Читать книгу Die Hafenkinder von Pitburg - Jessica H. Weber - Страница 3

Erste Erfahrungen

Оглавление

Es war ein heißer schöner Sommertag gewesen. Die Dorfgemeinschaft war froh und erleichtert die schwere Heuernte geschafft zu haben. Nachdem das letzte Heu in der Scheune untergebracht war, kamen alle zusammen um ein Hoffest zu feiern. Es gab Spanferkel, frisch gebackenes Brot und auch gegen den Durst gab es genügend.

Nach dem vergnüglichen Essen fanden sich schnell einige Musiker und schon bald wurde ausgelassen getanzt. Auch Lieselotte war voller Elan dabei, obwohl sie schon den ganzen Tag hart gearbeitet hatte. Nach einiger Zeit fand sie sich in den Armen von Frank Feldmann wieder. Ihr war schon auf dem Feld aufgefallen, dass der Nachbarjunge sich oft in ihrer Nähe aufhielt. Obwohl der Nachbarhof nur etwa einen Kilometer entfernt war, hatte sie mit Frank bislang wenig zu tun gehabt, da er ein ruhiger zurückgezogener Bursche war. Er war der zweite Sohn der Familie und konnte somit nicht damit rechnen den Hof seines Vaters zu erben. Mit seinen achtzehn Jahren war er ein Jahr älter als Lieselotte.

Als die Musiker eine Pause machten zog Frank sie mit sich. Die beiden jungen Leute machten einen Spaziergang im Mondschein. Als sie an der Rückseite der Scheune waren fing Frank schüchtern zu erzählen an, dass er Morgen das Dorf verlassen würde um in der großen Stadt Pitburg zur Seefahrtsschule zu gehen. Er träumte davon eines Tages Kapitän zu werden und mit großen Schiffen die Weltmeere zu bereisen. »Lieschen, weißt Du eigentlich, dass Du das hübscheste Mädchen in der ganzen Gegend für mich bist?«, fragte Frank, »Darf ich Dich zum Abschied küssen?«. Und schon kam er ihr immer näher, bis sich ihre Lippen zaghaft und ungeschickt berührten. Für Lieselotte war es eine neue Erfahrung, denn es war ihr erster Kuss. Zwischen den Tänzen hatte Frank ihr Apfelsaft gebracht, aber langsam hatte sie den Verdacht, dass es wohl eher Apfelwein gewesen war. Und so kicherte sie erst fröhlich verlegen nach dem unerwarteten Kuss um dann plötzlich mutiger geworden einen weiteren Kuss einzufordern. Dieser Kuss war um einiges länger und intensiver und so fand ihre Schwester Trintje sie bei einer wilden Knutscherei vor. Entsetzt schlug das Mädchen ihre Hände vor den Mund und entfernte sich leise und vorsichtig rückwärts zurück um die Ecke aus der sie gekommen war, um gleich darauf lautstark nach ihrer Schwester zu rufen.

