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„Edle Einfalt, stille Größe“
ОглавлениеJohann Joachim Winckelmann und seine Zeit
„Ich leuchtung schreibe unserer von DingenNation, die und zur zum Erguten Geschmack beitragen, und nicht Sachen, die bloß Gelehrsamkeit betreffen.“ Diese Worte charakterisieren in vorher nicht bekannter Klarheit einen Wandel in der Beschäftigung mit der antiken Kunst. Der dies schrieb, war Johann Joachim Winckelmann (1717–1768; Abb. 14). Mit ihm betritt die Archäologie die Bühne der Wissenschaft.
Am Beginn der wissenschaftlich betriebenen Archäologie steht also ein Paradigmenwechsel, der letztlich bis heute das Gesicht des Faches bestimmt. Es ist derjenige vom Antiquar zum Archäologen. Der französische Mediziner Jacques Spon (1647– 1685) ersetzte zwar als Erster in seinen Miscellanea eruditae antiquitatis aus dem Jahre 1685 den Begriff antiquaria durch archaeologia, den eigentlichen Wendepunkt bildet jedoch erst das Wirken Johann Joachim Winckelmanns. Auch er ist in seinen unterschiedlichen Tätigkeiten durchaus noch der antiquarischen Mentalität verpflichtet; in seinen Schriften jedoch ist der neue Ansatz deutlich artikuliert.
Eine Bilderbuchkarriere mit jähem Ende
Winckelmanns Biographie ist das Muster einer steilen Karriere. Als Sohn eines Schuhmachers aus Stendal nutzte er als Chorschüler die Möglichkeit, die alten Sprachen und später Theologie und Geschichte zu studieren. Nach einer längeren Tätigkeit als Hoflehrer wurde er Bibliothekar des Reichsgrafen Bünau in Nöthnitz bei Dresden. Die Nähe Dresdens mit seinen internationalen Kontakten, v. a. nach Italien, und die dortige Gemäldesammlung führten ihn schließlich zur Beschäftigung mit antiken Denkmälern.
Der entscheidende Schritt jedoch war seine Übersiedlung nach Rom im Jahre 1755. Hier entstanden auch die meisten seiner Schriften. Sein wissenschaftlicher Werdegang war aufs Engste mit der Person des Kardinals Albani (1692–1779) verknüpft; in ihm fand Winckelmann für die nächsten Jahre einen verlässlichen Gönner und Förderer. Wie eng das Verhältnis der beiden war, bezeugen eine Reihe von Briefen Winckelmanns an Freunde in der Heimat. Zunächst war er für den Kardinal als Bibliothekar tätig und kümmerte sich in dieser Funktion um dessen zu großen Teilen von Papst Clemens XI. gestiftete Privatbibliothek sowie um die Antikensammlung Albanis, die schon damals zu den bedeutendsten in Rom gehörte.
Nach der Fertigstellung der Villa Albani an der Via Salaria im Jahre 1760, die auch die Antikensammlung des Kardinals beherbergen sollte, war Winckelmann für die adäquate Ausstattung des Komplexes zuständig. Den Gipfel seiner archäologischen Karriere erreichte er, als am 30. März 1763 der Präsident der Altertümer von Rom, Abt Ridolfino Venuti (1705–1763), starb und er selbst als dessen Nachfolger zum päpstlichen Antiquar avancierte. Er war nunmehr Kommissar der Altertümer von Rom. Dieses Amt bedeutete zuallererst Einfluss, denn zu seinen Zuständigkeiten gehörte u. a. auch die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Antiken. Darüber hinaus hatte er die Kontrolle über Fundorte der Tiberstadt. Zusätzlich zu diesem Amt erhielt Winckelmann auf Betreiben Albanis 1763 den Posten des für die deutsche Sprache zuständigen Bibliotheksschreibers und im folgenden Jahr zusätzlich die Zuständigkeit für die griechischsprachigen Werke.
