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2. Das Dissertationsprojekt „Werden und Krise des Priesterberufes“

2.1 Genese des Themas

Jakob Crottogini immatrikulierte sich an der Universität Fribourg zum Wintersemester 1950/51. Zu diesem Zeitpunkt hatte er schon einige Ausbildungserfahrungen auf dem Weg zum Priestertum gesammelt. Er konnte nicht nur auf seine Ausbildungszeit als Seminarist zurückblicken, sondern war seit 1947 als Präfekt am Progymnasium in Rebstein auch schon selbst an der Erziehung möglicher künftiger Priester beteiligt gewesen. Weil die Missionsgesellschaft ihn nach seinem Abschluss als Lehrer und Erzieher wieder am Progymnasium in Rebstein einsetzen wollte, lag es nahe, eine Abschlussarbeit anzufertigen, die ihm dort später von praktischem Nutzen sein würde. Einen ersten Anstoß für eine solche Arbeit gab ihm sein Dozent für Arbeits- und Berufspsychologie, der sich früher schon einmal mit der Berufsmotivation reformierter Pfarrer beschäftigt und aktuell die Motivationen angehender Ordensschwestern untersuchte. Crottogini kam „die Idee, eine ähnliche Untersuchung für Priesteramtskandidaten durchzuführen.“139

Crottogini war der Bereich der Priestererziehung immerhin nicht unvertraut und die Aktualität des Themas – gerade in Zeiten des zunehmenden Priestermangels – war ihm durchaus bewusst.140 Ihn interessierte jedoch nicht nur die faktische Berufsmotivation dieser Männer, vielmehr wollte er auch untersuchen, welche Einflüsse auf die Entstehung eines solchen Berufswunsches einwirkten, so Crottogini später in einem Interview.141 Denn immer wieder hatte er die Erfahrung gemacht, dass „ideal gesinnte junge Menschen, die sich jahrelang mit allem Ernst auf den Priesterberuf einstellten, […] schließlich doch von diesem Vorhaben Abstand nahmen.“142 Auch waren ihm selbst Fälle bekannt, in denen zwar der Berufswunsch umgesetzt wurde, es später aber zu schweren Berufskrisen gekommen war.143 Aus eigener Erfahrung kannte er also die kritischen Punkte, die in einer solchen Arbeit zu untersuchen waren.144

Mit dem 20. Jahrhundert war der Priestermangel zu einem dringenden Problem der katholischen Kirche geworden.145 Der schon vor dem Zweiten Vatikanum erkennbare Rückgang des Priesternachwuchses löste vor allem in den USA eine Welle an Studien über Priester aus, die sich auf der Suche nach den Ursachen immer wieder mit den Berufsmotiven, der charakterlichen Eignung und der Kindheit der Kandidaten beschäftigten. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre war die Liste an Priesterstudien deshalb lang und das Interesse daran groß. Allerdings waren diese Arbeiten überwiegend im englisch-amerikanischen Sprachraum entstanden und – wenn überhaupt – dort veröffentlicht worden.146 Deutschsprachige Autoren hatten sich zwar auch mit dem Thema befasst, doch nie im gleichen Umfang und mit gleicher Intensität wie die Amerikaner und ohne die dortigen Forschungen zur Kenntnis zu nehmen.147 Eine umfassende empirische Untersuchung anhand moderner wissenschaftlicher Methoden zu den Motiven der Berufswahl von Seminaristen bzw. Priestern stand für den deutschen Sprachraum noch aus.148

Crottoginis Dissertationsthema passte damit nicht nur zu seinen biographischen Seminarerfahrungen und der eigenen Interessenlage, sondern war zugleich hochaktuell. Die kulturellen, politischen, sozialen, pastoralen und zeitbedingten Ursachen für den Priestermangel hatte man schon erkannt149, doch fielen nicht nur ihre Gewichtung und Bewertung unterschiedlich aus, sondern auch die Überlegungen, wie sie zu beheben oder zu überwinden sein könnten. Vor allem dem Priesterseminar sprach man ein großes Potenzial zu, sich positiv auf den Priestermangel auszuwirken. Probleme in der Priesterbildung zu ermitteln und beheben zu können, bot die Aussicht, den Rückgang der Priesterberufe in Teilen zu begrenzen. Eine Reihe von Untersuchungen zum Priestermangel setzte daher bei der Priesterausbildung an und suchte dort schon nach den Gründen und Ursachen, die für ein späteres Austreten aus dem Seminar oder für ein Scheitern als Priester verantwortlich sein könnten, so auch Crottogini. Um seine Arbeit und seine Ansätze allerdings aus heutiger Sicht einordnen zu können, ist es hilfreich, einen Blick auf das zeitgenössische Priesterbild und dessen Bedeutung für die Seminarerziehung zu werfen. Es muss klar sein, was von Seminaristen bzw. Priestern vorausgesetzt und von ihnen erwartet wurde, um Crottoginis Ansätze und Befunde angemessen einordnen zu können. Priesterideal und Seminarerziehung waren notwendig verknüpft, weil das Priesterideal das normative Erziehungsziel implizierte. Welches Priesterbild und welche Seminarerziehung lagen Crottoginis Projekt also zugrunde? Auf welchen zeitgenössischen Grundlagen begann er seine Untersuchung? Was machte im amtlichen Verständnis das Wesen des Priestertums, des Priesters aus? Wie musste er persönlich-charakterlich sein, um seinem Wesensideal zu entsprechen? Konnte man solche erforderlichen Lebens-, Denk- und Verhaltensweisen im Rahmen der Seminarzeit anerziehen? Und wie? Mit welchen Methoden und Erziehungsmaßnahmen wurden Seminaristen in der Ausbildung auf ihr späteres Leben als Priester vorbereitet?

2.1.1 Das Priesterbild

Priesterbild und Priesterbildung waren seit jeher eng miteinander verknüpft und bedingten sich. Gab es Veränderungen im Priesterbild, machte sich das entsprechend in der Priesterausbildung bemerkbar. Gab es wiederum Defizite in der Priesterausbildung, konnte das Ideal des Priesterbilds nicht oder nur schwer erreicht werden. Der Begriff Priesterbild ist jedoch mehrschichtig. Er umfasst sowohl eine Wesens- und Funktionsbeschreibung als auch ein geistlich-aszetisches Ideal, das seit jeher dem Wandel unterliegt. Dem Konzil von Trient (1545–1563) war es zunächst ein Anliegen, dogmatisch die Existenz des Weihepriestertums zu verteidigen und zu sichern.150 Denn die Reformatoren hatten nicht nur die Rechtmäßigkeit eines eigenen klerikalen Standes, sondern auch die des Weihepriestertums verworfen.151 Die Reformatoren lehnten dessen klerikal-juridische Fixierung ab und beharrten auf dem gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen, in dessen Rahmen sie den Dienst an Wort und Sakrament nur als eine Funktion betrachteten.152 Von katholischer Seite wurde daher vorrangig die Sakramentalität der Weihe bekräftigt. Das Konzil definierte in antireformatorischer Verteidigung die ontologischen Unterschiede zwischen Kleriker und Laien.153 Die Weihe bewirkt demnach eine Veränderung im ontologischen Sinne, eine Seinsprägung, einen „unverlierbare[n] ‚Charakter‘“154. Und dieser Weihecharakter „macht aus dem Priester einen zweiten Christus (alter Christus).“155 Dem Wesen nach war ein Kandidat nach der Weihe damit anders. Diese „Zwei-Stände-Gliederung in (übergeordnete) Kleriker und (untergeordnete) Laien“156 war ausgerichtet auf den Kult und insbesondere die Sakramentenspendung.157 Denn an die ontologische Andersartigkeit waren die übernatürlichen Vollmachten gebunden. Es war die Auffassung, der Heilsauftrag der Kirche komme ausschließlich dem Priester zu, der „durch das Sakrament der Priesterweihe mit besonderen, übermenschlichen Befähigungen und Vollmachten“158 ausgestattet sei. Diese Vollmachten befähigten den Priester zum Verwalten und Ausspenden der Sakramente (vgl. 1 Kor 4,1). Durch die Weihe werde er zur eucharistischen Konsekration und damit unmittelbar zur Opferdarbringung befähigt. Der Funktion nach spende und vermittle er die Gnadengüter.159 In diesem Sinn wurde von katholischer Seite ein vor allem gegenreformatorisch bestimmtes Leitbild des Priesters und des Bischofs entwickelt, „das aus der Heiligen Schrift und den Kirchenvätern geschöpft wird, seinen konkreten Inhalt aber aus der seelsorglichen Not der kirchlichen Gegenwart erhält: das Ideal des Guten Hirten.“160 Das Konzil präzisierte das Ziel der Seminarerziehung aber nicht, indem es etwa positiv ein detailliertes geistlich-aszetisches Leitbild des Priesters vorgegeben hätte. Vielmehr begnügte es sich mit einer Abgrenzung der katholischen Lehre über das Priestertum gegen die protestantische Lehre.161

Der Umgang mit den Seminaristen orientierte sich deshalb zunächst auch nur an diesen Lehren: „Der Betonung des ‚sichtbaren‘ und ‚hierarchischen‘ Priestertums entspricht die Heraushebung der Kandidaten aus ihrer normalen Umgebung (Tonsur, Erziehung im Kolleg). Aus der Sakramentalität der Weihe ergibt sich die Erziehung zu einem religiösen und frommen Dasein“162. Das Konzil von Trient beabsichtigte, durch Reformgesetze jene Missstände zu beheben, die einer solchen Heraushebung entgegenstanden.163 Helfen sollte dabei die Hirten-Metapher.