Lieselotte zuckte erschrocken zusammen und richtete ihre Kleider und versuchte ihr Haar wieder in Ordnung zu bringen, um dann schnell und ganz unauffällig hervor zu kommen und Trintje zu fragen, warum sie gesucht wurde. »Die Nachbarn gehen jetzt alle und Du sollst in der Küche beim Abwasch helfen.«, gab die kleine Schwester bereitwillig Auskunft. Wenig später sah Trintje noch einen traurigen Frank mit hängendem Kopf nach Hause schleichen. »Liese, bist Du verrückt geworden? Weißt Du nicht, dass man von so einer wilden Küsserei ein Kind bekommt?«, fragte Trintje. »Quatsch«, antwortete Lieselotte, »wer sagt denn sowas?«. »Ich weiß das ganz genau!«, bescheinigte Trintje ihr, »Oma Ursel hat es mir erzählt und dann habe ich bei Tante Wiebke auch noch mal nachgefragt und sie hat es dann bestätigt.« Trintje war zwar erst 8 Jahre, aber sie war sehr wissbegierig und man hatte oft den Eindruck, dass sie alles wusste. Wenn man Trintje etwas fragte, dann hatte man manchmal den Eindruck, dass sie einen für ziemlich dumm hielt, wenn man ihr so eine Frage stellte. »Oma Ursel hat gesagt das ein ganz kurzer Kuss auf die Wange nicht schlimm ist aber, wenn man sich ganz heftig und lange auf den Mund küsst, so wie du und Frank das eben gemacht habt, dann kommt bald der Klapperstorch und bringt dir ein Kind, obwohl du noch gar nicht verheiratet bist und dann zeigen alle Leute auf dich und dann bist du ein, Hmm ich weiß nicht mehr wie Oma das nannte, auf jeden Fall etwas ganz Schlimmes.« »So heftig haben wir uns gar nicht geküsst«, wollte Lieselotte ihrer Schwester widersprechen aber Trintje hüpfte umher und fing an zu singen, »doch ich habe es genau gesehen...dum di dum, die Liese bekommt bald ein Kind«. Entsetzt fing Lieselotte ihre Schwester ein und hielt ihr den Mund zu. »Spinnst Du? Wir sind gleich bei den Anderen. Erzähl ja keinem etwas davon!« »Was bekomme ich dafür?«, fragte Trintje genuschelt unter Lieselottes Hand hindurch. »Keine Tracht Prügel, wenn Du mich fragst«, antwortete Lieselotte sauer. »Na gut, du kannst am Sonntag meinen Nachtisch haben«, bot sie jetzt doch versöhnlich an. »Na gut, aber wenn Du ein Kind bekommst, dann weißt Du, woher das kommt. Ich habe Dich vorgewarnt!«, meinte Trintje und rannte zum Lagerfeuer um zu hören, über was der Vater und die anderen Männer sich unterhielten.

Leicht verwirrt ging Lieselotte in die Küche um der Mutter zu helfen. »Kind, wo warst Du denn?«, fragte die Mutter, »Ich such Dich schon überall. Komm wir wollen doch auch mal fertig werden.« »Ja Mutter«, antwortete Lieselotte nur einsilbig und fing an beim Aufräumen und Abwaschen zu helfen.

Es wurde spät an diesem Abend und doch fand Lieselotte in dieser Nacht keinen Schlaf. Die Erlebnisse mit Frank und das, was ihre Schwester gesagt hatte, gingen ihr nicht aus dem Kopf. Was war, wenn es doch stimmte, was Trintje erzählte? Frank wollte morgen den elterlichen Hof verlassen. Man durfte doch erst Kinder bekommen, wenn man verheiratet war. Sie wusste genau, was Frauen waren, die ein Kind hatten und nicht verheiratet waren. Man nannte diese `liederliche Frauenzimmer` oder so etwas und zeigte mit dem Finger auf sie. Und heirateten wollte die Frau dann auch kein Mann mehr. Was sollte sie bloß tun? Ob Frank das auch nicht wusste? Oder ob er sie mit Absicht so sehr geküsst hatte? Sie musste Frank einfach ganz schnell heiraten. Dann wäre alles gut. Also musste sie so schnell wie möglich zu Frank und ihn vom Aufbruch abhalten. Es wurde schon Morgen, hoffentlich war er noch nicht weg. Leise kroch Lieselotte aus ihrem Bett und zog sich an. Aus der Küche holte sie sich noch schnell ein Stückchen Brot und einen Apfel und schlich dann aus dem Haus. Sobald sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen war, rannte sie so schnell sie nur konnte. Aber als sie fast beim Nachbarhof war, sah sie in der Ferne, wie Frank auf einem Fuhrwerk mitfuhr und sich nicht mehr umdrehte. Sie erinnerte sich, dass er ihr erzählt hatte, dass er in der nächsten Ortschaft mit der Postkutsche weiterfahren wollte. Ab da würde es dann noch schwieriger, den Reisenden abzufangen.

