Читать книгу Die Kostenvermeidungsdirektive - Jens Wahl - Страница 3

Kapitel 1 - Eine Stufe auf der Karriereleiter

Оглавление

Friederike Oberndorfer hatte es geschafft: Vor ihr lag das Diplom, das sie berechtigte, ab sofort als Shore-Excursion-Manager bei der AHOS-Reederei zu arbeiten. Allerdings war sie mit sich nicht so ganz zufrieden: Sie hatte nur den zweitbesten Abschluss hingelegt, das ärgerte die karrieregeile und ehrgeizige Zweiunddreißigjährige doch. Trotzdem schien die Septembersonne freundlich durch das Fenster und ließ das brandneue Diplom hell erstrahlen. Da die Fensterscheiben nicht exakt plan waren, zeichnete die Sonne lustige Kringel auf das Papier. Friederike fand das von der Sonne unfair - es passte einfach nicht zu ihrer Stimmung! Doch die Sonne interessierte das wohl nicht besonders.


Die Kursleiterin, Frau Häusler, hielt ihre Schlussrede, in welcher sie nochmals darauf hinwies, welche Aufgaben ein Shore-Excursions-Manager bei AHOS hat: Koordinierung, Bewerbung und Verkauf der durch die Zentrale schon im Voraus gebuchten Landausflüge, Betreuung der Gäste auf dem Schiff vor und während der Ausflüge, Arbeitseinteilung der Shore-Excursions-Guides, die fast immer die Gäste auf den Landausflügen begleiten. Dazu kam natürlich auch noch die Bemerkung, dass ein hohes Kostenbewusstsein gefragt sei. „Meine Damen und Herren, ich möchte Sie nochmals darauf hinweisen, dass unsere Firma laut Arbeitsvertrag berechtigt ist, abwendbare Kosten, die durch Sie nicht vermieden wurden, wenigstens anteilig mit Ihrem Gehalt zu verrechnen! Also haben Sie immer ein Auge auf Ihr Budget im Sinne der während des Kurses ausführlich diskutierten ‘Kostenvermeidung’ oder, wie es im betriebswirtschaftlichen Sprachgebrauch auch genannt wird, der ‘Cost Avoidance’. Nun bleibt mir nur noch, Ihnen bei Ihrer künftigen Tätigkeit viel Erfolg und auch Spaß zu wünschen!“


Die Kursteilnehmer klatschten Beifall, damit war der Tag gelaufen und sie hatten ab jetzt für heute frei. Also schnell weg, sie wollten ihren Abschluss feiern.


Friederike hatte es nicht so eilig, sie würde schon morgen ihre neue Stelle antreten. Sie brauchte nur ihre Reisetaschen aus der Firmenunterkunft, die sie während der Schulung bewohnte, holen und ihre eigene Kabine auf der „Atlantico“ beziehen. Aus der Feierei machte sie sich nichts - sie ärgerte sich immer noch über ihren zweiten Platz.


Die AHOS-Reederei mit Sitz in Hamburg betrieb zwei Kreuzfahrt-Sparten: die „normale“ Kreuzfahrt im 3- bis 4-Sterne-Bereich, welche als „Holidays on Sea“ beworben wurde, sowie eine Art Expeditionskreuzfahrt mit kleineren Schiffen, die als „Adventures on Sea“ in einem extra Katalog vermarktet wurde und den 5-Sterne-Bereich abdeckte. Beides zusammengefasst ergab den Firmennamen „AHOS“ - Adventures & Holidays on Sea. Für die „Adventure“-Sparte gab es zwei kleine Schiffe, die „Pinguin“ und die „Eisbär“ mit je 600 Passagieren. Beide Schiffe besaßen die Eisklasse und konnten so auch für etwas ungewöhnlichere Routen in der Arktis und Antarktis eingesetzt werden. Die „Holidays“-Sparte verfügte über vier Schiffe: die „Atlantico“ als ältestes Schiff der AHOS-Flotte mit etwa 1.100 Passagieren. Das gleich große Schwesterschiff „Pazifico“ war nur ein Jahr jünger. Und dann gab es noch die beiden Neubauten aus den letzten beiden Jahren mit je 4.500 Passagieren: die „Caribico“ und die „Baltico“. Alle Schiffe fuhren aus Steuerersparnisgründen unter der spanischen Flagge.

