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Jungfrau im Verließ

Frühjahr 1090

Gerold von Falkenburg verlangsamte den Lauf seines dunkelbraunen Pferdes und ließ seinen Blick über das vor ihm liegende Gelände schweifen.

Er hatte die kleine, auf einem hell schimmernden Kalkfelsen errichtete Veste Blankenburg hinter sich gelassen und den Fuß des von den Bewohnern der Umgebung noch immer Wotansfelsen genannten Berges erreicht, an den sich die aus einer langen Kette von zackigen Sandsteinklippen bestehende, mit dichtem Strauchwerk bewachsene Teufelsmauer anschloss.

Gleich unterhalb des Wotansfelsens nahm eine von nur wenigen Büschen und vereinzelt stehenden Bäumen bewachsene Heide ihren Anfang, an die sich nach etwas mehr als zwei Meilen eine sumpfige Bruchlandschaft anschloss, die den direkten Weg nach Quedlinburg verstellte. Um die unpassierbaren Sümpfe zu umgehen, schwenkte die sandige, ausgefahrene Straße hier nach links auf ein vorwiegend aus Kiefern und Fichten bestehendes Wäldchen zu, über deren Wipfel sich das dunkle Massiv des Regensteins erhob.

Allerdings hatte der Reiter nicht vor, der Straße bis nach Quedlinburg zu folgen. Er beabsichtigte vielmehr auf einem schmalen Pfad, der sich hart am Fuße der sich über etliche Meilen hinziehenden Teufelsmauer entlang schlängelte, bis zu dem Dorfe Am Tale zu reiten, das in der Nähe des Klosters Wendhusen und am Eingang zum wilden Tal der Bode lag. Von dort aus wollte der junge Mann den Weg einschlagen, der - dem Bodetal aufwärts folgend - zum alten königlichen Jagdhof Siptenfelde führte, wo der Bruder seines verstorbenen Vaters als Vogt amtete, und er sich eines Nachtlagers sicher sein durfte.

Der jüngste der drei Falkenburger Brüder war ein mittelgroßer, schlanker und drahtiger Bursche. Sein schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel ihm bis zu den breiten Schultern herab. Er hatte ein längliches, noch jungenhaft wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen, einer schmalen, leicht gebogenen Nase und hellbraunen Augen, über denen sich ein Paar kräftiger Augenbrauen wölbte.

Die Kleidung des Reiters bestand aus einer hüftlangen Tunika in der Farbe blühenden Rapses, die an den Ärmeln und am Kragen mit schwarzen Aufschlägen abgesetzt war, kastanienbraunen Hosen und Reitstiefeln mit eisernen Sporen.

Am Gürtel trug er ein Schwert mit schmucklosem, scheibenförmigen Knauf und einen drei Spannen langen Dolch, am Sattel waren eine doppelseitige Wurfaxt und ein spitzkegliger Helm mit Nasenschiene befestigt. Über dem Rücken des etwas knochigen Pferdes lag ein nur mäßig gefüllter, mehrfach geflickter Reisesack.

Der Falkenburger war am frühen Morgen von Halberstadt aufgebrochen und zu der unweit der kaiserlichen Jagdpfalz Bodfeld gelegenen - dem Erzengel Michael geweihten - Höhlenkirche geritten, die einst dem frommen Einsiedler Volkmar als Klause gedient hatte. Heuer lebte dort eine kleine Schar von gottesfürchtigen Männern, bei denen Gerold im Auftrage seines ältesten Bruders Gottfried eine Messe für den verstorbenen Vater bestellt hatte.

Ein sanfter Wind strich über die still in der Frühlingssonne daliegende Heide und kühlte das Gesicht des Jünglings. Er berührte mit seinen Sporen die Flanken seines Pferdes, um den Braunen auf den zur Teufelsmauer führenden Pfad zu lenken, als aus dem Saum des links von ihm stehenden Waldes plötzlich ein Reiter hervorbrach, der seinen Schimmel zu schnellstem Galopp anspornte.

An dem langen Kleid und den wehenden, dunkelblonden Haaren erkannte Gerold erstaunt dass im Sattel des kräftig ausgreifenden Pferdes eine Frau saß. Doch noch während er sich darüber wunderte, was die Dame derart zur Eile trieb, brachen aus dem Dickicht drei weitere Reiter hervor, die der Reiterin hinterher jagten.

Die Männer waren bewaffnet und gerüstet wie die Gefolgschaft eines adligen Herrn auf einem Kriegszug und auch wenn Gerold nicht wusste, was die Kerle bewog, die Flüchtende zu verfolgen, so war ihm doch klar, dass sich die Dame in Bedrängnis befand und sein Empfinden als Edelmann verlangte von ihm, dass er ihr Beistand leistete, auch wenn er es dafür mit drei bewaffneten Kerlen aufnehmen mußte.

Nach einem kurzen Zögern, gab Gerold seinem Gaul entschlossen die Sporen und sprengte quer über die Heide auf die blonde Dame und ihre gewappneten Verfolger zu, so dass er ihren Weg kreuzen mußte.

Als er sich der Frau bis auf einige Galoppsprünge genähert hatte, wandte sie ihm ihr Gesicht zu, und in ihrer Miene las Gerold die flehentliche Bitte um Hilfe. Nun sah er auch, dass die Reiterin noch recht jung war, jünger vermutlich als er selbst, der doch auch gerade erst siebzehn Sommer gesehen hatte.

Mit einem kurzen Blick stellte er fest, dass die Entschlossenheit der drei Bewaffneten durch sein Erscheinen nicht im Mindesten erschüttert worden war. Darauf hatte er auch nicht ernsthaft gehofft, denn die Verfolger waren in der Überzahl, bewaffnet und sicher kampferprobt. So blieb ihm, wenn er dem Fräulein helfen wollte, keine andere Wahl, als sich ihren Verfolgern zum Kampf zu stellen.

In dem Augenblick, in dem er dies erkannte, wurde der junge Falkenburger ganz ruhig. Zwar besaß er keine Erfahrung im ernsthaften Kampf, doch die harte Ausbildung, die er durchlaufen hatte, hatte ihn zu einem beachtlichen Streiter gemacht. Bei fast allen der vielfältigen, alltäglich durchgeführten Übungen mit den verschiedenartigsten Waffen konnte er es mit jedem der Knechte auf der heimischen Burg und selbst mit seinen Brüdern aufnehmen. Erst am Tag zuvor hatte er in einen Kampf mit den Übungsschwertern seinen älteren Bruder Gottfried tüchtig in die Enge getrieben. Er war schnell und gewandt wie kein Zweiter und in seinen Hieben lag die Kraft eines Bären.

Doch trotz der recht guten Meinung, die Gerold von seiner Waffengewandtheit hatte, wusste er, dass er einen Kampf mit drei erfahrenen Kriegern gleichzeitig, nur schwerlich bestehen konnte. Er musste also danach trachten, die Zahl seiner Gegner schon vor dem Nahkampf zu verringern. Da er keinen Bogen mit sich führte, griff er nach der Wurfaxt, die an seinem Sattel hing, und zog sie aus der Halterung.

Mit einem energischen Zug an den Zügeln brachte er seinen Hengst zum Stehen, richtete sich auf, holte weit aus und ließ die Wurfaxt fliegen. Die blitzende Waffe beschrieb einen eleganten Bogen, flog auf den Vordersten der Verfolger zu und senkte sich auf ihn herab, noch ehe der Überraschte sich schirmen oder ausweichen konnte. Begleitet von einem lauten Dröhnen schmetterte die Axt zwei Fingerbreit über der Nasenwurzel auf den spitzkegligen Helm des Mannes. Der Getroffene stieß einen Schmerzensschrei aus, dann sackte er in sich zusammen und fiel vom Pferd.

Mit einem Jubelschrei riss Gerold sein Schwert aus der Scheide, gab seinem Hengst die Sporen und sprengte mit hochgeschwungener Klinge auf die beiden übrig gebliebenen Reisigen zu. Die hatten gerade noch so viel Zeit ihre Schwerter zu zücken, bevor der so unerwartet aufgetauchte Angreifer über sie kam.

Dann ging alles sehr schnell.

Gleich mit dem ersten Schlag traf der junge Falkenburger den einen seiner Gegner in der Mitte des Halses und schlitzte ihm die Kehle in voller Breite auf. Noch während der Waffenknecht blutüberströmt aus dem Sattel rutschte, wandte sich Gerold dem letzten Verfolger zu und traktierte ihn mit einem Hagel von Hieben, deren sich dieser nur mit größter Mühe erwehren konnte. Schon nach wenigen Augenblicken erkannte der Mann seine Unterlegenheit, und da er gegen einen Streiter - der bereits zwei seiner Gefährten niedergestreckt hatte - allein nichts ausrichten konnte, riss er seinen Gaul herum und machte sich eiligst davon.

Gerold verfolgte ihn nicht. Er ließ das Schwert sinken und atmete tief durch. Ein Gefühl des Triumphs, gemischt mit einem Schwall nachträglicher Angst, überkam ihn und machte ihn für kurze Zeit zu jeder Bewegung unfähig. Erst als er hinter seinem Rücken das leise Stampfen eines sich langsam nähernden Pferdes hörte, löste sich seine Erstarrung. Er wandte sich um und begegnete einem Blick aus den vor Aufregung funkelnden, Augen der dunkelblonden Reiterin.

Nachdem ihn das adlige Fräulein einige Atemzüge lang neugierig gemustert hatte, verzogen sich ihre vollen, sinnlichen Lippen zu einem schüchternen Lächeln.

„Mein Herr“, sagte sie, während sie sich die schweißnassen Haare aus der Stirn strich, „wer auch immer Ihr seid, Euch hat mir der Himmel geschickt!“

Sie war nicht sehr groß, nur etwas mehr als fünf Fuß, doch von stattlichem Körperbau. Schon nach dem ersten Blick befand Gerold, dass sie eine sehr ansehnliche Person war. Ihre großen, braunen Augen, die kurze, gerade Nase und die hohe Stirn, fügten sich mit der sanft geschwungenen Rundung von Wangen und Kinn in ein harmonisches Ganzes, welches von den lang gewachsenen Haaren trefflich eingerahmt wurde.

Gerold neigte artig das Haupt. „Mein Fräulein, was wollten die Kerle von euch?“

„Wir sind überfallen worden“, sprudelte die Jungfrau hervor. „Ich heiße Mathilde von Konradsburg und war mit Mechthild, der künftigen Gemahlin meines Bruders Otto, von der Heimburg unterwegs nach Quedlinburg, um dort ein paar Sachen für die Hochzeit einzukaufen. Eine gute Meile von hier, auf der Straße nach Westerhusen, überfiel uns eine Schar dieser Männer. Sie haben …“, schluchzte sie auf, „die Mechthild entführt und ich weiß nicht … ich weiß nicht wohin … ich konnte ihnen entkommen, aber wenn Ihr mir nicht geholfen hättet …“ Sie verstummte für die Zeit, die sie brauchte, um tief Luft zu holen. Dann fragte sie ihren Helfer in der Not: „Darf ich wissen, welchem erprobten Miles ich meine Rettung zu verdanken habe?“

„Ich heiße Gerold, Gerold von Falkenburg“, antwortete der Gefragte und fügte nach einem kurzen, ungläubigem Kopfschütteln hinzu: „und dies war mein erster Kampf auf Leben und Tod.“

„Aber jetzt“, befand er dann, „sollten wir besser von hier verschwinden, denn wenn der dritte Kerl, der geflohen ist, Verstärkung holt, dann bringen sie euch doch noch in ihre Gewalt. Ich hole nur noch meine Franziska, wer weiß, ob ich sie nicht bald noch einmal brauche.“ Er ließ seinen Braunen zu dem von seiner Wurfaxt getroffenen Reisigen laufen und sprang aus dem Sattel. Als er sich bückte, um die Franziska genannte Waffe aufzuheben, bemerkte er, dass der niedergestreckte Mann plötzlich die Augen öffnete und sich unsicher umsah. Schnell zog er seinen Dolch und setzte ihn dem Liegenden an die Gurgel.

„Gnade“, stöhnte der Waffenknecht. „Tötet mich nicht, seid ein Christenmensch.“

„Was sind das für Christen, die eine wehrlose Jungfrau verfolgen?“, versetzte der Falkenburger und drücke die Schneide des Dolches gegen die heftig pochende Halsschlagader des Mannes. Zwei, drei Atemzüge lang gab er dem Entsetzen in dem Liegenden Zeit, sich zu entfalten, dann besann er sich scheinbar. „Hör zu, du Lump, sag mir, wessen Mann du bist und ich lasse dich leben!“

Das Zögern des Knechtes währte nur kurz, dann stieß er keuchend hervor: „Mein Herr ist der edle Poppo von Regenstein. Wir führten nur seine Befehle aus.“

„Warum ließ er die Jungfrauen überfallen? Was ist mit dem anderen Fräulein geschehen?“, herrschte ihn Gerold an.

„Wir sollten sie auf den Regenstein bringen, mehr weiß ich nicht, edler Herr, wirklich nicht, ich schwör’s beim Leben meiner Mutter!“

An der Miene des Verängstigten erkannte Gerold, dass er die Wahrheit sprach. Er ließ von dem Regensteiner ab, steckte seinen Dolch ein, nahm seine Wurfaxt an sich und stieg wieder in den Sattel.

„Dann weiß ich Bescheid“, sprudelte Mathilde hervor, nachdem ihr Gerold von dem Geständnis des Regensteiner Knechtes berichtet hatte, „der Poppo hatte auch um die Hand Mechthilds angehalten, doch sie wies ihn ab. Mit dem Einverständnis ihres Vaters wandte sie sich meinem Bruder zu.“

„Dann hat er sich jetzt also mit Gewalt geholt, was er nicht bekommen sollte“, warf Gerold ein. „Und wenn sie erst mal auf dem Regenstein ist, dann wird es sehr schwer, sie von dort wieder zu befreien.“

„Ich muss sofort meine Brüder benachrichtigen!“, rief die kleine Konradsburgerin. „Sie und die Heimburger werden bestimmt Abhilfe zu schaffen wissen.“

„Ich begleite Euch“, erklärte Gerold entschieden. „Ich kann Euch jetzt nicht allein weiterziehen lassen, nicht in der Gefahr, in der Ihr noch immer schwebt. Und darum lasst uns jetzt reiten, bevor die Kerle kommen, um ihre beiden Gefallenen zu holen.“

Der Schimmel Mathildes und der Braune Gerolds fielen schnell in Galopp. Sie nahmen den Pfad, der sich am Fuße der eng aneinandergereihten, merkwürdig geformten Felsen der Teufelsmauer entlang schlängelte, und jagten auf ihm in einem halsbrecherischen Tempo dahin. Von Zeit zu Zeit sah Gerold sich um, ob ihnen jemand folgte, doch er konnte niemanden entdecken.