Aus der besonderen ontologischen Qualifizierung des Priesters als Verwalter und Ausspender der Sakramente folgten besondere Anforderungen an seine Lebensführung164 und zwangsläufig entwickelten sich geistlich-aszetische Ansprüche, die „übermenschlich“ anmuteten.165 Priester sollten immerzu nach Vollkommenheit streben und ein Standesbewusstsein fördern.166 Durch ihr Beispiel sollten sie so auch als ein „Instrument der Rekatholisierung“167 fungieren. Dem Vorbild des Priesters kam damit eine besondere Rolle für die Seelsorge zu, indem er durch sein Beispiel die Frömmigkeit des Volkes fördern oder ihr schaden konnte. Die Beschreibung des ontologischen Wesenskerns blieb seitdem konstant und doch gab es nie das fixe und endgültige Priesterbild.168 Aufgrund unterschiedlicher seelsorglicher und gesellschaftlicher Situationen wurden immer wieder unterschiedliche Anforderungen aus demselben Wesensverständnis abgeleitet. Immer wieder äußerten sich die Päpste zum Bild des Priesters, wenn auch aus verschiedenen Anlässen oder mit unterschiedlichen Akzenten.169 Es gab „verschiedene Züge und Schattierungen am Priesterbild, die einzeln betrachtet werden können“170, die aber schließlich aufeinander aufbauten, sich ergänzten und/ oder aufeinander verwiesen.

Im 16. Jahrhundert war es z. B. aufgrund der Reformation dringend nötig, das Realbild des Priesters zu heben. Im 18. Jahrhundert wurde stattdessen das Bild des aufgeklärten Priesters zum Ideal. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war es Johann Michael Sailer, der einer bibeltheologisch und ekklesiologisch ausgerichteten Priesterbildung und der Pastoraltheologie zu einem neuen Stellenwert verhalf,171 obwohl das „dynamische, lebensbezogene Priesterbild Sailers […] bald verflacht [wurde] zu einem kirchenamtlich überbetonten, uniformen aszetisch-strengen Erziehungs- und Tätigkeits-Leitbild.“172 Dies war der theologisch-kirchlichen restaurativen Tendenz im 19. Jahrhundert geschuldet. Vor allem seit dem Ersten Vatikanischen Konzil war das Priesterbild von „einer straffen Einheitlichkeit und Geschlossenheit, vor allem auch im Lebensstil und Erscheinungsbild bestimmt“173. Das Ziel war ein homogener Klerus.

Für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts lässt sich zunächst die Heiligkeit des Priesterstandes bzw. die Selbstheiligung der Priester als Herzensangelegenheit der Päpste ausmachen. Die Selbstheiligung sollte das priesterliche Streben nach Heiligkeit sein, wenngleich sie manchmal mit einer „anthropozentrische[n] Selbstvervollkommnungsethik“174 verwechselt wurde. Tatsächlich bedeute Selbstheiligung immer „das Eingehen des Menschen auf das heiligende Tun Gottes, als bewußte Hinordnung des gesamten Lebens auf die Anbetung des Allheiligen.“175 Grundsätzlich habe sich der Mensch seiner Sündhaftigkeit vor Gott bewusst zu sein176 und deshalb stets nach Vollkommenheit streben.177

In einem Mahnwort von 1908 bestätigte Papst Pius X. die besondere Wichtigkeit der Vorbildfunktion des Priesters.178 Das Verhalten des Priesters und auch seine Lebensführung könnten folgenschwere Auswirkungen auf das Leben der Gläubigen haben. Der Priester sei das Licht der Welt und das Salz der Erde.179 Er verwies auf die Lehre, nach der zwischen einem Priester und einem gewöhnlichen rechtschaffenen Menschen ein Unterschied wie zwischen Himmel und Erde bestehe.180 Der Klerus müsse sich „heute mehr denn je […] durch ungewöhnliche Tugend auszeichnen, die schlechthin vorbildlich, tatkräftig und regsam ist, und schließlich restlos bereit, für Christus Heldenhaftes zu leisten und zu erdulden.“181 Schließlich mache der Glanz der Keuschheit den Priester den Engeln ähnlich, sichere ihm die Hochachtung der Gläubigen und verleihe auch seinem Wirken eine übernatürliche Segenskraft.182

Papst Pius XI. betonte in seiner Priesterenzyklika Ad catholici sacerdotii 1935, der Priester nehme die Mittlerrolle zwischen Mensch und Gott ein. Als „ein zweiter Christus“183 müsse der Priester möglichst nahe an die Vollkommenheit Christi kommen und sich durch die Heiligkeit seines Lebens und seines Wirkens Gott immer wohlgefälliger machen.184 Vor allem der Gehorsam war ihm ein besonderes Anliegen.185 Neben Frömmigkeit und Keuschheit sei aber auch die Kenntnis der katholischen Glaubens- und Sittenlehre zu erwarten. Zum einen müsse er sie vortragen können, zum anderen müsse er in der Lage sein, über Dogmen, Gesetze und den Kult, deren Diener er sei, Rede und Antwort zu stehen.186

Papst Pius XII. bekräftigte 1939 in einer Ansprache an junge Kleriker „das Programm des katholischen Priestertums“ als „übernatürliche Sonne[,] […] die mit der Wahrheit Christi den Geist der Menschen erleuchtet und ihr Herz mit der Liebe Christi entflammt. Diesem Ziel, diesem Programm muß daher die gesamte Vorbereitung und Ausbildung des angehenden Priesters entsprechen.“187 1950 – und damit hochaktuell für Crottogini – sah Papst Pius XII. nach dem Krieg infolge der materiellen Not, der Verwirrung der Geister und der daraus folgenden Abwendung von Christus die Notwendigkeit zu einem Mahnwort über die Heiligkeit des Priesterlebens.188 U. a. empfahl er den Priestern die Selbstverleugnung zur Einübung der Demut, das Gebet, die regelmäßige Beichte, die Verehrung der Gottesmutter und Exerzitien.189 Ausdrucksformen solcher Selbstverleugnung seien Gehorsam, Zölibat und Armut.190 Von besonderer Bedeutung für diese persönliche Heiligung sei der Zölibat, waren sich die Päpste einig. Papst Pius X. bezeichnete die Keuschheit etwa als eine „auserlesene Zierde unseres Standes“191. Und Papst Pius XII. fügte 1950 in dem Mahnwort Menti nostrae hinzu, „[j]e heller die priesterliche Keuschheit erstrahlt, desto mehr wird der Priester mit Christus zusammen ‚ein reines, ein heiliges, ein makelloses Opfer‘.“192 Er sprach zudem von Tugenden, „durch die der Priester das göttliche Beispiel Jesu Christi, so sehr es in seinen Kräften steht, in sich verkörpern soll“193. In der Enzyklika Sacra Virginitas betonte Papst Pius XII. 1954 noch einmal den ganz besonderen Wert der Jungfräulichkeit und Keuschheit und dass der junge Klerus zur Vollkommenheit des Priesters zu erziehen sei.194

Diesen Idealen war die Priesterbildung verpflichtet. Als Ziel jeder Seminarerziehung waren diese priesterlichen Pflichten damit schon im Seminar präsent.195 Alles in der Seminarerziehung sollte darauf ausgerichtet sein, das Erziehungsziel – die Selbstheiligung – zu erreichen. Das begann bereits mit der Auswahl der Priesterkandidaten. Schon der künftige Seminarist musste eine religiös-sittliche Eignung vorweisen. Konkret bedeutete das „gediegene Frömmigkeit, erprobte Reinheit des Lebens, Unterwürfigkeit und Lenksamkeit, Liebe zur Arbeit, Seeleneifer und endlich Anspruchslosigkeit.“196 Interessenten, bei denen kein Grund zur Annahme bestand, dass sie dem gerecht werden könnten, sollten schon frühzeitig abgewiesen bzw. aus dem Seminar entlassen werden.