Friederike war der „Holiday“-Sparte zugeordnet worden. Morgen würde die „Atlantico“ mit ihr als SEM, wie die innerbetriebliche Abkürzung für Shore-Excursions-Manager lautete, in Richtung Kanaren in See stechen. Sie hatte noch viel zu tun, in zwei Tagen sollten die ersten Landausflüge unter ihrer Regie in Dover stattfinden. Bereits mehrere Monate konnte sie als Praktikantin an der Seite von Herrn Hallein auf der „Baltico“ Erfahrungen auf diesem Posten sammeln, jetzt war sie aber die Chefin für diesen Bereich! In dieser Rolle gefiel sie sich. An die Zeit auf der "Baltico" erinnerte sie sich immer wieder sehr gern. Herr Hallein war schon über sechzig Jahre alt und hatte vor, in ein paar Jahren in den Ruhestand zu gehen. Er war nicht nur ein Profi in seinem ausgeübten Beruf, sondern er liebte gleichzeitig seine Tätigkeit. Dabei verlor er nie den Blick für das Wesentliche. "Wir leben in einer wunderbaren Welt zum richtigen Zeitpunkt", schwärmte er einmal Friederike gegenüber. "Erst jetzt ist die Technik so weit, viele Erholungssuchende weltweit zu transportieren. Und viele Menschen können sich dies auch leisten. Doch wer kann die Schönheiten der Natur genießen? Doch nur derjenige, der nicht nur in Frieden lebt, sondern der auch genügend zu Essen hat. Stell Dir doch einmal vor, Du lebst in Rio de Janeiro und hast weder Arbeit noch etwas zu essen. Der Blick vom Zuckerhut zum Corcovado wird Dir total egal sein, wenn Dein Magen knurrt. Dann überlegst Du nur, wie Du Deinen Hunger stillen kannst, ganz einfach, um zu überleben." Herr Hallein war ein sehr guter Lehrer: Zuerst erklärte er einiges, dann ließ er sich von Friederike helfen. Während der Vorbereitung des vorletzten Ausflugstages in ihrem Praktikum meldete er sich bei ihr ab - er hätte ein starkes Unwohlsein. Wenn sie nicht weiter käme, könne sie sich ja bei ihm melden. Mit ihrem Ehrgeiz biss sich Friederike durch und erntete Lob von ihrem Lehrmeister. Danach klärte er sie wegen der kleinen Schwindelei auf. Diese hatte nur dazu gedient, um einmal zu sehen, wie sie allein klarkommt und um ihr andererseits Sicherheit zu geben: "Wer die Ausflüge für 4.500 Gäste plant, sollte bei 1.100 Gästen kein Problem haben", war seine Meinung. Kurz nach Ende des Praktikums, noch während des Lehrganges, erhielt Friederike Oberndorfer von ihrer Reederei die Zusage, als SEM auf der "Atlantico" arbeiten zu können.

Allerdings sollte Friederikes Karriere mit der Stellung als SEM noch nicht zu Ende sein: Spätestens mit 40 Jahren wollte sie den Rang eines CD (Cruise Director) erworben haben. Dieser kam in der Rangliste auf dem Schiff gleich nach dem Kapitän und war praktisch eine Art Hotel- und Entertainment-Direktor in einem. Doch bis dahin musste sie sich erst einmal auf ihrem jetzigen neuen Posten bewähren und danach ein mehrjähriges firmeninternes Studium absolvieren.


