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1 Fossilien in der Evolutions- und Stammesgeschichtsforschung

Angesichts der überwältigenden Fülle und Vielfalt von Fossilien aus allen Zeitaltern der Erdgeschichte, die in öffentlichen Museen und Sammlungen ausgestellt sind, drängt sich vielen Besuchern der Eindruck auf, dass allein hier der Schlüssel für ein umfassendes Verständnis der Entwicklung der organismischen Vielfalt liegt. Viele Menschen denken, dass es mit einer genügend großen Anzahl von Fossilfunden möglich sein sollte, eine mehr oder weniger lückenlose Vorstellung vom Ablauf der Evolution zu bekommen. Ganz unmittelbar, so eine weit verbreitete Ansicht, sollten uns die Vorfahren der heutigen Lebewesen im sogenannten Fossilbericht entgegentreten. Gleichzeitig sollte sich in schöner Reihenfolge zeigen, wie sich aus einfachsten Lebensformen immer komplexere und „höher entwickelte“ Organismen gebildet haben. Ist dies aber wirklich so oder liegt dieser Anschauung vielleicht eine allzu menschliche und zu oberflächliche Vorstellung von Evolution zugrunde?

Ein einfacher, bildhafter Vergleich mag hier hilfreich sein. Man stelle sich ein Fußballfeld vor, auf dem ein repräsentatives Spektrum von heute verfügbaren Fossilien, nur nach ihrem zeitlichen Auftreten geordnet, ausgelegt worden ist. Nach der vorher geschilderten Idee sollte es bei einem Spaziergang über das Spielfeld nun möglich sein, die Evolution des Lebens von seinen frühesten Anfängen bis zu seinem heutigen Formenreichtum unmittelbar an den versteinerten Überresten ablesen zu können. Was gäbe es nun aber tatsächlich zu beobachten? Auf den ersten Blick würde vor allem die enorme Vielfalt von unterschiedlichen Lebewesen während nahezu jeder Zeit in der Erdgeschichte auffallen. Manche, bereits sehr früh auftretende Formen wären kaum von heutigen Organismen zu unterscheiden, während andere völlig fremd erscheinen würden. Überraschend wäre sicher auch die Wahrnehmung, dass sich die allermeisten Fossilien über bestimmte Zeiträume hinweg durch eine weitgehende Konstanz ihrer Gestalt auszeichnen. Auffällige Entwicklungen wären vor allem mit Phasen des Aussterbens einzelner Gruppen, aber auch ganzer Lebensgemeinschaften verbunden. Diese Phasen würden tiefe Einschnitte in die Abfolge reißen und sich mit Zeiten des Ursprungs neuer, vielgestaltiger Formenkreise abwechseln. Manche dieser Entwicklungen erschienen sehr langsam, während sich Veränderungen in anderen Fällen scheinbar äußerst rasch vollzogen haben. Wahrnehmbar wären also zahlreiche Veränderungen der organismischen Vielfalt während der gesamten Entwicklung der Erde. Dass diesen Veränderungen jedoch ein Evolutionsprozess zugrunde liegt, ließe sich aus dem überlieferten Muster nicht unmittelbar ableiten ( 1.1).




1.1 Fossilien aus dem Ordovizium (unten; Trilobiten, Schwamm, gestreckter Nautilide, Brachiopode), aus dem Devon (Mitte; Korallen, Goniatit, Brachiopoden, Trilobit) und aus der Trias (oben; Seelilienkrone, Schwamm, Ceratit, Brachiopoden, Muscheln). Der Fossilbericht zeigt Veränderungen der Organismen im Laufe der Erdgeschichte. Dass dieser Wandel auf einem Evolutionsprozess beruht, kann aus der Abfolge der fossilen Organismen allein aber nicht abgelesen werden.

Die hier geschilderte Situation gibt in stark vereinfachter Form eine grobe Analyse des Fossilberichts wieder, so wie er auch von den frühen Naturforschern wahrgenommen wurde, die sich im ausgehenden 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts der wissenschaftlichen Erforschung der Fossilüberlieferung widmeten. In der zeitlichen Abfolge von scheinbar unveränderlichen fossilen Formen, die in gewissen Abständen immer wieder ausgelöscht und durch neue Formen ersetzt worden waren, erkannten sie in erster Linie ein wichtiges Hilfsmittel für die zeitliche Gliederung der Erdgeschichte ( 1.2). Diese Bindung von Fossilien an bestimmte Zeithorizonte und spezifische Gesteinsschichten ist bis heute Grundlage der sogenannten Biostratigraphie – der Altersbestimmung von Gesteinsschichten mithilfe ihrer organischen Einschlüsse. Die Nutzung von fossilen Arten oder ganzen Artgemeinschaften als chronologisch kennzeichnende Leitfossilien hat sich in den Geowissenschafdtheoten hervorragend bewährt. Die Exploration von Rohstoffen, wie Erdgas, Erdöl und Kohle, wäre ohne die Biostratigraphie nicht vorstellbar.

Ungeachtet dieses praktischen Nutzens der Fossilien wurden die im Gestein überlieferten Arten von der überwiegenden Mehrheit der Forscher des 18. und 19. Jahrhunderts als unveränderlich angesehen. Man nahm an, dass dem Auftauchen neuer Formen jeweils Neuschöpfungen zugrunde liegen mussten. Zu einer Vorstellung von Evolution hat die Beschäftigung mit Fossilien und ihrer Abfolge in der Erdgeschichte nicht geführt. Dies hatte vor allem drei wichtige Ursachen:

■ die Lückenhaftigkeit des Fossilberichts

■ das Fehlen einer realistischen Vorstellung vom Alter der Erde

■ der Mangel einer belastbaren Theorie der Evolution

Der letzte Punkt ist mit Abstand der wichtigste. Wissenschaftliche Fragestellungen müssen von Theorien und Hypothesen geleitet sein, die einer Prüfung unterzogen werden können. Dies gilt selbstverständlich auch für die Interpretation der Fossilüberlieferung. Ohne evolutionäres Denken und eine zugrunde liegende Theorie der Evolution bleiben die Fossilien lediglich interessante und für die Altersbestimmung nützliche Überreste von Organismen vergangener Zeiten. Eine „Geschichte des Lebens“ erzählen sie ohne die Einsicht, dass der beobachtbare Wandel auf Evolution beruht, indes nicht.