2.1.2 Die Priesterausbildung

Das Erziehungsziel zu erreichen, war dennoch auch von einem Erziehungsweg bestimmt. Wie sah dieser Weg positiv-praktisch aus? Wie und mit welchen Mitteln sollten die vorgegebenen Ziele und Ideale erreicht werden? Auf welche Eigenschaften und Verhaltensweisen wurde bei Seminaristen besonders geachtet? Wie wurden Werte vermittelt, die die Seminaristen zu heiligen Priestern machen sollten? Wie sollten Seminaristen lernen, tugendhaft zu sein?197

2.1.2.1 Die Priesterausbildung nach dem Dekret des Konzils von Trient

In Grundlagen und -zügen ging die Priesterausbildung auch noch im 20. Jahrhundert auf das Konzil von Trient zurück. Auch und gerade die vorkonziliaren198 Priesterseminare, die Crottogini im Rahmen seines Promotionsprojekts untersuchte, wurzelten im sogenannten Tridentinischen Seminar.199 Die strikten Vorgaben, die die Seminarausbildung während Crottoginis eigener Seminarzeit und auch während seiner Arbeiten ausmachten, waren das Ergebnis von Entwicklungen des Seminargedankens über mehrere Jahrhunderte hindurch.200 Um die Eigenart der Seminaridee – auch mit möglichen Defiziten Mitte des 20. Jahrhunderts – verstehen zu können, ist deshalb ein Blick auf ihren Ursprung und ihre Entwicklung unerlässlich.201

Die Ausbildung und die Erziehung der angehenden Priester waren für das Tridentinische Konzil ein zentrales kirchliches Anliegen geworden, weil man auch die mangelnde Bildung des Klerus für die Glaubensspaltung verantwortlich machte.

„Der Typ des unwissenden, geistlich kaum gebildeten, aszetisch unterentwickelten, von zeitlichen Sorgen geplagten […] Klerikers […] war in weitem Ausmaß an jener religiösen Unwissenheit und Unentschiedenheit […] des Volkes […] mitschuldig, die das fast unbewußte Hinüberschlittern der Masse […] in die Kirche der Reformation zur Folge hatte.“202

Vor dem Tridentinum hatte, wer das Sakrament der Weihe empfangen wollte, lediglich an den Quatembertagen203, bestimmte durch Fasten gekennzeichnete Wochentage, vor der bischöflichen Kommission der jeweiligen Diözese eine Prüfung abzulegen.204 Diese Prüfung beschränkte sich meist auf die nötigsten Lateinkenntnisse, um die Messe lesen und die Sakramente spenden zu können.205 Nachzuweisen waren die technischen Voraussetzungen für den korrekten Vollzug der Liturgie, wie z. B. die Gesangs- und Predigtfähigkeit. „Das Zurechtfinden im Missale und Brevier mit Hilfe des Kalenders war ebenfalls Voraussetzung. Diese Kenntnisse hatten sich die Kandidaten in der Grammatikschule oder durch die Teilnahme am täglichen seelsorgerlichen Wirken eines Pfarrers erworben.“206 Exklusive Einrichtungen für die Ausbildung zukünftiger Priester waren noch nicht vorgesehen.207 Die Praxis, es den angehenden Priestern selbst zu überlassen, sich die liturgischen und praktischen Kenntnisse für die Weihe anzueignen, hatte jedoch zwei bedeutende Nachteile.208 Zum einen lag ein Mangel an Priestern oft darin begründet, dass den Priesteranwärtern die finanziellen Voraussetzungen für den Erwerb der nötigen Bildung fehlten.209 Zum anderen wurden Männer zu Priestern geweiht, die schließlich für die Aufgaben des Seelsorgers nicht (aus-)gebildet genug waren. Hier setzte das Konzil von Trient an.

Auf seiner 23. Sitzung befasste es sich mit dem Sakrament der Priesterweihe. Das in diesem Rahmen erarbeitete und verabschiedete Seminardekret Cum adolescentium aetas war das letzte der Dekrete, die den Missbrauch des Weihesakramentes behandelten.210 Mit diesem Seminardekret trug das Konzil jedem Diözesanbischof auf, ein Seminar211 in seiner Diözese zu errichten – daher der Name Tridentinisches Seminar.212 Erstmalig gab es damit Normen auf gesamtkirchlicher Ebene für die Ausbildungsstätten von Priestern. Für schlechter situierte Familien, die das Geld für die Ausbildung des Sohnes nicht aufbringen konnten, war mit dem Dekret die Möglichkeit geschaffen worden, den Sohn in einem Seminar kostenfrei ausbilden und erziehen zu lassen.213 Beim Tridentinischen Seminar handelte es sich deshalb um eine Ausbildungsmöglichkeit214 für Jungen aus einfachen Verhältnissen ab dem 12. Lebensjahr, die bereits lesen und schreiben konnten und als Priesternachwuchs in Frage kamen.215 Die Jungen sollten dort unter einem Dach gemeinsam ausgebildet werden und unter gleicher Leitung stehen. Das Seminar war so aus der Not geschaffen worden und sollte zunächst allen bedürftigen Kandidaten die Ausbildung sichern. Von einer Verpflichtung der Kandidaten zum Eintritt in das Seminar oder gar einer Monopolisierung des Tridentinischen Seminars war zu diesem Zeitpunkt nicht die Rede.216

Auch detaillierte inhaltliche Vorgaben enthielt das Seminardekret nicht. Es beschränkte sich auf eine Auflistung der Studienfächer: „Grammatik, Kirchengesang, Heilige Schrift, Führung der Kirchenbücher, Homilien von Heiligen, Einführung in die Sakramentenspendung und ‚andere nützliche Künste‘.“217 Es schloss mit kurzen Ausführungen zur aszetischen Schulung der Kandidaten: täglicher Besuch der hl. Messe, monatliche Beichte, Kommuniongang gemäß dem Urteil des Beichtvaters und Dienst in den Kirchen an Feiertagen. Die Ausbildung war bewusst auf die seelsorgliche Praxis ausgerichtet und auf keine wissenschaftliche Tätigkeit.218 Gegenüber den vergangenen Jahrhunderten war es aber eine Ausbildung „auf einer soliden und […] erstaunlich breiten Grundlage, die weit über das Singen und Lesen als Mindestanforderung hinausgeht.“219 Das Konzil beschränkte sich auf minimale Vorgaben.220 Den Bischöfen kam somit ein großer Spielraum bei der inhaltlichen wie organisatorischen Ausgestaltung der Priestererziehung zu.221 Insgesamt handelte es sich bei dieser Einführung von Seminaren nicht so sehr um „eine pädagogische Schöpfung“ als um „eine organisatorische Tat großen Stiles zur Sicherung des klerikalen Nachwuchses.“222 Das Realbild des Priesters sollte verbessert werden und das Mittel dazu sollte eine breitere Bildung sein.

Die praktische Erziehung war oft ein Ausdruck des jeweils zeitgenössischen Menschenbilds. „Die Seminare waren […] vor dem Erfahrungshintergrund des Versagens der Jugend und des Klerus im Zeitalter der Reformation entstanden; das zugrundegelegte pessimistische Menschenbild war fast Allgemeingut“223. Spätestens nach der abgeschlossenen Seminarerziehung sollte dieses Menschenbild auf den Priester aber nicht mehr zutreffen. Die Seminare sollten so nicht nur für die gründliche Ausbildung der zukünftigen Priester sorgen, sondern sie auch vor dem Bösen bewahren, das durch die Erbsünde in der Welt war. Die Jugend sei den weltlichen Gelüsten ausgeliefert und deshalb zu Frömmigkeit und Religiosität zu erziehen, bevor die Gewohnheit zum Schlechten von ihr Besitz ergreife. Die Pädagogik war eng mit der Theologie verknüpft: Die Offenbarung diente als „universelles Erziehungs- und Bildungsprogramm, Gott und Christus erscheinen als Menschheitserzieher, die Kirche als Erziehungsanstalt und die Sakramente als Erziehungsmittel.“224 Analog zu Gott als Heilsgeber und dem Menschen als Heilsempfänger war auch das Verhältnis von Erzieher und Zögling klassisch hierarchisch strukturiert.225 Primäre Aufgabe der Erziehung war die Heilsvermittlung. „Erziehung wird zur Erlösung aus der durch die Erbsünde bedingten grundsätzlichen Sündhaftigkeit. Ziel der christlichen Erziehung ist die Schaffung des übernatürlichen Menschen, sie will den Zögling zur Ähnlichkeit mit Christus führen“226. Ohne die rechte Unterweisung könne die Jugend nie vollkommen werden.227