Nach einer Viertelstunde angestrengten Galoppierens hatten sie das Ende des Heidelberges, des westlichsten und bizarrsten Teils der Teufelsmauer, erreicht. Hier lief der langgestreckte Bergzug in eine von offenem Wald beschattete Hochfläche aus, um erst ein gehöriges Stück weiter östlich wieder mit steilen Felsgebilden hervorzutreten.

Gerold, der die Spitze übernommen hatte, ließ seinen Hengst in Trab fallen, und bedeutete seiner Begleiterin das Gleiche zu tun. Nachdem er noch einmal nach möglichen Verfolgern Ausschau gehalten hatte, schwenkte er gleich darauf nach rechts und ritt durch einen schmalen Waldgürtel in ein flaches, quer zur Richtung des Bergzuges liegendes Tal, das die Form eines nach Süden zeigenden Flaschenkürbisses aufwies. Der Boden des Tales war mit hochgewachsenem Gras bedeckt, welches an einigen Stellen einen sehr hellen, fast weißen Sand durchschimmern ließ. Unterholz gab es, von einigen noch jungen Kiefern abgesehen, keines.

„Die Pferde, vor allem Eures, brauchen dringend eine Pause“, erklärte Gerold, nachdem er bis zum Ende des Talkessels geritten war, „sonst halten sie nicht mehr lange durch.“

Er stieg ab und half Mathilde artig aus ihrem Damensattel. „Hier können wir allerdings nicht bleiben. Falls sie uns noch verfolgen, könnten sie uns hier leicht überraschen. Da oben …“, Der Falkenburger wies auf eine Felsformation die rechts von ihnen in die Höhe wuchs, „ … bei den „Drei Zinnen“ kenne ich einen versteckten Platz zum Lagern.“

Sie nahmen die dampfenden Pferde am Zügel und stiegen den schmalen, zwischen eng zusammengerückten Bäumen kräftig bergan führenden Pfad hinauf. Der Anstieg endete schon nach wenigen Klaftern vor einer welligen, von dichtem Gesträuch und einigen Obstbäumen bestandenen Weide. Hier wandte sich der Weg nach rechts und führte wieder in den Wald hinein, doch schon nach einigen Dutzend Schritten öffnete sich auf der linken Seite eine schmale, vom Wind geschlagene Schneise und gab den Blick auf den hohen Wall, der von dunklen, wilden Forsten bedeckten Harzberge frei. Vor den Augen Gerolds und Mathildes breitete sich eine große, nach frischem Gras und Frühlingsblumen duftende Wiese aus, die sanft zu einem in einer langgezogenen Senke versteckten Dorf mit niedrigen Häusern abfiel.

„Hier irgendwo sollen meine Vorfahren vor langer Zeit einmal einen großen Hof besessen haben“, sagte Gerold versonnen, „doch heute weiß niemand von uns mehr genau, an welcher Stelle er einst stand.“

Der Jungherr und das Fräulein ließen sich einige Augenblicke Zeit, um den schönen Anblick zu genießen, dann setzten sie den Weg entlang des Waldrandes fort.

Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und ein frischer Wind ließ die Wipfel der Birken und Kiefern rauschen. Vögel zirpen munter im Geäst.

„Wir halten eine kurze Rast“, bemerkte Gerold, „dann reiten wir hinüber nach Am Tale und nehmen von dort aus den kürzesten Weg zur Konradsburg. Wenn wir uns sputen, können wir es bis heute Abend schaffen.“

„Der kürzeste Weg führt durch das Gebiet der Ballenstedter“, meinte Mathilde zögernd.

„Ja gewiss … “, entgegnete Gerold.

„Die Ballenstedter sind uns nicht wohlgesonnen“, sagte die Jungfrau und runzelte die Stirn.

„Ihr meint“, erwiderte Gerold mit einiger Verzögerung, „weil Egino von Konradsburg den Adalbert von Ballenstedt erschlug.“

Mathilde nickte.

„Ich habe davon gehört. Ist Egino Euer Vater?“

„Ja, aber er weilt nicht mehr unter den Lebenden. Im vorigen Jahr ist er zu Gott gegangen.“

„Das tut mir leid. Ich hörte nur, dass er vor zehn Jahren in einer Fehde den Ballenstedter in der Nähe von Aschersleben erschlagen hat. Was ist damals eigentlich geschehen?“

Mathilde strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und dachte einen Augenblick nach, bevor sie zu erzählen anhob: „Graf Adalbert und mein Vater gerieten in Streit über die Jagdrechte im Meisdorfer Forst. Der Ballenstedter hatte zu den sächsischen Fürsten gehört, die gegen König Heinrich aufbegehrten, und musste sich, nach der Niederlage der Sachsen, dem siegreichen Salier unterwerfen. Er wurde in Haft genommen und erst nach einem Jahr wieder freigelassen. Inzwischen hatte sich mein Vater, wie all die anderen Herren, die treu zum König hielten, das eine oder andere Besitztum der Besiegten angeeignet; schließlich war ihnen Herr Heinrich ja Dank für die geleistete Hilfe schuldig. Als Adalbert davon erfuhr, raste er vor Zorn und sagte uns die Fehde an.

Mein Vater allerdings wartete nicht, bis er mit überlegener Macht über uns kam, sondern legte ihm stattdessen nahe bei Aschersleben einen Hinterhalt. Während die Begleiter des Ballenstedters schnell niedergemacht waren, versuchte dieser in die Kirche von Westdorf zu entkommen, doch mein Vater hatte vorsorglich einen Mann in den Glockenturm des Gotteshauses geschickt, der alles von oben beobachtete. Als er sah, dass Adalbert auf die Kirche zugeritten kam, läutete er die Glocken und wies unseren Mannen durch Zeichen den Fluchtweg des Ballenstedters. Dann verschloss er die Kirchentür vor dem Grafen und ließ ihn nicht ein.

So konnte mein Vater den Flüchtenden schließlich einholen und stellen, und er erschlug ihn in ehrlichem Zweikampf.“

Was die Umstände dieses Duells betraf, so hatte Gerold allerdings etwas anderes gehört, denn wenn ein ungerüsteter Mann gegen einen Gerüsteten streiten muss, so konnte es mit der Ehrlichkeit des Schwertgangs nicht so weit her sein. Aber er enthielt sich wohlweislich einer diesbezüglichen Äußerung und sagte stattdessen: „Wenn Ihr meint, dass es zu gefährlich ist, durch das Land der Askanier zu reiten, dann können wir auch einen Bogen über Hoym schlagen oder einen Weg durch die Berge suchen.“

Doch Mathilde schüttelte heftig den Kopf. „Dazu haben wir keine Zeit. Wir müssen uns beeilen. Wer weiß, was der Poppo mit der Mechthild alles anstellt, da oben auf dem Regenstein. Wir müssen sie so schnell wie möglich befreien. Dieser Haderlump ist zu allem fähig.“

Inwieweit die Befürchtungen berechtigt waren oder nicht, konnte Gerold nur mutmaßen, da er den Herrn des Regensteins nicht kannte. Aber ganz auszuschließen waren sie wohl nicht.

Doch was konnte man tun?

Der Regenstein war keine leicht zu knackende Nuss, das wussten auch der noch unerfahrene Jüngling und die Tochter des Egino von Konradsburg. Mit einer Handvoll Männern war da nichts zu erreichen.

Tief in Gedanken versunken setzten die beiden ihren Weg auf dem verwachsenen, immer einige Klafter Abstand vom Waldrand haltenden Pfad fort, bis sie nach wenig mehr als zwanzig Schritten zu einer kleinen, im vollen Sonnenschein liegenden Lichtung kamen.

Der Ort war von einer seltenen, urwüchsigen Schönheit. Am hinteren Ende des zerklüfteten, von grauen Sandsteinfelsen geprägten Platzes, wuchsen aus einem schmalen Bergrücken drei kräftige Felsnadeln in die Höhe, die an eng beieinanderstehende Türme erinnerten. Zwischen diesem und einem nach Osten gerichteten Bergsporn lag ein kleines, kesselartig abgesenktes Plateau, dessen Boden aus Fels und sandiger Erde bestand. An der linken Flanke des vorderen Bergrückens gähnte der Schlund einer kleinen Höhle.

„Hier rasten wir“, entschied Gerold. „Wenn sie uns noch nachstellen sollten, sehen wir sie dort unten rechtzeitig kommen.“

Sie banden die Pferde an den tief herabhängenden Ast einer knorrigen Kiefer und kletterten auf die abgeflachte Kuppe des vorderen Bergsporns, von dem sich ihnen ein herrlicher Blick auf die zu ihren Füßen liegende Landschaft bot. Seite an Seite ließen sie sich auf dem von der Sonne angenehm angewärmten Sandstein nieder und labten ihre durstigen Kehlen mit dem säuerlich schmeckenden, aber noch angenehm kühlen Dünnbier aus Gerolds Wasserschlauch. Begleitet von einem wohligen Stöhnen zog Mathilde ihre Schuhe aus und massierte sich die schmerzenden Füße.

„Sie sehen ja recht schön aus“, erklärte sie mit Blick auf die bis zu den Knöcheln reichenden, mit Silberstickereien reich verzierten Schuhe, „und zum Reiten sind sie auch ganz gut geeignet, aber wenn du mit ihnen laufen musst, bringen sie dich um.“ Sie lachte und bewegte spielerisch die langen, geraden Zehen. „Wenn mich niemand sieht, laufe ich immer barfuß herum, auch wenn sich das für ein Fräulein wie mich eigentlich nicht schickt.“

Nach diesem Bekenntnis legte sie sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf den Rücken und schaute hinauf in den strahlendblauen Himmel.

„Wo liegt eigentlich Eure Burg, die Falkenburg?“

Gerold wickelte einen langen Grashalm um seinen Zeigefinger und riss ihn mit einem kurzen Ruck aus der Erde. „Auf dem Falkenberg vor der Hainleite in der Nähe von Sondershausen.“

„Das ist ein ganzes Stück weit weg“, stellte Mathilde fest. „Und was macht Ihr dann soweit im Norden?“

„Ich war in Halberstadt bei Gerhard dem Waffenschmied“, gab Gerold Auskunft, „und habe dort einen Helm abgeholt, den der Meister für mich angefertigt hat.“

Dass ein Teil der ritterlichen Ausrüstung eigens für ihn angefertigt wurde, war ein ganz besonderes Ereignis für den Jungherrn, hatte er doch bisher immer die alten Rüstungsteile seiner Brüder auftragen müssen.

Mathilde drehte sich zu ihm um und schaute ihn lächelnd an. „Seid …“, begann sie, doch dann unterbrach sie sich und setzte mit gewechselter Anredeform fort, „bist du nicht eigentlich noch ein wenig zu jung für Helm und Schwert?“

Gerold zuckte mit den Schultern. „Nachdem ich den vierzehnten Sommer gesehen hatte, schickte mich mein ältester Bruder Gottfried zur Äbtissin von Quedlinburg, damit ich bei deren Gefolgschaftsführer Hageno eine ritterliche Ausbildung erhalte. Als dann aber der falsche König Hermann starb und Ekbert von Meißen nach der Krone griff, gürtete man alle Jungmänner mit dem Schwert, weil man glaubte, sogleich gegen den verräterischen Markgrafen ziehen zu müssen und dafür schnell eine Mannschaft brauchte. Doch dann geschah erst mal gar nichts, und so wurden die meisten von uns schließlich wieder nach Hause geschickt.“ Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

„Welch ein Glück für mich, dass du gerade heute deinen Helm geholt hast“, bemerkte Mathilde und sah ihren Retter lange und eindringlich an, wobei eine leichte Röte ihre Wangen färbte. Gerold hielt ihrem Blick stand und spürte, wie eine sonderbare Wärme in ihm aufzusteigen begann. Ein schnell wachsender Teil seines Innern fühlte sich so machtvoll zu der kleinen, ansehnlichen Weibsperson hingezogen, dass er sie am liebsten fest an sich gedrückt, über ihr schimmerndes Haar gestrichen, ihre Wangen und ihren Nacken gestreichelt und ihren Mund mit dem seinen berührt hätte.

Schließlich - nachdem die beiden jungen Menschen den Spielraum des gegenseitigen In-die-Augenschauens bis zur Gänze ausgereizt hatten - verzogen sich ihre Lippen zu einem fröhlichen und zugleich innigen Lächeln.

Einem Lächeln, das Begreifen und Annehmen kundtat, und das Billigung versprach.

*

Eine halbe Stunde später brachen sie wieder auf. Sie ritten bis zur Siedlung Am Tale und von dort aus auf dem kürzesten Wege nach Ballenstedt, dem Ort, in dem einst die Grafen von Askanien gehaust hatten, bevor Graf Esiko seine Burg zum Sitz eines Stiftes bestimmte und seinen Wohnsitz auf der neu errichteten Burg Anhalt über dem schönen Selketal nahm. Die Befürchtungen, die Mathilde wegen der Feindschaft, die zwischen den Askaniern und den Konradsburgern herrschte, hegte, erwiesen sich als unbegründet; niemand behelligte sie, als sie die Siedlung in schnellem Trab durchquerten. Da die beiden auch auf dem letzten Teil ihres Weges weder sich noch ihre Pferde schonten, erreichten sie schon kurz nach dem Einbruch der Dunkelheit ihr Ziel.

Die Konradsburg lag auf einem sich unvermittelt aus dem flachen Land erhebenden Bergrücken und war weithin sichtbar. Die geräumige Kuppe des Berges fiel nach drei Seiten steil ab, nur im Osten war sie durch einen gemächlich ansteigenden, breiten Hang mit einer sich weit ausdehnenden Hochebene verbunden. Die Burg war von zwei Umfriedungen umgeben, einer äußeren, die aus angespitzten Palisaden und einer inneren, die zumindest zum Teil aus Mauerwerk bestand. Von den Gebäuden im Inneren der wehrhaften Anlage war vom Fuß des Berges wenig zu sehen, nur die massige Silhouette eines Wohnturms zeichnete sich wuchtig über der Umwallung ab.

Der Burgstieg, der breit genug für drei nebeneinander laufende Pferde war, lag im Licht des fast vollständig gerundeten Mondes. Mit der letzten Kraft ihrer abgetriebenen Rosse sprengten Mathilde und Gerold auf dem sich wie eine Schlange um den Berg windenden Weg bis zum gemauerten Burgtor hinauf.