Die große Mehrheit der Naturforscher vor Charles Darwin (1809 – 1882) waren Anhänger der biblischen Schöpfungsgeschichte. Ihrer Anschauung schien der damals bekannte, lückenhafte Fossilbericht recht zu geben. Auch das Alter der Erde stand nach damaliger Ansicht mit der Schöpfungsgeschichte in Einklang, denn es war anhand der Bibel berechnet worden. Der irische Erzbischof James Usher hatte das Datum der Schöpfung und damit den Beginn der orthodoxen anglikanischen Chronologie auf 4004 v. Chr. gelegt (TOULMIN & GOODFIELD 1970). Für eine Evolution der Organismen ließ der Zeitraum von etwa 6000 Jahren offensichtlich keinen Spielraum. Frühere Theorien zur Evolution, etwa von BUFFON (1749) oder LAMARCK(1809), hatten sich nicht durchsetzen können oder sind aktiv bekämpft worden (z.B. MAYR 1984). Erst Charles Darwin hat mit seinem Theoriengebäude den Weg für evolutionäres Denken und damit auch für eine angemessene wissenschaftliche Interpretation der Fossilüberlieferung geebnet.

Der Evolutionsbiologe Ernst Mayr hat überzeugend dargestellt, dass Darwin nicht nur eine, monolithische Evolutionstheorie geschaffen hat, sondern eine komplexe theoretische Einheit, die aus den folgenden fünf Einzeltheorien besteht (MAYR 1994):

■ die Tatsache der Evolution an sich, die eine Veränderlichkeit der Organismen in der Zeit im pliziert

■ die gemeinsame Abstammung, nach der jede Gruppe von Organismen von einem gemeinsamen Vorfahren abstammt und das Leben selbst nur einen einzigen Ursprung hat

■ die Vervielfachung von Arten, welche die Entstehung der organismischen Vielfalt erklärt

■ der Gradualismus, nach dem evolutionärer Wandel durch allmähliche (graduelle) Veränderungen von Populationen stattfindet

■ die natürliche Auslese, nach der durch zufällige Mutationen und genetische Rekombinationen in jeder Generation eine reiche Variabilität entsteht, die derart durch Selektion eingeschränkt wird, dass nur gut angepasste Individuen überleben und die nachfolgende Generation hervorbringen

Darwins Theorien haben sich nach der Veröffentlichung seines Buches „ On the origin of species“ 1859 in unterschiedlichem Maße durchgesetzt. Auch in der Paläontologie sind sie nicht sofort in ihrer Gesamtheit akzeptiert worden. Die Tatsache, dass die Vielfalt der Organismen durch Evolution entstanden ist, wurde relativ schnell angenommen, aber die zugrunde liegenden Ursachen und Mechanismen sind lange kontrovers diskutiert worden. Im deutschsprachigen Raum können nur wenige Paläontologen des 19. Jahrhunderts als Darwinisten im weiteren Sinne bezeichnet werden. Zu ihnen gehören Melchior Neumayr, Franz Hilgendorf, Leopold Würtenberger und Wladimir Kowalewsky (REIF 1986). Alle sind durch Arbeiten bekannt geworden, die aus heutiger Sicht wegweisend waren, da wesentliche Aspekte aus Darwins Werk anerkannt und erstmals auf fossile Organismen übertragen wurden. Noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts herrschten aber Strömungen in der Paläontologie vor, die Darwins Theorien widersprachen (RUST 2007).

Erhebliche Schwierigkeiten machte vor allem die Einsicht in das Wirken der natürlichen Auslese, denn die Ursachen und Mechanismen der Evolution können aus dem Fossilbericht nicht unmittelbar erschlossen werden. Sie sind nur anhand von Untersuchungen und Experimenten an lebenden Organismen sowie an Modellen zu ermitteln. Die im Fossilbericht ersichtlichen Muster sind dagegen ein Produkt des Wirkens der natürlichen Auslese über unvorstellbar lange Zeiträume hinweg und die wirksamen Evolutionsmechanismen können nur nachträglich und soweit die Qualität der Fossilüberlieferung dies zulässt rekonstruiert werden. Der Blick der Paläontologen war noch lange Zeit nach dem Erscheinen von „ On the origin of species“ allein auf die Erschließung und Erklärung der großen Muster der Evolution gerichtet, die in der Stammesgeschichte der Lebewesen sichtbar werden. Hier war es vor allem das Erscheinen gänzlich neuer Formen von Lebewesen, die im Mittelpunkt des Interesses standen ( 1.3, ). Von einer Betrachtung der Veränderung von vererbbaren Merkmalen in aufeinanderfolgenden Populationen, eine Grundvoraussetzung für das Verständnis von Darwins Theorie der natürlichen Auslese, war man nicht zuletzt aufgrund der weitgehenden Lückenhaftigkeit des Fossilberichts noch weit entfernt.


1.2 Gliederung des Jura in Deutschland mithilfe von Leitfossilien aus dem Buch „Über den Jura in Deutschland“ von Leopold von Buch (1839).


1.3 Kiefer von Haldanodon expectatus aus den jurassischen Kohlen von Guimarota in Portugal. Haldanodon gehört zu den sogenannten Docodonta, einer ausgestorbenen Gruppe früher Säugetiere. Die Tiere lebten vermutlich semiaquatisch und in Bauten in der Erde, ähnlich wie heutige Maulwürfe.

