Читать книгу 1920er Jahre. 100 Seiten - Jens Wietschorke - Страница 6
Instabilität und Gewalt
ОглавлениеDer Weltkrieg von 1914 bis 1918 war der erste und einzige verlorene Krieg, den das deutsche Kaiserreich in den fast 50 Jahren seines Bestehens erlebt hatte. Speziell in Preußen konnten sich nicht einmal die Ältesten mehr an eine militärische Niederlage erinnern. Dementsprechend erhofften sich viele PatriotInnen bei Kriegsbeginn im Herbst 1914 ein grandioses Abenteuer. Doch spätestens in den furchtbaren Stellungskriegen an der Somme und vor Verdun wurden nicht nur die deutschen Truppen, sondern auch die nationalen Gewissheiten aufgerieben. Die Zinnsoldaten, mit denen die Kinder aus bürgerlichem Hause seit den glorreichen Gefechten von 1870/71 gespielt hatten, landeten entweder in der Metallabgabe für den Krieg oder auf dem Dachboden. Die deutschen Intellektuellen, die 1914 ihre Stunde kommen gesehen und vom »Augusterlebnis« geschwärmt hatten, waren bitter enttäuscht. Was zunächst als »Kulturkrieg« gefeiert worden war, hatte die Ermordung Hunderttausender Zivilisten, die Zerstörung der weltberühmten Leuvener Bibliothek und den Einsatz von Giftgas durch deutsche Truppen mit sich gebracht.
All das hatte eine zuvor unvorstellbare Brutalisierung in Gang gesetzt, die auch die unmittelbare Nachkriegszeit prägte. Viele Familien hatten ihre Väter verloren oder mussten sie als verstörte Kriegsheimkehrer betreuen. Was sollte nun kommen? Welche politische Ordnung ersetzte die Monarchie? Diese Frage betraf nicht nur das Deutsche Reich, sondern ebenso das habsburgische Kaiserreich Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und das russische Zarenreich, das bereits in der Februarrevolution 1917 untergegangen war. Überall war es zu entgrenzter Gewalt gekommen, am drastischsten in Russland und beim Genozid an den ArmenierInnen des Osmanischen Reiches. Überall waren die etablierten Ordnungen des 19. Jahrhunderts zerfallen und warteten darauf, durch neue ersetzt zu werden.
Überblickt man die europäische Staatenwelt um das Jahr 1919, dann hatte sich in wenigen Jahren enorm viel verändert. Während Europa bei Kriegsbeginn 1914 noch aus 17 Monarchien und 3 Republiken – nämlich Frankreich, Portugal und der Schweiz – bestanden hatte, fand man nun 13 Republiken und 13 Monarchien auf der Landkarte. Doch das, was sich einerseits als Siegeszug der demokratischen Staatsform beschreiben lässt, stellt sich andererseits als prekäre Balance von demokratischen und autoritären Regierungssystemen dar. Sämtliche Siegermächte rückten – mit Ausnahme Russlands – politisch nach rechts: In Frankreich, Großbritannien und den USA etablierten sich strikt konservative Regierungen; in Italien mündete die kurze sozialistische Periode des biennio rosso (dt.: ›die zwei roten Jahre‹) 1919/20 wenige Jahre später in die Machtübernahme durch Benito Mussolinis faschistische Bewegung. 1923 etablierte sich in Spanien die Militärdiktatur von Miguel Primo di Rivera; auch Ungarn unter Miklós Horthy und István Bethlen bewegte sich in Richtung eines streng autoritären Systems mit restaurativer Zielsetzung. Das wieder unabhängig gewordene Polen erlebte ab 1926 unter der Führung Józef Piłsudskis ebenfalls ein autoritäres Regime. Auf den Trümmern des Osmanischen Reiches etablierte Kemal Atatürk 1923 die Türkei als westlich orientierten, säkularen Nationalstaat, der aber – bei aller gesellschaftlichen Modernisierung – eher zur Diktatur als zur Demokratie neigte.
Als neue Weltmacht gingen die USA aus dem Ersten Weltkrieg hervor. Der Historiker Bernd Stöver hat das Jahr 1919 als den »Beginn des amerikanischen Jahrhunderts« bezeichnet. Mit ihrem Kriegseintritt kurz zuvor hatten sich die Vereinigten Staaten erstmals in die politischen Verhältnisse Europas eingemischt. Die Vierzehn Punkte, die Präsident Woodrow Wilson in diesem Zusammenhang formulierte, lieferten dazu das Programm. Demnach traten die USA nun auch außerhalb ihrer Grenzen an, »die Grundsätze von Frieden und Gerechtigkeit […] gegen eigensüchtige und autokratische Macht zu verteidigen«. Nach dem Krieg setzten sich die Amerikaner für eine milde Behandlung des Kriegsverlierers Deutschland ein, um der Weimarer Republik eine Chance zu geben. Während England und Frankreich zunächst nach den Grundsätzen Hang the Kaiser und Make Germany Pay vorgingen, plädierten die USA für wirtschaftlichen Aufbau. Der Dawes-Plan von 1924 regelte die Reparationszahlungen so, dass der Weimarer Republik genügend Luft zum Atmen blieb; der relative Boom der »Goldenen Zwanziger« von 1924 bis 1929 wäre anders nicht möglich gewesen.