Neben den Tätigkeiten im Auftrage des Vatikans studierte er intensiv die Denkmäler der Stadt und die bedeutenden Sammlungen in den Adelspalästen Roms. Ebenso intensiv waren auch seine Kontakte zur Kunstszene der Stadt, v. a. zu den deutschsprachigen Malern Anton Raphael Mengs (1728–1779) und Angelika Kauffmann (1741–1807) sowie dem Bildhauer und Antikenrestaurator Bartolomeo Cavaceppi (1716–1799), von denen er zahllose Anregungen für sein Studium der Antiken erhielt. Von besonderer Bedeutung für Winckelmann war schließlich auch ein bedeutender Sammler, mit dem er in regem Briefkontakt stand: Baron Philipp von Stosch (1692–1757). Für die Altertumswissenschaft spielte Stosch eine ähnliche Rolle wie 100 Jahre zuvor Nicolas Fabri de Peiresc; er selbst veröffentlichte wenig, hielt aber über eine umfangreiche Korrespondenz die Fäden in der Hand. Für Stosch bearbeitete Winckelmann dessen umfangreiche Gemmensammlung, deren Ergebnisse erst nach dessen Tod zur Publikation gelangten.
Winckelmanns Wirken in Rom und seine Publikationen strahlten weit über die gebildeten Kreise aus, und so wurde er in zahlreiche Akademien Europas aufgenommen, wie z. B. die „Accademia di San Luca“ in Rom, die „Accademia Etrusca“ in Cortona oder die „Society of Antiquaries of London“.
1755 erschien sein erstes Hauptwerk, die Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerei – ganz im Sinne der Aufklärung eine Abrechnung mit der Kunst und Gesellschaft des Barockzeitalters. So untrennbar die „Geburt der modernen Archäologie“ mit dem Namen Winckelmann verbunden ist, so sehr ist sein Wirken ohne die Aufklärung nicht denkbar. Er stand in regem Kontakt zu den führenden Gelehrten seiner Zeit und beeinflusste z. T. maßgeblich so bedeutende Literaten wie Lessing, Goethe oder Herder. Mit seinen Publikationen belebte er die Diskussion um das Verhältnis von Bildender Kunst und Dichtung – und er rückte die antiken Objekte als Kunstwerke ihrer Zeit, gewissermaßen als Zeugen, ins Zentrum der Betrachtung. Dabei leitete ihn, wie viele seiner Zeitgenossen, das Ideal der absoluten Schönheit. An diesem Ideal maß er auch die Werke der Antike (s. Info).
In seinen Schriften, v. a. in seiner Geschichte der Kunst des Altertums aus dem Jahre 1764, entwickelt Winckelmann die Idee einer Kunstgeschichte, die das einzelne Werk in den Zusammenhang einer fortlaufenden, „historischen“ Entwicklung stellt. Konsequent teilt er die griechisch-römische Kunst in aufeinanderfolgende Stilstufen ein: den „älteren Stil“, in heutiger Terminologie Archaik und Strenger Stil, den „hohen Stil“ mit seinen Exponenten Phidias und Polyklet, den „schönen Stil“ und den „Stil der Nachahmer“, unter dem alle folgenden Phasen bis zum Ende der römischen Kaiserzeit subsumiert werden. So überholt diese wertende Periodisierung mit ihrer biologistischen Konzeption von Geburt, Blüte und Verfall heute auch ist, sie wirkt in den Epochenbegriffen wie Archaik oder Klassik immer noch nach.
Abb. 14: Johann Joachim Winckelmann. Gemälde von Anton von Maron, geschaffen in Winckelmanns Todesjahr: 1786.
Zu den Leistungen Winckelmanns gehört auch, dass er für die Betrachtung antiker Kunst Kriterien entwickelte, die nicht nur der unmittelbaren Nutzbarmachung der Kunstwerke für das Repräsentationsbedürfnis der Adelshöfe dienten. In ihrer Breitenwirkung nicht zu unterschätzen sind schließlich auch die Publikation bislang unpublizierter Stücke in Monumenti antichi inediti (1767) oder die Bekanntmachung der Grabungsergebnisse aus den Vesuvstädten in dem Sendschreiben von den Herculanischen Entdeckungen (1762) und den Nachrichten von den neuesten Herculanischen Entdeckungen (1764).