Vor dem Hintergrund eines solchen Menschenbildes überraschte es nicht, wenn die verantwortlichen Bischöfe die jeweilige Seminarordnung ihrer Diözese entsprechend streng ausgestalteten.228 Ein weltabgeschlossener Erziehungs- und ein autoritativer Führungsstil waren die Konsequenz.229 Regelungen waren der Überzeugung geschuldet, es festige einen Menschen, ihn – zumindest zeitweise – allen möglichen herausfordernden Erfahrungen zu entziehen.230

„Sieht man im Zögling vor allem jemanden, der zum Bösen neigt, so wird man bestrebt sein, ihn autoritär zu lenken und zu leiten und so vor dem Fall zu bewahren. Da man grundsätzlich Mißtrauen hegt, werden Überwachung und Kontrolle zu wichtigen Erziehungsmitteln. Eigeninitiative und individuelle Lebensgestaltung sind dagegen nur wenig gefragt; man unterbindet sie eher, als daß man sie fördert.“231

Als Vorbild für die Priesterseminare dienten oft Klöster, sowohl architektonisch als auch in Fragen des Erziehungsstils.232 Bereits die Knaben sollten in Seminaren „von der übrigen Welt streng abgesondert“233 werden, verbunden mit der tridentinischen Auflage, „zur angemesseneren Unterweisung in der kirchlichen Disziplin […] sofort die Tonsur und das klerikale Gewand“234 zu tragen. „Die Buben werden streng erzogen, gleich beim Eintritt […] in einen langen Talar gesteckt, ein Stehkragen kommt darauf, und der Bub wird in nicht zu geringen Abständen kahlgeschoren, regelmäßig noch einmal vor den Ferien, damit er sich seines Berufes stets bewußt bleibt.“235 Hinzu kamen meist strikte Besuchsregelungen, die an die klösterliche Klausur erinnerten236, und Ausgangsregeln für die Seminaristen: Man ging prinzipiell gemeinsam aus, aber immer strikt getrennt nach Jahrgängen. Das Ziel war vorher festzulegen. Privatausgänge waren nur mit einer Sondergenehmigung möglich und nur unter der Bedingung, dass ein von der Seminarleitung bestimmter Alumne zur Begleitung dabei war. Auch die Rückkehr war zu melden.237 Alles war auf eine Bewahrung vor möglichen negativen Einflüssen aus der Umwelt ausgerichtet und sollte „die Formung zum geistlichen Stand erleichtern.“238

In nahezu allen Seminaren gab es äußerst detaillierte Regelungen für die geistlichen Übungen, z. B.

„[d]as Brevier, das schon seinem Aufbau nach eher für religiöse Kommunitäten bestimmt ist,. [sic!] wurde zumindest teilweise ‚im Chor‘ verrichtet. Das stark betonte Element der Kontemplation (Betrachtungspunkte, Betrachtung), das fast ständige Stillschweigen im Haus und die Tischlesung bei Mahlzeiten seien als weitere Einzelelemente angeführt.“239

Ein Hauptmerkmal der verschiedenen Seminarordnungen war das strenge Zeitreglement. Die einzelnen Tage waren bis hin zu Halb- und Viertelstunden genau geordnet und vorgegeben.240 Das Ziel der Erziehung war nicht die Selbstständigkeit, sondern der Gehorsam.241 Unterordnung und Gehorsam gegenüber Vorgesetzten standen im Seminar an oberster Stelle.242 Es war selbstverständlich, dass die Alumnen den Anordnungen des Seminardirektors (Regens) Folge leisteten. Ebenso hatten sie „die erteilten Ermahnungen und Ratschläge vertrauensvoll anzunehmen, so wie sie später einmal selbst dem ihnen anvertrauten Volk Gehorsam lehren müssen.“243

Der konkrete Erziehungsstil im Seminar war auch ein Abbild der hierarchischen Struktur der Kirche, indem die Seminare von „oben nach unten strukturiert“244 waren. Die höchste Instanz war der Bischof, in dessen Namen auch die Statuten erschienen. Seine Stelle im Seminar vertrat der Regens. Die Seminaristen standen ihm als Erziehungsobjekte gegenüber.245 Damit lag es in der Natur der Sache begründet, dass auch das Reglement des Tagesablaufs „von oben“ vorgegeben und dem Betroffenen kein Mitspracherecht eingeräumt wurde.246 Der Bischof hatte zudem die Aufgabe, die Einhaltung der von ihm erlassenen Seminarordnung zu überwachen. Das tridentinische Seminardekret forderte ihn zu regelmäßigen Visitationen auf und verlangte, „Schwierige und Unverbesserliche und Verbreiter schlechter Sitten [hart zu] bestrafen […], nötigenfalls sogar durch Hinauswurf. Indem [die Bischöfe; J. S.] alle Hindernisse entfernen, bemühen sie sich mit Sorgfalt um alles, was nach ihrer Meinung zur Erhaltung und Förderung einer so frommen und heiligen Einrichtung dient.“247

Andere Vorgaben des Dekrets waren in der Praxis hingegen deutlich schwieriger umzusetzen. Beispielsweise die Personalfrage bedeutete in den kommenden Jahrzehnten größere Probleme und diese Schwierigkeit traf die Ausbildung der Seminaristen im Kern.248 Es fehlten die notwendigen Erzieher mit praktischen Erfahrungen aus dem Bereich der Seminarerziehung,249 zumal hier nicht nur theologisch gebildete und pädagogisch erfahrene Kräfte gefragt waren, „sondern auch solche, die durch einheitliche Methode und durch längeres Verbleiben bei ihrer Aufgabe die Kontinuität der neuen Einrichtung gewährleisten konnten.“250

Im 19. Jahrhundert kam es zu ernsthaften Streitigkeiten über die Frage der richtigen Priesterausbildungsstätte. Infolge der Säkularisation 1803 schrieb die staatskirchliche Politik den Priesterkandidaten das Universitätsstudium vor, das „nun [seinen] kirchlichen Charakter verloren hatte“251. Neue Ausbildungsstätten für die akademische Priesterausbildung wurden nach politischen Aspekten ohne kirchliche Mitwirkung errichtet.252 Es war „[d]as Bestreben des Staates, die Priesterausbildung unter seine Kontrolle zu bekommen und den bischöflichen Einfluß auf die Priestererziehung möglichst zu beschränken.“253 Staatlicherseits wollte man die Kandidaten „zum Nutzen für das Staatsgebilde […] erziehen; sie sollten zu Volkslehrern der Sitten und der Religion ausgebildet werden. Die geistlich-spirituelle Formung der Seminaristen wurde deshalb ganz hintangestellt.“254 Das entsprach nicht dem universalkirchlichen Anspruch, die Priesterausbildung nur nach eigenen Schwerpunkten, Tdealen und Zielen zu gestalten. Diese Konfliktsituation führte zu einer antiuniversitären Exegese des Trienter Seminardekrets. Seit dem Wiener Kongress wurde

„[d]ie ursprüngliche Absicht der Konzilsväter, wenigstens eine Grundausbildung auch für die ärmeren Alumnen zu garantieren, […] von anderen – kirchenpolitisch motivierten – Tnteressen überlagert. Man wollte den verhaßten Weltgeist treffen, man wollte seine Hauptpflanzstätte, die Universität, vernichten“255.

Im Rahmen der Reorganisation der Bistümer wurden Vereinbarungen zwischen den deutschen Ländern und dem Hl. Stuhl getroffen, die jeweils ein diözesanes Priesterseminar und dessen Leitung durch den Bischof bestimmten.