„Heda, Hermann“, rief Mathilde zu dem zinnenbewehrten Wehrgang hinauf, „öffne das Tor, du Nachtwächter, ich bin’s Mathilde!“

Es dauerte einige Zeit, bis sich hinter der Brustwehr der dunkle Schatten eines Mannes sehen ließ. Er beugte sich vor und musterte die vor dem Tor haltenden Reiter.

„Wer ist euer Begleiter?“, rief er dann mit einer krächzenden Stimme, die Gerold an einen Raben denken ließ.

„Das geht dich einen Rossapfel an, du Schwachkopf“, fauchte die kleine Konradsburgerin. „Mach auf oder ich lasse dich verprügeln!“

Von oben kam ein beleidigt klingendes Gebrummel, dem schließlich ein: „Wartet, ich öffne Euch das Tor“, folgte.

Der Wachhabende ließ Mathilde und ihren Begleiter in den Burghof und obwohl er sich wegen seines Diensteifers zu Unrecht gescholten sah, schickte er einen Mann in den Pferdestall und ließ den Stallburschen, der sich schon zur Nachtruhe begeben hatte, wecken.

Mathilde warf dem gähnenden, sich mürrisch einen Strohhalm aus den zerzausten Haaren streifenden Knecht ihren Zügel zu, dann forderte sie Gerold auf, ihr zu folgen und stürmte zu dem an der Ostseite der Burg aufragenden Wohnturm. Hinter einigen der Fenster des gedrungenen Gebäudes war noch ein matter Lichtschein zu erkennen.

Während Gerold der vorauseilenden Mathilde über den holprigen, zumeist nur aus festgestampfter Erde bestehenden Boden hinterher stolperte, sah er sich neugierig um.

Auf dem ausgedehnten Geviert des Burghofes erhoben sich mehrere Gebäude von verschiedener Größe. Der Wohnturm und eine rechts davon stehende kleine Kapelle waren aus Stein, die sich am westlichen und nördlichen Rand der Burgumwallung befindlichen Häuser bestanden aus mit Lehmziegeln ausgefülltem Fachwerk und waren mit Riet gedeckt.

Inzwischen hatte Mathilde bereits die hölzerne Treppe, die zum Eingang des Burgos führte, erreicht und stieg sie schnellen Fußes hinauf.

„Komm, komm“, drängte sie Gerold zur Eile.

Sie öffnete die laut knarrende, aus schweren Eichenbohlen gezimmerte Pforte und führte ihren Begleiter über eine steile Stiege in eine große, den ganzen zwischen den Mauern vorhandenen Platz einnehmende Halle. Ein Feuer im Kamin, einige an den Wänden in eisernen Halterungen steckende Kienspäne und eine auf einem großen Tisch stehende Bronzelampe verbreiteten ein diffuses Licht. Von den Kienspänen und den knisternden Kloben im Kamin stieg ein angenehmer, harziger Geruch auf.

In der Mitte des Raumes saßen mehrere Gestalten um einen Tisch, von denen sich eine bei ihrem Eintreten von ihrem Sitz erhob.

„Mathilde, bist du das?“, erklang eine kräftige Frauenstimme.

„Mutter, Brüder! Otto!“ stieß die kleine Konradsburgerin, mit sich überschlagender Stimme hervor. „Wir sind überfallen worden vom Regensteiner! Der Poppo hat Mechthild geraubt und wohl auf seine Burg geführt. Ich konnte ihnen mit Mühe entkommen und dieser Jungherr“, Mathilde wandte sich um und zeigte auf den schweigend dastehenden Gerold, „hat mich gerettet und drei Knechte, die mich verfolgten, niedergemacht!“

„Was sagst du da?!“, fuhr ein kräftig gebauter Mann mit blonden Haaren und bartlosen Wangen heftig auf. „Das kann nicht wahr sein!“ Sein Stuhl stürzte mit lautem Krachen um, als er wie von einer Wespe gestochen in die Höhe schnellte.

„Doch, Otto, doch“, bekräftigte Mathilde, „es ist wahr! Wir müssen der Mechthild helfen, müssen sie befreien, müssen sofort etwas unternehmen!“

Auch die anderen am Tisch Sitzenden, es waren zwei Männer und eine Frau, sprangen jetzt auf und umringten Mathilde.

„Dann müssen wir …“, stieß Otto, dem Mechthild von Heimburg anverlobt war, hervor, „müssen wir sofort …“ Er verstummte und ballte in ohnmächtiger Wut die Fäuste. „Wir müssen … die Pferde … meine Waffen …“

„Wartet, wartet“, rief ein ebenfalls blonder, aber bärtiger junger Mann, „sinnloses Tun nützt weder uns, noch hilft es der entführten Jungfrau. Wir müssen uns besinnen und vernünftigen Rat halten.“

Dann fiel sein Blick auf den etwas abseits stehenden Gerold. „Und ihr, mein Herr, kommt her und setzt Euch zu uns. Doch zuvor lasst euch dafür danken, dass ihr unserer Schwester beigestanden habt.“ Er reichte dem Falkenburger die Hand und drückte sie kräftig.

Sie setzten sich alle an den Tisch und Egino - der älteste Sohn jenes Egino, der den Adalbert von Ballenstedt erschlug - ließ sich von Mathilde und Gerold noch einmal das Erlebte berichten.

„Dann gibt es also keinen Zweifel, dass die Regensteiner hinter dem Anschlag stecken …“, bemerkte er sinnend, nachdem die beiden verstummten. „Das ist eine üble Geschichte … eine sehr üble …“ Er schaute in die Runde. „Nun denn, was meint ihr, was sollen wir tun?“

„Zuerst müssen wir die Heimburger benachrichtigen“, warf Otto hitzig ein. „Gemeinsam müssen wir vor den Regenstein ziehen und die Burg erstürmen!“

„Erstürmen? Was glaubst du, wie viele Männer der Regensteiner auf seiner Burg hält?“ Egino schüttelte den Kopf.

Otto zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich“, stieß er unmutig hervor, „und selbst wenn es hundert wären, müssten wir trotzdem …“

„Es werden etwa dreißig oder vierzig sein“, unterbrach ihn sein älterer Bruder, „und um eine solche Burg, die von vierzig Männern verteidigt wird, zu erstürmen, bräuchten wir wenigstens dreihundert Kriegsleute, für eine Belagerung immerhin noch …“

„Für eine Belagerung fehlt uns die Zeit“, fuhr Mechthilds künftiger Gemahl dazwischen. „Wir müssen Mechthild dem räudigen Köter entreißen, bevor … er mit ihr etwas … anstellt, was …“ Vor Wut knirschte er so heftig mit den Zähnen, dass er nicht mehr weitersprechen konnte.

„Ob nun Belagerung oder Sturm, auf jeden Fall brauchen wir Hilfe!“ Egino schlug entschlossen mit der Faust auf den Tisch. „Mit dem ersten Tageslicht geht ein Bote zur Heimburg, Herr Anno und sein Sohn Abbo müssen über den räuberischen Streich des Regensteiners benachrichtigt werden!“

„Das mach ich selbst!“, rief Otto eifrig, „Anno wird Rat wissen. Und er hat etliche Freunde, die uns beistehen werden!“

„Gut“, stimmte der etwa anderthalb Jahre ältere Bruder zu, „aber auch das reicht noch lange nicht aus. Wir brauchen noch deutlich mehr Zuzug, wenn wir deine Mechthild befreien wollen.“

Er wandte sich an seine ihm gegenübersitzende Mutter. „Was meinst du, wird uns dein Bruder, unser Oheim, der Graf von Mansfeld Beistand leisten?“

Da brauchte Frau Sigena nicht lange zu überlegen. „Das wird er“, erklärte sie entschieden, „mit all seinen Reisigen, wenn wir ihn darum bitten.“

„Dann reite ich gleich morgen zu ihm“, entschied Egino.

„Und ich begleite dich“, erklärte die Mutter, „und ich werde Hoyer die Hölle heißmachen, wenn er nicht auch noch den letzten Küchenjungen bewaffnet und ins Feld schickt!“

„Verzeiht mir, ihr Herren“, warf Gerold, der dem Gespräch bisher aufmerksam zuhörend gefolgt war, ein, „ich bin zwar nur allein und im Kampf noch recht unerfahren, aber auch ich stelle mich euch zur Verfügung, wenn ihr meine Hilfe annehmen wollt.“

„Ich danke dir“, dröhnte Otto und fügte hinzu: „Wer drei von diesen regensteinischen Schweinen abgekehlt hat, der ist beileibe nicht unerfahren. Es wird mir eine Ehre sein, Seite an Seite mit dir zu kämpfen!“

„Herr Gerold, Ihr seid unser Gast“, bestimmte Egino, der Burgherr, „Mutter, Mathilde, bitte sorgt für eine Schlafstatt und für das leibliche Wohl unseres wackeren Freundes.“

„Ich werde mich gleich um ein Abendmahl für Ge… Herrn Gerold und mich kümmern“, rief Mathilde, „ich habe nämlich auch Hunger, schließlich habe ich seit heute Morgen nichts mehr gegessen.“

„Also dann ist alles gesagt“, fasste Egino zusammen und erhob sich. „Mit dem ersten Tageslicht brechen wir auf. Und jetzt geht alle zu Bett. Es folgen anstrengende Tage.“

*

Während die von Mathilde und Gerold alarmierten Konradsburger bereits Pläne für ihre Befreiung schmiedeten, stand Mechthild von Heimburg vor dem lässig auf einem schön geschnitzten Lehnstuhl sitzenden Poppo von Regenstein.

Nachdem die Jungfrau von den rohen Knechten, die sie überfallen und ihre beiden Begleiter vor ihren Augen niedergemetzelt hatten, auf den Regenstein gebracht worden war, hatte man sie zunächst in einer kleinen, dunklen Kammer eingesperrt, ohne ihr auf ihre Fragen, Bitten und Beschwörungen auch nur die geringste Antwort zu geben. Erst nach einer längeren Spanne angstvollen Wartens hatte man sie wortlos aus ihrem Gefängnis geholt und durch enge Flure und über dunkle Stiegen in das Gemach des Burgherren gebracht.

Der Regensteiner war kein schöner Mann, seine rötlich gefärbten Haare begannen bereits schütter zu werden, seine krumme Nase, die seinem Antlitz einen lauernden, raubvogelartigen Ausdruck verlieh, war zu groß geraten und die Farbe seiner Augen war von einem glanzlosen, wässrigen Grau. Auch nannte er mit seinen eher schmalen Schultern und seinem eingefallenen Brustkorb nicht gerade die Statur eines Recken sein Eigen, worüber weder seine ausgesucht teure Kleidung, noch die schwergliedrige, goldene Kette, mit der er sich behangen hatte, hinweghelfen konnten.

Obwohl Mechthild eine nagende Angst in sich spürte, die ihr die Knie zittern ließ, bemühte sie sich tapfer Haltung zu wahren und dem Frechling entschlossen entgegenzutreten.

„Was wagt Ihr, Poppo!“, herrschte sie den vor ihr Sitzenden mit bemüht hoheitsvoller Miene an. „Wie ein Straßenräuber habt Ihr uns überfallen, meine Knechte ermorden und mich hierher entführen lassen! Schämt Ihr euch nicht? Euer Tun ist eines Adligen nicht würdig! Ihr seid ein … ein nichtswürdiger Bube!“

Unbeeindruckt von den Worten Mechthilds ließ der Regensteiner seine Blicke über die gut gebaute Gestalt seiner Gefangenen, von deren Formen ihr eng anliegendes Kleid einiges preisgab, gleiten und leckte sich wie ein Hund über die trockenen Lippen.

Wie oft hatte er die hübsche, brünette Mechthild mit Blicken verschlungen, wenn er ihr bei seinen gelegentlichen Besuchen auf der Heimburg oder bei seinen Ausritten begegnet war. Wie sehr hatte er sich nach ihr verzehrt und wie maßlos enttäuscht und voll abgrundtiefem Zorn war er gewesen, als ihm ihr Vater in knappen, kalten Worten mitteilte, dass sich das hochnäsige Fräulein für Otto, den erbärmlichen Hungerleider von der Konradsburg entschieden hatte. Und dies nur, weil dieser aus einem Geschlecht edelfreier Herren stammte, während seine eigenen Vorfahren Dienstmannen des Bischofs von Halberstadt gewesen waren. Als ob die Heimburger nicht selber vom König eingesetzte Ministerialen wären.

„Hört mich an Poppo“, begann Mechthild erneut, „was auch immer Ihr mit dieser Untat bezweckt habt, noch ist es nicht zu spät für eine Umkehr. Wenn Ihr mich ziehen lasst, dann werde ich mich bei meinem Vater dafür einsetzen, dass er Euch verzeiht und Euch nicht zur Rechenschaft ziehen wird.“

Der Herr des Regensteins lachte schallend.

„Ja, glaubst du denn allen Ernstes, dass ich dich hierher bringen ließ, um dich sogleich wieder laufen zu lassen? Ich habe dich auf den Regenstein geholt, damit du meine Gemahlin wirst!“

Die schöne Jungfrau glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Bisher hatte sie noch daran geglaubt, dass der verruchte Poppo von ihrem Vater ein Lösegeld erpressen wollte. „Seid Ihr von Sinnen! Ich bin Otto von Konradsburg versprochen, dem Mann, dem mein Herz gehört. Für Euch empfinde ich nichts als Abscheu und Widerwillen!“

„Und doch wirst du mein Weib“, erwiderte Poppo in drohendem Ton, „denn du bist in meiner Gewalt und deine Beleidigungen nützen dir gar nichts! Wenn du nur willst, dann kann all das hier“, seine beringte Hand beschrieb einen das ganze Zimmer umfassenden Kreis, „dir gehören, wenn du dich aber starrköpfig zeigst, dann wirst du zu spüren bekommen, dass ein Regensteiner eine widerspenstige Stute zu zähmen weiß!“

Erst jetzt bemerkte Mechthild, wie prachtvoll das Gemach ausgestattet war. Doch der protzig zur Schau gestellte Reichtum vermochte sie ebenso wenig zu beeindrucken, wie die prunkvolle Kleidung des Burgherrn. Der Regensteiner hatte wohl gemeint, die Entführte durch die wahllose Zusammenraffung einiger Luxusgegenstände blenden und sich seinen Wünschen geneigter machen zu können, doch die damit offenbarte Maßlosigkeit zeugte in den Augen Mechthilds nur von schlechtem Geschmack.