Im Jahr des Erscheinens der Nachrichten wurde Herculaneum schon seit 26 Jahren und Pompeji seit immerhin 16 Jahren intensiv erforscht, seit 1755 bestand die archäologische Gesellschaft der „Accademia degli Ercolanei“. Die Reisen von Rom aus in den Süden gehörten zum regelmäßigen Programm Winckelmanns. Hier konnte er in ungestörter Umgebung seine Kenntnisse der beiden Vesuvstädte vertiefen und auch originale Zeugnisse griechischer Architektur wie die Tempel von Paestum entdecken (Abb. 15). Auf seiner ersten Reise allerdings lag sein Augenmerk neben den Skulpturenfunden auf den im Oktober 1752 entdeckten Herculanischen Papyri. In seinem Sendschreiben berichtet er jedoch hauptsächlich über die Technik der Entrollung der verkohlten Dokumente und weniger über ihren Inhalt, eine Reihe von Abhandlungen eines epikureischen Philosophen namens Philodemos.
Zu Winckelmanns schnellem Aufstieg passt auch sein jäher Tod. Auf der Rückreise von Regensburg über Wien nach Rom wurde er am 8. Juni 1768 in Triest das Opfer eines grausamen Mordes. Der Täter, Francesco Arcangeli, ein wegen Diebstahls vorbestrafter Koch, wurde bald nach der Tat gefasst und am 20. Juli 1768 hingerichtet. Es scheint wie eine Ironie des Schicksals, dass der Auslöser für diese Gewalttat kostbare Münzen waren, die Winckelmann seinem Mörder voller Stolz präsentierte.
Die Beschreibung, die Winckelmann in den 1755 entstandenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst von der Laokoongruppe gibt, zeigt in ihrer intensiven Sprache die neue Herangehensweise an die antiken Bildwerke:
„Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt und eine stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, ebenso zeigt der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele. Diese Seele schildert sich in dem Gesichte des Laokoon, und nicht in dem Gesichte allein, bei dem heftigsten Leiden. Der Schmerz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Körpers entdeckt und den man ganz allein, ohne das Gesicht und andere Teile zu betrachten, an dem schmerzlich eingezogenen Unterleibe beinahe selbst zu empfinden glaubt: dieser Schmerz, sage ich, äußert sich dennoch mit keiner Wut in dem Gesichte und in der ganzen Stellung. Er erhebt kein schreckliches Geschrei, wie Virgil von seinem Laokoon singt. Die Öffnung des Mundes gestattet es nicht; es ist vielmehr ein ängstliches und beklemmtes Seufzen, wie es Sadolet beschreibt. Der Schmerz des Körpers und die Größe der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen. Laokoon leidet, aber er leidet wie des Sophokles Philoktetes: sein Elend geht uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser große Mann das Elend ertragen zu können.“
Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, zitiert nach:
Winckelmanns Werke in einem Band [Berlin/Weimar 1969] 18.
Beinahe ein halbes Jahrhundert später erinnert sich Goethe in seinem Werk Dichtung und Wahrheit (1812) an den Vorfall und legt gleichsam einen Grundstein für die „Heroisierung“ Winckelmanns: „Dieser ungeheure Vorfall tat eine ungeheure Wirkung, es war ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und sein frühzeitiger Tod schärfte die Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens. Ja vielleicht wäre die Wirkung seiner Tätigkeit, wenn er sie auch bis in ein höheres Alter fortgesetzt hätte, nicht so groß gewesen, als sie jetzt werden mußte, da er, wie mehrere außerordentliche Menschen, auch noch durch ein seltsames und widerliches Ende vom Schicksal ausgezeichnet worden.“
Der Tod hielt Winckelmann davon ab, ein Ziel zu erreichen, das er für das Jahr 1768 geplant hatte: Eine Reise ins antike Olympia, von der er sich augenscheinlich viel versprach (s. Info im Kasten oben).
Keine Theorie aus dem Nichts
Winckelmann schrieb seine Traktate nicht im luftleeren Raum. Zahlreiche seiner Entwürfe und Annahmen waren bereits von anderen vorformuliert, viele der einzelnen Beobachtungen und Wertungen getan. Selbst Formeln wie die von der „edlen Einfalt und stillen Größe“ finden sich etwa als solemnity and simplicity in den Arbeiten von Anthony Ashley Cooper Shaftesbury (1671–1713) oder als noble simplicity bei Jonathan Richardson (1665– 1745), den Winckelmann nachgewiesenermaßen gelesen und exzerpiert hat. Und auch die Auswahl der seiner Theorie zugrunde gelegten Musterbeispiele waren diejenigen, die schon seit Jahrhunderten oder zumindest seit Jahrzehnten die Geister bewegten.
