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Kapitel 3 - Die Reise beginnt

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Die alte Boeing 737 der „Daedalus Air Burgas“ bot einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Der Sitzabstand war noch deutlich größer als bei neueren Modellen. Die Stewardessen sprachen nur gebrochen Deutsch. Wo sie mit ihren Sprachkenntnissen nicht weiter kamen, wurde auf Englisch weitergemacht. Knapp fünf Stunden sollte der Flug dauern, doch schon vor dem Start gab es eine Verzögerung: Die Maschine wurde mit einer braunen Enteisungsflüssigkeit besprüht. Das dauerte etwas.

Der Flug war relativ ruhig, ein einziges Mal kam das Anschnallzeichen wegen Turbulenzen, die aber nicht auftraten oder vom Piloten umflogen wurden.


Klarmanns saßen rechts noch vor der Tragfläche und sahen immer wieder nach unten - seit Längerem war nur noch das Wasser des Atlantiks zu sehen. Auf dem dritten Sitz am Gang saß eine Oma aus Österreich, die eine Gurtverlängerung benötigte. Deshalb wurde es auch auf dem Mittelsitz etwas enger als sonst. Aber Torsten Klarmann konnte damit leben.

Nach einem Toilettenbesuch tauschte er mit seiner Frau die Plätze. So saß er am Fenster und Gudrun konnte sich ungestört mit der freundlichen Oma unterhalten. Diese hatte schon die turbulentesten Flüge erlebt und wusste anschaulich davon zu berichten. Trotzdem flog sie immer noch sehr gern. Dagegen fühlten sich Klarmanns im Flieger nicht allzu wohl. Sicherlich genossen beide immer wieder diese wunderbare Perspektive auf die Erde, aber ein leichtes Gefühl des Ausgeliefertseins ließ sich nicht dauerhaft unterdrücken, ohne dass man es schon als Flugangst bezeichnen könnte.

Die Oma würde allerdings nicht mit auf die „Atlantico“ kommen, im Flieger saßen Urlauber von vier verschiedenen Veranstaltern. So hielten die Stewardessen beim Verteilen der Snacks Sitzplatzlisten in den Händen, denn nicht jeder Veranstalter hatte einen Flug mit Snack gebucht. AHOS wollte seine Gäste wohl keine fünf Stunden ohne Essen lassen und so bekamen Klarmanns auch je einen Snack und Keksriegel. Dazu gab es mehrfach alkoholfreie Getränke.


Etwa zwanzig Minuten vor der Landung kam der Teide in Sicht: völlig frei von oben bis unten zu sehen, allerdings ohne die von Klarmanns gewünschte Schneekappe. Mit einem „Sahnehäubchen“ fanden sie Vulkane irgendwie schöner. Als Torsten Klarmann einfiel, Fotos davon machen zu wollen, war es zu spät: Sie hätten erst die Oma sich aus dem Sitz wuchten lassen müssen, um an das Handgepäck zu kommen. So ließen sie es bleiben und genossen die Ansicht, solange es ihnen möglich war. Innerlich ärgerte sich Torsten Klarmann, dass er nach dem Toilettenbesuch nicht wenigstens die kleinere der beiden Kameras aus dem Handgepäck geholt hatte. Diese hätte gut in eine der Beintaschen seiner Cargohose gepasst. Er bevorzugte diese Hosen aufgrund der vielen Taschen, die er sehr praktisch fand. Die Bezeichnung 'Cargohose' fand er passend: Er konnte damit viel 'Fracht' transportieren.


Die „Atlantico“ lag in Las Palmas am Kreuzfahrt-Terminal. Ihr in Weiß und Lindgrün gespritzter Rumpf strahlte hell in der angenehm warmen kanarischen Novembersonne. Heute sollten die neuen Gäste für die lange Tour, die von den Kanaren über die Kapverden und zurück über die Kanaren bis Madeira führte, anreisen. In etwa einer halben Stunde würden die ersten Passagiere, die auch die Pauschalanreise über AHOS gebucht hatten, hier ankommen.


Friederike Oberndorfer war mit sich und der Welt zufrieden und so genoss sie die wärmenden Sonnenstrahlen und die kurze Ruhe vor dem Passagier-Ansturm. Seit sechs Wochen war sie nun als SEM tätig und alles war bisher bestens gelaufen - AHOS konnte mit der ehrgeizigen Mitarbeiterin zufrieden sein. Denn bereits zweimal hatte sie Passagiere dazu gebracht, die in ihren Augen unzulässigen Beschwerden zurückzuziehen. Und mehr als diese beiden Beschwerden zu Landausflügen waren bisher nicht eingegangen.

Ihre Mitarbeiterinnen hatte sie auf ihren Kurs und ihren Führungsstil eingeschworen. Wer zuckte, bekam sehr schnell die Rache seiner äußerst bissigen Vorgesetzten zu spüren und würde sich hüten, nochmals aufzumucken. Nach oben wurde gebuckelt. Im Endeffekt hätte Heinrich Mann nicht den „Untertan“ erfinden müssen, Friederike war ein lebendiges Beispiel dafür.

Ihre Mitarbeiterinnen waren schon im Check In-Gebäude, die „Schichtwechsel“ gut geplant.