Den einmaligen historischen Ablauf der Evolution zu erklären, war das Ziel jener Paläontologen, die sich nicht allein mit der stratigraphischen Erfassung der Fossilien in den Gesteinsschichten zufriedengaben. Wie bereits erläutert wurde, gingen ihre Bemühungen anfangs noch von falschen und zum Teil auch naiven Vorstellung über die Bedeutung und Nutzung von Fossilien in der Stammesgeschichts- und Evolutionsforschung aus. Fossilien galten noch lange Zeit nach Darwin als die wichtigste oder sogar die ausschließliche Informationsquelle für die Rekonstruktion der Stammesgeschichte oder Phylogenese und damit auch für den historischen Ablauf der Evolution. Wie in dem eingangs geschilderten Beispiel der Fossilien auf dem Sportplatz war die Ansicht verbreitet, dass die Vorfahren der heutigen Organismen im Fossilbericht tatsächlich real abgebildet und der stammesgeschichtliche Ursprung und die Entwicklung der lebenden Formen in ihrem zeitlichen Ablauf wirklich widergespiegelt werden (FOREY 2004). Dies beruhte größtenteils auf traditionellen Vorstellungen von Abstammung als direkter Vorfahren-Nachfahren-Beziehung auch zwischen hochrangigen Gruppen. Die Säugetiere wären danach z. B. aus Abstammungslinien der Therapsiden hervorgegangen, die ihrerseits Nachfahren der Pelycosaurier waren. In einem deutschsprachigen Lehrbuch zur Paläontologie findet sich, anknüpfend an solche Vorstellungen, z. B. der folgende Hinweis (ZIEGLER 1992: 77): „ Die Verwandtschaft vieler Gruppen zueinander lässt sich aus der fossilen Überlieferung direkt ablesen. Dieser reale historische Befund sichert der Paläontologie die entscheidende Stimme in stammesgeschichtlichen Fragen.“

Für die Evolutionsforschung und Phylogenetik ist es indes völlig belanglos, ob die Paläontologie „entscheidender“ ist als etwa die Zoologie, Botanik oder Genetik. Ausschlaggebend sollte allein die Zielsetzung sein. Dabei ist es notwendig, vorbehaltlos zu prüfen, welche Möglichkeiten die wissenschaftlichen Teilgebiete für die Beantwortung grundlegender Fragen bereitstellen und wo ihre inhaltlichen und methodischen Grenzen liegen. Tatsache ist, dass sich die Bedeutung des Fossilberichts und seiner Interpretation durch die Paläontologie für die Stammesgeschichts- und Evolutionsforschung in den letzten Jahrzehnten tief greifend und nachhaltig verändert hat.

Klassifikationen und phylo genetisches System

Für die Rekonstruktion des Ablaufs der Evolution als einmaligen historischen Prozess sowie für die Phylogenese, also der historischen Entstehung der Artenvielfalt durch die fortlaufende Aufspaltung von Arten, ist die präzise Ermittlung der Verwandtschaftsverhältnisse der Organismen, seien sie rezent oder fossil, von entscheidender Bedeutung. Dies ist die Aufgabe der Phylogenetik oder Stammesgeschichtsforschung, die versucht, die einmalige, historische Abfolge von Artaufspaltungen zu rekonstruieren. Diese Ereignisabfolge wird in einem phylogenetischen System als Stammbaum dargestellt. Dabei ist zu bedenken, dass es sich bei einem Stammbaum stets um ein hypothetisches, von Theorien abhängiges Konstrukt handelt, das nur in Gedanken existiert und keine reale Entsprechung hat. Die Evolutionsbiologie baut schließlich auf den Ergebnissen der Phylogenetik auf. Sie versucht, die Entstehung der Arten im Rahmen der ehemals herrschenden Umweltbedingungen sowie die Ursachen und Mechanismen des evolutiven Wandels zu finden. Die Phylogenetik ist also als Teilgebiet der Evolutionsbiologie anzusehen (SUDHAUS & REHFELD 1992) und von dieser nicht unabhängig (z. B. SAUER & KULLMANN 2005).

Die Rekonstruktion des phylogenetischen Systems der Organismen, das auf der Rekonstruktion eines historischen Prozesses beruht, unterscheidet sich ganz grundsätzlich von verschiedenen, mehr oder weniger weit verbreiteten Klassifikationen der Organismen, die überwiegend bestimmten Zweckmäßigkeiten folgen. In der Regel handelt es sich dabei um künstliche Ordnungsgefüge. Sie können z.B. bei der Sortierung und Lagerung einer großen Menge von Pflanzen oder Tieren in einem Herbarium oder Museum sehr hilfreich sein, wenn es etwa darauf ankommt, später einzelne Objekte schnell und zuverlässig wiederzufinden. Solche Klassifikationen sind also Versuche, eine übersichtliche Ordnung in die Vielfalt der Lebensformen zu bringen. Man findet sie bereits bei Naturvölkern, für die Kenntnisse über die sie umgebende Tier- und Pflanzenwelt eine essenzielle Grundlage für ihr Überleben darstellen. Der Ethnologe und Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat in seinem Buch „Das wilde Denken“ eine Reihe von Beispielen angeführt, die dieses Streben nach einer Klassifikation der organismischen Vielfalt eindrucksvoll zeigen (LÉVI-STRAUSS 1968). So unterscheiden etwa die Hanunóo der Südphilippinen 1625 Pflanzentypen, die von ihnen in 890 Kategorien gruppiert werden. 500 bis 600 der Typen sind essbar und 406 werden als Medizin verwendet. Aus botanischer Sicht handelt es sich um etwa 1100 Arten aus 650 Gattungen. Die Guaraní-Indianer im mittleren Südamerika benannten Tiere mit binomischen oder trinomischen Ausdrücken, die unserer wissenschaftlichen Nomenklatur in gewisser Weise ähneln. Die Bezeichnungen wurden dabei vom Stammesrat unter Berücksichtigung der besonderen Merkmale einer Art und ihrer Zugehörigkeit zu Gruppen und Untergruppen festgelegt (LÉVI-STRAUSS 1968).

In Klassifikationen, die einen wissenschaftlichen Anspruch haben, wird diese Entscheidung des Stammesrates quasi durch die Autorität erfahrener Wissenschaftler vertreten. Diese entscheiden oft darüber, ob eine Art einer bestimmten Gattung, Familie usw. zugewiesen werden sollte. Objektiv sind diese Zuordnungen freilich nicht, und gar nicht selten vertreten verschiedene Spezialisten ganz unterschiedliche Klassifikationen. So werden z. B. innerhalb der mit etwa 60 000 Arten sehr formenreichen Familie der Schlupfwespen (Ichneumonidae) je nach Autor 25 (TOWNES 1969), 31 (GAULD & BOLTON 1988) oder 35 Unterfamilien (WAHL & SHARKEY 1993) unterschieden. Bei systematischen Arbeiten ist es daher wichtig anzugeben, nach welcher Klassifikation man sich jeweils richtet.