„In allen Verträgen […] war die Rede davon, daß Unterricht und Erziehung in den Seminarien nach der Norm des Konzils von Trient zu geschehen hätten. Nun war die Berufung auf das Tridentinum in diesem Punkt aber sehr problematisch, denn das Konzilsdekret hatte keine Regeln für die Erziehung des Priesternachwuchses und den theologischen Unterricht gegeben.“256

Auch ultramontane Bischöfe im 19. Jahrhundert, denen die universitäre, wissenschaftliche Ausbildung der Kleriker zuwider war, „instrumentalisierten […] das Konzil von Trient, um ihr eigenes kirchenpolitisches Süppchen zu kochen. Sie brauchten eine unangreifbare Autorität“257 und beriefen sich deshalb in ihrer Argumentation auf das Tridentinum. Sie interpretierten das Dekret universitätsfeindlich: In dem tridentinischen Verzicht auf den Begriff Universität meinten sie, eine Ablehnung des Universitätsstudiums für Kleriker zu erkennen.258 Sie fürchteten, ein Siegeszug „aufgeklärter“ Theologie könne zu einer Protestantisierung und damit zu einer Auflösung der katholischen Kirche in Deutschland führen. Diese Gefahr sei nur durch die Wiederbelebung des echten Tridentinischen Seminars auf der Grundlage einer scholastisch geprägten Theologie abzuwenden.259 „Die weitere Entwicklung […] der Priesterausbildung im 19. Jahrhundert macht deutlich, wie […] diese restaurative Tendenz zur bestimmenden kirchlichen Haltung wurde. Sie blieb bis in das 20. Jahrhundert gültig“260. Auch das Priesterbild wurde von dieser restaurativen Tendenz beeinflusst. Die Gegner einer Monopolstellung des Tridentinischen Seminars kamen nur schwer gegen diese instrumentelle Verzeichnung der Konziliaraussage an, weil die Protokolle und Akten des Tridentinums lange noch nicht zugänglich waren.261

Die Zeit von der Säkularisation 1803 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 war maßgeblich von diesem Streit um die Ausrichtung der Priesterausbildung geprägt. Sie war „gekennzeichnet durch eine Reihe teils mit großer Schärfe und heftiger Polemik geführter Auseinandersetzungen zwischen diesen beiden Typen der Priesterausbildung. Tridentinisches Seminar oder staatliche Hochschulfakultät – nicht nur die Titel einer ganzen Reihe von Streitschriften und Aufsätzen jener Zeit lauten so.“262 Im deutschsprachigen Raum setzte sich der Typus der universitären Priesterausbildung durch. Im Seminar erhielten die Seminaristen ihre religiös-geistliche und an der Hochschule oder der theologischen Fakultät ihre wissenschaftliche Ausbildung.263

2.1.2.2 Die Priesterausbildung nach dem CIC/1917

Im Jahr 1915 wurde unter Papst Benedikt XV. die Sacra Congregatio de Seminariis et Studiorum Universitatibus gegründet, die sogenannte Seminarkongregation.264 Anders als ihrer Vorgänger-Kongregation, der Congregatio Studiorum, fiel ihr auch die Überwachung der Priesterseminare zu.265 Zwei Jahre später fanden die tridentinischen Normen über die Priesterbildung mit den cann. 972 u. 1352–1371 in weiterentwickelter Form Eingang in den CIC von 1917.266 Ein Großteil der bisherigen tridentinischen Bestimmungen wurde in das neue Gesetzbuch übernommen.267 Auf diese Weise sollte die angestrebte Vereinheitlichung in der Ausbildung der künftigen Priester erreicht und gesichert werden.268

2.1.2.2.1 Gemeinrechtliche Fixierung

Can. 972 CIC/1917 machte die Klerikerausbildung in einem Seminar zur Pflicht.269 Darin wurde mitunter ein „Schlußstein“270 der Entwicklung des tridentinischen Seminardekrets gesehen. Denn „aus dem vom Tridentinum als Freiseminar gedachten Institut“ war ein „Pflichtseminar geworden, welches nun der Kodex allgemeinrechtlich festgelegt hat.“271 Unter De Seminariis war im CIC/1917 in den cann. 1352–1372 der maßgebliche äußere und organisatorische Rahmen der Priesterausbildung geregelt. Can. 1352 CIC/1917 hielt zunächst als vorrangigen Grundsatz272 fest, bei diesen Normen handele es sich um „ein der Kirche eigenes und ausschließliches Recht“273. Verbunden war dies mit der allgemeinen Aufforderung an Priester und Pfarrer, sie mögen sich vielversprechender, begabter Knaben annehmen (can. 1353 CIC/1917). Darauf folgten die Normen, die den Kern der Seminarausbildung ausmachten – an erster Stelle stand can. 1354 CIC/1917, der für jede Diözese ein Seminar bestimmte.274

Im Idealfall sollte jede Diözese über ein sogenanntes kleines und ein großes Seminar verfügen.275 Im „kleinen“ Seminar sollten Jungen eine humanistische Ausbildung erhalten, d. h. Religionsunterricht, Sprachkenntnisse und Allgemeinbildung (can. 1364 nn. 1–3 CIC/1917). Im „großen“ Seminar sollten die angehenden Priester Philosophie und Theologie studieren (can. 1354 § 2 CIC/1917).276 Can. 1365 CIC/1917 spezifizierte diese Norm: Zwei Jahre Philosophiestudium sowie die „damit verwandten wissenschaftlichen Disziplinen“277 (can. 1365 § 1 CIC/1917). Im Anschluss sollten, so gab es § 2 vor, vier Jahre des Theologiestudiums folgen, hierunter hauptsächlich Moraltheologie und Dogmatik, außerdem aber „das Studium der Hl. Schrift, der Kirchengeschichte, des kanonischen Rechtes, der Liturgie, der geistlichen Beredsamkeit und des Kirchengesanges“278. Zuletzt waren noch Vorlesungen der Pastoraltheologie und praktische Übungen in „Katechese, Beichthören, Krankenbesuch und Beistand für die Sterbenden“279 vorgesehen (can. 1365 § 3 CIC/1917).

Neben der wissenschaftlichen Ausbildung regelte der CIC die aszetische Ausbildung der Seminaristen anhand von fünf Vorgaben, für deren Einhaltung die Bischöfe Sorge zu tragen hatten:

1. Tägliches Morgen- und Abendgebet; außerdem sollten die Seminaristen täglich Zeit für das betrachtende Gebet aufbringen „und dem hl. Meßopfer beiwohnen“280;

2. mindestens wöchentliche Beichte und häufige, andächtige Kommunion;

3. Mitfeiern des Hochamtes und der Vesper an Sonn- und Feiertagen und Altardienst verrichten;

4. zusammenhängende Tage geistlicher Übungen jährlich;

5. wöchentliche Belehrung in geistlichen Dingen, „die mit einer frommen Aufmunterung geschlossen wird“281 (can. 1367 nn. 1–5 CIC/1917).

Gemäß can. 1357 § 1 CIC/1917 sollte der Bischof die nötigen Bestimmungen für die Verwaltung, Leitung und Entwicklung des Seminars erlassen.282 Diese Statuten sollten nicht nur Verfassung und Leitung des Seminars organisieren, sondern hatten auch eine steuernde Funktion für die Seminarerziehung, die so in eine konkrete Form gebracht wurde.283 Der Steuerung diente auch die Überwachung der Einhaltung der Statuten durch den Bischof. Paragraph 2 trug ihm erneut regelmäßige Visitationen auf, um auch „die wissenschaftliche und kirchentreue Erziehung der Seminaristen sorgfältig [zu] überwachen.“284 Besonders im Hinblick auf anstehende Weihen sollte er sich ein Bild von der Persönlichkeit, der Frömmigkeit und der Entwicklung jedes einzelnen Seminaristen machen können.285 Zudem war es seine Aufgabe, die Statuten286 eines jeden Seminars zu approbieren (can. 1357 § 3 CIC/1917). „In diesen Statuten müssen die Pflichten und Obliegenheiten auseinandergesetzt werden, die sowohl die Seminaristen wie auch diejenigen haben, deren Sorge sie anvertraut sind.“287

Im Alltag war es vor allem der Regens, der die Funktion eines „Aufsichtsorgans“288 zur Kontrolle der Seminaristen inne hatte, und über Ordnung und Disziplin wachte. Er hatte primär für die Einhaltung der Statuten und Studienordnung zu sorgen (can. 1369 § 1 CIC/1917). Can. 1369 § 2 CIC/1917 ergänzte, er solle den Seminaristen auch öfter Unterweisungen geben über die Regeln der wahren, christlichen Höflichkeit. „Außerdem sollen die Seminarvorstände die Seminaristen anhalten zur Beobachtung der hygienischen Vorschriften, zur Sauberkeit des Körpers und der Kleidung, sowie zu einer gewissen Liebenswürdigkeit im Verkehr, die mit Bescheidenheit und Ernst gepaart ist.“289 Unterstützung sollte er dabei mindestens vom Lehrpersonal, dem Ökonom, zwei Beichtvätern und dem Spiritual erhalten (can. 1358 CIC/1917).290 Doch hatten alle Personen im Seminarbetrieb – zumindest im Rahmen ihrer Ämterausübung – letztlich dem Regens zu gehorchen (cann. 1360 § 2 u. 1369 § 1 CIC/1917). Die praktische Umsetzung der Statuten war so sehr stark abhängig von der Persönlichkeit des einzelnen Regens und dessen Menschenbild.291 War sein Menschenbild negativer, fiel die Erziehung entsprechend strenger aus. Denn je weiter entfernt das zu erreichende Ziel lag, desto disziplinierter musste der Weg zum Ziel beschritten werden. Die Erziehung der Seminaristen war deshalb nur in Nuancen unterschiedlich:

„Dabei wird deutlich, daß trotz aller regionalen Abschattierungen die Entwicklung des Priesternachwuchses in allen Regionen trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen zumindest seit dem 19. Jahrhundert den gleichen übergreifenden Tendenzen folgte und daß nicht örtliche Faktoren, also einzelne Ausbildungsstätten und nicht einzelne Priestererzieher, sondern daß die ‚Großwetterlage‘ für die Entwicklung des Priesternachwuchses maßgebend war.“292

Über die Aufnahme ins Seminar entschied der Bischof (can. 1363 CIC/19 1 7).293 Zur Aufnahme eines Seminaristen forderte der CIC die nachgewiesene eheliche Abstammung des Seminaristen (Abstammungszeugnis)294 sowie ein Tauf-, Firmungs- und Sittenzeugnis (can. 1363 §§ 1–2 CIC/1917). Mit der Aufnahme in das Seminar begann die Andersartigkeit.295 Für die Neu-Seminaristen ging meist die Tonsur mit dem Anlegen „des geistlichen Gewandes“296 einher. Die Tonsur bewirkte die „Aufnahme und Erhebung in den geistlichen Stand“297 (can. 108 CIC/1917). Mit der Aufnahme in den Klerikerstand hatte sich der einzelne Seminarist in der Rangfolge innerhalb der hierarchischen Gemeinschaft neu einzufinden (can. 106 CIC/1917) und auch ein Standesbewusstsein zu entwickeln: „Die Knaben- und Priesterseminaristen wurden […] zum Bewusstsein geführt, als Seminarist etwas Besonderes zu sein.“298 Die Aufnahme in den Klerikerstand war außerdem Voraussetzung für den Empfang der sogenannten niederen Weihen (ordines minores; cann. 949 u. 950 i. V. m. can. 978 § 2 CIC/19 17).299 Mit der Aufnahme in den Klerikerstand wurde es zur Pflicht300 – bzw. zum Recht (can. 683 CIC/1917) – der Seminaristen, entsprechende Klerikerkleidung zu tragen (can. 136 § 1 CIC/1917).301 Wenn ein Kandidat „ungeraten, unverbesserlich, widersetzlich […] oder infolge seines Betragens und seiner Anlagen als untauglich für den geistlichen Stand erscheint“302, war er zu entlassen. Ebenso waren die Seminaristen zu entlassen,

„bei denen infolge ihrer geringen Fortschritte im Studium jede Hoffnung ausgeschlossen ist, daß sie sich die für einen Priester nötige Wissenschaft aneignen. Endlich sollen besonders jene unverzüglich entlassen werden, die [gemäß can. 1370 CIC/1917; J. S.] ein Vergehen gegen die guten Sitten oder gegen den Glauben begangen haben“303.

2.1.2.2.2 Gehorsam als Berufungsbeweis

Weil die Normen des CIC/1917 viele tridentinische Bestimmungen wiedergaben, erfuhren auch die meisten Statuten durch das erste universalkirchliche Gesetzbuch zunächst keine wesentlichen Veränderungen. Unverändert gab es in den Seminaren „genaue Ordnung[en] […], die bis ins letzte hinein alle geistigen, geistlichen, aszetischen und wissenschaftlichen Vollzüge regelte[n].“304 Man orientierte sich noch immer an der Konzeption der Jesuiten für das Collegium Germanicum et Hungaricum in Rom:

„Die Studenten waren von 6 Uhr morgens bis zur Komplet um 21 Uhr abends einer straffen geistlichen Disziplin unterworfen, beginnend mit Laudes, Meditation und Eucharistiefeier am Morgen. In der Seminarkirche hatte man einen festen Platz, so dass Abwesenheit auffiel. Die Vormittags- und Nachmittagsstunden galten den Vorlesungen und Übungen. Freizeit gab es mittags und abends für etwa eine Stunde nach den Mahlzeiten. Im Übrigen herrschte im Hause ‚Studiensilentium‘ bzw. ab 21 Uhr abends ‚Silentium religiosum‘, während dessen Zimmerbesuche und alle Formen der Unterhaltung verboten waren. Besuche zu Hause waren nur an wenigen Tagen vorgesehen: an 2. Feiertagen, Wahltagen u. ä. Da niemand einen Hausschlüssel besaß, musste man um 21 Uhr im Hause sein“305.

Exemplarisch sei auf die Passauer Statuten von 1924 verwiesen: Zwischen der Aufnahme in das Seminar (§§ 2–3) und dem Austritt bzw. der Entlassung aus dem Seminar (§§ 49–50) war alles geregelt: von der religiös-sittlichen Ausbildung der Alumnen (§§ 4–8), über ihre wissenschaftliche Ausbildung (§§ 9–19), die Hausordnung (§§ 20–23), die Kleiderordnung (§§ 24–27), das Hauspersonal (§ 28), die Unterkunft und die Verpflegung (§§ 29–32), Ausgänge, Besuche, Unterhaltungen, Erholung und Ferien (§§ 33–42) bis hin zur Seminarvorstandschaft (§§ 49–50).306 Dabei ging es nicht um interpretationsoffene Rahmenrichtlinien, sondern um detaillierte und genaueste Anweisungen.

Vom Seminareintritt bis zum Tag der Priesterweihe sollte so alles geregelt und vorgegeben sein.307 Bindende Normen seien nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig, wurde behauptet, wolle man nicht einem schrankenlosen und verhängnisvollen Subjektivismus Tür und Tor öffnen.308 Seminaristen keine Regeln vorzugeben, betrachteten die Verantwortlichen in der Erziehung als Erschwernis bzw. als Benachteiligung:

„Die jungen Studenten noch im Prozess der Ausbildung zu bitten, ihre vielen Pflichten ohne die Hilfe einer vollen und detaillierten Regel auszuführen, ihnen die Vorteile wohl geordneter Zucht und Ordnung zu verweigern, würde bedeuten, sie als Beute der Verunsicherung zu überlassen und sie der Atmosphäre zu berauben, die für ihre eigenen Bemühungen höchst hilfreich wären.“309

Das Bild der völligen Lenkungsbedürftigkeit der Seminaristen erhielt sich damit auch unter dem CIC/1917.310 Regelungen wurden detailliert ausformuliert, um nur wenig persönlichen Aus- und Abweichspielraum zu lassen.311 Das Erziehungsziel der Heiligkeit sollte durch bestimmte Erziehungsmethoden vermeintlich gewährleistet werden - durch Zucht, Ordnung und Gehorsam.312 Diese Trias widersprach per se individueller Selbstbestimmung. Für Papst Pius XI. wurde in „erprobte[r] Reinheit des Lebens, Unterwürfigkeit und Lenksamkeit“313 eine religiös-sittliche Eignung für den Priesterberuf offenbar. Kirchlicherseits sah man die Seminaristen als lenkungsbedürftig, weshalb sie auch lenkungsgewillt sein und sich im Gehorsam unterwerfen sollten.314 Man glaubte, die Seminaristen mit Hilfe dieses „Konditionierungsprozesses“315 am besten auf die unverfälschte Weitergabe des überlieferten Vermächtnisses des Herrn vorzubereiten.316 Hinzu kam der Eindruck von Priestererziehern, „dass die Einstellung der Außenwelt zu den Idealen der Keuschheit und Ehelosigkeit immer feindseliger wurde.“317 Dies führte unweigerlich zu einer Verschärfung der Disziplin.