An den hell getünchten Wänden hingen Teppiche und jede Menge Waffen, auf dem mit feinstem Leinen gedeckten Tisch standen ein massiger, silberner Kerzenleuchter und eine silberne Kanne nebst zwei fein getriebenen Bechern. Neben dem Kamin befand sich eine große Truhe mit aufgeklapptem Deckel, sodass man die darin aufgestapelten Wäschestücke und einige prall gefüllte Lederbeutel sehen konnte.

„Also?“, fragte der Burgherr, „was sagst du, meine Schönste? Wirst du mit mir vor den Altar treten? Es ist alles vorbereitet, noch in dieser Nacht kannst du als mein Weib bei mir liegen.“

„Niemals“, schleuderte Mechthild dem selbstzufrieden grinsenden Mann entgegen, „niemals werde ich einem so widerlichen Räuber wie Euch die Hand zum ewigen Bunde reichen!“

„Du wirst es, oder ich werde dich ins Verließ werfen und dich solange hungern und frieren lassen, bis sich dein starrer Sinn gebeugt hat. Du wirst mit mir vor den Altar treten, so wahr ich Poppo von Regenstein bin.“

Mechthild warf stolz ihren Kopf in den Nacken. „Eher will ich in eurem Kerker Hungers sterben, als Euch ein Leben lang anzugehören. Schon die Vorstellung das eure Hände mich berühren, bereitet mir unausstehlichen Ekel!“

„Dann soll es so geschehen, wie du es willst“, zischte Poppo mit vor Wut kreidebleichem Gesicht. „Du wirst dein kaltes Verließ erst wieder verlassen, wenn du handzahm geworden bist und mich auf Knien anflehst, dich zum Weibe zu nehmen!“

Er rief die Wache und befahl ihr, die nun doch etwas blass gewordene Jungfrau ins Burgverlies zu werfen. Die Knechte packten Mechthild derb an den Armen und zogen die Halbohnmächtige mit sich fort.

Der Regensteiner schnaufte missmutig und stürzte einen Becher Wein in sich hinein.

„Verdammte Metze“, knurrte er verbittert, „ich werde dich schon kirre kriegen, so wahr ich Poppo von Regenstein heiße!“

*

Der langgezogene Ruf eines Urhorns riss Gerold aus dem Schlaf. Er richtete sich auf und sah sich um. Das oberste Stockwerk des Wohnturms, in dem ihm Mathildes Mutter am gestrigen Abend eine mit Fellen bedeckte Bank als Lager zugewiesen hatte, lag noch weitgehend im Dunkeln, doch hinter den schmalen Fenstern stand schon eine Spur von Helligkeit.

Bevor der Turmwächter, der auf der Plattform des Burgos seinen Dienst versah, seinem ersten Weckruf einen zweiten folgen ließ, warf Gerold die Decke zur Seite und stand auf. Gähnend ging er zu einem der Fenster, hob den mit Schweinsblase bespannten Laden aus der schmalen Maueröffnung und schaute hinaus.

Draußen war es bereits taghell, der Himmel zeigte sich in einem durchscheinenden feinen Türkis. Ein herrlicher Frühlingstag kündigte sich an. Durch das nach Westen zeigende Fenster fiel der Blick des jungen Mannes auf das hinter waldbedeckten Hügeln und Bergen mächtig emporragende Massiv des Brockens, dessen Spitze noch im Wolkendunst verborgen lag.

Nachdem Gerold den majestätischen Anblick einige Augenblicke lang in sich aufgenommen hatte, ging er wieder zu seinem Lager zurück und kleidete sich an. Er war gerade dabei, in seine Stiefel zu schlüpfen, als er hörte, dass jemand schnellen Schrittes die hölzerne Treppe heraufgestiegen kam. Kurz darauf erschien der Kopf Mathildes in der Treppenluke.

„Guten Morgen“, rief sie fröhlich, „darf ich unseren Gast zum Morgenmahl bitten?“

„Ich komme.“ Schnell schloss Gerold seinen Schwertgurt und folgte Mathilde in die zwei Stockwerke tiefer gelegene Halle, in der er am vorigen Abend mit den Konradsburgern zusammengesessen hatte.

Die Familie Mathildes war bereits um die große Tafel versammelt. Das Fräulein führte Gerold zu einem freien Stuhl neben dem ihren.

Eine Magd tischte warmen, mit Honig gewürzten Brei auf, dazu gab es Brot, Schinken und Frischkäse. Bier und frische Milch standen in bauchigen Krügen bereit.

Mathildes Brüder und ihre Mutter hatten es eilig, sobald sie sich einigermaßen gesättigt hatten, verließen sie die Tafel, um nach Mansfeld und zur Heimburg aufzubrechen.

Mathilde hingegen ließ sich reichlich Zeit mit dem Essen und Gerold, der so unversehens mit der Jungfrau allein geblieben war, erfreute sich insgeheim am Anblick ihres hübschen Gesichts und an ihren ungezwungenen, natürlichen Bewegungen.

Plötzlich flog der schwere Vorhang, der die Halle vom Treppenflur schied, zur Seite und herein wuselte ein kleines, blondes Etwas, ein Kugelblitz, der mit atemberaubender Geschwindigkeit um Gerolds Stuhl wirbelte. Als der Irrwisch endlich zur Ruhe kam, schaute Gerold in ein von seidigen, hellblonden Haaren umrahmtes, niedliches Gesichtchen, aus dem ihn ein Paar leuchtendblauer Augen prüfend ansah.

„Du bist das“, sagte das hübsche Kind schließlich.

„Wer bin ich denn?“, fragte Gerold zurück.

„Du bist der“, sagte die Kleine, „der meine Schwester, die Mathilde, vor den bösen Männern gerettet hat.“

„So, und wer hat dir das erzählt?“

„Na, die Friderun.“

„Und wer ist die Friderun?“

„Na die Amme, wer sonst.“

„Und wer bist du?“

„Ich bin die Margarete“, erklärte die Kleine hoheitsvoll. Dann stieß sie den jungen Burschen an. „Du, heb mich mal zu dir hoch.“

Gerold fasste die kleine Person, die nur ein leinenes Hemd trug, unter die Achseln und stellte sie mit ihren nackten Füßen auf seine Oberschenkel. Margarete sah ihn durchdringend an, dann streckte sie ihren Arm aus und streichelte Gerolds leicht stopplig gewordene Wange. „Du“, sagte sie schließlich mit großem Ernst, „wenn ich groß bin, dann heirate ich dich.“

„Ho ho“, lachte Gerold, „du machst die Sache aber schnell ab.“

„Jaaaa, das ist doch ganz einfach. Die Mathilde, die kann dich nicht heiraten, die ist schon einem Ge… Ge… mahl versprochen.“

Gerold spürte einen Stich in der Brust. Er sah zu Mathilde. Die nickte und sagte: „Ja, das stimmt. Ich bin dem Arnulf von Arnesberg versprochen. Seit zwei Jahren schon.“

„Arnesberg “, wiederholte Gerold, nur um etwas zu sagen, „das liegt doch nicht weit von unserer Burg entfernt.“

„Siehst du“, mischte sich die kleine Margarete ein, „also heiratest du mich, wenn ich groß bin.“

„Hmm“, machte Gerold, „aber wenn du groß bist, dann bin ich alt und grau.“

„Ach, das macht nichts, der Ge… Ge…„

„Gemahl“, half Gerold aus.

„Der Mahl von Mathilde ist auch schon alt. Und hat schon ein paar graue Haare und außerdem fehlt ihm ein Zahn, hier vorne …“ Sie riss ihren Mund weit auf und zeigte auf ihre kleinen weißen Zähne.

„Margarete!“ Eine ältere Frau mit einer großen Haube auf dem Kopf betrat die Halle und sah sich suchend um. „Margarete, wo bist du denn schon wieder, du Wildfang?“

„Hier bin ich Amme, bei meinem zukünftigen Gemahl“, rief die Kleine fröhlich.

„Grundgütiger“, stöhnte die Frau mit der Haube, „dieses Teufelchen bringt mich noch mal ins frühe Grab.“

„Lass es gut sein, Friderun“, rief Mathilde lachend, „unser süßes Gretchen ist doch so eine Liebe, der man einfach nicht böse sein kann!“ Sie nahm ihre kleine Schwester von Gerolds Schoß, drückte sie an sich und wirbelte mit ihr durch den Raum.

„Genug, genug Mathilde“, rief die Amme, „du machst mir ja das Kind noch ganz wirr im Kopf.“ Sie nahm die von Mathilde wieder auf den Boden gesetzte Margarete bei der Hand und zog sie mit sich aus der Halle.

„Hast du noch mehr solche lieben, jüngeren Geschwister?“, fragte Gerold lächelnd.

„Nur noch einen zwölfjährigen Bruder, aber der ist zurzeit als Jungherr beim Mansfelder zur Ausbildung in den Tugenden eines Miles.“

Nachdem sie mit gutem Appetit gegessen hatte, schob Mathilde ihren Teller von sich, tupfte sich den Mund mit einem Leinentüchlein ab und sah Gerold erwartungsfreudig an. „Und was machen wir jetzt, mein tapferer Herr Erretter?“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Gerold und hob die Schultern. „Was meinst du denn, was wir tun könnten?“

„Wie wär’s, wenn wir ausreiten würden?“

„Gern, aber nur wir beide allein? Schickt sich das denn? Was werden deine Brüder und deine Mutter dazu sagen?“

„Ach“, meinte die kleine Konradsburgerin leichthin, „die sind doch alle nicht da und der Amme sag ich, dass du als mein Beschützer mit mir reitest.“

„Ja, dann … reite ich sehr gern mit dir aus.“

„Dann kümmere dich schon mal um unsere Pferde. Ich komme dann in den Stall, sobald ich die Mägde auf Trab gebracht habe. Ich beeile mich.“

Tatsächlich hatten Gerold und der junge Stallbursche den beiden Pferden kaum die Sättel aufgelegt, als Mathilde schon in der Tür des Stalles erschien. „He Utz, scher dich raus.“

Sobald der Knecht verschwunden war, trat Mathilde ganz nah an Gerold heran und schaute ihm von unter her forschend in die Augen. Plötzlich schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihren Körper fest an den seinen.

„Du bist ein Schöner. Ich hab dich gern!“ Dann legte sie ihren Kopf in den Nacken und bot dem jungen Mann ihre vollen, weichen Lippen zum Kuss.

Dieser Kuss war von einer Art, wie ihn der junge Mann noch nie erlebt hatte. Er war sanft und wild, erregend und entspannend zugleich, und er brachte etwas mit sich, das seine Seele tief berührte.

Nachdem sie sich widerstrebend voneinander gelöst hatten, brauchten sie beide einige tiefe Atemzüge, um wieder ganz zu sich zu kommen. Schließlich räusperte sich Mathilde und seufzte nur: „Oh Oh.“ Danach wandte sie sich abrupt um und nahm den Zügel ihrer Stute in die Hand. Mit geröteten Gesichtern führten sie ihre Pferde aus dem Stall und saßen auf.

Am Tor gab es eine Verzögerung, denn ein von zwei Ochsen gezogener Leiterwagen versperrte den Weg. Ausgerechnet beim Durchfahren der Torenge zeigten sich die Zugtiere störrisch und verweigerten das Weitergehen. Die Torwächter schimpften mit den Wagenführern, die Wagenführer mit den Ochsen, doch erst nachdem sie die Stöcke mit den eisernen Stacheln zu Hilfe nahmen, gelang es ihnen, die Tiere wieder zum Laufen zu bewegen.

Gerold hatte die Szene zuerst mit einer gewissen Belustigung beobachtet, doch plötzlich wurde er nachdenklich und in dem hintersten Winkel seines Gehirns, begann sich ein Gedanke zu regen und festzusetzen.

Nachdem die Durchfahrt endlich wieder frei war, ritten Mathilde und Gerold in langsamen Trab den Burgstieg hinab. Am Fuße des Burgberges angekommen, wandte sich Mathilde nach Mittag und sie folgten dem schmalen, von Eschen und Haselnussbäumen gesäumten, Taleinschnitt des Sellebaches, der sich zwischen sanften, von Äckern, Weiden und Brachen bedeckten Hügeln entlang schlängelte.

Nach mehr als einer halben Meile schwenkte der kleine Wasserlauf plötzlich nach Westen. Dort teilte er sich in zwei Zuflüsse, von denen der eine nach Süden, der andere, etwas breitere, nach Westen verlief. Mathilde folgte dem nach Westen führenden Arm, bis dieser nach gut fünfhundert Schritten in einen Wald von hochstämmigen Buchen und Eichen führte. Im Schatten des dichten Laubdaches stiegen die beiden ab und schritten durch raschelndes, vorjähriges Laub bis zum nördlichen Rand des Waldes, hinter dem sich einige von den Konradsburger Hörigen bewirtschaftete Felder ausbreiteten, auf denen Dinkel, Hirse und Kohlrüben wuchsen.

Unter einer uralten Eiche, die ihre Äste weit von sich streckte, setzten sie sich auf den warmen, von hohem Gras bewachsenen Boden und lehnten sich an den Stamm des mächtigen Baumes. Von ihrem Platz aus war die Konradsburg auf ihrer nach Süden, Westen und Norden steil abfallenden Bergkuppe gut zu erkennen.

„Sag mal, mein Lieber, hast du es schon mal mit einer Frau gemacht?“, bemerkte Mathilde nach einer Weile beiderseitigen Schweigens.

„Was?“ fragte Gerold verblüfft.

„Na, du weißt schon“, erwiderte Mathilde, etwas ungeduldig ob Gerolds Begriffsstutzigkeit, „bei ihnen gelegen … eben … “

„Nun ja“, brummte Gerold etwas peinlich berührt. „Schon, ja … “

„Und mit wem?“, forschte Mathilde unerbittlich.

„Mit einer unserer Mägde, Alma heißt sie“, antwortete der junge Mann.

„Und wie war das? Wie ist das?“

„Ja, schön halt.“

„Nun lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“, schimpfte die Konradsburgerin.

„Schön war’s, aufregend, nicht zu beschreiben, das ist so eine Lust, weißt du, ein herrliches, wohliges Gefühl wenn … “

„Wenn …?“

„Wenn sich der Samen löst.“

Mathilde senkte ihren Kopf, um die leichte Röte, die ihre Wangen zu färben begann, zu verbergen. Dennoch forderte sie mit leicht belegter Stimme: „Erzähl mir mehr davon, bitte, ich will es wissen.“

Versonnen schaute Gerold zu dem sich mächtig über das Geviert der Mauern erhebenden Wohnturm der Konradsburg hinüber. Wie betörend duftende Weihrauchwolken stiegen die Erinnerungen an sein erstes Beilager wieder in ihm auf.