In ihrem Kopf war nur noch der Gedanke, »Ich muss hinterher!«. Und so rannte und lief sie abwechselnd so lange sie nur laufen konnte. Wenn sie Leute oder Fuhrwerke sah, dann versteckte sie sich schnell hinter Büschen und Sträuchern, denn ihr war plötzlich bewusstgeworden, dass sie gerade dabei war von Zuhause wegzulaufen. Nie hätte sie gedacht, dass sie das einmal machen würde. Aber jetzt war der Entschluss gefasst und sie wollte auf keinen Fall umkehren. Gegen Mittag traf sie auf eine größere Straße, auf der viele Fuhrwerke unterwegs waren. Dort achtete auch niemand mehr auf ein junges Mädchen, das allein unterwegs war. Trotzdem wurde es Lieselotte mulmig zumute. An einer Kurve hatte sie Glück. Ein Fuhrwerk hatte dort angehalten und der Fuhrmann gab seinen Pferden etwas zu trinken. Unter einer Plane transportierte er wohl Stoffballen. Das würde doch bestimmt zu einer großen Stadt gebracht werden. Bestimmt nach Pitburg. Zumindest hoffte Lieselotte das und kletterte vorsichtig und leise unter die Plane und quetschte sich zwischen die Ballen. Eng, aber gemütlich dachte sie. Und zumindest war sie gut gepolstert und so bekam sie vielleicht nicht so viele blaue Flecken von der unebenen Straße. Als die Fahrt weiterging fielen ihr schon bald die Augen zu, bei dem gleichmäßigen Gerumpel und der Dunkelheit.

Doch bald schon wurde es stickig und heiß unter der Plane. Lieselotte fing an zu überlegen, was sie da bloß gemacht hatte. Sie überlegte, ob sie nicht doch wieder herunter klettern sollte, um nach Hause zu gehen. Andererseits träumte sie von ihrem Frank. Jetzt im Sommer waren seine strohblonden Haare noch heller geworden, fast schon weiß und er hatte so ein umwerfendes Lächeln. Eigentlich hätte er doch bestimmt jedes Mädchen haben können. Aber nein, er hat gesagt, dass ich das hübscheste Mädchen wäre, dachte Lieselotte mit Nachdruck. Das Mädchen war von ihren Gefühlen und ihren Gedanken hin und her gerissen. Auch wenn sie unverheiratet ein Kind bekommen würde, ihre Familie würde sie doch nie verstoßen und der kleinen Schwester hat man doch nur Märchen erzählt. Sie fing schon an ganz vorsichtig nach hinten zu rutschen, um doch runterzuspringen und Heim zu gehen.

Doch plötzlich hörte sie den Fuhrmann laut fluchen. Sie schreckte zusammen und fürchtete schon, dass der Mann sie entdeckt hätte, doch jetzt verstand sie etwas von dem was er rief, »Du Hornochse, mach den Weg frei, deine Ochsen sind ja so lahm, dass du von Schnecken überholt wirst!« Erleichtert seufzte sie, das konnte nicht ihr gelten. Jetzt hörte sie auch noch einen anderen Mann genauso unfreundlich zurückrufen. Was der andere Mann rief konnte sie nicht verstehen, aber was sie von ihrem Fuhrmann hörte, das war schon heftig. Solche Ausdrücke hatte sie noch nie gehört. Ihr Vater und auch die Knechte Zuhause schimpften ja auch mal, aber so? Ihr wurde noch mehr angst und bange, wenn das überhaupt noch möglich war. Es wurde immer wärmer unter der stickigen Plane. Sie beschloss so schnell wie möglich den Wagen zu verlassen. Sie hatte gerade wieder begonnen sich weiter zum Wagenende vorzukämpfen, als es einen Ruck gab und die Pferde offenbar eine schnellere Gangart eingeschlagen hatte. Der Bauer mit dem Ochsenkarren musste entweder abgebogen sein oder er hatte Platz gemacht. Ganz vorsichtig linste sie aus ihrem Versteck heraus und sah, dass der Bauer einen anderen Weg eingeschlagen hatte. Erstaunlicherweise sah er aber gar nicht ärgerlich aus, sondern winkte dem Fuhrmann noch zum Abschied.