Jede Klassifikation stößt früher oder später an Grenzen, völlig unabhängig von der Erfahrung und dem Wissen ihrer Bearbeiter und der Sorgfalt, mit der sie erstellt wurde. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die beiden wichtigsten Aspekte der Evolution – Nachkommenschaft und Modifikation – häufig nicht gleichförmig miteinander korreliert sind (KEMP 1999). Evolutiver Wandel kann innerhalb nah verwandter Organismengruppen mit ganz unterschiedlicher Geschwindigkeit und in sehr verschiedenem Ausmaß erfolgen. Dadurch können solche nah verwandten Organismen sehr unterschiedlich aussehen, während entfernt verwandte Gruppen sehr ähnlich erscheinen können, wenn sie nur einen geringen evolutiven Wandel erfahren haben. In der Evolutionären Systematik hat man versucht, diesen unterschiedlichen Raten von Veränderungen Rechnung zu tragen, d. h., es wurde nicht nur die Entstehung von Arten und Artengruppen durch Aufspaltung von bestehenden Arten (Cladogenese) berücksichtigt, sondern auch die Veränderung von Arten durch Umbildung, Reduktion oder Neuerwerb von Merkmalen (Anagenese). Dies führte jedoch zu subjektiven Bewertungen der relativen Ähnlichkeit von Organismen. Dadurch können Gruppierungen entstehen, die einen phylogenetischen Zusammenhang nur unvollständig bzw. falsch wiedergeben. So ist z. B. die Gruppe der Reptilien oder Kriechtiere keine geschlossene Abstammungsgemeinschaft, die auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeht, es sei denn man würde die Vögel, die mit den Krokodilen nächstverwandt sind, in die Kriechtiere mit einbeziehen (z. B. MODESTO & ANDERSON 2004, 1.6). Eine solche Abstammungsgemeinschaft bilden dagegen die Sauropsida, in denen die Reptilien mit den Vögeln zusammengefasst werden (z.B. MICKOLEIT 2004).

Im Gegensatz zu verschiedenen Klassifikationen sowie der Evolutionären Systematik wird in der Phylogenetischen Systematik allein die Cladogenese, also die Aufspaltung von Arten, und damit der phylogenetische Aspekt der Evolution der Systematisierung zugrunde gelegt. Die Rekonstruktion des phylogenetischen Systems der Organismen bildet den Ausgangspunkt für die Erforschung der Stammesgeschichte und damit der historischen Dimension der Evolution.

Einige Grundbegriffe der Phylogenetischen Systematik

Aus dem Prozess der Phylogenese gehen durch die Aufspaltung von Arten nicht nur neue Arten hervor, sondern im Laufe der Zeit können umfangreiche Gruppen von Arten entstehen, die dann als geschlossene Abstammungsgemeinschaften auf genau eine einzige Stammart zurückgehen, die nur sie allein gemeinsam haben. Derartige Abstammungsgemeinschaften werden Monophyla genannt ( 1.4) – ein Begriff, der in ungefähr diesem Sinne bereits 1866 von dem berühmten Zoologen Ernst Haeckel geprägt wurde (Ax 1984). Im einfachsten Fall handelt es sich also um zwei Arten, die als Schwesterarten bezeichnet werden, die auf die Aufspaltung einer nur ihnen gemeinsamen Stammart zurückgehen. Zu dem Monophylum gehört neben den zwei Arten stets auch die Stammart. Manche Monophyla können sehr umfangreich sein. So bilden etwa die Käfer mit mindestens 350 000 bislang bekannten Arten ein extrem formenreiches Monopyhlum, d.h., sie stellen in ihrer Gesamtheit eine geschlossene Abstammungsgemeinschaft dar, die letztlich auf die Aufspaltung einer einzigen Stammart zurückgeht. Durch sukzessive Aufspaltungsereignisse von Arten können mit der Zeit nun immer weitere Monophyla gebildet werden, sodass am Ende ein hierarchisch verschachteltes System von Monophyla und ihren jeweiligen Schwesterarten entsteht. Im Bezug zur Schwesterart werden Monophyla, die aus mehr als einer Art bestehen, Schwestergruppen genannt. Sowohl die Arten als auch die aus mehreren Arten zusammengesetzten monophyletischen Einheiten werden neutral als Taxa bezeichnet.


1.4 Eine Gruppe von Arten, die auf einen nur ihnen gemeinsamen Vorfahren bzw. eine Stammart zurückgehen, wird als Monophylum oder monophyletisches Taxon bezeichnet. In der Abbildung bilden A+B, C+D sowie A+B+C+D solche monophyletischen Taxa.

Die Taxa des phylogenetischen Systems sind über einen historisch einmaligen Abstammungszusammenhang miteinander verbunden. Es sind damit Abbilder realer Einheiten der Natur und keine willkürlich abgegrenzten Einheiten einer Klassifikation (Ax 1988). Die Zuweisung von solchen Taxa zu irgendwelchen kategorialen Rängen (z. B. Gattung, Familie, Ordnung usw.), wie sie in der traditionellen Klassifikation der Organismen durch Carl von Linné 1735 in seiner „Systeme Natume“ eingeführt wurden und bis heute in der zoologischen Nomenklatur verwendet werden, ist völlig willkürlich. In der Natur existieren keine „Gattungen“ oder „Familien“, es sind rein gedankliche Konstrukte. Diskussionen darüber, ob einem bestimmten Taxon dieser oder jener kategoriale Rang zugeordnet werden sollte, sind deshalb wissenschaftlich bedeutungslos. Wichtig ist es ferner herauszustellen, dass solche gedanklichen Gebilde natürlich nicht den Prozessen der Evolution unterliegen können. Gerne zitierte „evolutive Übergänge“ von einer „Klasse“ zu einer anderen (z. B. von Fischen zu Amphibien oder von Reptilien zu Säugetieren), die dann auch noch durch den Fossilbericht belegt werden sollen, sind, um es mit dem Göttinger Zoologen Peter Ax zu sagen (1988: 58), „mit Verlaub schlicht Nonsens“.

Wie können nun die verwandtschaftlichen Beziehungen von Arten und geschlossenen Abstammungsgemeinschaften ermittelt und in einem phylogenetischen System zum Ausdruck gebracht werden? Der Evolutionsprozess hat dazu geführt,dass jede Art und jedes Monophylum ein spezifisches Muster von relativ ursprünglichen,zum Teil sehr alten sowie von relativ abgeleiteten, jüngeren Merkmalen aufweist. Die Analyse dieser Merkmalsmuster ist es, die es uns erlaubt, geschlossene Abstammungsgemeinschaften zu erkennen und phylogenetische Beziehungen zu rekonstruieren. Dazu muss jedoch mindestens ein Merkmal vorhanden sein, dass als einmalige evolutive Neuheit imI sogenannten Grundmuster des Monophylums realisiert und in seiner Stammlinie entstanden ist.