Mit ihrer Deutschlandpolitik stiegen die Vereinigten Staaten auch zum kulturellen Leitbild und zum Inbegriff der Modernität auf. Rationalisierung, Massenproduktion, Konsumorientierung und die sprichwörtlichen »unbegrenzten Möglichkeiten« faszinierten die Deutschen quer durch die sozialen Klassen. Zudem brachte Hollywood ein internationales Flair in die deutschen Kinos. Schriftsteller der »Neuen Sachlichkeit« griffen bevorzugt Themen im American style auf. Das rief freilich auch die Kritiker auf den Plan. Der Schriftsteller Gottfried Benn schrieb als Antwort auf eine Umfrage:
Es gibt eine Gruppe von Dichtern, die glauben, sie hätten ein Gedicht verfaßt, indem sie ›manhattan‹ schreiben. Es gibt eine Gruppe von Dramatikern, die glauben, sie manifestierten das moderne Drama, wenn sie die Handlung in einem Blockhaus in Arizona spielen lassen und wenn eine Flasche Whisky auf dem Tisch steht.
Dank der kulturellen Vorbildfunktion der USA verbreitete sich indessen auch die spezifisch amerikanische Ideologie von Liberalismus, Leistung und Erfolg. Nach dem Ende der Monarchie wurde der »Selfmademan« auch in Deutschland zu einer Leitfigur, die das ökonomische Denken der 1920er Jahre mitbestimmte.
Doch zurück zur Politik: In Deutschland übernahm nach 1918 zunächst die politische Linke die Macht – gleich zu Beginn in Bayern, wo für kurze Zeit eine Räterepublik existierte. Auf Reichsebene war es die gemäßigte Sozialdemokratie unter Friedrich Ebert, die den Ton angab. Als Übergangskanzler und Reichspräsident führte Ebert zügig das allgemeine Wahlrecht, das Tarifvertragsrecht und den Achtstundentag ein. Andererseits setzte er entschieden auf die etablierten bürgerlichen Ordnungen, ließ die linksradikalen Aufstände der Spartakisten unter Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg niederschlagen und verschärfte damit die Spaltungen innerhalb der Linken. In Weimar wurde am 11. August 1919 eine neue, liberale und demokratische Verfassung verabschiedet. Von einer »Weimarer Republik« war allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre die Rede, als besagte Republik in die Krise geriet. Das verschaffte dieser Formulierung einen negativen Beiklang; für die Nationalsozialisten wurde »Weimar« dann erst recht zu einem politischen Feindbild.
Unsicherheit, Unordnung und Krise bestimmten das Lebensgefühl in der Weimarer Republik. Mehr als die Jahrzehnte des Kaiserreichs waren die 1920er Jahre denn auch eine Zeit ausgeprägter politischer Gewalt. Einer ganzen Gesellschaft steckte der Krieg in den Knochen, überall sah man Kriegsversehrte: nervenkranke, Menschen mit Prothesen oder entstellten Gesichtern. Der Brutalisierungsschub der Kriegszeit setzte sich mit den politischen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit fort. Und so kam die Republik vor allem in ihren ersten Jahren kaum zur Ruhe: Revolution und Straßenkämpfe, Kapp-Putsch, Aufstände in Oberschlesien und im Ruhrgebiet, »Deutscher Oktober« in Sachsen, Thüringen und Hamburg, Hitlerputsch, Ruhrkrise. Dazu kamen reihenweise politische Morde: der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der ehemalige Finanzminister Matthias Erzberger, der Publizist Maximilian Harden und Reichsaußenminister Walther Rathenau waren die prominentesten Opfer. Wenn der englische Journalist George Eric Rowe Gedye die frühe Weimarer Republik als Revolver Republic bezeichnete, so traf er dieses Gewaltszenario recht genau. Und nach einigen Jahren der relativen Ruhe setzten die Kämpfe infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 wieder ein: der berüchtigte »Blutmai« von 1931 in Berlin-Wedding ist nur eines von vielen Ereignissen.