Gegen 12 Uhr rollte dann der erste Bus an, der Arbeitstag für die „Empfangsmitarbeiterinnen“ begann. Klarmanns erreichten etwa eine Stunde später das Kreuzfahrt-Terminal, verließen ihren Bus und begaben sich zum Check In-Gebäude. Um die Koffer brauchten sie sich nicht zu kümmern. Diese würden nach einer Sicherheitskontrolle vor die Kabinentür gestellt werden. Während sie in der Schlange warteten, bekam Gudrun Klarmann Probleme mit ihrem Asthma - das Paar vor ihnen hatte sich zu stark einparfümiert. Nachdem sie etwas Abstand zu ihren Vorderleuten ließen und sie sich mit ihrem Asthmaspray etwas Erleichterung verschaffen konnte, raunte ihr Torsten eine seiner blöden Bemerkungen ins Ohr: "Das riecht schon nicht mehr wie ein Duftbäumchen, sondern mehr wie ein Duft-Sequoia."

Etwa zwanzig Minuten später gingen sie langsam auf das Schiff zu. Rumpf und Aufbauten waren komplett in strahlendem Weiß gespritzt. Nur am Bug gab es einen herrlichen lindgrünen Fleck, der nach hinten langsam immer mehr in das Weiß des Rumpfes überging. Und ab etwa 30% der Gesamtlänge des Schiffsrumpfes war dann alles nur noch Weiß. Irgendwie sah es aus, als hätte jemand einen Farbbeutel exakt von vorn an den Bug geworfen und dieser hätte seinen Inhalt symmetrisch auf beiden Seiten des Rumpfes verteilt. Dieses Lindgrün wiederholte sich am weißen Schornstein: Dort prangten die vier Großbuchstaben des Reederei-Kürzels in der gleichen freundlichen Farbe.


Vor Erreichen der „Atlantico“ stand da eine Fotografin als Hindernis. Wie schon bei allen Fahrten mit AHOS zuvor wollte diese ein Foto von beiden hinter dem Rettungsring. Doch Klarmanns lehnten diesmal freundlich, aber kategorisch ab - sie waren seit 1 Uhr auf den Beinen und an viel Schlaf war in der letzten, sehr kurzen Nacht nicht zu denken gewesen. Das würde kein schönes Erinnerungsfoto werden, also ließen sie es lieber gleich bleiben.

Die Hände desinfizieren und ab in die Schleuse auf Deck drei. Hier wurde das Handgepäck und jeder Eintretende durch Sicherheitspersonal des Schiffes kontrolliert. Über die Treppe eine Etage nach oben brachte Klarmanns auf Deck 4, wo sie ihre Innenkabine schnell fanden. Diese war schon bezugsfertig - ein toller Service, da laut Katalog die Kabinen erst ab 16 Uhr zur Verfügung stehen sollten. Die Kabine Nummer 4148 war so ausgestattet, wie sie es schon von ihren drei vorherigen Reisen kannten: zwei getrennt stehende Betten, die eigentlich mehr zusammengeschraubte Holzgestelle mit Matratze waren. Ein dreitüriger Kleiderschrank mit eingebautem Safe, die Tür zum kleinen, aber ausreichenden Bad, eine Ablage an der Wand mit Fernsehgerät, Telefon, Spiegel und Föhn sowie zwei Stühle und ein kleiner Tisch. Das würde ihre Unterkunft für die nächsten zwei Wochen sein. Das Einzige, was beiden nicht so gefiel, war, dass es selbst dann in der Kabine schummrig blieb, wenn alle Leuchten eingeschaltet waren - es fehlte einfach eine Lampe, die das Zimmer etwas heller machte. Zum Lesen oder etwas Schreiben war diese Beleuchtung echt nicht geeignet. Aber das ist Geschmackssache. Solange das Wetter mitspielt und man sich tagsüber auf dem Sonnendeck aufhalten kann, reicht das. Und wer Schmuse-Stimmungs-Beleuchtung mochte oder benötigte, war hier richtig. Die in der Kabine dominierenden Farben waren ein helles Gelb, Weiß und natürlich die Reedereifarbe Lindgrün. Es sollte alles freundlich wirken. Auf dem Tisch lagen die ausgedruckten „Eintrittskarten“ für die schon online im Voraus gebuchten Landausflüge.


Obwohl beide vor dem Abflug in München noch etwas gefrühstückt hatten, beeilten sie sich, ins Hauptrestaurant zu kommen. Auch der im Flugzeug verteilte Snack konnte nichts mehr ihrem Hunger entgegensetzen. Im Hauptrestaurant gab es noch bis 14 Uhr Mittagessen. Dort saßen die auf ihre Abreise Wartenden zusammen mit den ersten Neuankömmlingen. In den Büfettrestaurants von AHOS ist es wichtig, sich zuerst einen Platz zu suchen, diesen mittels Besteck und Serviette oder Trinkglas zu markieren und dann erst auf Essenssuche zu gehen. Wer das nicht weiß, dem kann es passieren, mit Tellern in der Hand dazustehen und keinen Sitzplatz zu finden. Klarmanns kannten das Prozedere schon und konnten dann die „Büfettmeile“ entlang gehen bzw. sich zwischen anderen Gästen hindurchwinden, um zu prüfen, was sie sich auf die Teller schaufeln wollten. Torsten Klarmann fand für sich schnell etwas: Pasta mit Tomatensoße, eine seiner Lieblingsspeisen. Dafür benötigte seine Frau Gudrun etwas länger. Doch Kartoffeln mit Kassler und Sauerkraut stellten auch sie zufrieden.