Ständig, aber erfolglos, versuchte sie während der Schulzeit, mit guten bis sehr guten Noten die Anerkennung ihres von ihr heiß geliebten Vaters zu erringen. Doch dieser war in den drei Jahre älteren Sohn vernarrt. 'Büchsen' zählten bei ihm als minderwertig und er ließ es sie spüren. Als sie mit 15 Jahren erkannte, dass ihr Bruder den Bauernhof in der Nähe von Isny von den Eltern übernehmen sollte, hatte sie sich für eine Lehre als Reiseverkehrskauffrau beworben und diese mit dem besten Jahresabschluss im IHK-Bereich beendet. Doch die Beratung derjenigen, die sich teilweise die teuersten Reisen leisten konnten, während sie bei ihrem Gehalt immer nach Schnäppchen suchen musste, stellten sie nicht zufrieden. Es passte auch nicht zu ihrem Charakter, sich ständig unterordnen zu müssen. Durch das Verhalten ihres Vaters ihr gegenüber wurde sie hart - zu sich selbst und auch zu anderen. Sie kannte es einfach nicht besser.

Ihre Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als sie sechsundzwanzig Jahre alt war - der zwölfjährige Bub des Nachbarhofes hatte beim Pflügen des Feldes die Gewalt über den Traktor verloren und war damit auf die Landstraße gekommen, als gerade ihre Eltern angebraust kamen - sie hatten keine Chance.

Die Beziehung zur Frau ihres Bruders war noch nie die beste und konnte nach der Testamentseröffnung gemeinhin als bescheiden bezeichnet werden: Der elterliche Hof war teilweise verschuldet. So konnte der Bruder ihr nicht den ihr zustehenden Pflichtteil auszahlen, ohne den Hof noch mehr zu belasten. Deshalb hatte sich Friederike mit ihrem Bruder so geeinigt, dass sie ihren Pflichtteilsanspruch stundet und als Sicherheit in Form einer Hypothek auf den Hof eintragen ließ. Diese sollte erst später, wenn es dem Hof wieder finanziell besser ging, ausgelöst werden. Doch ihre Schwägerin war der Ansicht, dass Friederike ganz auf ihren Pflichtteil zugunsten des Hofes verzichten solle. Der Schwägerin zum Trotz behielt sie auch das eine Zimmer, welches ihr laut Testament neben dem Pflichtteil mit ständigem und mietfreiem Wohnrecht zustand, als ihren Hauptwohnsitz.

Aus all diesen Gründen hatte sich Friederike bei der AHOS-Reederei als Shore-Excursions-Guide, kurz SEG, beworben - sie wollte etwas von der Welt sehen und das gleichzeitig noch bezahlt bekommen. Als SEG hatte sie als Verbindungsglied zwischen dem örtlichen Reiseleiter des jeweiligen Landausfluges und den mitreisenden Gästen zu fungieren. Dabei konnte sie mit ihren Sprachkenntnissen punkten, sie sprach fließend Englisch und Spanisch. An Bord beriet sie die Gäste beim Verkauf der Landausflüge.

Wenn man in Armee-Einteilungen denkt, gehörten die SEG zu den Soldaten an Bord. Friederike wollte unbedingt in den Offiziersbereich aufsteigen und bewarb sich deshalb vor einem Jahr für die firmeninterne Weiterbildung zum SEM.


Da sie als Pubertierende in den Bereich „leicht unterdurchschnittliche Schönheit“ eingeordnet worden und ihr das auch bewusst war, sollten Männer kein großer Stolperstein auf ihrer Karriereleiter werden. Sie war schlank, weil sie ihr eigener Ehrgeiz auffraß. Das unauffällige, aber nicht hässliche Gesicht, von kastanienbraunem, schulterlangem Haar umrahmt, hatte sie mit einer Brille verunziert. Ihr gefiel diese Brille mit dickem schwarzem Rand auch nicht, aber es war eben zur Zeit modern. Was aber ist modern? Das, was uns die Designer und Marketing-Strategen ständig aufschwatzen? Warum empfand sie nicht das als modern, was ihr selbst gefiel?

