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Geleitwort zur deutschen Übersetzung
ОглавлениеUnsere niederländischen Nachbarn sind uns in vielen Entwicklungen einige Jahre voraus. Lange, bevor hierzulande der Name Thilo Sarrazin in der Öffentlichkeit bekannt wurde, löste dort schon zu Beginn des neuen Jahrtausends der Soziologe Paul Scheffer mit seinem Essay Das multikulturelle Drama eine Debatte über das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft aus. Der Mord am Filmemacher Theo van Gogh im November 2004 durch den Islamisten Mohammed Bouyeri richtete das Interesse der Öffentlichkeit tiefgreifend und nachhaltig auf die Ideologie des Islams aus, aber auch auf das Selbstverständnis der Niederländer. Diese Auseinandersetzungen führten zu politischen Veränderungen und Weichenstellungen in der Einwanderungspolitik. Sie führten zur weltweiteren Bekanntheit der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali und nicht zuletzt zum Erfolg von Geert Wilders und seiner Partei für die Freiheit (PVV).
In Deutschland hingegen müssen wir selbst knapp zwei Jahre nach dem Erscheinen von Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab resigniert feststellen, dass sich auf politischer Ebene gar nichts geändert hat. Im Gegenteil, viele Bürger nehmen große gesellschaftliche Tabus wahr, insbesondere wenn es um das Thema Islam oder die Integration von Zugewanderten geht.
Auch in der Einstellung gegenüber dem eigenen Volk ist die niederländische Politik einen ganzen Schritt weiter, als die deutsche. Denn als im Juni 2005 der Vertrag über eine Verfassung für Europa ratifiziert werden sollte, fragte die Regierung in Den Haag einfach ihre Bürger. Die Niederländer wiesen in diesem ersten Referendum seit über 1.200 Jahren die europäische Verfassung aufs Deutlichste zurück: Bei einer Wahlbeteiligung von fast 63 Prozent sprachen sich 61,6 Prozent dagegen aus. Das Parlament war so weise, der Volksbefragung zu folgen, auch wenn diese rechtlich nicht verbindlich war.
In Deutschland ist so etwas leider immer noch unvorstellbar. Bundesweite Volksentscheide werden von der herrschenden Politiker-Kaste rigoros abgelehnt. Stattdessen wird im ständigen Hin und Her entschieden: Gestern noch wurden die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert, heute schon werden die AKWs ganz abgeschaltet, weil irgendwo in Japan ein Unglück passiert ist. Gestern gehörte noch der Islam zu Deutschland, heute schon wird Multikulti für gescheitert erklärt. Gestern führte man den Euro ein, heute schon müssen Länder wie Griechenland auf Kosten ganzer Generationen europäischer Steuerzahler gerettet werden. Nach seiner Meinung wird das deutsche Volk dabei nie gefragt. Es darf nur alle vier Jahre an die Urne treten, um sein Kreuz beliebig bei einer der gleichförmigen Parteien zu setzen.
Aus den Niederlanden erreicht uns nun der vorliegende Beitrag zu einer Debatte über die Grundwerte unserer Demokratie. Einer Debatte, die wir immer und immer wieder führen müssen, wenn wir nicht in alten Strukturen ersticken wollen. Jeroen Zandberg legt mit Die Politik der Freiheit einen streitbaren Essay vor, der uns vor allem an die grundsätzlichen Bedeutungen und Funktionen der Politik im Allgemeinen und der Demokratie im Besonderen erinnert.
Es ist wohl insbesondere seiner niederländischen Perspektive zu verdanken, dass Zandberg mit einem unverkrampften Blick all jene Annahmen hinterfragt, die uns so selbstverständlich erscheinen. Dem Leser wird schnell klar, dass er vieles nur für wahr gehalten hat, weil es ihm jahrzehntelang eingetrichtert wurde. Aus Ideologien wurden so vermeintliche Wahrheiten. Auf der anderen Seite scheut es Zandberg nicht, auch sehr negativ besetzte Begriffe wie etwa den Nationalismus anzufassen und ihre eigentliche Bedeutung zu beleuchten.