Als beide nach dem Mittagessen wieder ihre Kabine erreichten, standen schon die Koffer vor der Tür. In der Kabine angekommen, war erst einmal duschen angesagt. Während der eine duschte, räumte der andere das Reisegepäck aus und die Schränke ein. Als sie damit fertig waren und auf den mitgebrachten Wecker schauten, war es schon 15:12 Uhr - also Zeit für Kaffee und Kuchen. Aufgrund des heutigen späten Mittagessens hatte keiner der beiden so richtig Lust, schon wieder „Schaufeln“ zu gehen, doch bis zum Abendessen würde es noch etwas dauern. Also mussten heute bei jedem von ihnen nur eine Tasse Kaffee und ein kleines Stück Kuchen „dran glauben“.


Danach zogen sich beide die schon im Handgepäck mitgenommenen Sonnendeck-Klamotten an - T-Shirt, Shorts und Badelatschen. Im Handgepäck deswegen, weil manchmal das Reisegepäck doch etwas länger bis zur Kabine benötigt. Heute wäre dies nicht notwendig gewesen, aber das kann ja keiner vorhersehen. Dazu kamen noch Kamera und Fernglas und ab ging es auf das Pooldeck auf Deck 10. Dort holten sich beide je ein Pool-Handtuch, stiegen die Treppe zu Deck 11 hinauf und suchten sich wegen des ab und zu böigen Windes zwei Liegen auf der Lee-Seite. Da sich Gudrun nie merken konnte, was Luv und was Lee ist, hatte Torsten ihr zwei kleine Eselsbrücken gebaut: „1. Luv ist die dem Wind zugewandte Seite, also da, wo die Luft (der Wind) herkommt. Oder 2.: Lee ist die dem Wind abgewandte Seite, wo du also kaum einen Hauch spüren solltest - praktisch der Windschatten. Du musst dich fragen: Weht hier Wind? Antwortest Du mit Nee, dann bist du auf Lee.“ Der Himmel war nur leicht bewölkt, die Sonne wärmte noch deutlich besser als in Deutschland. Aus etwa zweiundzwanzig Metern Höhe sahen die gerade ankommenden Passagiere schon relativ klein aus. Gudrun Klarmann stand an der Reling und blickte über den Hafenbereich sowie einen Teil von Las Palmas in Richtung Westen. Dort war ein kegelförmiger Berg mit Antenne zu sehen. Sie hängte sich bei ihrem Mann am Arm ein. „Schau mal, wenn wir morgen schönes Wetter haben werden, können wir vielleicht von Gomera aus den Teide so ähnlich wie diesen Antennenberg sehen“, freute sie sich schon jetzt auf die morgige Aussicht. Torsten blickte in die von ihr gewiesene Richtung und schmunzelte sichtlich erstaunt: „Wenn Du deinen Kopf jetzt noch ein klein wenig nach rechts drehst, kannst du sofort den Teide sehen!“ Dazu küsste er sie auf ihre Wange. Verblüfft drehte sie ihren Kopf ein Stück nach rechts. Dort schaute wirklich der „echte“ Teide aus den unten liegenden Wolken! „Weshalb ist uns denn das 2011 entgangen, als wir von hier nach Südamerika gestartet waren?“ „Weil es da ziemlich stark bedeckt war“, entgegnete er. „Doch ich werde nach unserer Rückkehr nochmals alle Fotos überprüfen, ob wir da bis jetzt etwas übersehen haben.“ Landschaften, Wildtiere und Naturbilder faszinierten beide deutlich mehr als Städte oder einzelne architektonische Leistungen. „Dann konnte unsere Reise ja gar nicht besser beginnen“, meinte sie glücklich. „Vormittags den Teide komplett vom Flieger aus sehen und jetzt über die Wolken aufragend vom Schiff. Ich nehme dir nur übel, dass du nicht nach unserem Toilettenbesuch während des Fluges die Kamera aus dem Handgepäck geholt hast. Aber jetzt bekommst du die Möglichkeit, deinen Fehler wenigstens etwas auszubügeln. Und ich hoffe, dass du diese Möglichkeit nutzen wirst!“ Das ließ sich der begeisterte Hobby-Fotograf nicht zweimal sagen, und schoss Fotos mit unterschiedlichen Zoomstärken und Belichtungseinstellungen. Danach wurde die ganze Szene auch noch als Videoclip aufgenommen. Währenddessen hatte Gudrun den Teide ausgiebig mit dem Fernglas betrachtet. Nun setzte sie sich auf die Liege und wollte ihrem Mann das Fernglas überlassen. Doch dieser winkte ab: „Ich muss mich erst mal entspannen, das längere Halten der Kamera strengt mich doch etwas an.“ Diese Aussage bezog sich auf sein Problem mit der Wirbelsäule. Ein paar Minuten später holte er die Teide-Betrachtung per Fernglas nach.


Ab achtzehn Uhr gab es Abendessen. Was viele störte: Oft standen schon Passagiere fünfzehn Minuten vor der Öffnungszeit der beiden Restaurants Schlange, um einen Platz zu ergattern. Wer ein paar Minuten später kam, würde Mühe haben, einen Platz zu finden und müsste dann eventuell auf die zweite Abendbrotzeit ausweichen. Deshalb hatten sich Klarmanns angewöhnt, etwa zwei Minuten vor dem „Sturm auf das Büfett“ am Restaurant zu sein. Das Schöne war, dass es für die Kleiderordnung nur zwei Bedingungen gab: keine Badebekleidung und die Herren in langen Hosen. Das war alles. Trotz der manchmal etwas nervenden Platzsuche bevorzugten sie Büfettessen gegenüber den herkömmlichen Kreuzfahrt-Restaurants mit festen Essenszeiten, festen Tischnummern und Tischpartnern. Dazu musste man essen, was der Kellner auf den Tisch stellte und konnte sich das nicht aussuchen. So wie bei AHOS fanden sie es für sich am besten. Auf der „Atlantico“ gab es Mottoessen, welches sich im zweiwöchigen Turnus wiederholte. Im Hauptrestaurant war heute „Französische Küche“ angesagt, im zweiten Büfettrestaurant, der „Palmeninsel“, Italien. Bei Pizza und Pasta würden beide garantiert etwas für sich finden.