Ihre ungeheure Spannung bezog die Zeit unter anderem daraus, dass immer die ganz große Frage im Raum stand: US-amerikanischer Liberalismus oder sowjetischer Kommunismus? Wer beides ablehnte, schloss sich vielleicht einer der deutschnationalen und rechtsextremen Bewegungen an, die sich zunehmend radikalisierten und die Reste des zerschlagenen Militärs um sich scharten. Die einen befürchteten, Berlin könnte wie Chicago werden, während die anderen eher Angst hatten, Berlin könnte wie Moskau werden. Beides stand, wenn auch in sehr unterschiedlicher Weise, für die Herausforderungen der modernen Massengesellschaft. Ob als kapitalistische Konsumgesellschaft oder als kommunistisches Kollektiv: Die »Masse« wurde zu einem der wichtigsten Schlagworte der Zeit. Der Filmkritiker Siegfried Kracauer sprach vom Ornament der Masse. Der Schriftsteller Elias Canetti begann Anfang der 1920er Jahre mit den umfangreichen Vorstudien zu seinem Buch Masse und Macht. Über seine Erfahrungen während der Demonstrationen am Wiener Justizpalast 1927 schreibt Canetti: »Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das, was sie unternahm.« Und auch der Spanier José Ortega y Gasset arbeitete an einer Abhandlung über das Problem der Masse: 1930 erschien La Rebelión de las Masas (Der Aufstand der Massen). Diese Bücher waren auch Reflexionen über einen alltäglichen Zustand: Überall traf man auf Menschen, in den Städten, den Häusern, den Hotels und Cafés, den Kinos, den Boulevards, den Sportstadien, den Stränden. Die breite Bevölkerung hatte sich ihre Freiräume erobert. Der 1918 endlich durchgesetzte Achtstundentag und die neuen Konsummöglichkeiten sorgten dafür, dass viel mehr Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen konnten, als es noch im Kaiserreich der Fall gewesen war. Und bald sollte das ausdrücklich auch für die Frauen gelten.
Wer der »Masse« partout nichts Positives abgewinnen konnte, redete lieber vom »Volk«. Dieser Begriff schien die Einheitssehnsüchte der Zeit zusammenzufassen: Das »Volk« war die geordnete, sozial gegliederte und von fremden Einflüssen gereinigte Masse, mehr Gemeinschaft als Gesellschaft. Als politisch enorm aufgeladene Begriffe geisterten »Volk« und »Masse« durch die Publizistik der Weimarer Republik, und wenn man die politisch-ideologischen Auseinandersetzungen der Zeit verstehen will, kommt man um diese beiden Konzepte nicht herum. Nicht zuletzt bereitete sich in diesem Spannungsfeld auch der Aufstieg der Nationalsozialisten vor, bei denen »Volk« und »Volksgemeinschaft« geradezu als religiöse Erlösungsformeln fungierten. In diesem politisch aufgeheizten Klima gewann die öffentliche Rede an Bedeutung – auch, weil sie ab Mitte der 1920er Jahre dank des Mikrofons und des Rundfunks viel größere Zuhörermengen erreichen konnte als zuvor. Während die politischen RednerInnen der Revolutionszeit 1918/19 noch regelrecht brüllen mussten, konnten Hitler und Goebbels später die Resonanzen des Lautsprechers für ihre Reden nutzen, was eine ganz andere Rhetorik und Dramaturgie ermöglichte.
Welche Generationen prägten die 1920er Jahre? Welchen Erfahrungshorizont hatten die jungen Leute, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf die Arbeitsmärkte drängten und sich ihren Platz in einer instabilen, verwilderten Gesellschaft suchen mussten? Was die Biographien der Männer betrifft, war da zunächst die Frontgeneration: Männer, die 1914 mit 20 oder 25 Jahren in den Krieg gezogen waren und nun zurückkehrten, um das überalterte Establishment des Kaiserreichs herauszufordern und ihren Anspruch auf die wichtigen Posten in der Gesellschaft geltend zu machen. Dann waren da aber auch noch die Jüngeren, die den Krieg nur von zu Hause aus erlebt hatten. Ernst Glaeser hat 1928 den definitiven Roman über diese Generation geschrieben und einen Sensationserfolg damit erzielt. In Jahrgang 1902 schildert Glaeser die Erfahrungen einer Jugend, deren Pubertät in die Kriegszeit 1914–1918 fiel. Für die Kriegsteilnahme waren sie zu jung, von den schlimmen »Kohlrübenwintern« 1916 und 1917, dem Elend, der Kriegsniederlage und dem Massensterben während der Spanischen Grippe wurden sie geprägt.