Viel Zeit zum wundern hatte Lieselotte aber nicht, denn jetzt rumpelte der Wagen hin und her und versetzte ihr bei den vielen Schlaglöchern einen Stoß nach dem anderen. Kaum machte die Straße eine Kurve, da wurde das Fuhrwerk wieder langsamer. Offenbar wollte der Fuhrmann dem Bauern nur zeigen, wie eilig er es hatte. Jetzt stimmte er sogar ein fröhliches Lied an. War sie jetzt an einen bösen Mann geraten, oder war das Geschimpfe gerade nur gespielt? Sicherheitshalber wollte sie doch den Wagen verlassen, als sie ein heftiges Donnern vernahm und die Pferde ängstlich wieherten. In der nächsten Minute regnete es, als wenn es ein Weltuntergang wäre. Es kühlte unter der Plane merklich ab, aber es war trocken und so blieb Lieselotte wo sie war.

Schon bald hatte sich die staubtrockene Landstraße in Matsch verwandelt und die Pferde hatten Mühe überhaupt voran zu kommen. Plötzlich hielt der Wagen und mehrere Stimmen waren zu hören. Offenbar waren sie an einem Gasthof angelangt. Kurzerhand wurde der ganze Fuhrwagen in eine Scheune gebracht, wo dann die nassen verängstigten Pferde losgeschirrt wurden. Als Lieselotte vorsichtig hinausspähte, sah sie gerade noch, wie der Fuhrmann die Scheune verließ. Aber noch war ein Knecht mit den Pferden beschäftigt und so wagte sie sich noch nicht heraus. Als die Pferde ihre Ration Hafer und Möhren erhalten hatten und der Knecht nicht mehr zu sehen war, hüpfte sie herunter. Hoffentlich fand sie hier auch etwas zu essen. Außer dem kargen Frühstück heute Morgen hatte sie noch nichts gegessen. Ein paar Möhren würden ja schon reichen und tatsächlich hatte sie Glück. In einer Ecke fand sie einen großen Sack Möhren und daneben auch noch eine Kiste Äpfel. Sie nahm sich etwas und sah sich jetzt erst einmal um. Vielleicht hatte ja die Postkutsche auch hier Halt gemacht, aber enttäuscht stellte sie fest, dass das wohl nicht der Fall war.

Nachdem sie sich gestärkt hatte, schaute sie nach den zwei Pferden. Eigentlich sahen sie nicht danach aus, als wenn sie zusammen einen Wagen ziehen würden. Das eine Pferd war hellgrau mit dunkelgrauen Flecken und das andere war braun mit einer schwarzen Mähne und ein ganzes Stück größer. Die Tiere schauten sie neugierig an. Sie dampften und waren nach dem Gewitterregen noch richtig nass. Der Knecht hatte sich nicht die Mühe gemacht die Tiere trocken zu reiben. Lieselotte nahm beherzt einen Strohhaufen und trocknete beide Pferde ab. Danach suchte sie sich auf dem Heuboden ein gemütliches Plätzchen und war auch bald eingeschlafen.

Am nächsten Morgen erwachte sie mit dem ersten Hahnenschrei und war auch gleich munter. Lieselotte hatte einen Entschluss gefasst. Sie war schon so weit gekommen und jetzt wollte sie auch nach Pitburg gelangen. Im Gasthof schliefen noch alle, deshalb schlich sie sich vorsichtig aus der Scheune und machte sich auf den nächsten Teil ihrer Wanderung. Sich direkt wieder im Fuhrwagen zu verstecken, das traute sie sich nicht. Der Mann kontrollierte bestimmt seine Ware, bevor er weiterfuhr. Lieselotte war sicher, dass es ein schöner Tag werden würde. Der Tau glitzerte wie tausend Perlen im ersten Sonnenschein. Und das Mädchen begann fröhlich zu pfeifen und übermütig zu hüpfen.