21 Uhr begann die während der Seereise einzige Pflichtveranstaltung für alle Passagiere - die Seenotrettungsübung. Nachdem endlich alle Passagiere mit ihren Schwimmwesten auf den ihnen zugewiesenen Plätzen erschienen waren - so richtig Lust dazu hatte ja keiner, wurde das Verhalten im Notfall auf Englisch und Deutsch vorgelesen - wohl vom Band. Danach konnte auch offiziell der Urlaub beginnen.


Um 23 Uhr sollte die “Atlantico“ in Richtung La Gomera auslaufen. Eine Stunde vorher startete schon die „Auslauf-Party“, wobei diese Bezeichnung wohl nicht mit den, um diese Jahreszeit reichlich an Bord vertretenen, Senioren in Verbindung gebracht werden sollte. Klarmanns fühlten sich trotz ihrer Mitte 50 noch gar nicht so alt, um sich selbst als Senior zu bezeichnen. Das wurde ihnen aber immer wieder deutlich, wenn sie an ihren schon zweiunddreißigjährigen Sohn dachten. Die „Auslauf-Party“ gehörte zu den wenigen Ereignissen, die Klarmanns wegen der meist überlauten Musik nicht an AHOS mochten. Hinzu kamen die fast ständige Animation während der Seetage sowie die überzogene Lautstärke der Beschallung. Sie waren der Meinung, dass alles auch etwas gedämpfter ginge und damit angenehmer wäre. Auf dem Pooldeck hatte keiner eine Chance, dieser Dauerbeschallung während aller Seetage zu entgehen; auf dem ruhigen Deck 6 konnte man aber keine Sonnenliegen, sondern nur Stühle aufstellen. So hatten sie sich angewöhnt, ihre Liegen auf Deck 11 immer vor der „Lichtblick“-Bar aufzustellen, die die Pooldeck-Beschallung etwas dämpfte. Klarmanns waren garantiert nicht die Einzigen, die sich immer wieder fragten, weshalb die Hafenstädte solch einen, meist nachts stattfindenden, Krach beim Auslaufen einfach ohne Protest hinnahmen. Wahrscheinlich nahmen diese lieber die Beschallung in Kauf, als eventuell auf die Liegegebühren ganz zu verzichten.

Sie waren auch nicht die Einzigen, die sich etwas lärmgeschützt vor der Bar auf Deck 11 aufhielten. Da das Typhon an einem Mast oberhalb der „Lichtblick“-Bar befestigt war, stellten alle vor der Bar Stehenden pünktlich 23 Uhr ihr Sektglas ab und hielten sich die Ohren zu. Ein Mitreisender hatte während ihrer Norwegentour bei der Ausfahrt aus Bergen das einmal so formuliert: „Erst wird dreimal getrötet und dann beginnt die Mucke.“ Die „Mucke“ war seine Bezeichnung für den teilweise sehr sentimentalen Auslaufsong von AHOS.

Nach dem Passieren der Mole begaben sich Klarmanns wie die meisten in Richtung Kabine, während die „Atlantico“ ihre Reise in das Dunkel der lauen Kanarennacht antrat. Nur der „harte Kern“ feierte den Start in den Urlaub noch weiter bis in die frühen Morgenstunden hinein. Doch davon war in den Kabinen glücklicherweise nichts zu hören. Nach diesem, für sie langen, Tag wurden sie vom leichten Seegang schnell in den Schlaf gewiegt.


Halb sieben klingelte am nächsten Tag der Wecker und wurde so lange immer penetranter, bis ihn endlich einer der beiden ausschaltete. Während Gudrun duschte, prüfte Torsten über die Webcams der „Atlantico“, auf die man mit dem Fernsehgerät zugreifen konnte, wie das Wetter war. Prächtig - die Sonne kam auf der Steuerbordseite langsam über den Horizont, ohne dass größere Wolkenansammlungen zu sehen wären. Und der Teide war sehr deutlich zu erkennen. Die über den Bug „zielende“ Webcam zeigte schon die Felsen bei San Sebastian, ihrem heutigen Zielhafen.

Die mittschiffs gelegene Kabine empfanden beide als sehr ruhig: Kein Klatschen der Wellen an die Außenhaut, kein Antriebswellen- oder Propellergeräusch waren zu hören. In den Gängen war es nachts meist ruhig. Hier wirkte wohl die Drohung in den AGB, dass Ruhestörer im nächsten Hafen ohne Kostenerstattung an Land „ausgesetzt“ werden können. Durch die niedrige Lage der Kabine über dem Meeresspiegel waren hier auch kaum Rollbewegungen zu spüren.

Schnell duschte und rasierte sich auch Torsten Klarmann, um pünktlich sieben Uhr frühstücken zu können. Der Landausflug sollte neun Uhr beginnen. Die Zeit zwischen Frühstück und Ausflug wollten sie nutzen, um vom obersten Deck aus Fotos zu schießen und sich schon mal ein Bild von der Landschaft zu machen.