Winckelmanns Leistungen sind zudem ohne das Wirken von Anne Claude Philippe de Tubières, Graf von Caylus (1692– 1765) nicht denkbar. Genau besehen, bildet sich in dessen Person die Übergangsphase vom Antiquar zum Archäologen ab. Graf Caylus sammelte nicht nur Kunstwerke, er unterstützte auch die Vorhaben von Künstlern, die auf ihren Reisen nach Griechenland (Jules David le Roy) und ins süditalienische Paestum (Hubert Robert) den dortigen archäologischen Bestand dokumentieren wollten. Die Universalität von Caylus zeigt sich in seinem siebenbändigen Werk Récueil d’antiquités égyptiennes, étrusques, romaines et gauloises, das 1752–1768 erschien. Die Publikation ist zwar noch zu den typischen antiquarischen Schriften zu rechnen, in der breiten Anlage durchaus mit denen eines Montfaucon vergleichbar, doch zeigt das Interesse des Grafen für Material und Technik der untersuchten Kunstwerke, dass er sich auch theoretisch mit ihnen auseinanderzusetzen begann. Von entscheidender Bedeutung aber war, dass er sich dem Diktat der Schriftquellen entzog: „Je mehr ich lese, desto weniger kann ich mithilfe der Autoren in Bezug auf die Künste Sicherheit gewinnen. Man muss in der Tat die Werke sehen, um über sie zu sprechen, und über eine sehr solide und ganz gesicherte Kenntnis verfügen, um über sie zu schreiben“ (nach: Samuel Rocheblave, Essai sur le comte de Caylus [1889] 274).
Trotz zahlreicher Unschärfen und Fehler in seinen Ausführungen, die ihm bisweilen von Kritikern vorgehalten wurden, gebührt ihm der Verdienst, auf die stilistischen Eigenheiten v. a. der griechischen Kunstwerke hingewiesen und dadurch gewissermaßen erst den Weg für die theoretischen Grundlegungen Winckelmanns freigeräumt zu haben. Und obwohl sich Winckelmann und Caylus nie getroffen haben, ist die wechselseitige Befruchtung mit Händen greifbar. So schrieb Winckelmann in einem Brief: „Ihm gehört zuerst der Ruhm, in das Wesentliche des Stiles eingedrungen zu sein“ (nach: Carl Justi, Winckelmann und seine Zeitgenossen, Bd. 2 [Leipzig 1898] 290). Anders als Winckelmann beschäftigte sich Caylus aber nicht mit den opera nobilia. Vielmehr beschränkte er sich – im Gegensatz zu der in den vorhergehenden antiquarischen Sammelwerken gebräuchlichen Vorgehensweise – auf die Untersuchung ihm persönlich vorliegender Originale.
Allgemein ist die Kenntnis der Publikationen der jeweiligen Kollegen und Konkurrenten vorauszusetzen, entweder durch direkten Kontakt wie etwa im Rahmen der römischen Gesellschaft, über intensive Korrespondenz oder wie im Falle von Graf Caylus über die Lektüre der jeweiligen Publikationen: trotz aller Distanz eine erlesene Gesellschaft von Connaisseuren im Diskurs!
Ein wesentlicher Unterschied zu den meisten seiner Vorgänger bestand letztlich darin, dass Winckelmann das Kunstwerk, das er betrachtete, von seinem Schöpfer löste. Dabei machte er sich nicht nur frei von den antiken Quellen, er emanzipierte den Gegenstand völlig, um ihn objektiver beurteilen zu können. Selbst in dem von emphatischen Passagen durchzogenen Hauptwerk Geschichte der Kunst des Altertums beziehen sich konsequent Lob und Tadel nicht auf den Künstler, sondern auf das Kunstwerk. Ein ebenso bedeutender Unterschied, auch gegenüber Caylus, bestand in der Etablierung des Stils als Schlüssel für das Verständnis der antiken Kunst – und nicht nur als technisches Instrument zu ihrer Einordnung. Dieser Begriff ersetzte mit der Zeit den bis dahin gebräuchlichen des „Geschmacks“, selbst wenn er ihm inhaltlich weitgehend entsprach. Im Zusammenhang dieser begrifflichen Schärfung lässt sich Winckelmann durchaus aus der Welt der philologischen Gelehrsamkeit herauslösen.