Die wiederholte Übung des Gehorsams sollte der rechten Einhaltung der Ordnung dienen. Der Gehorsam galt als „Inbegriff kirchlicher Gesinnung und damit als ein Wesensfaktor priesterlicher Spiritualität.“318 Zur permanenten Einübung der Seminaristen in den Gehorsam stellte die Seminarleitung durchaus auch „Gehorsamsanforderungen allein um des Gehorsams willen“319 ab. Denn die Kandidaten mussten „ja lernen, eigene Wünsche zurückzustellen und sich in das hierarchische Gefüge der Kirche einzuordnen.“320 Zu diesem Zweck wurde zusätzlich eine gezielte Abschottung der Seminaristen von der Außenwelt gefördert. Diese Abschottung sollte die „[a]usschließliche Fixierung auf die klerikale Hierarchie und Gehorsam gegenüber dieser“321 abstützen. Den inhaltlichen Schwerpunkt des kodikarischen Ausbildungskonzepts bildete unverkennbar die kirchliche Doktrin. „Nicht ohne Grund wurde der Abschnitt, der von den Seminarien handelt, ja auch unter dem Titel De magisterio ecclesiastico eingereiht.“322

Die so normierte Seminarausbildung zielte mittels eines „prinzipiellen Erziehungsuniformismus und einer Schablonisierung“323 auf eine Homogenisierung des Klerus. Mit der Forderung nach Unterwürfigkeit sollten „stolze, verbohrte, eigenwillige, selbstherrliche Geister, denen Kritik, Widerspruch und Widerstand im Blute zu liegen scheinen, vom Priestertum ferngehalten werden.“324 Ob eine solche Eigenschaft bei einem Seminaristen vorlag, beurteilte allein die zuständige kirchliche Autorität. Die hierarchische Struktur ließ ein Mitspracherecht des Kandidaten nicht zu, er hatte eine solche Beurteilung im Gehorsam anzunehmen.325 Und am Gehorsam, so argumentierte man, sei ein „entscheidendes Kriterium der Berufung“326 zu erkennen. Es entstand der Eindruck, bei den Anforderungen an die Kandidaten käme es letztlich nur auf den Gehorsam an: „Ein Seminarist kann vergleichsweise unfähig, desinteressiert oder gleichgültig sein, aber wenn er sich anpasst, biegsam, heuchlerisch und überfromm ist, wird er von den Seminarautoritäten als geeignet für die Weihe betrachtet werden.“327

Kritiker sahen mit diesen Normen die Vielfalt und die Variabilität bei den Seminargründungen im Geiste des Tridentinums „durch Uniformität und […] Unbeweglichkeit ersetzt.“328 Die Tendenz zur Abgrenzung der Kandidaten von der Welt und negativen Einflüssen hatte mit dem CIC/1917 noch einmal zugenommen, weil der Besuch des Seminars nun universalkirchlich verpflichtend war.329 Es bestand damit eine „Monopolisierung des Weges: Priesterausbildung nur durch Seminarerziehung“330. Der in den einzelnen Canones durchaus vorhandene Raum für eine flexible Ausgestaltung wurde von den Bischöfen nicht spürbar genutzt.331

Stattdessen war es Papst Pius XII., der sich 1950 für einen weltoffeneren Erziehungsstil einsetzte.332 Ihm war daran gelegen, dass das Leben eines Jungen im Seminar „mit dem gewöhnlichen Leben aller Knaben soweit wie möglich in Übereinstimmung gebracht wird.“333 Außerdem wies er deutlich darauf hin, es sei vorzüglich darauf zu achten,

„daß die Eigenart des einzelnen Knaben recht gebildet wird. Die Knaben sollen sich immer mehr dessen bewußt werden, was für Gefahren für sie aus ihren Handlungen entstehen können, was für Urteile sie über die Menschen und die Ereignisse fällen, was sie von sich aus noch gerne und freiwillig unternehmen. Daher müssen die Seminarleiter in kluger Weise einschreiten und mit den wachsenden Jahren die strengere Überwachung und die Zügel jeglicher Art allmählich lockern. Sie müssen es erreichen, daß die Jünglinge sich selber leiten, daß sie fühlen, daß sie die Urheber ihrer Werke sind. In gewissen Dingen sollen sie den Zöglingen nicht nur Handlungsfreiheit gewähren, sondern sie auch zu selbständiger Überlegung anhalten, damit sie die Wahrheiten, die die Lehre oder die Praxis angehen, leichter aufnehmen. Die Leiter sollen auch keine Bedenken dagegen haben, daß die ihnen anvertrauten Jünglinge die heutigen Ereignisse kennen. Ja, sie sollen ihnen sogar die Kenntnisse der Dinge vermitteln, durch die sie selber ein reifes Urteil über die Geschehnisse bilden können. Auch Meinungsverschiedenheiten über diese Fragen sollen sie nicht aus dem Wege gehen, um den Geist der Jünglinge für die richtige Einschätzung der Dinge und Verhältnisse zu schulen.“334

Die offeneren Worte des Papstes verhallten aber bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil und bewirkten keine nennenswerten Veränderungen in der Erziehung.335 Die vermeintlichen Vorteile des bisherigen (Erziehungs-) „Systems lagen in der klaren Vision vom Priesterbild der Heiligkeit.“336 Hingegen wurden „Originalität und Originalitätsansätze“ meist nicht geduldet, „zumal mit der praktischen Bewahrungspädagogik fast eine unerbittliche Gewöhnungspädagogik verbunden war“337. In der Konsequenz waren die künftigen Priester zur Mitte des 20. Jahrhunderts aufgrund der universalkirchlichen Seminarvorgaben in ihrem Aussehen, ihrem Standesbewusstsein und auch ihrem Anspruch uniform.338

2.1.2.2.3 Sexualität und Priesterausbildung

Crottoginis Forschungsvorhaben zielte nicht nur in dieses spezifische Ausbildungssetting, sondern war zudem gesellschaftlich kontextuiert durch die vermeintlich prüden 1950er Jahre. Alles Sexuelle war scheinbar von einem Schleier aus Anstößigkeit und Geheimniskrämerei umgeben. „Muffig und verklemmt waren die langen fünfziger Jahre, eine Epoche der Prüderie und Lustfeindlichkeit“339 – zumindest für das katholische Milieu war das meist zumindest dem Anschein nach zutreffend.340

2.1.2.2.3.1 Gesellschaftliche und kirchliche Vorprägungen

Im Katholizismus wurde das Thema Sexualität weithin tabuisiert.341 Worüber sich nicht „anständig“ sprechen ließ, darüber sollte und mitunter durfte nicht gesprochen werden. Sexualkunde als Schulfach oder als Themeneinheit im Biologieunterricht gab es in der heutigen Form noch nicht. Die sexuelle Aufklärung der Kinder und Jugendlichen galt als ureigene Aufgabe der Eltern.342 Von katholischen Geistlichen wurde gemahnt, die Kinder unbedingt zur Keuschheit zu erziehen.343 Hierbei stellten Eltern und Erzieher aber vornehmlich auf die religiös-sittliche Dimension ab und ließen die Belehrung über biologische Informationen, d. h. die Sexualaufklärung im eigentlichen Sinne, weitgehend aus.344 Und selbst in liberaleren Familien wurde Sexualität weniger thematisiert als bevorzugt ignoriert.345

Kam Sexualität dennoch zur Sprache, wurde schnell die grundsätzliche Orientierung deutlich: Die sittliche Ordnung, darunter die Ordnung des Geschlechtlichen inklusive möglicher Verstöße gegen das 6. Gebot, fiel in den Kompetenzbereich der Kirche.346 Es war tradierte und offizielle Lehre, dass Sexualität nur in der Ehe und fortpflanzungsorientiert legitim war.347 Eine Sexualität, die „der menschenwürdigen Fortpflanzung des Menschengeschlechts entgegengesetzt ist“348, galt als Sünde. Sexuelle Verfehlungen waren Verfehlungen gegen das 6. Gebot und gehörten als materia gravis zum Feld der schweren Sünde.349

Man versuchte unter allen Umständen, alles Geschlechtliche (und damit auch die sexuelle Aufklärung) so lange wie möglich vom Bewusstsein der noch unbefleckten Kinder fernzuhalten.350 Wenn Kinder und Jugendliche, damit auch künftige Seminaristen, aber aufgeklärt wurden, dann idealerweise weniger nur über Körperfunktionen und geschlechtliche Vorgänge. Der rechte Zeitpunkt zur sexuellen Aufklärung war strittig, weil man Kinder einerseits vor „traurigen Verirrungen“351 bewahren wollte, sich aber andererseits einig war über „das Unheil, das durch eine brutale Aufklärung der Straße angerichtet werden kann“352. Jedenfalls sollte eine Aufklärung über Geschlechtliches in die Gesamterziehung integriert sein.353 Das Ziel einer solchen Erziehung war es, „Menschen zur Einordnung des Geschlechtstriebes in das Gesamtmenschentum fähig und bereit zu machen.“354 Den Erziehern in Fragen des Geschlechtlichen riet man, die Kinder persönlich zu unterweisen.355 Am besten zudem jedes Kind einzeln, um Rücksicht auf das Alter, die Reife und das bisherige Wissen des Kindes nehmen zu können.356 Zur Hilfe gab es kleine Broschüren („Aufklärungshefte“357), die den Erziehern als Muster dienen konnten, die aber ggf. ab einem geeigneten Alter auch von Jugendlichen allein gelesen werden konnten.358