Beide waren begeistert: Ein paar kleine Wölkchen behinderten die Sicht nicht, da sie sehr hoch am Himmel schwebten. Rechts vom Teide vergoldete die Sonne das ganz ruhige Meer. Und drehten sie sich um, erblickten sie die bunten, am Berghang klebenden Häuser von San Sebastian. „Das sieht aus wie eine gomeranische Favela - aber deutlich schöner als in Brasilien“, meinte Torsten Klarmann zu seiner Frau. „Ja, hier sieht das alles viel freundlicher aus“, konnte diese seine Meinung bestätigen. Mit dem Fernglas konnte sie eine eingerüstete Christusstatue auf dem Berg oberhalb des kleinen Hafens erkennen. „Ist die aber mickrig“, fiel ihr Vergleich zu der bekannten Statue in Rio aus.


Da sich alle Teilnehmer „ihres“ Landausfluges um 8:45 Uhr an der Tanzfläche auf Deck 8 treffen sollten, mussten Klarmanns erst von Deck 4 die Treppen bis auf Deck 8 hinaufsteigen - an den Hafentagen konnte man zur Zeit des Beginns der Landausflüge nicht hoffen, einen der Lifte benutzen zu können. Als alle Teilnehmer zusammen waren, walzte sich die Menge durch das Treppenhaus wieder abwärts bis auf Deck 3 zur Schleuse. So ganz begriffen Klarmanns wohl nie, weshalb alle Ausflüge gleichzeitig beginnen mussten. Bei einer zeitlichen Versetzung von zehn oder fünfzehn Minuten wäre dann der Stau vor der Schleuse oder schon im Treppenhaus deutlich geringer. Und würden sich die Teilnehmer außerhalb des Schiffes treffen, könnte man einen Großteil dieser Menschenwalzen durch die Treppenhäuser vermeiden - AHOS wollte es aber nicht anders.


Am Bus wurden sie von der gomeranischen Reiseleiterin Elena und dem Busfahrer Rico begrüßt. Da Elena deutsch sprach, fuhr diesmal kein Guide von AHOS mit. Torsten und Gudrun fanden auf der rechten Seite eine Sitzreihe für sich. Doch mit der Abfahrt musste noch gewartet werden, da die Ehefrau eines Ausflugsteilnehmers immer noch nicht „eingetrudelt“ war. Als sie dann endlich den Bus bestieg, stupste Torsten Klarmann seine Angetraute leicht in die Seite: „Das ist doch eines der beiden Pärchen, das schon gestern Abend zur Seenotrettungsübung zu spät gekommen war. Kennen denn diese Deppen keine Uhr?“ Der Bus fuhr erst kurz durch San Sebastian und dann ging es auf Kehren schnell aufwärts in die Berge. La Gomera war, wie alle Kanareninseln, vulkanischen Ursprungs und dies war sehr schnell an den Bergformen und dem seit Millionen von Jahren erstarrten Ergussgestein zu sehen. Rico machte, wo es möglich war, immer wieder einen Stopp, um den Ausflugsteilnehmern die Möglichkeit zu geben, sich die Beine zu vertreten und zu fotografieren. Die Reiseleiterin Elena nutzte jeden Stopp zu einer Zigarette.

Über das Hermigua-Tal, das Klarmanns etwas an in einem Bildband gesehene Bilder von Hawaii erinnerte, ging es durch Agulo zum Mirador de Agulo. Dieser Aussichtspunkt lag oberhalb des Dorfes vor einem Tunnel mit fast klarem Blick zum Teide. Der höchste Berg Spaniens hatte nur eine kleine Bauchbinde aus Wolken. Die wenigsten drehten sich mal in die Gegenrichtung und legten den Kopf in den Nacken. Wer dies tat, konnte oberhalb auf dem Berg die gläserne Aussichtsplattform des Mirador de Abrante sehen - diese war aber nicht Ziel des heutigen Ausfluges.

Über den Nationalpark Garajonay und den Nebelwald bei La Laguna ging es wieder talabwärts. Einen letzten Stopp machte Rico am Roque de Agando, dem „Zuckerhut Europas“. Dieser gefiel den beiden besser als der echte Zuckerhut in Rio. Wahrscheinlich war es das rechts steil abfallende Tal, das ihn deutlich höher und wuchtiger aussehen ließ als das Original. Am liebsten hätten sich Klarmanns hier auf die Wiese gesetzt und mehrere Stunden die Aus- und Ansicht sowie die nur durch wenige Autos unterbrochene Ruhe genossen. Die Welt konnte so schön sein! Während sie noch schauten, stiegen die anderen Teilnehmer nach ein paar schnell geknipsten Bildern schon wieder in den Bus. Schade, dass dieses Glück so schnell schon zu Ende war. Solch ein Glücksgefühl konnten sie bei etwas Gekauftem nie empfinden, egal, wie wertvoll es sein sollte.

Im Bus stellte Torsten erst einmal die Lehne so weit wie möglich nach hinten - sein Rücken schmerzte wieder mal. Glücklicherweise war die Sitzreihe hinter ihnen leer, sodass keiner dadurch eingeengt wurde. Während die Implantate leicht nach vorn gebogen waren, hatte er versucht, sich beim Betrachten des Roque de Agando nach hinten zu beugen - gegen die Implantate. Das war eine Anstrengung, die sein Körper nicht ungestraft hinnahm. Aus diesem Grund hatte er auch mit seinem Arbeitgeber vereinbart, dass er sich bei Schmerzen auf die Nothilfeliege legen und den Rücken entspannen durfte - natürlich musste er vorher ausstempeln.