In der Praxis wird zuerst nach Übereinstimmungen in den Merkmalsmustern von verschiedenen Arten gesucht, die an möglichst vielen Individuen aus unterschiedlichen Populationen untersucht werden sollten. Dabei wird man schnell feststellen, dass die Auswahl und die Bewertung von Merkmalen keine einfache Angelegenheit ist. Wenn eine Übereinstimmung von Merkmalen festgestellt wird, gibt es grundsätzlich drei Möglichkeiten, auf denen diese Übereinstimmung beruhen kann (z. B. AX 1988, WÄGELE 2000):

■ Synapomorphie: Die Arten oder Artengruppen stimmen in einem abgeleiteten (apomorphen) Merkmal überein, das eine einmalige evolutive Neuheit darstellt.

■ Symplesiomorphie: Die Übereinstimmung beruht auf einem ursprünglichen (plesiomorphen) Merkmal, das von weiter zurückliegenden Stammarten übernommen wurde.

■ Konvergenz: Die Übereinstimmung beruht auf einem abgeleiteten (apomorphen) Merkmal, das mehrfach unabhängig in getrennten Stammlinien entstanden ist.

Es ist leicht einzusehen, dass für die Ermittlung von phylogenetischen Verwandtschaftsbeziehungen ausschließlich Synapomorphien von Bedeutung sind. Nur durch sie kann eine Hypothese begründet werden, dass es sich bei einer Gruppe von Organismen um ein Monophylum bzw. eine geschlossene Abstammungsgemeinschaft handelt, die auf eine gemeinsame Stammart zurückgeht. Zugleich sind Synapomorphien Indizien für die Ausweisung von Schwestergruppenbeziehungen zwischen Arten und Artengruppen. Werden Verwandtschaftsbeziehungen dagegen mit Symplesiomorphien begründet, so entstehen sogenannte Paraphyla oder paraphyletische Taxa (► 1.6).

Dies sind Gruppen, die zwar nur Nachkommen einer einzigen Stammart, aber nicht alle dieser Nachkommen enthalten. Als Beispiel sind bereits vorher die Reptilien genannt worden, die ohne Einbeziehung der Vögel eine paraphyletische Gruppe darstellen. Manchmal können auf diese Weise auch polyphyletische Gruppierungen entstehen, also Versammlungen von Arten oder Artengruppen, die in keinerlei verwandtschaftlicher Beziehung zueinander stehen ( 1.7). Überwiegend sind Polyphyla oder polyphyletische Taxa dadurch gekennzeichnet, dass ihre Merkmalsübereinstimmung auf Konvergenz beruht. Konvergente Merkmale können auf vielfältige Weise entstehen, z.B. durch ähnliche ökologische Ansprüche von ganz verschiedenen Arten oder Artengruppen. Für die Begründung von Verwandtschaftshypothesen sind sie aber völlig ungeeignet und können dann zur Bildung von polyphyletischen Gruppen führen, die Nachkommen von ganz verschiedenen Stammarten enthalten. Ein klassisches Beispiel für eine polyphyletische Gruppe sind die Würmer (oder Vermes), die durch Carl von Linné wegen ihres scheinbar einheitlichen wurmförmigen Körperbaus zu einer Einheit in seiner Klassifikation der Organismen zusammengefasst wurden. Tatsächlich ist dieser wurmförmige Habitus aber vielfach unabhängig entstanden, so z. B. bei den Ringelwürmern, Fadenwürmern oder Plattwürmern, um nur einige bekanntere Vertreter zu nennen.


1.5 Die Analyse von morphologischen Merkmalen für phylogenetische Rekonstruktionen ist bei Fossilien oft erschwert, da stammesgeschichtlich wichtige Merkmale oft nicht erhalten sind. So ist z. B. die räumliche Erhaltung des Armgerüstes, wie sie bei diesem Brachiopoden (Armfüßer) aus dem Jura von Frankreich zu sehen ist, im Fossilbericht dieser Gruppe relativ selten.


1.6 Ein Paraphylum (oder paraphyletisches Taxon) enthält nur einen Teil der Folgearten einer Stammart. Im vorliegenden Beispiel ist die Art D ausgeschlossen. Die Bildung paraphyletischer Taxa beruht auf der Berücksichtigung von Symplesiomorphien.


1.7 Ein Polyphylum (oder polyphyletisches Taxon) umfasst Nachkommen von nicht näher verwandten Stammarten. Sie können dann entstehen, wenn konvergente Merkmale als Synapomorphien interpretiert werden.


1.8 Ein Trilobit mit „Stielaugen“, der zu den Gliederfüßern (Arthropoda) gehört. Nach molekularen Verwandtschaftsanalysen sollen diese Arthropoden mit Fadenwürmern und anderen Formen nächstverwandt sein und ein Taxon namens Ecdysozoa bilden.

Interessanterweise schienen polyphyletische Gruppen noch vor einigen Jahren in der Phylogenetischen Systematik keine Rolle mehr zu spielen, und es wurde die Hoffnung ausgesprochen, dass es sie unter den ranghohen Taxa der vielzelligen Organismen nicht mehr gebe (AX 1995). Durch den zunehmenden Einfiuss von molekularen Daten in der phylogenetischen Forschung sind jedoch neue Verwandtschaftshypothesen formuliert worden, die mitunter derart im Widerspruch zu morphologisch ermittelten Hypothesen stehen, dass die Existenz von polyphyletischen Gruppen in einem von beiden Fällen vorausgesetzt werden muss (WÄGELE 2000). Ein aktuelles Beispiel ist die sogenannte Ecdysozoa-Hypothese (AGUINALDO et al. 1997), nach der die Gliederfüßer (Arthropoda, z. B. Insekten, Spinnen und Krebse) unter anderem mit den Fadenwürmern (Nematoda) und Saitenwürmern (Nematomorpha) aufgrund von Genanalysen nächstverwandt sein sollen. Dieser Hypothese zufolge bilden sie ein Monophylum, das als Ecdysozoa oder Häutungstiere (Ecdysis = Häutung) bezeichnet wird. Die Monophylie dieser Gruppe steht jedoch in deutlichem Widerspruch zu der traditionellen, bereits 1796 von dem Naturforscher Georges Cuvier formulierten Annahme, dass die Gliederfüßer mit den Ringelwürmern (Annelida, z. B. Wattwurm und Regenwurm) in enger verwandtschaftlicher Beziehung stehen. Beide Gruppen werden seit Cuvier als Gliedertiere (Articulata) zusammengefasst und sind aus heutiger Sicht Schwestergruppen, die unter anderem durch einen segmentierten Körper, ein Strickleiter-Nervensystem und eine spezielle Bildungszone der Segmente nahe dem Hinterende ausgezeichnet sind. Sollte sich jedoch die Ecdysozoa-Hypothese als richtig erweisen, wären die Gliedertiere eine polyphyletische Gruppe und wären aus dem phylogenetischen System zu entfernen.