Die Angehörigen des Jahrgangs 1902 wurden 1920 18 Jahre alt. Sie gehörten zu denen, die fast aus dem Nichts heraus eine neue gesellschaftliche Ordnung aufbauen mussten, hatten aber beim Gerangel um Jobs oft das Nachsehen. Gleichzeitig mussten sie erst einmal den Bruch mit den Leitbildern ihrer wilhelminischen Kindheit verarbeiten: Als 12-Jährige hatten sie noch den Soldaten zugejubelt, die in Richtung Belgien und Frankreich abfuhren, vier Jahre später waren ihre naiven Kriegsträume geplatzt, ohne dass sie eigentlich dabei gewesen waren. Sie und die noch Jüngeren, in etwa die Jahrgänge 1900 bis 1910, bildeten die chancenlose Jugend der Weimarer Republik. Gesellschaftliche Stabilität kannten sie kaum; erwachsen wurden sie in einer Zeit permanenter Unsicherheit. Auch spätere NS-Verbrecher der ersten Reihe wie Reinhard Heydrich, Heinrich Himmler, Hans Frank, Adolf Eichmann und Odilo Globocnik gehörten zu dieser »verlorenen Generation«.
Die Generationserfahrungen der Frauen folgten in vielerlei Hinsicht der gleichen Logik. Viele Frauen der Kriegsgeneration rückten in neue Berufe und verantwortungsvollere öffentliche Positionen auf, als die wehrfähige männliche Bevölkerung ab 1914 eingezogen wurde, mussten aber nach Kriegsende wieder für die heimkehrenden Männer Platz machen. Die Chancenlosigkeit der nach 1900 Geborenen traf auch die Frauen, die dazu noch in vielen Fällen die Familie über Wasser halten sowie sich um Kinder und Geschwister kümmern mussten. Mehr aber als bei den Männern zeichneten sich die Konturen einer kommenden neuen Frauengeneration ab. Stellvertretend für viele schrieb die Journalistin und erfolgreiche Tennisspielerin Paula von Reznicek 1928:
Die Frau hat eine andere Stellung als früher, sie ist beruflich oder sportlich tätig, sie ist nicht mehr behütet, im Haushalt gefesselt, ihr Wissen, ihre Interessenssphären sind erweitert, sie ist Kamerad, Frau, Geliebte, Mutter in einer Person. Sie hat das Recht und die Sehnsucht nach mehr Freiheit als früher. Ob sie sie ausnutzt, und wie weit – ist ihre Sache.
Stand also die deutsche Gesellschaft nach dem Zusammenbruch der Monarchie vor einem kompletten Neuanfang? War 1918 eine »Stunde null«? Sicher nicht. Bei aller Faszination für den gesellschaftlichen und kulturellen Wandel darf man weder übersehen, dass schon die Zeit vor 1914 eine überaus dynamische Periode gewesen war, noch darf man die weitreichenden Kontinuitäten unterschätzen, die das Kaiserreich mit der Weimarer Republik verbinden. Das wird selbst an der Spitze der alten Gesellschaftsordnung deutlich, dem Adel. Zwar war das Ansehen der deutschen Adelsfamilien durch das Ende der Monarchie und das Abtreten der Hohenzollern stark beschädigt, allerdings konnten viele Adelige ihre Privilegien und Netzwerke durchaus in die neue Zeit hinüberretten. In Militär, Diplomatie, Politik und der höheren Verwaltung – also im Staatsdienst der Weimarer Republik – waren sie nahezu unverändert präsent, und auch ihren Landbesitz konnten sie in den meisten Fällen halten. Überhaupt blieb die soziale Struktur der deutschen Gesellschaft erstaunlich intakt. Schließlich wusste niemand, in welche Richtung das politische Pendel als Nächstes ausschlagen würde.
Kaiser Wilhelm II., der am 9. November 1918 überstürzt in die Niederlande ausgereist war, residierte unterdessen in Haus Doorn bei Utrecht, schimpfte über die »Saurepublik« und wartete noch lange auf die Gelegenheit, die Monarchie in Deutschland wiederherzustellen. Gemeinsam mit seinem Sohn, Kronprinz Wilhelm, war er der Auffassung, dass zunächst »ein Diktator den Karren aus dem Dreck ziehen« müsse, bevor die Hohenzollern wieder als Monarchen herrschen könnten. Der alte Kaiser und das rechtskonservative Establishment der Republik – allen voran der ab 1925 amtierende Reichspräsident Hindenburg – sahen daher in aller Ruhe zu, wie die Nationalsozialisten immer mehr an Zuspruch gewannen. Und sie vertraten 1933 die fatale Auffassung, dass ein Reichskanzler Hitler ihrer Sache mehr dienen würde als eine Fortsetzung der prekären Koalitionspolitik der frühen 1930er Jahre.