Sicherlich hatte sie bereits Beziehungen zu Männern gehabt - ab und zu war der Wunsch nach etwas 'Unterbodenpflege' auch bei ihr zu verspüren. Den Begriff 'Unterbodenpflege' für Geschlechtsverkehr hatte mal ein junger Kfz-Mechaniker, mit dem sie ein paar Tage zusammen war, gebraucht. Es ist nun einmal so, dass auch angeblich weniger schöne Frauen und Männer die gleichen Gefühle und Wünsche haben wie die, meist selbst ernannten, Schönsten der Welt. Was aber ist Schönheit? Hat da nicht auch jeder einen eigenen, individuellen Geschmack? Weshalb orientieren wir uns das ganze Leben immer nur an den Vorgaben anderer? Um zu vermeiden, dass wir anecken, wenn wir aus dem vorgeschriebenen Massengeschmack herausfallen? Womit erkaufen wir uns dieses „nicht-anecken-wollen“? Jeder Mensch ist ein einmaliges Original und sollte sich dies auch immer wieder bewusst werden lassen und sich danach verhalten.

Aber diese Beziehungen waren immer wieder sehr schnell auseinandergegangen. Ein „leider“ verspürte sie bei den Gedanken daran eigentlich nie. In ihrem jetzigen Beruf wäre eine feste Beziehung nur hinderlich gewesen. Mit den Gästen etwas „anzufangen“, war unter Androhung einer fristlosen Kündigung verboten. Mit den Kollegen auf dem Schiff wollte sie keine Beziehung beginnen, um nicht in irgendeiner Form erpressbar zu werden, was sich hinderlich auf ihre Karriere auswirken könnte. So hatte sie in dem in der heutigen Zeit fast unübersehbaren Sortiment an kleinen „Helferlein“ für einsame Stunden eine Lösung für sich gefunden. Diese waren immer willig, und wenn die Batterie leer war, wurde diese gegen eine neue ausgetauscht. Nach verrichteter Arbeit kurz säubern und das Ding im Nachtkasten ablegen - praktischer ging es kaum.

Ein Kerl läge danach neben ihr, zufrieden wie ein frisch gesäugtes Baby. Und fing womöglich noch an, zu schnarchen! Oder stellte diese saublöde Frage: „Wie war ich?“ Eine Antwort gab sie darauf nie, sie hätte fast immer „Viel zu schnell fertig“ gelautet. Noch in der gleichen Nacht an mindestens eine Wiederholung zu denken, war bei den wenigsten Kerlen, mit denen sie das Kopfkissen geteilt hatte, möglich. Falls doch, benötigten diese auch immer wieder eine mehr oder weniger lange Aufladezeit dazwischen. Das Einzige, was man mit dem „Helferlein“ nicht konnte, war Kuscheln. Doch dazu waren die Kerle auch meist nur vorher bereit, um sich in Schwung zu bringen. Danach bekamen die doch meist nicht schnell genug ihren Slip wieder an!


Gefühle zeigen, kann hinderlich für die Karriere sein. So wurde Friederike schon während ihrer SEG-Zeit als Eisblock, unnahbar und arrogant eingeordnet - sie fand es gut so und nahm sich vor, dieses Image weiter zu pflegen. Eine gewisse Distanz sollte zwischen Vorgesetzten und deren Unterstellten vorhanden sein und auf den Unterschied hinweisen. Dies war schon ihre Meinung, als sie bei AHOS noch „ganz unten“ war. Wollte sie rein äußerlich auf Distanz gehen, band sie sich das Haar nach oben, was ihr ein noch strengeres Aussehen verlieh.


Nachdem sie ihre Reisetaschen auf die Kabine transportiert hatte, begab sie sich in die Kleiderkammer. Hier wurde die kostenlose Dienstkleidung ausgegeben. Doch diesmal wollte Friederike keine Kleidung tauschen. Nein, ganz genussvoll forderte sie für ihre schwarzen Schulterklappen auf der weißen Uniformbluse je einen weiteren gelben Streifen an.


In die Kabine zurückgekehrt, machte sie sich an die Dienstplanung für die bevorstehende Reise.

Die Kostenvermeidungsdirektive

Подняться наверх