Wieder auf der „Atlantico“ angekommen, war nicht mehr viel Zeit zum Mittagessen. Erst danach zogen sie sich um, duschten und begaben sich auf Deck 11, um noch etwas Sonne zu tanken und diese wunderbare Aussicht genießen zu können. Doch schnell bedeckte sich der Himmel und ein leichter Nebel zog auf - der normale Nachmittagsnebel auf La Gomera.

Nach dem Kaffee wurde die Sicht wieder klarer und die immer weiter sinkende Sonne zauberte kräftige Schatten in die Steilküste links vom Teide. Zum Abendessen lief die „Atlantico“ schon aus und beide Inseln sollten schnell am Horizont verschwinden. Als es dunkel wurde, gingen Klarmanns in ihre Kabine und sahen sich die heute geschossenen Bilder und Videoclips mithilfe eines USB-Adapters am Fernsehgerät an. Gudrun war immer noch hoch begeistert: „Also diese Reise würde ich am liebsten noch mehrmals mit AHOS machen! Das Gomera hat mir äußerst gut gefallen, nur schade, dass es nicht auch bei den Einwochentouren mit den größeren Schiffen angelaufen wird. Und schade finde ich auch, dass wir hier nur so kurz waren. Ich glaube, dass es auf dieser Insel noch viele schöne Ecken zu sehen gibt.“ „Dann lass uns doch hier mal ein bis zwei Wochen Urlaub machen - ganz ohne Schiff“, schlug er vor. „Nein, auf diesen ‘Luxus’ möchte ich auch nicht mehr verzichten - ohne Überbuchung, eine relativ gute Sauberkeit, tolles Essen. Ich habe nicht vor, noch mit sechzig die Nacht am Strand zu verbringen, wie wir das 1994 auf Mallorca mussten, weil das Hotel überbucht war. Und vergiss nicht 1997, als uns das Hotel auf Gran Canaria zu viert in ein Zweibettzimmer stecken wollte, obwohl wir zwei Zweibettzimmer gebucht und bezahlt hatten - und deren Büfett war ja auch gerade so zum Überleben, verglichen mit dem, was uns AHOS bietet“, spöttelte sie. „Ich werde nur noch mit AHOS verreisen - wenn die nur mal ein paar neue Reiseziele anbieten würden; solche, die uns noch interessieren.“ „Das wäre?“, fragte er sie, obwohl er die Antwort schon jetzt kannte. „Na, die Pazifikküste von Alaska bis Chile, Neuseeland, die Südsee und Südafrika kann ich dir da gleich nennen.“ „Ich glaube nicht, dass die wenigstens einen Teil davon realisieren werden, solange wir noch reisefähig sind beziehungsweise das Geld noch dafür haben“, bezweifelte er die weitere Entwicklung. „Allerdings verstehe ich nicht so ganz, wie man ein Schiff ‘Pazifico’ taufen kann und es dann meist nur in Ost- und Nordsee kreuzt - der Name sollte doch Programm sein, genau wie bei der ‘Atlantico’!“, äußerte Gudrun nicht ganz so ernst gemeint.

Abends gingen sie noch an die AHOS-Bar, um vor dem Zubettgehen einen Cocktail zu trinken. Dort unterhielten sie sich mit einem Paar, das heute an einem anderen Ausflug teilgenommen hatte, und ließen sich deren Erlebnisse schildern.


Die beiden nächsten Tage waren sogenannte „Seetage“, also ohne Landausflüge. Während dieser beiden Tage trug die „Atlantico“ ihre Passagiere Richtung Süden zu den Kapverden. „Seetag“ bedeutete Frühstück, Mittag, Kaffee, Abendessen. Dazwischen das Sonnendeck zum Chillen oder „sich-selbst-grillen“, wenn man sich nicht eine der Informationsveranstaltungen zu den kommenden Landausflügen antat oder an einem Kurs teilnahm. Gudrun hätte eigentlich gern am Tanzkurs teilgenommen. Aber Torsten war ein totaler Tanzmuffel - nicht weil er nicht gern tanzen würde, sondern weil ihm der Rhythmus im Blut fehlte, wie er immer selbst sagte. Er befürchtete, Gudrun dabei mehr auf den Füßen herumzutrampeln. Seine Frau war nicht gerade schlank (das waren beide über dreißig Jahre lang gewesen, also kann man auch mal dreißig Jahre nicht ganz so schlank sein), hatte aber den Rhythmus und das Temperament einer Brasilianerin im Blut. Sag mal einer, dass vollschlanke Frauen nicht auch beweglich sein können! „Und beim Schimpfen hast du das Temperament einer Italienerin“, frotzelte er immer wieder gern. Da er dabei ständig so lausbübisch grinste, konnte sie ihm diese Feststellung nie übel nehmen - sie war ja auch berechtigt.

Als Klarmanns während des ersten Seetages auf dem Sonnendeck lagen, erzählte sie ihm schmunzelnd, was sich an ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub ereignet hatte: "Zur Mittagszeit war es, wie so oft, an den Kassen ziemlich voll - um diese Zeit gehen nicht nur die Arbeitenden sich schnell etwas zum Essen holen, sondern ich habe das Gefühl, dass zu dieser Zeit alle Rentner, Urlauber und Arbeitslosen im Supermarkt einkaufen müssen. Hinten in der Schlange an meiner Kasse stand ein Handwerker, der lautstark rief, dass alle heute nicht Arbeitenden gefälligst die arbeitende Bevölkerung vorlassen sollen - deren Mittagspause sei im Gegensatz zu der aller anderen stark begrenzt. Was meinst du, was dann los war?", lachte sie bei der Erinnerung daran. Torsten vermutete, dass der Handwerker vorgelassen worden war. "Überhaupt nicht, es brach eine Empörungswelle gegen ihn los mit dem Grundtenor, dass die Rentner und Urlauber einen vollen Terminkalender haben und deshalb die 'arbeitende Bevölkerung' nicht vorlassen können - da war etwas los! Und zwar so gewaltig, dass sich der Handwerker an einer anderen Kasse hinten anstellte, ohne nochmals seine Frage zu wiederholen." Torsten schmunzelte bei der Vorstellung über die 'Rentner-Revolte': "Und trotzdem empfinde ich das ebenso wie dieser Handwerker. Die Rentner und Urlauber müssen doch nicht genau dann einkaufen, wenn diejenigen, die ihre Rente verdienen, sich mittags etwas zu Essen holen möchten!"