Später am Vormittag bot sich wieder eine versteckte Mitfahrgelegenheit. Diesmal in einem Fuhrwerk, das mit dünnen Seilen beladen war. Bald schon war sie unter der warmen stickigen Plane etwas eingedöst, als sie plötzlich eine vertraute Stimme von draußen hörte: »Hey Fuhrmann, habt Ihr ein junges Mädchen gesehen, das allein unterwegs ist?« Das war doch die Stimme von ihrem großen Bruder Berthold. Lieselotte lag am Rand des Wagens und konnte zwischen zwei Seitenplanken hindurch blinzeln. Tatsächlich, ihr ältester Bruder war auf der Suche nach ihr. Er ritt auf Rosi, ihrem Lieblingspferd. Vater hatte auf einem Viehmarkt Rosis Mutter gekauft, als noch niemand wusste, dass sie ein Fohlen bekam. Die Stute hatte aber schon früh zu wenig Milch für ihr Kind und da bekam Lieselotte die Aufgabe sich um das Fohlen zu kümmern, bis es alt genug war um selbst als Arbeitspferd zum Einsatz zu kommen. Rosi musste ihre Anwesenheit wohl spüren, denn sie fing an unruhig zu wiehern und zu schnauben. Lieselotte wollte schon aufspringen, als sie hörte, dass ihr Bruder noch weiter sprach. »Sie ist ungefähr so groß und hat ein blaues Kleid an und zwei dunkelblonde Zöpfe«.

Wie bitte? dachte das Mädchen, wir haben vorgestern noch miteinander gearbeitet und aus dem blauen Kleid bin ich schon lange raus gewachsen und habe es an meine Schwester Marianne weitergegeben. Und zwei Kleinmädchenzöpfe habe ich ja wohl auch nicht mehr. Ich habe meine Haare ordentlich zu einem Haarkranz geflochten. So blind kann man doch gar nicht sein oder will er mich gar nicht finden? Bin ich auf dem Hof so selbstverständlich, dass sie mich gar nicht mehr wahrnehmen? Nein, ich gehe nicht mit Berthold zurück. Und schon hörte sie, wie ihr Bruder mit Mühe sein Pferd Antrieb und weiter Ritt. Berthold war der Erstgeborene und Hoferbe. Er war bereits 21 Jahre alt. Insgesamt waren sie 10 Kinder Zuhause. Die kleinste Schwester war noch kein Jahr alt. Offenbar war eine Schwester mehr oder weniger da nicht wichtig für den Bruder, dachte Lieselotte enttäuscht. Sie war das älteste Mädchen und hatte immer viel von ihrem größten Bruder gehalten. Aber das war jetzt vorbei, beschloss sie. Jetzt konnte jemand anderes die Hühner füttern, der Mutter bei der Wäsche und dem Kochen helfen und die ewigen Vorwürfe der Uroma anhören.

Der Rest der Reise war ein eintöniges Gerumpel über die Landstraße. Am späten Nachmittag merkte sie, dass der Wagen langsamer wurde und schließlich hielt. Vorsichtig spähte Lieselotte hinaus und sah, dass sie offensichtlich an einem Stadttor angekommen waren. Vor ihnen waren wohl noch mehrere Wagen, aber durch Rufe hörte sie, dass jeder Wagen kontrolliert wurde. Sie musste also schleunigst den Wagen verlassen. Hinter ihnen hatte schon das nächste Fuhrwerk gehalten. Die Pferde würden sie ja hoffentlich nicht verraten, wenn sie absprang. Ein Pferd schnaubte zwar leicht, aber dadurch wurde keiner aufmerksam. Aber wenn jeder kontrolliert wurde, wie sollte sie dann an den Stadtwachen vorbeikommen? Sie hatte keine Papiere und eigentlich auch überhaupt keinen triftigen Grund um in die Stadt zu gehen.