So demaskiert der Autor z.B. die linker Ideologie entspringende Idee, dass Vielfalt ein Wert an sich sei und dass gesellschaftliche Vielfalt einen Mehrwert schaffe. Wissenschaftliche Belege gibt es dafür zumindest nicht. Im Gegenteil: Kreativität findet sich vor allem in homogenen Kulturen wie Japan, zu viel Differenz innerhalb einer Organisation oder auch eines Staates führt zu Ineffizienz und letztlich gibt es oft nur eine beschränkte Zahl von Lösungswegen für Probleme, argumentiert der Autor.
Vor allem aber zeigt uns Zandberg, dass wir das seit der Aufklärung geltende Prinzip der Individualität als Basis aller Politik vergessen haben. Stattdessen denken wir in der Folge linker Ideologie immer in Gruppenzugehörigkeiten, ein sozialwissenschaftliches Konstrukt, das die Linken selbst wieder in Form der Vorurteilsforschung angreifen. Dadurch verlieren wir aber den Menschen und seine Bedürfnisse selbst aus dem Blick. Dies ist auch deswegen fatal, weil der Staat eigentlich nicht mit Gruppen im Verhältnis steht, sondern mit dem individuellen Bürger. Die linke Ideologie, so Zandberg, geht immer von einem gewollten bzw. gedachten Gesellschaftsbild aus. Die Realität hat diesem angepasst zu werden, selbst wenn dafür menschliche Opfer gebracht werden müssen.
Letztlich greift Zandberg den Gedanken von der Notwendigkeit starker Nationalstaaten mit einer eindeutigen Leitkultur auf, indem er den Nationalismus als einen fortschreitenden Prozess definiert, der durch Exklusions- und Inklusionsmechanismen eine Gemeinschaft schafft, innerhalb derer politische Freiheit erst möglich wird. In Zeiten, in denen mittels Euro-Rettungsschirmen und Fiskalunion die politische Union Europas vorangetrieben wird, ist das freilich ein provokanter, aber umso notwendigerer Gegenentwurf zur Politik der angeblichen Alternativlosigkeit. Ohne auf die direkte Demokratie und die Schweiz als mögliches Beispiel unmittelbar einzugehen, zeigt Zandberg, dass für eine multikulturelle Gesellschaft - was die Europäische Union als Bundesstaat letztlich wäre - eine umso stärkere innere Bindung notwendig ist. Was für das Alpenland vor allem durch den gemeinsamen Wunsch nach Freiheit politisch möglich wird, obwohl man nicht einmal über eine gemeinsame Sprache verfügt, bleibt für die EU jedoch ein Hirngespinst.
In seinem Essay spricht Zandberg durchweg von linker und rechter Ideologie. Aus heutiger Sicht erscheint diese Einteilung auf einer einfachen Achse für politische Akteure überholt, Zandberg dient sie jedoch durchaus sinnvoll zur Illustration seiner grundsätzlichen Argumentation. Auch wirft der Autor - für den deutschen Leser verwunderlich - immer wieder Sozialisten und Liberale in einen Topf, vor allem wenn es darum geht, dass beide politischen Richtungen unsere kulturellen Wurzeln wie das Christentum abschneiden wollen, um einen neutralen politischen Raum zu schaffen. Dies überrascht zunächst, ist doch Zandberg selbst das, was man am ehesten als einen Bürgerlich-Liberalen beschreiben kann. Was Zandberg damit aber aufzeigt, ist ein dem Liberalismus inhärentes Problem: Koppelt er sich von allen kulturellen Wurzeln und von der jeweiligen Geschichte des Landes ab, vergisst der Liberalismus also die Bedingungen, die ihn erst ermöglichen und wird somit zum Selbstzweck, dann verkommt auch er zu einer Ideologie.