Am zweiten Seetag nachmittags bemerkte sie, dass er ständig in die gleiche Richtung starrte. Dort lag ein etwa gut siebzigjähriges Paar. Musste sie da eifersüchtig werden? Sie schubste ihn an und fragte leise: „Was starrst Du denn die ganze Zeit auf die Frau im blauen Bikini? Gefällt sie dir?“ „So a Schmarrn, ich habe nur das Ergebnis ihres Gesichtsliftings beobachtet. Die Frau kann doch kaum noch grinsen, geschweige denn richtig lachen. Und die sehen alle so gleich aus, wie vom Fließband einer Fabrik“, wehrte er ihre aufkommende Eifersucht ab. „Soll ich mich auch liften lassen?“, fragte sie ihn. „Bloß nicht, ich liebe dich so, wie du bist!“ „Das hast du mir aber schon lange nicht mehr gesagt“, lächelte sie zurück. „Aber es ist doch so, dass ich immer mehr Falten bekomme und dieses glatte Gesicht sieht doch jung aus. Gefällt dir das nicht?“ „Dann schaue einfach mal auf ihren Hals und du weißt, wie alt die Alte wirklich ist!“ Er musste über seine eigene Formulierung grinsen. Nein, er wollte seine schon vorhandenen wie die noch dazukommenden Falten in Ehren tragen. Damit sah er garantiert nicht mehr so jugendlich im Gesicht aus, aber er hatte ein individuelles, sein eigenes, Gesicht. Das war ihm deutlich lieber. Von seiner Frau würde er auch nicht verlangen, sich für ihn unters Messer zu legen. Falten gehören nun mal zum Alter! Und was nutzt das jugendlichste Gesicht, wenn man am Hals aussieht, als würde man dort das gegerbte Leder einer Bergziege tragen. Oder die Vorstellung, dass ein jugendliches Gesicht einen Rollator vor sich herschieben würde! Er musste bei diesem Bild schon wieder innerlich grinsen. Außerdem würde er lieber mit einem faltigen Gesicht eine weitere Reise unternehmen, als mit einem glatten auf eine zu verzichten!


Am Morgen nach dem zweiten Seetag standen Klarmanns noch etwas eher auf, um die Einfahrt in den Hafen von Mindelo auf der kapverdischen Insel São Vicente mitzuerleben. Die „Atlantico“ befand sich schon zwischen den beiden, etwa zwölf Kilometer voneinander entfernten, Inseln São Vicente und Santo Antão im Kanal de São Vicente. Achtern war das Inselchen Ilhéu dos Pássaros, zwischen den beiden großen Inseln liegend, zu erkennen. Torsten Klarmann fotografierte das durch die Propeller aufgewühlte, hellblaue Wasser, das ansonsten zurzeit noch Grau aussah. Vor vier Jahren hatten sie sich zur Mittagszeit an dem türkisfarbenen Wasser erfreut.

Mit der „Atlantico“ fuhren sie gerade inmitten einer abgesoffenen Caldera herum, die Ilhéu dos Pássaros ist das Überbleibsel eines Vulkandomes. Mit einem hochseetüchtigen Schiff in einer Caldera herumfahren zu können, ist weltweit auch nicht an allzu vielen Stellen möglich. Die Europäern wohl bekannteste Möglichkeit dazu ist die Insel Santorin im Mittelmeer. Steuerbord lag der 490 Meter hohe „Monte Cara“ - der „Gesichtsberg“. Er sah wirklich aus wie ein liegendes Gesicht: die Stirn Richtung Santo Antão, das Kinn in Richtung Süden gerichtet. In Fahrtrichtung voraus war der höchste Berg von São Vicente, der 750 Meter hohe Monte Verde, zu sehen. Er schien direkt an die Hafenstadt Mindelo anzugrenzen. Hinter ihm färbte die aufgehende Sonne den Himmel durchgehend goldfarben. Vom Schiff aus betrachtet, hatte der Monte Verde auf der rechts abfallenden Seite eine fast kreisrunde Einbuchtung, durch die soeben die Sonne lugte. Der goldfarbene Himmel wurde in Richtung Sonne immer weißer, die ihre Strahlen durch die Einbuchtung am schwarz erscheinenden Monte Verde sandte. Reaktionsschnell hielt Torsten Klarmann diesen „goldenen“ Augenblick mit der Kamera fest. So etwas liebte er!


Klarmanns hatten für den heutigen Tag keinen Landausflug geplant. Auf die Spitze des Monte Verde kam man nicht, der angebotene Ausflug führte nur an dessen Nordseite etwas nach oben, von wo man auf Mindelo und den Hafen blicken konnte. Die Strecke führte hauptsächlich über Kopfsteinpflasterstraßen, die Torstens Implantaten nicht gerade gut tun würden. Da sie für den kommenden Tag die lange Tour über die ganze Insel Santiago geplant hatten, blieben sie an Bord - übrigens nicht als Einzige.