Lieselotte überlegte sich gerade eine haarsträubende Geschichte, dass sie einer kranken Tante mit 7 Kindern helfen musste und auf dem Weg hier her überfallen und ausgeraubt worden war. Sie wollte gerade damit beginnen ihre Bluse etwas zu zerreißen und sich selbst vielleicht ein paar Schrammen zu zufügen, als ihr eine schwer beladene Frau und ein kleines Mädchen auffielen. Die Kleine stolperte müde hinterher. Kurz entschlossen nahm sie das Kind auf den Arm und schloss sich der Frau wie selbstverständlich an. Erst wollte die Mutter protestieren, aber da die Kleine sich gleich müde und vertrauensvoll an Lieselotte schmiegte, nickte sie nur unauffällig, müde und dankbar. Die Frau hatte wohl mit ihrer kleinen Tochter in einem Wald den ganzen Tag schon Brombeeren gepflückt und trug einen großen Korb. So gelang Lieselotte als brave Tochter, die der Mutter fleißig mit den Brombeeren und der kleinen Schwester half, in die Stadt. Erst wollte Lieselotte die Kleine ja gleich nach dem Stadttor wieder absetzten, aber da war sie schon auf ihrem Arm eingeschlafen. Also begleitete sie die Beiden bis nach Hause, um sie erst vor der Tür vorsichtig zu wecken und sich zu verabschieden.

Es war zwar schon fast Abend, aber sie fragte trotzdem einige Leute nach dem Weg zur Seefahrtschule. Schließlich gelangte sie an eine merkwürdige Straße. Dort hatten Arbeiter mehrere Seile in einem Gestell eingespannt und drehten sie zu einem sehr dicken Seil. Das andere Ende der Seile war fast schon nicht mehr zu sehen, so lang waren sie. Neugierig geworden fragte Lieselotte einen Arbeiter nach dem Zweck. »Das hier ist eine Reeperbahn und wir machen die Seile und Taue für die großen Schiffe im Hafen. Mit diesem dicken Tau hier, kann man später ein Schiff an der Kaimauer befestigen. Du bist wohl nicht von hier, was?«, gab der freundliche Mann bereitwillig Auskunft. Nachdem Lieselotte den Kopf geschüttelt hatte, erkundigte sie sich auch bei ihm nach dem Weg zur Schule. »Da bist Du schon fast richtig«, meinte er, »hier gerade aus, bis du zum Fluss Elda kommst und dann rechts ein Stück noch Fluss abwärts. Aber warte einmal, hier habe ich etwas für Dich.« Und damit gab er ihr ein ca. 40 cm langes Stück Seil und machte an einem Ende noch einen festen Knoten rein. »Es ist zwar nicht viel, aber manchmal reicht auch schon der Überraschungseffekt. Hier in der großen Stadt gibt es nämlich nicht nur nette Männer. Es gibt sehr viele Seemänner hier, die dann häufig auch noch betrunken sind. Wenn Dir also einer zu nahekommt, dann haust Du ihm kräftig auf die Finger und siehst zu, dass du wegläufst, ja? Ich heiße übrigens Hinderk und wenn Du mal Hilfe brauchst, dann kannst Du ruhig zu mir kommen.« Lieselotte bedankte sich, war jetzt aber auch etwas eingeschüchtert und fragte sich in Gedanken, worauf sie sich da bloß eingelassen hatte. Den Rest des Weges rannte sie fast. Die Seefahrtschule war nicht zu übersehen. Es war ein eindrucksvolles weißes Gebäude und im Vorgarten lag ein großer Anker. Schüchtern blieb Lieselotte neben einem Baum stehen. Jetzt war sie an ihrem Ziel angekommen, aber was sollte sie als nächstes tun? Sollte sie einfach in das Gebäude gehen und nach Frank fragen? Und wenn es ihm gar nicht gefiel, dass sie gekommen war? Vielleicht war er ja auch gar nicht hier und es gab noch eine Schule. Unsicher trat sie von einem Fuß auf den anderen und knabberte nervös an ihrer Unterlippe. Vielleicht war hier auch gar keiner mehr? Es sah alles so ruhig und verlassen aus. Vielleicht sollte sie besser morgen wiederkommen? Lieselotte faste bereits den Entschluss, morgen wieder zu kommen, als die große Eingangstür aufging und viele junge Männer herausströmten. Die meisten trugen ganz normale Kleidung, aber einige trugen auch Uniformen. Einer dieser Uniformierten kam jetzt direkt auf sie zu. »Oh, Schreck«, dachte Lieselotte, »habe ich etwas Unrechtes getan? Und was soll ich bloß sagen, wenn er mich anspricht?« Ihre Sorge war aber ganz unbegründet, denn der junge Offizier begrüßte sie freundlich. »Guten Abend, mein Fräulein, ich habe Sie hier noch nie gesehen, kann ich Ihnen behilflich sein?«, sprach er sie an. Er trug eine makellos weiße Hose und einen blauen Uniformrock mit roten Aufschlägen. »Der sieht gar nicht so schlecht aus«, dachte Lieselotte um sich gleich selbst auszuschimpfen, denn schließlich war sie ja wegen ihrem Frank hier. Aber dieses Grübchen beim Lächeln war schon umwerfend. Liese, Reiß dich zusammen, schalt sie sich. »Ja, heute Morgen muss hier ein neuer Schüler angefangen haben, ich muss ihn unbedingt sprechen!«, bestätigte Lieselotte. »Heute haben etwa 50 neue Schüler angefangen, gnädiges Fräulein, um Ihnen da zu helfen bräuchte ich schon einen Namen. Ich heiße übrigens Kuno Mayer.« Plötzlich konnte Lieselotte sich vor Lachen nicht mehr halten. Verdutzt sah der junge Mann sie an. Hatte er etwa etwas Falsches gesagt? »Entschuldigen Sie«, sagte Lieselotte, »mein Name ist ebenfalls Meier, Lotte Meier, das ist doch ein Zufall, oder? Ich suche Frank Feldmann, gibt es eine Stelle, wo ich mich nach ihm erkundigen könnte?« »Ach so, ich hatte schon befürchtet etwas Falsches gesagt zu haben«, meinte Kuno und lachte jetzt ebenfalls. »Kommen Sie, ich glaube der Pförtner hat eine Liste der Neuankömmlinge. Vielleicht haben Sie ja auch Glück und er kommt gleich noch raus, obwohl jetzt eigentlich schon bald alle draußen sein müssten.« Kuno Mayer hielt Lieselotte galant den Arm hin, damit sie sich bei ihm unterhaken konnte. Ohne weiter nachzudenken nahm Lieselotte das Angebot an und sie gingen zu zweit hinein.