Dieses Beispiel macht deutlich, welche überragende Rolle die Auswahl von Arten, Individuen und Merkmalen, die präzise und sorgfältige Analyse dieser Merkmale sowie die behutsame Interpretation von Merkmalsübereinstimmungen in der phylogenetischen Verwandtschaftsforschung spielt. Dabei gilt es zu bedenken, dass sich auch scheinbar hochkomplexe und mehrfach geprüfte Merkmalsübereinstimmungen als Konvergenzen erweisen können. Zuallererst sollte deshalb geprüft werden, ob die Ähnlichkeit eines Merkmals nur zufällig ist und z. B. durch ähnliche Umwelteinflüsse geprägt wurde, wie bei der Konvergenz, oder ob die Übereinstimmung auf Homologie beruht, also auf genetischer Information, die von einer gemeinsamen Stammart übernommen wurde. Nur Homologien erlauben es, phylogenetische Verwandtschaftshypothesen zu erstellen. Dabei muss betont werden, dass Aussagen über Homologie ihrerseits auch immer nur Hypothesen darstellen, die begründet und geprüft werden müssen (z. B. SUDHAUS & REHFELD 1992, WÄGELE 2000).


1.9 Komplexe Merkmale, wie sie etwa im Skelett dieses Flugsauriers vorliegen, sind für Homologieaussagen und damit für die Stammesgeschichtsforschung von besonders großer Bedeutung. Bei dem Fossil handelt es sich um das 1831 von Georg August Goldfuß beschriebene Bonner Original von Scaphognathus crassirostris, ein Langschwanz-Flugsaurier aus dem Jura von Solnhofen. Die Schädellänge beträgt 11,5 cm.

Für morphologische Merkmale hat der Zoologe Adolf Remane 1952 eine Art Prüfverfahren in Form von Homologiekriterien vorgelegt, die bei der Identifizierung von Homologien hilfreich sein können: das Kriterium der Lage, das Kriterium der speziellen Qualität und das Kriterium der Kontinuität (z. B. SUDHAUS & REHFELD 1992). Diese Kriterien sollen hier nicht näher erläutert werden, denn sie können im Prinzip auf das Kriterium der Komplexität zurückgeführt werden, das nach WÄGELE (2000: 136) Folgendes besagt: „Je komplexer ein Merkmal ist und je mehr alternative Bauelemente in der Natur verfügbar sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass zwei gleiche Muster nicht durch Zufall entstanden sind.“ Für molekulare Merkmale gelten dieselben Regeln wie für morphologische Merkmale, wobei molekulare Daten jedoch einer Quantifizierung und mathematischen Analyse besser zugänglich sind (WÄGELE 2000).

Nicht jede Homologie ist auch gleichzeitig ein abgeleitetes Merkmal oder eine Apomorphie, aber umgekehrt sollte jedes apomorphe Merkmal eine Homologie sein. Dies hängt mit der Relativität der Begriffe Plesiomorphie und Apomorphie zusammen. Wenn ein Merkmal das erste Mal in der Evolution bei einer Art in Erscheinung tritt, handelt es sich um eine Apomorphie. Solche abgeleiteten Merkmale von einzelnen Arten werden als Autapomorphie bezeichnet. Erst wenn sich die Art in Nachkommenarten aufspaltet, wird aus der Autapomorphie eine Synapomorphie, mit deren Hilfe die Schwestergruppenbeziehung zwischen den beiden neuen Arten erkennbar wird. Wenn sich nun auch diese Nachkommenarten aufspalten, wird aus dem abgeleiteten Merkmal (Synapomorphie) ein ursprüngliches Merkmal (Symplesiomorphie), das jetzt keinerlei Bedeutung mehr hat, um mögliche Schwestergruppenbeziehungen zwischen den zuletzt entstandenen Arten zu begründen.

Die Entscheidung über die Alternative von apomorpher oder plesiomorpher Merkmalsausprägung geschieht über den sogenannten Außengruppenvergleich. Wenn für eine Gruppe von Arten oder geschlossenen Abstammungsgemeinschaften (die Innengruppe) eine spezifische Merkmalsausprägung vorliegt, die auf diese Gruppe beschränkt ist, so wird es sich vermutlich um eine Apomorphie handeln. Taucht dieses Merkmal jedoch auch außerhalb der betrachteten Gruppe auf, also in der Außengruppe, so könnte es sich um eine Plesiomorphie handeln. Innen- und Außengruppe haben in jedem Einzelfall einen ganz unterschiedlichen Umfang. Je nachdem, für welche Gruppe von Arten vermutet wird, dass sie ein Monophylum bildet, muss eine entsprechende Außengruppe gewählt werden. Wichtig ist, dass mindestens ein Merkmal in der Innengruppe in alternativer Ausprägung auftritt und dass eine der Alternativen auch in der Außengruppe in Erscheinung tritt.

