Leben tickt. Dann irgendwann die Ohnmacht, dass Gott, wie man »ihn« auch dreht und wendet, eben doch nicht als Ganzes verstanden werden kann, schließlich die Demut, das Sich-selbst-Ausliefern und Herunterbrechen auf das Einzige, das man als Mensch als göttliche Essenz wirklich spüren oder zumindest ahnen kann. Die Liebe. Die Vergebung. Die Gnade, die gerade jene Gläubigen verstehen, die wissen, wie es sich anfühlt, schuldig zu sein.
Vielleicht muss man bei diesen Gedankenspielen obendrein noch Folgendes berücksichtigen: Karl May war ja überzeugter Christ. Aber er hatte auch eine tiefe Seele, die eines Künstlers obendrein. Diese Kombination ist nicht selbstverständlich. Und sie ist sogar gefährlich. Für den Künstler, der auch Christ ist, ist es oft sehr viel schwieriger, irgendwo (buchstäblich) einen Fuß auf die Erde zu bekommen, als für einen Christen, der auch Künstler ist. Letztere haben es nämlich relativ leicht. Sie werden zwar von der Welt außerhalb des frommen Lagers meist ignoriert, dafür aber automatisch von den anderen Christen akzeptiert – wenn sie Glück und eine anständige Presseabteilung hinter sich haben, sogar geliebt. Die Künstler, die auch Christen sind wiederum, haben oft ein echtes Problem: Vielen dogmatischen Christen sind sie nicht christlich genug, da sie sich eine oft unstillbare Neugier aufs Weltliche bewahren, während sie dem Rest der Welt aufgrund ihres offen zur Schau getragenen Glaubens suspekt sind oder im schlimmsten Falle gar vollkommen irre erscheinen. Ein Künstler also, der Christ ist, dessen Herz aber für die Kunst ebenso wie für die Tiefen und Leiden der menschlichen Seele brennt, befindet sich zeitlebens an einem sehr merkwürdigen inneren Ort. Er gehört überall hin und kann nichts dagegen tun, jedenfalls nicht, ohne das Gefühl zu haben, sich, seine Sehnsucht, seine Liebe oder die Kunst zu verraten. Gleichzeitig gehört er eben nirgendwo hin. Das ist ein Zustand, den ganz sicher nicht jede sensible Seele aushalten würde. Die Flucht vor dem Dogma und kleinkarierter Engstirnigkeit verführt schließlich zur Zucht eines eigenen Neurosengartens, der sich schnell zu einem persönlichen Dogma auswuchert. Wenn man nun bedenkt, dass, wie im Falle Karl May, dieser Zustand der inneren Heimatlosigkeit sich zu einem wirklich dramatischen psychischen Konflikt ausweiten kann, zu einem möglicherweise unlösbaren, lebenslangen inneren Drama, an dem sowohl geschäftliches als auch seelisches Wohlergehen hängen, kann man vielleicht auch besser nachvollziehen, warum May so viele Kontroversen ausgelöst hat und zum Ende seines Lebens so viele Prozesse und Gerichtsverhandlungen über sich ergehen lassen musste. Und warum überhaupt er immer wieder in so furchtbar viele Fettnäpfe getreten hat, die auf den ersten Blick für uns externe Moralapostel nicht wirklich nachfühlbar sind, weil sie nicht vereinbar mit seinem Werk und erst recht nicht mit seinem Glauben scheinen. Im Licht dieses Erspürens von Mays teilweise dramatischen Seelenbewegungen wirken für mich auch viele von seinen »Irrwegen« deutlich nachvollziehbarer. Ebenso die in seinem Fall erfolgreiche Flucht nach vorn ins Ideal, in die Offensive der Verkündigung.
Die Mission, auf der May sich selbst sah, setzte sich wohl letztlich zusammen aus seinem tiefen, sich stets weiterentwickelnden Glauben an einen liebevollen und gerechten Gott, seinem besonderen Charakter, seinem gespaltenen Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte, dem, was er an Religion nicht gutheißen konnte, und der Überspanntheit, die aus all dem zwangsläufig entstehen musste. Dass er in all dem diese Essenz des überkonfessionellen Glaubens festhielt und fulminant an die Welt weiterreichte, macht das Ganze in meinen Augen nicht nur »entschuldbar«, sondern großartig. Was Karl May wohl zeitlebens als Anker blieb, war die tiefe Spiritualität eines mit der Realität hadernden Fantasiebegabten. Für mich ist eine frühe autobiografische Äußerung des Künstlers, die Rainer Buck in diesem Buch zitiert, wie eine Zusammenfassung seines Menschenbildes und der Schlüssel zu seinem eigentlichen Geheimnis: Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele, sagt May da rückblickend über sich selbst. Wahrscheinlich konnte er eben deshalb generationsübergreifend so viele Seelen berühren. Weil er für die Menschen schrieb, die wissen oder spüren, dass sie eine haben.