Morgens herrschte dann nach dem Start der organisierten Ausflüge eine fast unheimliche Ruhe auf dem Pooldeck - keine Animation, keine Beschallung. Die an Bord gebliebenen Passagiere nutzten die Möglichkeit, im kleinen Pool mal fast ungestört ein paar Schwimmzüge machen zu können, ohne gleich am nächsten Mitreisenden anzuecken.


Während die Passagiere, egal ob an Bord oder an Land, ihren Urlaub genossen, saß Friederike Oberndorfer in ihrem Büro auf Deck 6 und vervollständigte die Ausflugsplanung für den kommenden Tag. Gestern Abend war Verkaufsschluss für die Ausflüge auf Santiago. Dabei wurde mit 238 Passagieren ein neuer Verkaufsrekord für die Stadtbesichtigung in Praia erzielt. Heute Morgen hatte sie die offiziellen Teilnehmerzahlen an die einzelnen Veranstalter gemeldet und kurz danach die jeweilige Anzahl von Bussen und Reiseleitern erhalten. Sie musste ihre Mitarbeiter auf die Busse verteilen, aber es sollten auch ein paar an Bord bleiben für den Verkauf der kommenden Ausflüge. Auf alle Buchungen, die über das Internet bis spätestens eine Woche vor Reisebeginn erfolgten, erhielten die Passagiere drei Prozent Rabatt auf die Ausflugspreise. Trotzdem buchten die meisten erst hier an Bord. Lag das vielleicht an dem hohen Altersdurchschnitt bei dieser Reise, weil die Internet-Affinität bei dieser Gruppe deutlich niedriger lag? Oder bevorzugten die Passagiere hier das persönliche Gespräch mit den Guides, um einfach die Zeit totzuschlagen? Oder war der Vorteil einer Online-Buchung mit circa 1,50 Euro bei einem Durchschnittsausflug so gering, dass dies nicht als Alternative in Betracht gezogen wurde? Vor allem, wenn man den Gesamtreisepreis damit verglich. Friederike wusste es nicht und AHOS selbst hatte dazu auch noch keine Untersuchungen angestellt.

Sicherlich gab es mehrere Gäste-Arten: Die einen buchten möglichst schon alles im Voraus, um sicherzugehen, auch am gewünschten Ausflug teilnehmen zu können - die Anzahl der Ausflugsplätze war teilweise begrenzt wegen der limitierten Anzahl der Sitzplätze in den zur Verfügung stehen Bussen. Das sind meist diejenigen, die eine Kreuzfahrt nur dazu „missbrauchen“, um ohne ständiges Kofferpacken mehrere Orte sehen zu können. Die eigentliche Seefahrt sehen sie meist nur als notwendiges Übel an und lassen diese mehr oder weniger über sich ergehen - Ausnahmen bestätigen die Regel.

Die zweite Art ließ alles auf sich zukommen und hätte es am liebsten, sich erst fünf Minuten vor Ausflugsbeginn entscheiden zu müssen.

Und die dritte Art ließ sich gern ausführlich beraten und wollte während des Gespräches mit eigenen Erfahrungen prahlen. Diese dritte Gruppe buchte dann meist während der ersten drei Reisetage alle Ausflüge für die gesamte Reise.

Unter der Leitung von Friederike Oberndorfer war dazu übergegangen worden, am Ausflugstag bis eine Stunde vor Beginn der Ausflüge noch offene Plätze, die AHOS gebucht hatte und damit auch bezahlen musste, anzubieten. Dies kam einigen Reisenden, die der zweiten Gruppe zuzuordnen waren, sehr entgegen - und natürlich AHOS auch.

Unter einem anderen Gesichtspunkt betrachtet, konnte man die Passagiere ebenso in zwei große Gruppen einteilen: Reisen mit vielen Häfen wurden von Familien und Paaren bevorzugt. Bei Reisen mit vielen Seetagen war dagegen statistisch ein deutlich höherer Single-Anteil vertreten. Wahrscheinlich fanden die allein reisenden Passagiere die Seetage dafür prädestiniert, andere anzubaggern - der oder die Ausgewählte hatte ja kaum eine Chance, der Balzerei zu entkommen. Doch es war Vorsicht geboten, wer die Regeln des Anstandes überschritt, lief Gefahr, im nächsten Hafen ohne jeden Kostenausgleich ausgesetzt zu werden.


Mit fortschreitender Zeit änderte sich der Sonnenstand und damit die Farben - sie wurden immer kräftiger und intensiver.

Gegen Mittag kamen dann die ersten Ausflügler wieder zurück, es wurde wieder voller und lauter auf dem Schiff.

Kurz vor dem geplanten Auslaufen liefen viele Fischereikutter aus, für deren Besatzungen begann ein neuer Arbeitstag. Pünktlich um achtzehn Uhr, nicht lange nach dem Sonnenuntergang hinter dem Monte Cara, lief die „Atlantico“ mit Kurs auf die Insel Santiago aus. Es war wirklich eine „blaue Stunde“ - das Meer, die Hafenmauern und alle Gebäude von Mindelo leuchteten in einem fast unwirklichen Blau in den verschiedensten Helligkeiten, unterbrochen durch die gelben Flecken der Straßen- und Zimmerbeleuchtungen. Nur die Gischt im Fahrwasser der „Atlantico“ sah noch weiß aus.

Die Kostenvermeidungsdirektive

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