Hinter der Eingangstür war ein Zimmer mit einem Fenster, das man zur Seite schieben konnte. Vor lauter Aufregung fing Lieselotte glatt an zu stottern um dann immer schneller zu sprechen: »Guten Tag, ich muss unbedingt mit Frank sprechen, Frank Feldmann. Er muss heute hier angefangen sein, ich bin seine Schwester und unser Vater und der Bruder, ...also die wollten den Bullen wieder einfangen und jetzt sind sie beide verletzt, also der Bulle nicht oder nur wenig, aber Vater hat den Arm kaputt und Berthold hat sich den Fuß verstaucht und jetzt brauchen wir Frank ganz dringend auf dem Hof, denn es sind jetzt nur noch Frauen und Mädchen da und wir schaffen das nicht allein ...und und ...«. »Moment, Moment, junges Fräulein«, bremste sie der ältere Herr hinter dem Schalter, »holen Sie mal erst einmal wieder Luft. Eigentlich darf ich ja keine Auskunft geben, aber ich sehe ein, dass das ein absoluter Notfall ist.« Das Mädchen nickte zustimmend. »Na, dann schauen wir mal..., Hmm...Fa... Fe...Feldmann, da haben wir ihn ja, hmm. Ja, er sollte heute anfangen, aber er ist heute Morgen nicht gekommen. Tut mir leid mein Fräulein, Ihr Bruder scheint sich zu verspäten. Vielleicht ist er ja zumindest im Seemannsheim abgestiegen und hat die Reise nicht so gut verkraftet, fragen Sie doch einmal dort nach.«

Damit hatte Lieselotte nun gar nicht gerechnet. Fragend schaute sie von dem Herrn hinterm Schalter zu ihrem neuen Bekannten Kuno Mayer und zurück. »Oh, danke«, übernahm jetzt Kuno das Gespräch und führte die verdutzte Lieselotte wieder hinaus. Die Herberge für Seemänner ohne Anstellung und Schüler war gleich neben der Schule. Aber auch dort hatten sie kein Glück. Frank war an seinem Reiseziel nicht angekommen.

Die Hafenkinder von Pitburg

Подняться наверх