„Es war an dem Tag, an dem meine Brüder zum Heer des Kaisers aufbrachen, der sich anschickte, gegen die Burg Gleichen des Markgrafen von Meißen zu ziehen … “

Am Abend zuvor hatte Gottfried seinen jüngsten Bruder beiseite genommen und ihm gesagt: „Hör zu Kleiner, du bist ja jetzt schon in einem Alter, in dem die Begierde nach den Weiberröcken einen Mann mächtig kitzelt. Wenn du also eine unserer Mägde bespringen willst, dann tu dir keinen Zwang an, aber Trine und Emma lässt du in Frieden, die gehören mir und Gunthard ganz allein!“

Es war kein Geheimnis auf der Falkenburg, dass Gottfried ein Auge auf die stämmige Trine geworfen hatte, und dass die dralle Emma die Bettgespielin des zweitältesten Bruders war. So blieben dem Jüngsten nur die Wäscherin Gundel, die Köchin Eilicka oder die Hirtin Alma.

Die Auswahl fiel Gerold nicht schwer. Da ihm Gundel zu spillerig und Eilicka zu alt und zu wenig ansehnlich war, entschied er sich für Alma, die blutjunge Rothaarige mit der glatten Haut.

Gleich am Mittag des folgenden Tages hatte er sich ihr genähert, als sie am Ufer der Wipper Gras für ihre jungen Gänse und Ziegenlämmer schnitt. Die Magd war barfuß und hatte den Rock bis zu den Knien geschürzt. Ihr ärmelloser Kittel war schweißnass und klebte ihr am Körper. Ihre langen roten Haare leuchteten in der Sonne.

Gerold hatte ihr eine Weile dabei zugesehen, wie sie mit der Sichel das hohe Gras mähte und es anschließend in zwei große Säcke stopfte.

Alma hatte kurz aufgesehen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. „Ah der junge Herr …“

„Alma … “

Das Mädchen musste schnell gespürt haben, was der Bursche von ihr wollte. Sie hatte sich aufgerichtet und den Jungherrn freimütig angeschaut. Angst oder gar züchtige Bedenken hatte sie keine. Was hätten die ihr auch genützt? Sie wusste ja längst, dass sie der Herrschaft mit Haut, Haar und Scheide gehörte. Und da dies nun einmal so war, war es besser, das Beste daraus zu machen. Es konnte nie schaden, sich einen der Herren auf diese Weise gewogen zu machen. Außerdem, so hatte die junge Magd Gerold später anvertraut, hatte er ihr schon vom ersten Tag, an dem sie auf der Burg Dienst tat, gefallen.

So war sie mit schwingenden Hüften zu ihm gekommen und hatte sich mit einem einladenden Lächeln und gehobener Brust herausfordernd vor ihm aufgebaut. „Kann ich etwas für den jungen Herrn tun?“

Daraufhin hatte er ihr beinahe dieselbe Frage gestellt, wie Mathilde gerade eben ihm.

„Sag mal, Alma, hast du schon mal … du weißt schon, oder bist du noch Jungfrau?“

Die Rothaarige hatte lachend den Kopf geschüttelt.

„Schon seit ich zwölf war, nicht mehr. Damals hat mich der Großknecht auf dem Hof von Bauer Konrad gegriffen und im Kuhstall aufs Stroh gelegt.“

„Dann weißt du also, wie es geht …?“

„Gewiss, junger Herr, und wenn ihr es wollt, dann zeige ich es euch.“

Natürlich wollte er, denn nur darum war er ja zu ihr gekommen. Wenig später lag er in ihren Armen, spürte ihre junge, glatte Haut unter seinem Händen, atmete den Geruch ihres Körper und ihres Haares ein und gab sich ihrer sanften Führung hin, bis er sich schließlich mit ihr vereinigte.

Nach dem Liebesspiel befand sich Gerold in einer solchen Hochstimmung, dass er in Versuchung geriet, der Magd für ihre Gefälligkeit haltlose Versprechungen zu machen. Doch wie weltklug und erfahren das junge Mädchen bereits war, zeigte sich darin, dass sie seinen Mund schnell mit ihren heißen Lippen verschloss, seine Hand zwischen ihre Beine führte und selbst nach seiner Männlichkeit griff. Danach gab es keine Versprechungen und keine unnützen Worte mehr, nur noch Lust, Lust, Lust!

All das erzählte Gerold Mathilde, und sie hörte ihm aufmerksam zu.

Dann kuschelte sie sich an ihn und seufzte. „Gerade jetzt in diesem Augenblick wünschte ich, dass ich die Alma wär und nicht die Mathilde.“

„Mathilde!“, stieß Gerold mit erstickter Stimme hervor. Er legte seinen Arm um ihre Schulter und zog sie fest an sich. Dann strich er behutsam über ihr Haar und ihren Nacken.

Eine Welle von heftig aufbrechendem Gefühl baute sich vor ihm auf wie ein Schutzschild; ein starker, undurchdringlicher Schild, der Mut machte, das Undenkbare zu denken, das Unwagbare zu wagen.

„Dein Verlöbnis mit dem Arnesberger …“, begann er, unterbrach sich dann aber und verstummte für einige Augenblicke, bevor er mit belegter Stimme fortfuhr, „könnte man es wieder lösen?“

„Nein!“ Mathilde schüttelte entschieden den Kopf. „Die Familien sind sich einig, und ich habe dem Arnesberger mein Wort gegeben.“

„Dann ist also alles hoffnungslos!“, brachte Gerold mühsam hervor.

„Wer weiß“, antwortete das Mädchen leise, „wir sind noch jung und in Gottes Hand. Viel kann passieren.“

*

Als Egino und Frau Sigena am frühen Nachmittag zur Konradsburg zurückkehrten, wurden sie vom Herrn von Mansfeld und vierzig gerüsteten und berittenen Männern begleitet. Während die mansfeldische Mannschaft am Fuße der Burg ein Feldlager aufschlug, begleiteten Graf Hoyer und sein Knappe Wiprecht von Freckleben Sigena und Egino auf die Burg, um gemeinsam mit ihnen das Abendmahl einzunehmen.

Der Graf von Mansfeld begrüßte seine Nichten Mathilde und Margarete mit großer Herzlichkeit und reichte auch dem ihm unbekannten Gerold ohne jedes Zögern die Hand. Er war zwar von kleinem Wuchs, aber kräftig wie ein Bär und hart wie Eichenholz. Mit Ende dreißig stand er zwar nicht mehr ganz in der Blüte seiner Jahre, aber in seinen langen, dunkelblonden Haaren und in seinem rötlich schimmernder Bart war noch kein einziges silbernes Fädchen zu erkennen.

Da am kommenden Tag in aller Frühe zur Heimburg aufgebrochen werden sollte, fiel das Abendmahl recht kurz aus und die Männer und Frauen begaben sich diesmal schon sehr zeitig zur Ruhe.

Am nächsten Morgen saßen die Männer bereits beim ersten Hahnenschrei zum Kampf gerüstet in den Sätteln und sprengten aus dem Tor. Der Graf, Egino und Gerold setzten sich an die Spitze der reisigen Schar, die durch fünfzehn Konradsburger Krieger trefflich vermehrt worden war. Nach einem wahnwitzigen Gewaltritt, der die Kräfte von Pferden und Reitern gleichermaßen bis aufs Äußerste erschöpfte, trafen die Männer noch vor dem Dunkelwerden bei der Heimburg ein, wo sie vom Burgherrn und seiner Familie begeistert empfangen wurden.

Erfreut über den zahlreichen Zuzug wies Anno von Heimburg den Ankömmlingen in den geräumigen Gebäuden des unterhalb der Burg gelegenen Wirtschaftshofes trockene und saubere Unterkünfte zu und sorgte für eine reichliche Verpflegung.

Die Heimburger waren von der Missetat des Regensteiners so entrüstet, dass sie zu allem bereit waren und die Felsenburg Poppos lieber heute als morgen angegriffen hätten.

Dies galt natürlich auch für Otto von Konradsburg, dem Anverlobten der entführten Mechthild, der beim Gedanken an das, was seiner Braut alles widerfahren konnte, wahre Höllenqualen litt. Er hielt die Ungewissheit über das Schicksal Mechthilds kaum noch aus und drängte auf ein schnelles Handeln.

So versammelten sich die Adligen ohne jeden Verzug in dem größten Raum des schönen Fachwerkhauses, in dem der Burgherr und seine Angehörigen wohnten, zur Beratung.

Nach einer Weile fruchtlosen Pläneschmiedens meldete sich plötzlich der Jüngste in der Runde zu Wort.

„Verzeiht, ihr Herren“, begann Gerold von Falkenburg, „wenn ich es wage, in dieser Runde von erfahrenen, kampferprobten Männern zu sprechen, aber mir ist da ein Einfall gekommen, der uns vielleicht weiterhelfen könnte.“

Einen Augenblick herrschte überraschtes Schweigen, dann machte Herr Anno eine aufmunternde Geste in Richtung des Falkenburgers. „Nur zu, junger Mann, sprecht frei von der Leber weg. Wir hören Euch zu.“

Zuerst noch etwas stockend, doch dann schnell immer sicherer werdend, begann Gerold vor den erstaunten Kämpen seinen Plan zu entwickeln, den er während des vergangenen Abends und während des langen Rittes zur Heimburg bis in alle Einzelheiten ausgeheckt hatte. „Da wir, wie es hier auch schon gesagt worden ist, den Regenstein auch mit unseren vielen Kriegern kaum erstürmen können, müssen wir zu einer List Zuflucht nehmen. Dazu habe ich mir folgendes gedacht: Wir bereiten noch heute zwei Bauernwagen vor, ganz so, als ob wir auf ihnen Verwundete fortschaffen wollen. Noch in dieser Nacht bringen wir diese in Richtung Halberstadt, bis zum Hoppelberg, wo wir außer Sicht der Turmwächter des Regensteins sind. Von unseren verfügbaren Kriegern begleiten etwa ein Dutzend die Wagen, die anderen begeben sich morgen früh in den Wald gegenüber dem Aufgang zum Regenstein und halten sich dort versteckt.

Am darauffolgenden Mittag schicken wir einen Boten zum Regensteiner mit der Nachricht, dass ein verwundeter Edelmann, ein Graf von … Irgendwas, am besten wäre eine möglichst weit weg von hier liegende Grafschaft, der mit einigen seiner Miles bei einem Kampf gegen die Wenden zu Schaden gekommen ist, um eine Unterkunft für die Nacht ersucht.

Damit man unsere List nicht durchschaut ist es wichtig, dass nicht nur der Bote, sondern auch die Männer mit den Wagen von Osten, also aus Richtung des Wendenlandes kommen.

Natürlich werden auf den Wagen keine wirklichen Verwundeten oder Kranken liegen, sondern gesunde, kampfbereite Männer. Rechnen wir zu dem angeblich kranken Grafen, der natürlich allein auf dem Gefährt liegen muss, noch zwei Fuhrleute und zwei berittene Begleiter dazu, und verstecken wir im Stroh, mit dem wir den Karren reichlich auspolstern, noch einmal zwei Männer, dann haben wir schon beim ersten Wagen sieben Krieger. Beim zweiten könnten es sogar drei oder vier „Verwundete“ sein. Dass es unbedingt zwei Wagen sein müssen, liegt daran, dass der Regenstein, wie mir Herr Egino berichtete, von zwei Toren gesichert wird, dem Tor der Vorburg und dem der Hauptburg.

Wenn uns der Burgherr erlaubt, die Nacht auf dem Regenstein zu verbringen - und wie könnte er diese Hilfeleistung einem Höherstehenden verweigern - dann fahren wir mit dem ersten Wagen durch das Tor der Vorburg und weiter bis zum Tor der inneren Burg. Den Abstand zwischen den Wagen müssen wir so halten, dass in dem Augenblick, in dem der zweite Wagen den Torgang des vorderen Tores erreicht, der erste Wagen geradewegs vor dem Tor der Hauptburg steht.

Sobald wir mit unseren beiden Wagen bei den Toren sind, fallen wir über die Wachen her und rufen mit einem Hornsignal unsere Männer aus ihrem Waldversteck zu Hilfe.

Bis die Verstärkung heran ist, müssen wir die Tore gegen die Regensteiner halten, danach stürmen wir alle gemeinsam die Hauptburg.“

Der Graf von Mansfeld war der Erste, der die nachdenkliche Stille, die Gerolds Worten folgte, durchbrach. „Das ist großartig!“, rief er dröhnend und schlug mit der Hand auf den Tisch. „Ganz gleich, welcher Engel oder Teufel Euch diesen Plan eingegeben hat, er ist großartig!“

Auch Abbo, der Sohn Annos von Heimburg, war sofort Feuer und Flamme. „Wenn du erlaubst, Vater, dann lasse ich sogleich zwei Bauernwagen in der von Herrn Gerold beschriebenen Weise zurechtmachen.“

„Und ich“, verkündete der Mansfelder und klopfte sich an die Brust, „spiele den kranken Grafen, und zwar den Grafen Godebold von Henneberg, der ein alter Bekannter von mir ist.“

„Also gut, ihr Herren“, stimmte Anno von Heimburg schließlich zu, „wir folgen dem Plan des Herrn von Falkenburg. Abbo, du kümmerst dich um die Wagen, und ich werde aus dem Verbandszeug meiner Gemahlin ein paar Leinenstreifen holen und sie in Schweineblut tauchen, sodass sie wie echte Wundverbände aussehen, wenn wir sie unserem „wunden“ Grafen Hoyer um Kopf und Arme wickeln.“

*

Mechthild von Heimburg kauerte in einer Ecke ihres dunklen, kalten Verlieses und lauschte den Geräuschen des Windes.

Sie fror erbärmlich.

Gleich nach ihrer Auseinandersetzung mit Poppo hatte man sie in dieses finstere Loch geworfen, doch zuvor hatten ihr die rohen, nach Schweiß und saurem Bier stinkenden Knechte, dem Befehl ihres Herrn folgend, ihren Schmuck und ihren Mantel abgenommen und ihr die teuren Schuhe von den Füßen gezogen, damit ihr ja nichts Wertvolles blieb, mit dem sie die Wächter hätte bestechen können. Vielleicht glaubte der elende Schuft Poppo aber auch, dass er sie durch die ungewohnte nächtliche Kälte zum Nachgeben zwingen und sie seinem unsittlichen Begehren gefügig machen könnte.

Allein geblieben in der elenden Felsenkammer hatte das fünfzehnjährige Mädchen Gott um Erbarmen und Hilfe angefleht, doch die Einsamkeit und die Kälte hatten ihre zeitweilige Tröstung schon bald in tausend Splitter zerschlagen.