Ich möchte mir zum Schluss noch diese eine Bemerkung erlauben: Sie haben es vielleicht gemerkt, es war mir wirklich eine Freude und Ehre, dieses Vorwort schreiben zu dürfen, und außerdem gemeinsam mit meinen Freunden Henry Sperling und Karsten Deutschmann vom Gentle Art Studio in Hamburg das Karl-May-Hörspiel »Old Cursing Dry« zu produzieren. Mich hier mit dem Leben Karl Mays zu beschäftigen und die vielen aufregenden Geschichten darin mit der angenehmen Distanz des Beobachters zu lesen, ist für mich tatsächlich wie ein hübsches Midlife-Geschenk. Mays Werke haben überall Spuren hinterlassen, selbstverständlich auch in mir. Der Geist seiner Bücher ist mir immer wieder begegnet – auf Tournee, beim Schreiben, in meiner Familie, in der Freundschaft und der tiefen Liebe zu anderen Menschen. Das Bücherregal mit den grünen Buchrücken, von dem ich anfangs schrieb, ist natürlich auch das meines Vaters, in meinem Elternhaus. Und meine Mutter erzählte mir erst kürzlich – als ich ihr berichtete, dass ich an diesem Projekt mitarbeite –, dass mein Großvater sich in den barbarischen Wirren und seelischen Entgleisungen des Zweiten Weltkrieges stets an der Freundschaft von Winnetou und Old Shatterhand orientiert hatte. Er hatte ihr später erzählt, dass diese Gedanken, das Festhalten an den Werten der Brüderlichkeit und Menschenwürde, ihn und seine Kameraden davor bewahrt hatten, den schmalen Rest ihrer eigenen Würde in den ansonsten unmenschlichen Kriegshandlungen einzubüßen. Wie ich eingangs schon schrieb: Für manchen mag das alles hier spontan zu gefühlsduselig, zu nostalgisch oder viel zu weit hergeholt klingen. Aber ich bin sicher, dass es das alles nicht ist. Es ist sehr leicht, der Verlockung nachzugeben, die Art von Liebe zu trivialisieren, die sich durch die Geschichten von May zieht wie ein roter, erhabener Faden. Ebenso leicht ist es ja, den tiefen und ernstgemeinten Glauben vieler Menschen an einen liebenden, barmherzigen Gott ins Exil der überspannten Fantasie zu verbannen und damit der vermeintlichen Lächerlichkeit preiszugeben. Aber beides hat in Mays Werk, und folgerichtig auch hier in diesem Buch von Rainer Buck, seinen Platz. Denn beides ist die Quelle von all dem, was sich schließlich über Mays Kreativität wie ein Fluss in die Welt und kontinuierlich weiter in die Herzen seiner Leser ergießt. Das Idealbild der Liebe, der Freundschaft, der Loyalität, wie May es in seinen Geschichten zeichnet, hat die Kraft, den Menschen Halt zu geben. Karl May hat deshalb etwas wirklich Großes und Zeitloses geschaffen: Geschichten und Helden, die auf das unsichtbare Zentrum der Welt zielen und es sogar treffen, da sie in den Herzen seiner Leser wirken. Und dort bleiben. Und dort etwas in Bewegung halten. All das ist für mich das Merkmal heiliger Inspiration und hat mit einer Art von innerer Bildung zu tun, die wir in keiner Schule und an keiner Universität erlangen können. Karl May ist einer von denen, die auszogen, das Herz der Menschen mit einem Samen zu beschenken, aus dem sich eine der Liebe zugewandte, tolerante Weltsicht bildet, die es im besten Falle sogar erträgt, nicht Recht haben zu müssen. Und das bleibt auch dann als Tatsache, wenn es May selbst nicht vergönnt war, die Früchte dieser Saat in seiner eigenen Seele zu ernten.
Karl May bereicherte uns mit dem, was ihm geschenkt wurde.
Das, was er den Menschen seinerseits als geistiges Geschenk hinterließ, kommt mir gerade vor wie eine Feder, die irgendwo in den Untiefen unserer Leben herumschwebt, sich geradezu majestätisch im Wind unserer Sehnsüchte bewegt und auf stille und doch mächtige Weise in der Lage ist zu helfen, den Glauben in uns am Leben zu erhalten. Dieser Glaube ist wie der Halm, der sich im Sturm biegt, aber nicht bricht, wie eine Welle, die ans Ufer fällt, ohne dass auch nur ein einziger Tropfen von ihr je verloren gehen könnte. In diesem Glauben und ebenfalls in Mays Werk deshalb: der unvergängliche Hauch unsterblicher Freundschaft und Brüderlichkeit, die Friedensbotschaft eines Gottes, der alles in sich vereint – im stillen und stets präsenten Geist der Liebe, die nichts anderes möchte, als uns mit sich selbst zu beschenken.
Jens Böttcher ist Autor und Musiker. Sein aktuelles Album heißt »Viva Dolorosa«. Seine Bücher »Steiner«, »Der Tag des Schmetterlings« und »Interview mit dem Teufel« sind im Brendow Verlag erschienen. Er ist regelmäßig solo oder mit Band auf Tournee.