Abb. 15: Zu den wenigen griechischen Originalen, die Winckelmann in seinem Leben gesehen hat, gehören die außergewöhnlich gut erhaltenen Tempel von Paestum. In seinen Anmerkungen über die Baukunst der Alten hat Winckelmann diese ausführlich beschrieben und auf sie seine Ausführungen zur griechischen Architektur gestützt.
Winckelmanns Wirkung
Winckelmann schrieb zu einer Zeit, in der die Erforschung der antiken Kunst sich hauptsächlich auf literarische Quellen berief. Für viele Zeitgenossen mussten seine neuen, auf das Bild orientierten Konzepte wie eine Befreiung wirken. In seiner Abhandlung von der Fähigkeit der Empfindung des Schönen in der Kunst und dem Unterrichte in derselben formulierte er die Notwendigkeit der Abkehr von der schieren Gelehrsamkeit früherer Zeiten denn auch folgendermaßen: „Die sich durch bloße Gelehrsamkeit in den Altertümern bekannt gemacht haben, sind auch derselben weiter nicht kundig geworden“ (nach: Winckelmanns Werke in einem Band [Berlin/Weimar 1969] 142). An ihre Stelle tritt der „Enthusiasmus“. Neben den unausweichlichen sachlichen Korrekturen, die Winckelmanns Ausführungen an einzelnen Punkten erfahren mussten, war es v. a. dieser „Enthusiasmus“, der bei den Zeitgenossen und Nachfolgern oftmals der Stein des Anstoßes war. Christian Gottlob Heyne (1729–1812), Professor für Poesie und Beredsamkeit in Göttingen, forderte im Hinblick auf den lässigen Umgang mit den Quellen „mehr Wissenschaftlichkeit statt Enthusiasmus“ (s. Info im Kasten unten).
Die Ausstrahlung Winckelmanns reichte über die Kreise derer hinaus, die sich mit dem Altertum beschäftigten. Er war weit mehr als ein bloßer Kunstgelehrter, denn er erhob den Begriff des Klassischen auf eine neue Stufe: Aus den Bildwerken der Griechen zu lernen, hieß fürs Leben zu lernen. Gerade hierin bestand der Unterschied etwa zur Haltung der Renaissancegelehrten. Es handelte sich nicht mehr um eine Entdeckung, sondern um eine Idealisierung der griechischen Antike, die sich in dem gern zitierten Diktum von der „edlen Einfalt, stillen Größe“ widerspiegelt. Sie ist das unerreichbare Ziel, an dem sich alles messen lassen musste.
Die Vorbildfunktion der griechischen Kultur nahmen viele Zeitgenossen Winckelmanns als gegeben hin. An einem der bedeutendsten Werke, der 1506 wiederentdeckten Laokoon-Gruppe, konnte sich nach der geradezu hymnischen Beschreibung durch Winckelmann in den Gedanken zur Nachahmung in Deutschland eine kunsttheoretische Diskussion über die Ästhetik entspinnen. Interessanterweise hat Winckelmann just dieses Werk um Jahrhunderte falsch datiert.
In rascher Folge meldeten sich Befürworter wie Gegner zu Wort. Am Deutlichsten setzte sich Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) von den Ideen Winckelmanns ab. In der 1766 erschienenen Schrift Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie polemisiert er gegen die etablierte Auffassung, nach der ein literarisches Thema nur dann als schön gelte, wenn es auch in der Bildenden Kunst umgesetzt werden könne. Lessings Laokoon wiederum wird von Johann Gottfried von Herder (1744–1803) im Ersten kritischen Wäldchen von 1769 kritisch behandelt. An die erneute Interpretation der Laokoon-Gruppe in Johann Jacob Wilhelm Heinses (1746–1803) Ardinghello schlossen sich bis weit ins 19. Jh. zahlreiche Deutungen von Archäologen, Philologen, Literaten und Malern an, darunter u. a. Goethe, Heyne, Friedrich Gottlieb Welcker (1784–1868), Heinrich Brunn (1822–1894) oder Anselm Feuerbach (1829–1880).