Der Kerker, in den man sie eingesperrt hatte wie ein Tier, war im nordöstlichen Teil der Burg, hart neben dem schwindelerregenden Abgrund in den grauen Sandsteinfelsen geschlagen worden und hatte als Lichtöffnung nur ein winziges Loch, kaum größer als ihre Faust. Er war kleiner als die Hundezwinger auf der Heimburg und so niedrig, dass selbst sie, die doch eher von weniger großem Wuchs war, nur gebückt stehen konnte. Der Kerkerboden war mit einer Schicht feuchten Sandes und einer armseligen Schütte schimmligen Strohs bedeckt.

Um sich gegen die Kälte zu schützen, zog Mechthild ihre Beine eng an den Körper und schlang ihre Arme fest um die Knie, doch viel half es ihr nicht.

Plötzlich wurde sie von einer nagenden, alles verzehrenden Angst erfasst. Noch hatte ihr der Regensteiner keine Gewalt angetan, doch was würde geschehen, wenn sie standhaft blieb, wenn sie sich ihm, der entwürdigenden Kerkerhaft zum Trotz, auch weiterhin verweigerte? Würde er sich schließlich nicht doch noch nehmen, was für ihn verboten war?

Der Gedanke daran ließ die Jungfrau noch zusätzlich frösteln. Und konnte sie überhaupt noch auf Rettung und Befreiung hoffen? Ahnte überhaupt jemand, wo sie sich befand? Ihre Begleiter waren, allesamt umgebracht worden, nur Mathilde, ihre zukünftige Schwägerin, war vom Platz des Überfalls entkommen. Aber hatte sie ihre Verfolger abschütteln können? Oder hatten diese die kleine Konradsburgerin genauso ermordet wie Lothar und Karl, ihre beiden Heimburger Knechte? Was, wenn niemand jemals erfuhr, in wessen schmutzige Hände sie gefallen war? Dann wäre sie Poppo hilflos ausgeliefert!

Die Vorstellung, dass sich ihr dieser grässliche Mensch nähern könnte, dass sie seine Hände auf ihrem Körper spüren oder gar … nein, um Gottes willen, das durfte, das konnte nicht sein!

Niemals, das schwor sie sich in diesem Augenblick, würde sie Poppo zu Willen sein, niemals ihm ihr Magdtum darbringen! Eine solche Schande würde sie niemals dulden. Und wenn ihr der Unhold, dieser widerwärtige, abscheuliche, abgrundtief hässliche Wicht ihr die Jungfernschaft mit Gewalt raubte, dann würde sie sich von dem hohen Burgfelsen in die Tiefe stürzen.

Von einer tiefen Niedergeschlagenheit und Verlassenheit ergriffen, begann Mechthild zu weinen. Erst gegen Morgen fiel sie in einen kurzen, von schrecklichen Träumen begleiteten Schlaf.

*

Mit umwölkter Stirn lauschte der Burgherr des Regensteins dem reitenden Boten, der ihn wortreich, aber mit einer nicht immer ganz leicht verständlichen Aussprache, von dem Ersuchen seines verwundeten Herrn um ein Nachtlager für sich und drei seiner ebenfalls verwundeten Miles, in Kenntnis setzte.

Gelegen kam ihm dieser Graf von Henneberg, der als Gesandter des Bischofs von Mainz bei den Bischöfen von Magdeburg und Halberstadt Unterhandlungen über irgendwelche Pfründe geführt hatte und auf seiner Reise von einer räuberischen Horde von Wenden oder sonstigem Gelichter überfallen und wund geschlagen worden war, nicht. Insbesondere auch im Hinblick auf die in seinem Verließ verwahrte Beute. Doch die Aussicht auf die gute Bezahlung, die der Bote - der jeden zweiten Satz mit einem „Gä“ abschloss - ihm für seine Mühen in Aussicht stellte, machten ihm die Aufnahme der Verwundeten in seinen Mauern ausreichend schmackhaft.

Für einen kurzen Moment wurde Poppo zwar auch von einem Anflug von Misstrauen gestreift, doch schnell wischte er die grundlosen Bedenken beiseite. Niemand konnte wissen, dass sich die entführte Jungfrau auf dem Regenstein befand. Zwar war die Begleiterin Mechthilds entkommen, doch weder sie, noch ihr geheimnisvoller Helfer, von dem ihm seine Knechte berichtet hatten, konnten den Heimburgern verraten haben, wer hinter dem Überfall steckte. Zumal seine Männer ohne jedes Feldzeichen und mit Tüchern vor dem Maul ausgeritten waren.

Außerdem kannte er alle Heimburger von Angesicht und sollte er einen von ihnen unter den Ankömmlingen entdecken, so würde er sie und ihre wenigen Begleiter sofort gefangen nehmen oder niedermachen lassen. Aber so dumm waren wohl selbst die närrischen Nachbarn, die ihm in ihrem Hochmut ihre Tochter verweigerten, nicht, dass sie sich freiwillig in eine tödliche Falle begaben.

Eine gute Stunde nach dem Erscheinen des Boten - es war zwischen Mittag und Vesper - meldete die Wache auf dem Bergfried das Nahen zweier Gefährte aus der Richtung von Halberstadt.

Die beiden Wagen und ihre wenigen berittenen Begleiter hatten bei Brockenstedt den von vielen kleinen Weihern und einem breiten Schilfgürtel umgebenen Goldbach überquert und zogen auf einem sandigen Feldweg quer über die flache, zum größten Teil baumlose, Heidelandschaft des Heers auf den Regenstein zu. Eine Meile nördlich des steil aufragenden und weithin sichtbaren Burgberges kreuzten sie die alte Heerstraße, die von Quedlinburg kam und an der Heimburg vorbei bis zur Harzburg und weiter bis nach Goslar führte. Kurz darauf verschwanden sie vor den Blicken der Burgwachen in einem tief in die Hügel am Fuße des Regensteins eingeschnittenen Hohlweg, der sich in einem leichten Bogen um den Burgberg wand.

Nachdem die beiden von je zwei Pferden gezogenen Bauernwagen die offene, sich im Westen an das Massiv des Burgfelsens anschließende Ebene erreicht hatten, in der weder Bäume, Sträucher oder Hecken den freien Blick der Besatzung auf die Ankommenden hinderten, bogen sie auf den zum Burgtor führenden Weg ein und folgten ihm in gemächlichem Tempo.

Auf dem Bock des ersten Wagens hockte Gerold neben einem Mansfelder Knecht namens Dedo, der als bester Messerwerfer und Schwertkämpfer des Grafen galt. Der Falkenburger hatte sich einen breitkrempigen Filzhut in die Stirn gedrückt und musterte gespannt die sich langsam nähernden, hell schimmernden Ringmauern der Burg Regenstein.

Hinter Gerold und Dedo, der die Zügel des Wagens in den Händen hielt, lag Hoyer von Mansfeld, dessen Stirn und Arme mit blutdurchtränkten Verbänden umwunden waren, auf einer dicken Schicht Stroh. Zwei Reiter auf staubbedeckten, dürren Gäulen folgten dem Wagen mit hängenden Köpfen.

Der zweite Wagen, auf dem drei offensichtlich übel zugerichtete Männer lagen, blieb während des Aufstiegs zum Regenstein etwas zurück. Auch er wurde von zwei Reitern begleitet.

Als sie sich dem ersten Burgtor bis auf Bogenschussweite genähert hatten, tastete Gerold aufgeregt nach dem Griff seiner Wurfaxt, die neben ihm, unter einem löchrigen Sack verborgen, auf dem Fuhrmannssitz lag.

In wenigen Augenblicken würde sich zeigen, ob sein Plan gelang. Würde ihnen Poppo von Regenstein Einlass in die Burg gewähren oder im letzten Augenblick Verdacht schöpfen? Und würde es den wenigen Männern auf den Wagen gelingen, die Tore zu halten, bis die gut eine Meile hinter ihnen im Wald versteckten Männer unter der Führung Eginos das freie Feld und den zwischen Felsen und Hängen entlang führenden Burgstieg, überwunden hatten und in den Kampf eingreifen konnten?

Zwanzig Schritte vor dem geschlossenen Tor zog Dedo an den Zügeln und brachte den Wagen zum Stehen. Ein Wachtposten beugte sich über den Wehrgang und warf einen scharfen Blick auf die Wartenden. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass es sich bei den Ankömmlingen um den angekündigten, wunden Grafen und sein gerupftes Gefolge handelte, zog er seinen Kopf wieder zurück und rief jemandem hinter dem Tor etwas zu.

Es vergingen einige bange Sekunden, in denen nichts geschah, doch dann öffnete sich der rechte Torflügel und ein Knecht mit einem Spieß in der Hand kam heraus. Er trat an den Wagen, musterte den auf dem Stroh liegenden Verwundeten und schaute der Reihe nach in die Gesichter der vier Begleiter des darniederliegenden Grafen. Schließlich nickte er und rief in Richtung des Tores: „Alles in Ordnung, ihr könnt öffnen.“

Leise knarrend schwangen die beiden Torflügel auf und gaben den Weg in die Burg frei. Dedo ließ die Zügel auf den Rücken der Zugpferde klatschen und machte mit der Zunge ein schnalzendes Geräusch. Die Gäule legten sich in die Siele und zogen das Gespann durch den kurzen Torgang in das Innere der Veste.

Mit schnellen Blicken erfasste Gerold den vor ihm liegenden, sich nach hinten dreieckig erweiternden Hof, der links von einer, einem Felsabsturz vorgebauten hüfthohen Mauer und rechts von einer grauen, langgestreckten Felsenwand, aus dem eine Reihe von Kammern, Höhlen und Treppen herausgehauen waren, begrenzt wurde. Am hinteren Ende des freien Platzes erhob sich ein wuchtiges Torgebäude, von dem eine Zugbrücke zu der auf ihrem Berg thronenden Hauptburg mit dem großen Turm und mehreren Wohngebäuden führte.

Dedo ließ den Wagen bis zu dem offenstehenden Tor rollen, vor dem zwei Knechte mit Schild und Speer Aufstellung genommen hatten. Zwischen den beiden Wächtern stand ein prunkvoll gekleideter Mann, der seine Rechte lässig auf den Griff seines Schwertes stützte und in dem Gerold und Dedo unschwer den Burgherrn erkannten.

Der Falkenburger warf einen schnellen Blick zurück und sah, dass der zweite Wagen genau in der Durchfahrt des ersten Tores hielt.

Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen!

„Für Mechthild!“, brüllte Gerold - so laut er konnte - das vereinbarte Stichwort. Nur einen Atemzug später schleuderte er seine Wurfaxt auf den links stehenden Torwächter, während sich Dedos langer Dolch mit tödlicher Sicherheit seinen Weg zur Kehle des rechten Wachpostens suchte.

Hoyer von Mansfeld, der vermeintlich wunde Graf, riss sich den das halbe Gesicht verdeckenden Verband vom Kopf und schnellte, in der einen Hand ein Schwert, in der anderen eine Stachelkeule, von seinem Krankenlager in die Höhe. Gleich darauf flog das Stroh, auf dem er gelegen hatte, beiseite und zwei bewaffnete Männer tauchten darunter hervor - Otto von Konradsburg und Abbo von Heimburg. Auch die beiden Reiter, die eben noch vor Schwäche aus den Sätteln zu fallen drohten, recken sich, warfen ihre Mäntel ab und zogen blank.

Inzwischen war es auch am zweiten Wagen lebendig geworden. Die drei Verwundeten sprangen auf und warfen sich gemeinsam mit den beiden Gespannführern und den zwei Reitern auf die völlig überraschten Wachen, die sie nach einem kurzen Handgemenge niedermachten. Einer der Reiter setzte ein ellenlanges Urhorn an die Lippen und ließ einen weit hallenden Hornruf ertönen.

Da wusste Gerold, ohne es zu sehen, das jetzt die mehr als fünfzig berittenen Verbündeten aus dem Wald hervorbrachen und in halsbrecherischem Galopp auf die Burg zu jagten.

Nun galt es nur noch ein Einziges, ein Letztes zu tun! Mit dem Schwert in der Hand sprang der junge Falkenburger vom Wagen und lief allen voran auf das Tor zur Hauptburg und den darunter verharrenden Burgherrn zu.

Im Angesicht des plötzlichen Überfalls hatte Poppo von Regenstein sein Schwert gezückt und Miene gemacht, sich auf die heimtückischen Eindringlinge zu stürzen, doch als er vier entschlossene Kämpfer auf sich zukommen sah, besann er sich augenblicklich eines Besseren, hielt mitten in der Bewegung inne, drehte sich um und verschwand im Torgang.

Während Dedo und die beiden Reiter das Tor nach außen gegen mögliche Angreifer sichern, drängen Gerold, Hoyer, Abbo und Otto in das dunkle Torhaus. In dem schmalen Durchgang führt eine in den Fels geschlagene Treppe zu einer sich links an den Aufgang anschließenden Pforte, hinter der ein aus dem Felsen gehauener, sechs Fuß breiter Graben gähnt.

Der junge Falkenburger, der als Erster die Treppe hinauf stürmt, hat nur einen Gedanken im Kopf: die Zugbrücke! Als er das Ende des Ganges erreicht, sieht er, wie sich der vordere Teil der nur vier Ellen breiten Brücke langsam zu heben beginnt.

Gerold beißt sich auf die Lippen. Ohne Anlauf springt er ab und setzt mit einem gewaltigen Sprung auf die bis auf Hüfthöhe hochgezogene Brücke. Beim Aufkommen auf den dicken Bohlen gerät er ins Straucheln, doch er rollt sich geschickt ab und kommt unter dem Gewölbe des Torhauses der Hauptburg schnell wieder auf die Füße. Vor ihm, nur drei Schritte entfernt, steht ein Mann, der sich mit der im Mauerwerk eingelassenen Brückenwinde abmüht.

Blindlings schlägt Gerold mit dem Schwert auf den Waffenknecht ein, der von dem mächtigen Sprung des jungen Burschen völlig überrascht worden ist. Der Falkenburger spürt, wie die Schneide seines Schwertes auf einen kurzen Widerstand trifft, welcher den Zug der Klinge für einen Augenblick verlangsamt - gleich darauf fällt etwas zu Boden.

Schreiend hält der Regensteiner Knecht seinen blutenden Armstumpf in die Höhe, mit schmerzverzerrtem Gesicht sackt er in die Knie und versucht mit der anderen Hand die heftige Blutung zu stoppen.