Wenn z. B. für eine bestimmte Gruppe der Arthropoda (Gliederfüßer) vermutet wird, dass sie ein monophyletisches Taxon bilden, kann es je nach Besonderheit des alternativen Merkmals genügen, alle übrigen Arthropoden als Außengruppe zu wählen. Sicherheit über die Merkmalsausprägung ist aber erst dann gewährleistet, wenn eine umfassendere Außengruppe gewählt wird. Dabei reicht es nicht aus, aufgrund traditioneller Vorstellungen nur die Annelida (Ringelwürmer) als Außengruppe zu berücksichtigen (Articulata-Hypothese), denn wie bereits vorher geschildert wurde, kommen hier auch völlig andere Schwestergruppenbeziehungen infrage (Ecdysozoa-Hypothese). Man wird hier also eine sehr umfassende Außengruppe wählen müssen, um durch den Außengruppenvergleich zu einer Entscheidung über den Status eines Merkmals zu gelangen. Auch Fossilien sollten in den Außengruppenvergleich einbezogen werden, denn sie können in manchen Fällen zu einer Korrektur von Aussagen führen.

Die Bedeutung von Fossilien für phylogenetische Rekonstruktionen

Die Phylogenetische Systematik ist nach ihrer Einführung durch den Insektenforscher WILLI HENNIG (1950, 1966, 1969) von den meisten Paläontologen mit großer Skepsis und häufig auch strikter Ablehnung aufgenommen worden. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass nicht nur von HENNIG (z. B. 1969), sondern auch von anderen Phylogenetikern (z. B. AX 1984) immer wieder betont wurde, dass allein die heutigen Organismen den Ausgangspunkt für die Verwandtschaftsforschung bilden sollen. AX (1984: 209) hat es folgendermaßen formuliert: „ Die phylogenetische Systematik kann ohne Berücksichtigung irgendeiner fossilen Überlieferung objektive Hypothesen über die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen rezenten Arten und Gruppen rezenter Arten formulieren sowie die im Prüfungsverfahren favorisierten Verwandtschaftshypothesen in ein System mit hierarchischer Struktur umsetzen.“

Mit dieser deutlichen Feststellung hatte sich der Führungsanspruch der Paläontologie in der Stammesgeschichtsforschung tief greifend und nachhaltig verändert. Die Fossilien waren für die Ermittlung der verwandtschaftlichen Beziehungen der heutigen Organismen plötzlich scheinbar völlig bedeutungslos geworden. Gerade Willi Hennig trug offenbar wenig dazu bei, die Paläontologen für die Phylogenetische Systematik zu vereinnahmen. Dies mag die folgende Anekdote zeigen (zitiert nach SCHMITT 2001: 327): „ … nach einem Vortrag von Willi Hennig über Phylogenetische Systematik im Museum für Naturkunde in Berlin am 30. Oktober 1950 behauptete der Paläontologie-Professor Walter Gross – wohl etwas ungehalten: phylogenetische Beweise seien nur mit Hilfe von Fossilien zu erbringen. Hennig entgegnete – ebenfalls etwas ungehalten: ,Ihre Fossilien interessieren mich nicht‘, worauf Gross rief: ,Dann interessieren mich ihre Theorien auch nicht‘ und Türen knallend den Saal verließ.“

Es wäre jedoch ungerecht und falsch, Willi Hennig zu unterstellen, dass er kein Interesse an Fossilien oder der Paläontologie gehabt hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Hennig war nicht nur ein angesehener Entomologe, sondern er hat für seine spezielle Gruppe, die Dipteren (Mücken und Fliegen), zahlreiche Arbeiten über fossile Vertreter, insbesondere aus Bernsteinvorkommen publiziert. Zusätzlich ist er durch sein einflussreiches Buch „Die Stammesgeschichte der Insekten“ (1969) auch als bedeutender Paläoentomologe ausgewiesen. Dass es gerade die Insekten waren, an deren Beispiel Hennig die Methode der Phylogenetischen Systematik vor allem verdeutlichte, hat die Durchsetzung seiner Ansichten in paläontologischen Kreisen ohne Zweifel erheblich erschwert. Als Hennig seine Schriften publiziert hat, galten fossile Insekten noch weitgehend als Kuriosum und wurden in der paläontologischen Ausbildung praktisch gar nicht berücksichtigt. Vor allem ihre mangelnde Bedeutung als Leitfossilien in der Biostratigraphie und ihr sehr komplexes System sowie die überwältigende Vielfalt der heutigen Formen verschafften ihnen keine große Popularität unter den Paläontologen.


1.10 Fossilien sind ganz überwiegend nur in Form von Hartteilen wie Knochen, Schalen und Panzern überliefert. In manchen Fällen, wie bei der hier abgebildeten Zuckmücke (Chironomidae) aus dem Dominikanischen Bernstein, können aber auch feinste morphologische Details und sogar Weichteile erhalten sein.

Die Begründung für die vorrangige Nutzung der heutigen Organismen für die Rekonstruktion der Verwandtschaft hat mit der Unvollständigkeit des Fossilberichts und der einzelnen Fossilien zu tun. Während bei heutigen Lebensformen das gesamte Spektrum u. a. an morphologischen, genetischen, physiologischen, entwicklungsbiologischen und ökologischen Merkmalen zur Verfügung steht, zeigen Fossilien immer nur ein eingeschränktes Merkmalsinventar, das in vielen Fällen ausschließlich auf die Hartteile (z. B. Schalen, Panzer, Zähne, Knochen) begrenzt ist. Diese Unvollständigkeit des Fossilberichts ist eine Tatsache und kein Paläontologe würde sie bestreiten, auch wenn er zahllose Beispiele für eine extrem vollständige Fossilüberlieferung aufzählen könnte ( 1.10, ). Für ein umfassendes Verständnis der phylogenetischen Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen ist es deshalb sinnvoll, von dem maximalen Datensatz an verfügbaren Merkmalen bei den heutigen Organismen auszugehen. Dies bedeutet aber natürlich nicht, dass die fossilen Lebensformen bei der Bildung von Verwandtschaftshypothesen und ihrer Systematisierung zu vernachlässigen wären. Sowohl Hennig als auch Ax haben mehrfach betont, dass die Phylogenetische Systematik selbstverständlich rezente und fossile Organismen zu berücksichtigen habe Ax 1984: 209): „ Sie strebt die Aufdeckung und Wiedergabe der phylogenetischen Verwandtschaft aller Organismen zueinander an, unabhängig davon, ob sie heute als evolutionäre Arten existieren oder nur aus vergangenen Erdperioden in Form fossiler Fragmente bekannt sind.“

Fossilien bleiben nach wie vor die einzigen unmittelbaren historischen Zeugnisse der Stammesgeschichte, und sie allein geben ihr eine konkrete zeitliche und räumliche Dimension. Deshalb muss die Stammesgeschichtsforschung die Rekonstruktion der stammesgeschichtlichen Entwicklung aller Organismen umfassen, zumal die Phylogenetik nur dann ihren Beitrag zur Evolutionsforschung liefern und ihr Potenzial voll ausschöpfen kann. Eine Phylogenetik, die sich allein auf die heutigen Organismen bezieht, wird sich weitgehend auf die Prüfung und den Vergleich einer beliebig großen Anzahl von alternativen Mustern zeitlich dimensionsloser Verwandtschaftshypothesen beschränken müssen (RUST 2007b).