Der Göttinger Rhetorikprofessor Christian Gottlob Heyne zählte zu den entschiedenen Kritikern von Winckelmanns Vorgehensweise. Für ihn als philologisch orientiertem Altertumswissenschaftler besaßen die schriftlichen Zeugnisse der Antike deutlichen Vorrang vor den Kunstwerken:
„Dass es der winckelmannischen Geschichte der Kunst des Alterthums, so ein klassisches Buch sie sonst ist, an historischer Richtigkeit fehlet, bemerkte man freylich in der ersten berauschenden Bewunderung nicht ... Im winckelmannischen Werke ist, wegen der unzähligen Unrichtigkeiten in großen und kleinen Sachen nicht nur der ganze historische Teil so gut als unbrauchbar, sondern auch in dem Übrigen läßt sich auf seine Kunstbestimmungen, Feststellungen von Stilen, Epochen und Perioden, und die denselben zufolge gefaßten Urtheile über alle Kunstwerke und ihre Meister, ohne vorgängige genaue Prüfung seiner Behauptung, wenig rechnen ... Mehr als einmal setzte Winckelmann erst seine Einbildungskraft in Arbeit, um den Stil eines Zeitalters oder Künstlers zu erfinden und wahrscheinlich zu machen; dann leitete er daraus Urtheile für die ganze Zeitgeschichte ab, und setzte sie als Grundsätze nieder, aus denen er eine Menge andre Dinge wiederum ableitete.“
Christian Gottlob Heyne, Über die Künstlerepochen beym Plinius, in:
ders., Sammlung antiquarischer Aufsätze, Bd. 1 (1778), 165–167.
Abb. 16: Der Apoll von Belvedere wurde in römischer Zeit gerne rezipiert. Die Marmorkopie eines griechischen Bronzeoriginals von 350–325 v. Chr. galt seit Winckelmann als das Idealbild der griechischen Klassik. Entsprechend oft wurden in der Neuzeit Kopien, wie diese in einem Park in Sankt Petersburg, auch zur Gestaltung von Interieurs und Außenanlagen verwendet.
Der Streit um die Vorrangstellung eines der beiden Medien Text und Bild spielte nicht nur in der ästhetischen Theorie, sondern auch in der Diskussion um die Objektivierung möglicher Erkenntnisse in der Folgezeit eine gewichtige Rolle.
Insgesamt ist der Erfolg der Schriften Winckelmanns aber nur verständlich vor dem Hintergrund der Aufklärung. Sie verstärkte den ohnehin in Deutschland vorhandenen Hang zum antiken Griechenland, der im Klassizismus seinen Höhepunkt erreichte. Die politischen Implikationen seiner Idealisierung der Kulturleistungen der Griechen indes – wie z. B. die Idee der Freiheit – trafen mit wenigen Ausnahmen kaum auf Resonanz, selbst wenn sie durchaus in den Debatten des ausgehenden 18. Jhs. ihren Ort hatten.
Die Rezeption Winckelmanns in Kreisen, die sich nicht hauptberuflich mit der Archäologie beschäftigten, war wie gesehen v. a. in der sog. Weimarer Klassik ausgesprochen intensiv. Archäologie im engeren Sinne war zu Winckelmanns Lebzeiten noch nicht zu einer eigenständigen Forschungsdisziplin an den Universitäten geworden. Wie stark sich aber z. B. die Konzeption der Stilstufen auch im alltäglichen Umgang durchgesetzt hatte, zeigt eine Notiz in der Italienischen Reise Johann Wolfgang Goethes (1749–1832) zum 3. Mai 1787: „Ich lernte wieder und half mir an jenem dauerhaften Winckelmannischen Faden, der uns durch die verschiedenen Kunstepochen durchleitet, so ziemlich hin.“ (Abb. 16)