Ungeachtet des grausigen Anblicks löst Gerold die Sperrvorrichtung der Winde und mit einem dumpfen Dröhnen fällt die Zugbrücke auf ihr Auffanglager zurück.

Einen wilden Triumphschrei ausstoßend stürmt Otto von Konradsburg über den Steg in das Torgebäude. Rechts von ihm führt eine enge, steile Treppe zu dem kleinen Innenhof der Hauptburg, er hastet sie hinauf, hart gefolgt von Gerold.

Von links, wo einige kleinere Gebäude stehen, und von rechts, aus dem großen, über einen ausgehöhlten Felsen gemauerten Wohnhaus des Burgherren, kommen einige Bewaffnete gelaufen und stellen sich dem Konradsburger entgegen. Sie sind zu fünft und ganz sicherlich der Meinung, dass ihre Überzahl für diesen einen Gegner mehr als ausreichend sein sollte, doch schnell werden sie ihres verhängnisvollen Irrtums gewahr.

Der blonde Recke fällt mit einer berserkerhaften Wut über sie her, der nichts und niemand standhalten kann. Wie ein Sturmwind treibt er die Burgknechte vor sich her, die seiner übermenschlichen Kraft nichts entgegensetzen können und einer nach dem anderen zu Boden geschlagen werden.

Gerold bleibt dem Wütenden hart auf den Fersen. Auf der Suche nach einem Gegner entdecken seine umherschweifenden Augen plötzlich den Regensteiner, der zum hintersten Ende der Burg hastet, wo über einer schmalen, drei Klafter vorspringenden Felszunge ein windschiefer, hölzerner Verschlag steht.

Seine, wie Schlachtvieh niedergemachten Knechte vor Augen, hat Poppo längst den Glauben an einen Sieg in diesem Kampf verloren. Er weiß, dass es für ihn nur noch darum gehen kann, seinen Hals zu retten. Als letzten Ausweg hegt er den wahnwitzigen Gedanken, die entführte Mechthild aus ihrem Verließ unter dem Verschlag zu holen, ihr den Dolch an die Kehle zu setzen und sich so wenigstens seinen freien Abzug zu sichern.

Über felsige Stufen und von kargem Gras bewachsenen Boden setzt Gerold dem Davoneilenden nach. „Stell dich“, brüllt er dem Burgherrn hinterher, „du Jungfrauenentführer, du ehrloses Schwein!“

Der Regensteiner wendet sich um und erkennt, dass der Verfolger ihn einholen wird, noch ehe er das Verließ erreichen kann. Da reißt er kurz entschlossen sein Eisen in die Höhe und geht den Herausforderer mit heftigen Schwertschlägen an.

Der Burgherr ist ein besserer Fechter als es seine Statur vermuten lässt, es gelingt ihm, den jugendlichen Angreifer einige Schritte zurückzudrängen. Doch schon bald haben sich seine Kräfte erschöpf, seine wenig muskulösen Arme beginnen zu erlahmen, und er muss sich mehr und mehr auf die Verteidigung beschränken. Seiner Unerfahrenheit zum Trotz spürt Gerold die zunehmende Schwäche seines Gegners und mit Hieb und Stich treibt er ihn bis zu der knapp drei Ellen hohen Mauer, die hart am Rand des senkrecht abfallenden Felsens errichtet worden ist.

Nach einer Folge von schnellen Schlägen entdeckt Gerold eine Lücke in der Deckung des in die Enge getriebenen Regensteiners und führt einen blitzschnellen Schlag gegen Poppos linke Schädelseite. Zischend fährt seine blutbefleckte Klinge am Kopf des Regensteiners entlang, trennt dessen Ohr ab und frisst sich tief in seine Schulter. Der Getroffene taumelt aufstöhnend zurück, seine wankenden Beine stoßen gegen die niedrige Mauer, sein Oberkörper kippt nach hinten. Er verliert das Gleichgewicht und greift Halt suchend in die Luft. Dann stürzt er rücklings in die Tiefe. Der Wind, der um den hoch aufragenden Burgfelsen streicht, verweht sein letztes, grausiges Geheul.

Schwer atmend lässt Gerold sein Schwert sinken und wischt sich mit dem Ärmel über die schweißnasse Stirn.

Als er sich schließlich umdreht, sieht er Hoyer, Abbo und Otto auf sich zukommen.

„Gut gemacht, mein junger Freund“, ruft Hoyer von Mansfeld dröhnend und umarmt Gerold wie einen nach langer Zeit heimgekehrten Sohn.

„Nur schade“, murrt Abbo, „dass wir dem Kerl nicht die Haut in Streifen abziehen konnten.“

Otto kommt als Letzter heran. Er hält einen der regensteinischen Knechte am Schlafittchen und zerrt ihn wie ein Bündel Lumpen hinter sich her. „Los, du Hund, antworte: Wo ist die Gefangene?“

*

Der Morgen nach der ersten Nacht in dem kalten Verließ brachte für Mechthild zunächst keine Veränderung ihrer verzweifelten Lage. Irgendwann zwischen Sonnenaufgang und Mittag öffnete sich die Luke über dem Verließ und ein vierschrötiger Kerkermeister ließ ihr in einem schadhaften Henkelkorb einen trockenen Kanten Brot und einen Krug mit lauwarmem, trübem Wasser herunter. Voller Ekel stieß Mechthild den Korb so heftig von sich, dass er gegen die Kerkerwand stieß und das Wasser aus dem dickwandigen Tonkrug spritzte. Der Vierschrötige zuckte wortlos mit den Schultern und zog den Korb wieder hinauf.

Zutiefst niedergeschlagen kauerte sich Mechthild in einer Ecke des Verlieses zusammen und überließ sich ihrer abgrundtiefen Verzweiflung.

Am Nachmittag drang plötzlich ein unbestimmbarer Lärm aus Geschrei, Getrampel und Eisenklirren an ihre Ohren. Eine vage Hoffnung keimte in der Gefangenen auf. War es möglich, dass ihre Angehörigen Hilfe brachten? Dass sie die Burg im Sturm nahmen?

Dann wurde es plötzlich wieder still. Angstvoll, mit an den Mund gepressten Fäusten und in den Nacken gelegtem Kopf, stand Mechthild unter dem in die Freiheit führenden Schacht und starrte nach oben. Nach einer kurzen, ihr aber wie eine Ewigkeit erscheinenden Zeit, knirschte der rostige Riegel der Falltür, die Luke öffnete sich und zwei Köpfe erschienen in der viereckigen Öffnung.

Eine zitternde Stimme rief ihren Namen: „Mechthild?“

„Otto“, jubelte die Gerufene, „Hier bin ich!“

Nur einen Atemzug später fiel eine Strickleiter herunter.

„Kannst du allein heraufsteigen?“, fragte Otto sich weit über den Schacht beugend.

„Ja, gewiss, ich komme hinauf.“ So schnell sie konnte erklomm Mechthild die Leiter. Oben streckten sich ihr Ottos hilfreiche Arme entgegen, zogen sie aus dem Schacht und drückten sie an seine breite Brust.

„Pfui, wie hat dich diese Bestie behandelt“, stieß der Konradsburger hervor. Die Frage jedoch, die ihm am allermeisten auf den Lippen brannte, verbiss er sich vor den Ohren seines Schwagers.

Nachdem die Befreite schließlich auch von ihrem Bruder begrüßt und geherzt worden war, verließen die Drei den stinkenden Verschlag und traten ins Freie.

Auf dem Burghof hatte sich derweilen die siegreiche Mannschaft, die zu ihrer Befreiung angetreten war, versammelt.

Mechthild erkannte unter ihnen den Grafen Hoyer von Mansfeld und Egino von Konradsburg, den Bruder ihres zukünftigen Mannes.

„Ich möchte dir den Herrn Gerold von Falkenburg vorstellen“, wandte sich Otto an seine Verlobte, „ihm vor allem haben wir deine Befreiung zu verdanken und er war es auch, der den Bösewicht Poppo erschlug.“

Die Jungfrau wandte sich ihrem Retter zu und reichte ihm die Hand. „Ich danke Euch, mein Herr, danke Euch aus vollstem Herzen“, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln auf den schönen Lippen. „Und ich danke euch allen“, rief sie dann an die um sie Versammelten gerichtet, „dass ihr mir nicht nur das Leben und die Freiheit, sondern auch die Unversehrtheit meine Ehre gerettet habt!“

Nach diesen Worten erhob sich lauter Jubel, und am lautesten jubelte Otto, dem ein gewaltiger Stein vom Herzen fiel.

Danach kamen die Anführer der Kriegerschar nach kurzer Beratung überein, dass Wiprecht von Freckleben, der Knappe Graf Hoyers, Dedo und dreißig Bewaffnete als vorläufige Besatzung auf dem Regenstein bleiben sollten. Die Kriegsknechte Poppos, die den Kampf überlebt hatten, wurden entwaffnet und von der Burg gejagt, die Mägde, der Burgschmied und ein halbwüchsiger Stallbursche durften bis auf Weiteres auf der Burg verbleiben.

Später wollte man dann einen ausführlichen Bericht an Kaiser Heinrich, den Dienstherrn des Ministerialen Poppo, schicken, und ihm die Entscheidung über das weitere Schicksal der Burg überlassen.

Nachdem alles Nötige geregelt war, bestiegen die Männer ihre Pferde und Otto nahm Mechthild vor sich in den Sattel. In zügigem Tempo verließen sie den Regenstein und schlugen den Weg zur Heimburg ein.

*

Von einem vorausgesandten Boten über die gelungene Befreiung Mechthilds unterrichtet, hatte sich das in der Heimburg weilende Volk zum Empfang der siegreich heimkehrenden Schar versammelt. Durch die weit offenstehenden Tore der Veste zogen die Reiter unter dem lauten Jubel der Mägde und Knechte in den Burghof ein. Allen voran ritt Otto, der die ihrer Gefangenschaft entrissene Jungfrau fest im Arm hielt.

Vor dem Wohngebäude der Burgherrenfamilie standen die weiblichen Angehörigen Mechthilds und konnten ihre freudige Erregung kaum bezwingen.

Als Gerold, der hinter Graf Hoyer, Anno und Abbo - Seite an Seite mit Egino - in die Burg einritt, seinen Braunen zum Stehen brachte, entdeckte er unter den wartenden Damen ein hübsches Fräulein mit dunkelblonden Haaren und großen, braunen Augen, wie sie nur Mathilde von Konradsburg ihr Eigen nannte.

Abbo von Heimburg sprang als Erster aus dem Sattel, eilte zu Otto und nahm ihm seine Schwester aus den Armen. Er hatte sie kaum auf den Boden gesetzt, als die beiden auch schon von vielen Frauen umringt waren, die die Befreite umarmten und herzten.

„Männer und Mägde“, rief Anno von Heimburg mit mächtiger Stimme, „heute ist ein Tag zum Feiern. Holt Bier und Wein aus dem Keller und steckt einen Ochsen an den Spieß! Heute soll ein jeder Mann und ein jedes Weib auf der Burg fröhlich sein.“

Während das Gesinde die Worte ihres Herrn mit donnernden Jubelrufen begrüßte, nutzte Gerold das entstandene Gewühl, um sich Mathilde zu nähern. „Gott zum Gruß, meine Schöne! Wie kommst du denn hierher?“

Mathilde zeigte dem jungen Mann ein strahlendes Lächeln, dann umarmte sie ihn kurzerhand und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

„Ich bin mit Adela, Eginos Frau, hierhergekommen. Sie ist gestern Vormittag von einem Besuch bei ihren Eltern auf der Friedeburg zurückgekehrt, und als sie davon hörte, was geschehen ist, beschloss sie sofort zur Heimburg aufzubrechen, um der armen Mechthild - die sie ebenso sehr wie ich in ihr Herz geschlossen hat - bei ihrer Befreiung zu begrüßen. Oder … um ihren Eltern in schwerer Stunde beizustehen und Trost zu spenden, sofern dies nötig gewesen wäre. Nun ja, und diese Gelegenheit habe ich genutzt und meine Mutter solange bestürmt, bis sie mich mit Adela reiten ließ.“

„Ist deine Mutter auch hier?“

„Nein“, erwiderte Mathilde fröhlich, „Sie sagte, dass wenigstens Eine von uns zu Hause bleiben und die Burg hüten muss. Denn wenn alle Katzen aus dem Haus sind, dann tanzen die Mäuse auf dem Tisch.“

Weiter kamen sie in ihrem Gespräch nicht, denn Herr Anno und Graf Hoyer nahmen Gerold an den Armen und zogen ihn zu Hazecha von Heimburg, der Mutter Mechthilds. Dort stellten sie ihn ihr als den eigentlichen Sieger und Helden des Tages vor.

„Junger Herr“, sagte Hazecha bewegt, „wenn Ihr die Qualen, die ein Mutterherz um ihre in Gefahr befindliche Tochter auszustehen hat, auch nicht ermessen könnt, so seid doch versichert, dass Eure Tat nicht nur meiner Tochter, sondern auch mir das Leben gerettet hat. Darum werde ich … wird meine ganze Familie für immer in Eurer Schuld stehen.“

„Ich habe nur getan, was mir die Pflicht gebot“, wandte Gerold bescheiden ein, doch die Burgherrin wehrte ab. „Stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel, Herr Gerold. Ohne Euch würde Mechthild wohl noch immer im Kerker dieses Unholds schmachten oder noch Schlimmeres erleiden. Seid versichert, dass wir Eurer stets in Dankbarkeit und Freundschaft gedenken, und dass Ihr auf der Heimburg zu jeder Zeit willkommen seid. Doch jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen, denn ich muss mein Kind reinigen und sie auf angemessene Weise kleiden.“

Nachdem sich die Burgherrin und ihre Tochter in ihre Gemächer zurückgezogen und die adligen Männer und Frauen ihre Unterkünfte aufgesucht hatten, verlief sich schließlich auch die Schar der Mägde und Knechte in der freudigen Erwartung des festlichen Gelages.

Während das Gesinde für sich und die Reisigen aus Mansfeld und von der Konradsburg auf dem freien Platz in der Mitte des großen Gutshofes lange Tafeln und Bänke aufstellte, wurde für die adligen Herrschaften in der großen Halle des Palas alles für das abendliche Festmahl vorbereitet.

Als die Sonne den westlichen Erdrand berührte, betraten die Damen und Herren in bester Stimmung den Herrensaal und ließen sich an der großen Tafel nieder, auf der schon eine Vielzahl von Krügen bereitstanden, die mit frisch gebrautem Bier und im Keller gelagertem Wein gefüllt waren.