Bei der Bildung von Verwandtschaftshypothesen und ihrer Umsetzung in das phylogenetische System wird mit fossilen Organismen grundsätzlich genauso verfahren wie mit heute lebenden Formen. Dabei werden Fossilien durch das sogenannte Stammlinienkonzept (z. B. Ax 1984, 1988) in phylogenetische Rekonstruktionen einbezogen und in das phylogenetische System integriert. Bei der Betrachtung eines rezenten monopyhletischen Taxons wird als Stammlinie die zeitliche Sukzession von Fortpflanzungsgemeinschaften bezeichnet, die zur Stammart des Monophylums hinführt, sowie alle ausgestorbenen Seitenlinien, die von dieser direkten Stammlinie oder Ahnenlinie abzweigen (z. B. SUDHAUS & REHFELD 1992). Die Angehörigen der direkten Stammlinie stehen also in der zeitlichen Abfolge durch einen lückenlosen genealogischen Zusammenhang in Verbindung. Bei den abzweigenden Linien kann es sich um einzelne Arten oder auch umfangreiche monophyletische Taxa handeln. Die Gruppe von Arten, die das rezente Monophylum einschließlich seiner Stammart umfasst, wird in Anlehnung an die Krone eines Baumes auch als Kronengruppe bezeichnet (JEFFERIES 1980). Der teilweise in der Literatur verwendete Begriff der Stammgruppe für die Versammlung aller Vertreter der Stammlinie sollte dagegen vermieden werden, denn eine solche Gruppierung stellt immer ein Paraphylum dar (z. B. AX 1988).

In der Stammlinie sind die abgeleiteten Merkmale des Monophylums (seine Autapomorphien) erstmals als evolutive Neuerwerbungen in Erscheinung getreten. In der Stammart ist damit das sogenannte Grundmuster der Abstammungsgemeinschaft verwirklicht. Die Stammlinie endet mit der Aufspaltung der Stammart des Monophylums. Mit dem Auftreten des ersten abgeleiteten Merkmals wird die Stammlinie eines Monophylums zeitlich „nach unten“ begrenzt, denn ihr Beginn muss vor dem Auftreten dieses Merkmals gelegen haben. Dies bedeutet freilich, dass der Anfang einer Stammlinie nicht präzise bestimmt werden kann. Sie beginnt immer mit der Aufspaltung einer Art.

Natürlich haben auch ausgestorbene monophyletische Taxa eine eigene Stammlinie, wie etwa die Trilobiten oder Ammoniten. Fossilien können jedoch nur in Verwandtschaftshypothesen integriert werden, wenn an ihnen geeignete abgeleitete Merkmale (Autapomorphien) überliefert sind, die sie als Vertreter der Stammlinie eines bestimmten Monophylums ausweisen. Bei dem Monophylum kann es sich um ein rezentes (Kronengruppe) oder ein fossiles Taxon handeln. In der Umsetzung der Verwandtschaftshypothesen in ein Stammbaumdiagramm (Kladogramm) werden die Fossilien damit häufig zu „ hanging ornaments on the branches of a Christmas tree“, wie es der Paläontologe Tom S. KEMP (1999: 110) einmal umschrieben hat.

Grundsätzlich gibt es folgende Positionen, die ein Fossil in einem Verwandtschaftsdiagramm einnehmen kann:

■ auf der direkten Stammlinie oder Ahnenlinie eines Monophylums (In diesem Fall ist das Fossil ein unmittelbarer Vorfahre eines rezenten oder fossilen Taxons.)

■ als Seitenzweig der Stammlinie (Dabei kann es sich um eine einzelne Art handeln, die von der Stammlinie abzweigt, oder um ein artenreiches Monophylum, das seinerseits eine komplexe Stammlinie aufweist.)

■ als Angehöriger der Linie einer rezenten (terminalen) Art (Das Fossil ist damit als Vertreter einer Vorfahrengeneration von heute lebenden Populationen einer Art ausgewiesen.)

Nur in diesem letzten Fall ist es möglich, einen fossilen Organismus mit hoher Wahrscheinlichkeit als echten Vorfahren zu identifizieren. Alle an dem Fossil erhaltenen Merkmale müssen dazu jedoch mit dem Merkmalsgefüge der rezenten Art übereinstimmen bzw. innerhalb der Variationsbreite dieser Merkmale liegen. Der Nachweis, dass ein Fossil tatsächlich eine Position unmittelbar auf der direkten Stammlinie oder Ahnenlinie eines rezenten Monophylums einnimmt und damit einen echten Vorfahren darstellt, kann dagegen nicht erbracht werden. Ein solches Fossil dürfte theoretisch neben einem spezifischen Muster von Plesiomorphien nur die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgebildeten Autapomorphien der Stammart eines Monophylums aufweisen. Selbst wenn dieser Nachweis erbracht werden könnte, ist jedoch niemals auszuschließen, dass in den nicht überlieferten Merkmalen mindestens eine Autapomorphie ausgebildet war, die das Fossil als Seitenzweig der direkten Stammlinie oder Ahnenlinie und damit eben nicht mehr als direkten Vorfahren des Monophylums ausweist.

In der Regel sind alle mehr oder weniger gut erhaltenen Fossilien durch derartige Eigenmerkmale ausgezeichnet. Für manche Formen kann aber immerhin wahrscheinlich gemacht werden, dass sie einer bestimmten Stammlinie relativ nahestanden. Solche Fossilien können für die Überprüfung phylogenetischer Hypothesen ausschlaggebend sein, wie im folgenden Kapitel über die Bedeutung von Fossilien in der Evolutionsforschung noch ausführlich gezeigt wird.

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