Tatsächlich befindet sich Zandberg in bester Traditionslinie einer Denkweise, die den Menschen an sich in den Vordergrund stellt und die vor allem jegliche Ideologie in ihre Schranken weist. Denn seine Gedanken lassen sich direkt auf den bedeutendsten Vertreter freiheitlicher Politik der Neuzeit beziehen:
»Wo immer eine überlegene Klasse vorhanden ist, rührt ein großer Teil der Moral des Landes von ihren Sonderinteressen her und von den Gefühlen der Klassenüberlegenheit.«
Diese Worte schrieb John Stuart Mill bereits 1859 in seinem Werk On Liberty, im gleichen Jahr übrigens, als Charles Darwin The Origin of Species veröffentlichte, auf das sich Zandberg ausführlich bezieht, wenn es um die Begründung einer Moralphilosophie geht. Und auch Mill sah schon damals eine wachsende Gefahr, dass sich »die Macht der Gesellschaft über das Einzelwesen, sowohl durch die Macht der öffentlichen Meinung wie sogar auch durch Gesetzgebung, ungebührlich auszudehnen« drohe.
Insgesamt gelingt Zandberg, was die großen, im weitesten Sinne bürgerlich-liberalen Denker hierzulande - man denke etwa an die Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde oder Udo di Fabio - nicht geschafft haben: Eine politische Philosophie, die sich zugleich an der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen und an unseren kulturellen Wurzeln orientiert, so zu beschreiben, dass sie auch attraktiv für die jüngeren Generationen ist. Mit anderen Worten: Zandberg macht Politik wieder sexy.
Und dies ist dringend nötig, denn die in Deutschland oft beklagte Politikverdrossenheit stellt sich bei näherer Betrachtung lediglich als eine Parteienverdrossenheit dar. Die Erfolge von Akteuren wie der Piratenpartei, die es schaffen sich mit einem Anti-Parteien-Image auszustatten, beweisen dies. Die Bürger in unserem Land interessieren sich für Politik und sie wollen sie vor allem aktiv mitgestalten. Und um dies zu tun, müssen offene politische Debatten wieder zum Alltag werden.
Zandbergs Buch hilft uns dabei auch insofern, als dass Die Politik der Freiheit nicht im Ablehnen aktueller Entwicklungen verharrt. Stattdessen liefert er Ansätze und Denkmuster, die Anstoß für eine neue Politikentwicklung sein können. Demokratie, so Zandberg, soll lediglich den gesellschaftlichen bzw. institutionellen Rahmen für die Suche nach einer gemeinsamen Wahrheit schaffen - und zwar immer und immer wieder. Denn jede Wahrheit kann durch eine andere ergänzt oder ersetzt werden, jede Wahrheit kann verloren gehen. Nicht aber das Streben danach.
Zandberg ist hierzulande noch ein völlig unbekannter Autor. Umso mehr freue ich mich, dass die Gustav Stresemann Stiftung ihre Buchreihe Freiheit & Verantwortung mit einem solchen scharfsinnigen Vordenker beginnen kann. Ich hoffe natürlich, dass Zandbergs Werk eine ebenso diskursive und intensive Beachtung findet, wie sie etwa das Pamphlet Empört Euch! des ehemaligen französischen Botschafters bei den Vereinten Nationen, Stéphane Hessel Anfang 2011 fand. Ich hoffe, dass Zandberg der politischen Debatte wieder bürgerlich-liberale Werte einhaucht, denn in den aktuellen politischen Diskussionen überwiegen die sozialistische und staatsgläubigen Argumente bei Weitem. Ich hoffe schließlich, dass es viele Leser gibt, die bei und nach der Lektüre anfangen, scheinbar Selbstverständliches zu hinterfragen und sich ihre eigene politische Meinung zu bilden. Denn Zandberg liefert keine fertigen Antworten, sondern vor allem Stoff zum Nachdenken.
Felix Strüning
Berlin im Juni 2012