An der niedrigen Decke des Saales hing ein großes Wagenrad, auf dem ein Dutzend dicke Wachskerzen klebten. Vereint mit dem Licht der an den Wänden in eisernen Halterungen steckenden Kienspäne, erfüllten sie den Raum mit einer angenehmen Helligkeit.

Das Mahl wurde mit einer reichlich gepfefferten Eiersuppe eröffnet, danach trugen die Mägde große Schüsseln und Platten mit dampfendem Fleisch vom Rind und Schwein auf. Dazu gab es frisch gebackenes Brot, gedünsteten Kohl, gekochte gelbe Rüben und verschiedene Sorten von würzigem Käse.

Aus dem Dorf unterhalb der Burg hatte Herr Anno zur Unterhaltung der Gäste ein junges Geschwisterpaar holen lassen. Begleitet von den bezaubernden Klängen aus der Flöte ihres Bruders sang eine hübsche brünette Maid mit glockenheller Stimme fröhliche Weisen und drehte sich dabei anmutig im Tanze.

Die edlen Damen langten bei den Speisen ebenso herzhaft zu wie die Herren, und auch wenn der größte Hunger irgendwann gestillt war, der Durst - vor allem der der Männer - schien geradezu unstillbar zu sein.

Gerold allerdings hielt sich beim Trinken deutlich zurück, was wohl vor allem der Anwesenheit der neben ihm sitzenden Mathilde geschuldet war.

Die Konradsburgerin trug über einem fein gewebten Leinenhemd ein in einem hellen Blau leuchtendes, recht tief ausgeschnittenes Oberkleid, das mit feinen Stickereien an den weiten Ärmeln und am Kragen verziert war, und das von einem aus verschiedenfarbigen Fäden kunstvoll geflochtenen Gürtel mit bronzener Schnalle zusammengehalten wurde. Auf ihrem straffen Dekolleté lag eine silberne Kette mit einem kunstvoll gefassten Smaragd und ein Armreifen aus feinem Gold schloss sich um ihr Handgelenk.

„Ein solch schönes Fest habe ich noch nie erlebt“, bemerkte Gerold begeistert.

„Ja du hast recht, es ist sehr vergnüglich, jedoch …“, Mathilde unterbrach sich und schaute Gerold leicht errötend an, „… eigentlich wär ich jetzt lieber mit dir allein.“

Von einem Augenblick zum anderen wurde es Gerold ganz warm. „Wirklich?“, fragte er gedehnt.

„Ja, wirklich“, antwortete das Mädchen ernsthaft.

„Ich wäre auch sehr gern mit dir allein“, erwiderte der Jüngling leise, „Aber … wie … wo …?“

„Hör zu, mein edler Held“, flüsterte das Fräulein verschwörerisch. „Schau dir nur die Mechthild an, sie ist von den Anstrengungen des Tages bereits so ermüdet, dass sie sich wohl schon in Kürze von der Tafel zurückziehen wird. Sobald sie aber ihr Gemach aufsucht, schließe ich mich ihr an, denn meine Schlafstatt ist in ihrer Kammer.

Du wartest dann noch ein Weilchen, bevor du unauffällig die Halle verlässt. Gleich links neben dem Haus steht in dem überdachten Zwischenraum zwischen diesem und dem anderen Wohnhaus der Reisewagen, mit dem Mechthild, ihre Mutter, Großmutter und Tanten vor der Hochzeit zur Konradsburg gefahren werden sollen. In diesen Wagen steigst du ein, und wartest, bis ich komme.“

„Ja, gut.“ Mehr brachte Gerold überwältigt von freudiger Erregung nicht hervor.

Tatsächlich brauchten sie nicht mehr lange zu warten, bis sich Mechthild und ihre Mutter erhoben und gemeinsam mit den anderen Frauen, die sich ihnen anschlossen, den Saal verließen.

Gemäß den Anweisungen Mathildes wartete Gerold noch eine halbe Stunde, dann trank er einen Becher Wein in einem Zug aus und erhob sich. Mit einem gemurmelten: „Muss mal Wasser lassen“, verließ er unbeachtet von der in weinseliger Stimmung versunkenen Gesellschaft die Halle und trat ins Freie. Im Schatten des Türbogens blieb er stehen, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dann ging er zu dem unter dem Schutz eines tief hängenden Reetdaches abgestellten Reisewagen.

Nachdem er sich noch einmal sichernd umgeschaut hatte, schlug er die Plane, die den Einstieg des Gefährts verdeckte, zur Seite, kletterte hinein, setzte sich auf eine der mit dicken Polstern belegten Sitzbänke und begann zu warten.

Nach einer Zeit, die ihm unendlich lang erschien, drangen plötzlich leise Schritte an seine angestrengt lauschenden Ohren. Gleich darauf bewegte sich der Vorhang und Mathilde schlüpfte in das Innere des Wagens.

„Es hat etwas gedauert bis Mechthild endlich eingeschlafen war“, flüsterte sie, „aber so konnte ich wenigstens sicher sein, dass sie mein Fortstehlen nicht bemerkt hat.“

Gleich darauf rückte sie ganz ungeniert an den jungen Burschen heran. „Und jetzt küss mich!“

Einer solchen Aufforderung nicht sofort zu gehorchen, wäre zweifelsohne einer groben Unhöflichkeit gleichgekommen und diese Schuld wollte Gerold in keinem Falle auf sein Gewissen laden. Und da es in diesem Augenblick ohnehin nichts gab, was er lieber getan hätte, so zögerte er keine Sekunde und schloss das Mädchen in seine Arme.

Nachdem sich ihre Lippen gefunden hatten, wollten sie so schnell nicht wieder voneinander lassen und fingen an, ein eigenes Leben zu führen. Sie begannen sich zu bewegen, sie wogten und saugten, sie drängten und lutschten; und plötzlich griffen auch die Zungen in das Spiel mit ein, schlängelten sich nach vorn, suchten die gegenseitige Berührung und drangen tief in die Mundhöhle des anderen vor.

Ermutigt von der leidenschaftlichen Hingabe mit der Mathilde das Spiel mit den Lippen aufnahm, ließ Gerold seine Hand langsam über ihren Nacken, ihre Schultern und Arme gleiten, wobei er spürte, dass sie ihr Kleid abgelegt hatte und unter ihrem Überwurf nur noch ein dünnes Leinenhemd trug. Mit jedem tiefen Atemzug Mathildes wurde der junge Mann mutiger und schließlich schob er seine Hand unter ihren Mantel. Als seine Fingerkuppen ihre vollen Brüste berührten, erzitterte sie, und ihr Herz begann heftig zu klopfen.

„Oh mein Lieber … “

Nachdem Gerold wusste, dass Mathilde seine Berührungen ganz offensichtlich nicht unangenehm waren, begann er seine Griffe an ihrem sich heftig hebenden und senkenden Busen zu verstärken. Eine geraume Weile liebkoste er die wohlgerundeten Liebeshügel mit leichtem Massieren und zärtlichem Streicheln gleichermaßen, doch dann löste er seine Hand von ihnen und führte sie an der Flanke der Konradsburgerin abwärts bis zum runden Bogen ihrer Hüften.

Mit geschlossenen Augen legte sich Mathilde zurück, soweit es die Lehne des Wagensitzes erlaubte und spreizte ihre Beine. Über ihren Bauch und die Innenseite ihrer Schenkel glitt die einen prickelnden Sog der Lust nach sich ziehende Hand des Mannes hin und her, bis sie endlich … endlich in der Mitte ihres Körpers angekommen war.

Mathilde stöhnte vor tiefempfundener Lust. Mit bebender Stimme stieß sie hervor: „Mein Lieber, ich würde es gern mit dir machen, weißt du, aber es geht jetzt noch nicht. Nicht, weil ich nicht dazu bereit wäre, im Gegenteil, ich bin sogar sehr bereit dazu, aber meine Hochzeit mit Arnesberg ist erst in zwei Monaten, und wenn ich es jetzt mit dir tue, dann könnte ich, so sagte mir meine Leibmagd, die Gesche, ein Kind von dir empfangen, und dann, wenn es vor der Zeit geboren würde, wären ich und die Familie beschämt und entehrt. Erst wenn meine Heirat kurz bevorsteht, kann und werde ich dich zu mir eingehen lassen.“

„Aber auch dann könntest du ein Kind von mir bekommen“, gab Gerold zu bedenken.

„Gewiss, aber das würde dann niemand merken, denn mein zukünftiger Gemahl hat so dunkle Haare und Augen wie du, und ein Kind von dir, würde sich von dem seinen nicht unterscheiden.“

„Aber du wärst dann bei deiner Hochzeit keine Jungfrau mehr!“

„Das macht nichts“, kicherte Mathilde ein wenig verschämt, „Die Gesche hat mir einen Kniff verraten, wie man mit einer Hühnerblase voll Blut seinen Gespons überlisten kann.“

Obwohl sich Gerold nicht so recht vorstellen konnte, inwieweit eine mit Blut gefüllte Hühnerblase bei einem so heiklen Vorgang wie einer Entjungferung hilfreich sein könnte, fragte er in einer Mischung aus Takt und Schamgefühl nicht nach den Einzelheiten der Prozedur.

Der Gedanke aber, dass die Täuschung notwendig wurde, weil ein anderer Mann ein Beilager mit seiner Mathilde hielt, machte ihn von einem Augenblick zum anderen abgrundtief traurig und eifersüchtig zugleich.

„Und dann, wenn du verheiratet bist …?“, fragte er von einer Welle des Schmerzes und der Entmutigung überspült.

Mathilde spürte seine plötzliche Niedergeschlagenheit und ahnte die Gründe dafür. „Dann treffen wir uns, sooft es nur geht!“, flüsterte sie in sein Ohr und drückte sich fest an ihn. „Du bist doch dann gewissermaßen mein Nachbar, und wenn mein Zukünftiger erst einmal das Zeitliche gesegnet hat, er ist ja wenigstens zwanzig Jahre älter als du, dann gehöre ich dir, für immer!“

Ein wenig getröstet von dieser vagen Hoffnung, ließen sie schließlich - es war schon weit jenseits der Mitternacht - voneinander ab, stiegen aus dem Wagen und schlichen sich auf leisen Sohlen in ihre Quartiere.

Während Mathilde fast augenblicklich in einen tiefen Schlaf fiel, lag Gerold mit offenen Augen auf seinem Strohsack und starrte auf das mondhelle Viereck des Kammerfensters, bis der Morgen anbrach.

„Du musst verstehen, worum es bei diesem Streit zwischen dem Papst und mir geht, Heinrich, damit du begreifst, dass ich diesen verteufelten, kräftezehrenden Kampf nicht aus Übermut oder Tollheit führe.“ Eindringlich schaute der Kaiser seinen Sohn an.

„Ich weiß schon“, erwiderte der kindliche Prinz mit wichtiger Miene, „dass du und der falsche Papst darum streitet, wer im Reich die Bischöfe einsetzen darf!“

„Sehr gut, mein Junge! Aber warum streiten wir überhaupt darüber? Und warum ist es so wichtig, wer die Bischöfe einsetzen darf?“

„Sag du es mir, Vater. Ich komme nicht drauf“, antwortete der kleine schwarzhaarige Junge nach kurzem Überlegen.

„Denk nach, Heinrich! Was ist ein Bischof genau?“, gab ihm der Kaiser einen Denkanstoß.

„Ein Bischof ist der Oberhirte der Gemeinschaft der Christen in einem bestimmten Gebiet. Er leitet die Feier des Abendmahls und ist Spender der Sakramente“, leierte der Prinz sein Wissen herunter.

„Er ist also für die geistlichen Belange seiner Herde zuständig“, fasste der Kaiser zusammen, um gleich darauf sein Frage- und Antwortspiel fortzusetzen. „Und wer sollte ihn deshalb einsetzen dürfen?“

„Der Papst?“, erwiderte der kleine Heinrich fragend.

„Richtig“, bestätigte sein Vater und lehnte sich in seinem Thronsessel zurück. „Aber der Bischof ist nicht nur ein Anführer der Gläubigen, sondern er ist auch ein Fürst, ein Kirche nfürst. Und als solcher verfügt er auch über weltliche Macht. Über Ländereien, Dienstmannen, Burgen und Städte, womit er zu einer wichtigen Stütze der Reichsgewalt wird.“

„Und dem Reich stehst du vor, Vater“, triumphierte der Prinz mit erhobener Stimme, „und darum ist es dein gutes Recht, die Bischöfe einzusetzen!“

„So ist es mein Sohn“, lobte der Kaiser. „Nehmen wir uns die berühmte Schlacht auf dem Lechfeld als Beispiel. Dort haben die Bischöfe dem späteren Kaiser Otto I. zum siegreichen Kampf gegen die Ungarn weitaus mehr Panzerreiter gestellt, als die weltlichen Herren. Du siehst also, dass der Kaiser beziehungsweise der König zum Schutz des Reiches gegen seine inneren und äußeren Feinde dringend der Hilfe der Bischöfe bedarf. Und darum ist es so wichtig, dass der in der Gnade Gottes stehende Herrscher des Reiches ausgezeichnete Männer seines Vertrauens auf die verfügbaren Bischofsstühle setzen kann.“

„Aber warum will dir der falsche Papst dann dieses Recht streitig machen?“

„Weil er sich nicht mehr damit bescheiden will, nur das geistl iche Oberhaupt der Christenheit zu sein, sondern auch noch die oberste weltliche Macht beansprucht“, gab der Kaiser mit umwölkter Stirn zurück. „Womit er jedoch gegen den Willen Gottes verstößt, der dem Bischof von Rom die geistliche, dem Kaiser aber die weltliche Macht über die Christenheit übergeben hat!“

„Und gibt es denn keine Lösung in diesem Streit?“

„Die gibt es schon“, entgegnete der Kaiser, „wenn die Bischöfe auf all ihren weltlichen Besitz und ihre Macht verzichten und beides dem Kaiser überlassen würden, dann hätten sie für die Belange des Reiches und des Kaisers keine Bedeutung mehr.“

„Und warum tun sie das nicht?“

„Weil weder die Fürsten noch der Papst einen solchen Machtzuwachs des Kaisertums wünschen.“

„Dann musst du sie eben alle umbringen lassen rief der Sohn des Herrschers und griff demonstrativ nach dem kleinen Dolch, den er am Gürtel trug. „Den Papst, die Fürsten und die Bischöfe, alle, alle, alle, bis keiner von ihnen mehr da ist!“

„Heinrich, Heinrich“, murmelte der Kaiser und rieb sich nachdenklich das bartlose Kinn, „dich möchte ich – so Gott will – niemals zu meinen Feinden zählen müssen!“

Die Kreuzfahrer - milites diaboli

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