Eine erfolgreiche katholische geschlechtliche Erziehung umfasste drei Komponenten. Unabhängig vom Zeitpunkt sollte die Basis dieser Erziehung die nötigste Aufklärung über die psychologischen und physiologischen Vorgänge des Sexuallebens (das hieß: die Mechanismen der Fortpflanzung) ausmachen. Im Rahmen dieser Aufklärung sollte (nur) das vermittelt werden, was „wirklich von Wichtigkeit ist […]. Sündhaft wäre es, darüber hinaus törichte Neugierde zu befriedigen.“359

Auf die Aufklärung über Biologisches hatten die Einheiten zur Gewissensschulung zu folgen. Eine bloße Übermittlung von Wissen galt als unzureichende biologistische Verkürzung. Damit sollte ein „Emporheben aus der niedrig-tierischen Auffassung [erreicht werden], in der die meisten Jugendlichen diese Dinge zunächst sehen, in die reine Luft katholischen Denkens.“360 Auf der Grundlage des 6. Gebotes sah man die Notwendigkeit, eine reine Belehrung über das Geschlechtsleben durch entsprechende Gewissensbildung zu ergänzen. Das Fakten-Wissen sollte dabei durch moralische Aspekte ergänzt werden: Begriffe wie keusch/unkeusch, Sünde/Nicht-Sünde, anständig/unanständig, schamhaft/unschamhaft wurden hierbei erklärt.361 Den Kindern sollte ein katholisches Verständnis von gut/böse und keusch/unkeusch vermittelt werden, um (ihr eigenes) Verhalten und (ihre eigenen) Taten moralisch bei der regelmäßigen Gewissenserforschung richtig einordnen zu können.362 Ein gewichtiger Teil der Gewissensbildung bestand darin, die zu beichtenden Taten oder Gedanken richtig zu formulieren.

„Der junge Mensch muß ein klares Bild bekommen von dem, was Sünde ist und nicht Sünde, was schwer und läßlich sündhaft ist. Dabei ist gleicherweise abzulehnen eine zu laxe wie auch eine zu ängstliche Gewissenshaltung, ein stundenlanges Verweilen wie auch ein allzu kurzes Nur-Streifen der wichtigen Materie, eine zu weitgehende Kasuistik wie auch eine nur ganz allgemein gehaltene Belehrung.“363

Letztes Ziel solcher katholisch erfolgreichen Gewissensschulung war die willentliche Abwendung von allem Sündhaften. Diese sogenannte Willensbildung machte den dritten Aspekt der geschlechtlichen Erziehung aus. Die Willensbildung sollte zu einer positiven Einstellung zur katholischen Lehre über die Reinheit führen. Den Kampf um die Reinheit, so sagte man, entscheide der Wille.364 In den Kindern und Jugendlichen sei „eine positive, starke, freudige Gesinnung der Reinheit, eine leidenschaftliche Liebe zur Reinheit, ein volles, mutiges Ja zum Kampf um die Reinheit“365 zu wecken. „Sie müssen gleichsam ‚erleben‘, daß Unkeuschheit Tod, Keuschheit aber Leben ist, daß es wirklich nur eine wahrhafte Seligkeit gibt“366. Reinheit als das oberste Ideal sollte deshalb angestrebt und bewahrt werden;367 es handelte sich um eine Erziehung zur Keuschheit.368 Gefahrenquellen hingegen, wie z. B. „Schmutz- und Schundliteratur – Kino und Theater – Tanz – Liebeleien und Bekanntschaften“369, sollten eingedämmt werden. Geschlechtliches außerhalb der Ehe wurde durch eine sehr bildhafte Sprache noch zusätzlich verteufelt.370 Mit natürlichen Mitteln, wie etwa Sport, gesunder Ernährung und ausreichender Körperpflege, sollte man deshalb umso mehr um seine Reinheit kämpfen.371 Letztlich sollten jene natürlichen Mittel aber nicht ausreichen: „Alles Vermeidensuchen der Reizquellen, alles Anwenden der natürlichen Mittel, alle Erfüllung der Seele mit Idealen und Motiven reicht nicht hin, den Willen stark genug zu machen, dem Wogen und Stürmen der Leidenschaften Halt zu gebieten. Ausschlaggebend sind die stärkenden Mittel der Religion.“372 Und diese sollten in einem regen Gebetsleben, der innigen Marienverehrung und den Buß- und Eucharistiesakramenten zu finden sein.373 Die gesunde Willensbildung war der Abschluss einer katholischen geschlechtlichen Erziehung. Das Ziel einer geschlechtlichen Erziehung sollten also keine „Hilfestellungen für eine erfüllte Sexualität“374 der Jugendlichen sein, sondern die Bindung an die kirchliche Sexualmoral.

2.1.2.2.3.2 Sexualität in der Priestererziehung?

Eine geschlechtliche Erziehung mag dem einen oder anderen Seminaristen zuteil geworden sein. Im besten Fall war er zumindest aufgeklärt worden. Tatsächlich blieben die Vorkenntnisse der Jungen beim Eintritt ins Seminar doch recht unterschiedlich.375 Ein kirchliches Anliegen war es – um auch dem Priestermangel entgegenzuwirken –, „auf den verderblichen Einfluß der sog[enannten] Freundschaft mit Mädchen hinzuweisen. So kann man noch manchen Priesterberuf retten, der sonst durch den allzu freien Verkehr mit Mädchen im Keime erstickt worden wäre.“376 Ob das jedoch immer auch eine Aufklärung über biologische Vorgänge beinhaltete, ist fraglich.

In der Seminarerziehung selbst spielte Sexualität nur eine untergeordnete Rolle, sodass meist erst in den höheren Semestern Körperfunktionen, Hygienevorschriften und Fragen der Moraltheologie besprochen wurden. Mangelhafte Kenntnisse konnten sich aber durchaus bei der Entwicklung des einzelnen Seminaristen denkbar negativ bemerkbar machen: Eine Konsequenz des Ausbildungsstils und des immer geforderten Gehorsams war bisweilen eine defizitäre wirkliche und reife Identitätsbildung, weil sie oftmals nicht oder nur schwer stattfinden konnte.377 Es gab einen „Mißbrauch der jugendlichen Reifungsphasen“378, weil die Identitätsbildung nicht nur nicht gefördert, sondern sogar bisweilen institutionell verhindert wurde. So gab es Priesterkandidaten, die sich körperlich zu Männern entwickelten, doch deren psychosexueller Entwicklungs- und Reifeprozess ausgeklammert wurde.379 „Von uns wurde erwartet, als Jungen in das Seminar einzutreten und es zwölf Jahre später als Priester zu verlassen; niemand dachte viel über die Notwendigkeit nach, Männer zu werden. ‚Wachstum‘ war kein Leitbegriff in dieser Zeit; wir waren zu ‚trainieren‘.“380 Ihre Sicht auf das Geschlechtliche blieb damit in vielen Fällen unreif;381 die Integration des Geschlechtlichen in die Gesamtpersönlichkeit fand so nicht statt.382 Erwachsene Männer wurden infantilisiert.383 Begünstigt wurde das durch das oft niedrige Eintrittsalter und durch die anhaltende altersunabhängige Behandlung der Seminaristen „wie Schuljungen“384. Hagmaier und Kennedy beschrieben deshalb 1965, ob ein Seminarist „psychische Männlichkeit“385 erreiche, sei abhängig davon, „ob er in einer menschlichen Begegnung mit echten Männern in einer gesunden Weise während seiner Seminarjahre gelebt habe“386. Sie kritisierten die bis dahin gängige Praxis, Seminaristen „nach Geist und Körper zu trennen; ihre Ausbildung wurde ähnlich getrennt“387. In diesem Sinn beschrieb der ehemalige Priesterkandidat Robert Kaiser rückblickend ein System, „das entworfen schien, um uns psychisch unreif bleiben zu lassen. […] Wir hielten unsere Unreife auf verschiedene Wege aufrecht, sogar in unseren Spielen und Vergnügungen. Die meisten Spiele, die wir spielten, waren Spiele von Männern, die noch immer Jungen waren.“388

Emotionale Unterentwicklung wurde oft begleitet von körperlich verursachten Gewissensnöten der Seminaristen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität war eine heikle Angelegenheit. Ein eigenes Geschlechtsleben wurde den jungen Männern abgesprochen und durfte nicht stattfinden389, bereits begonnene sexuelle Entwicklungen wurden frühzeitig abgebrochen.390 Da sich die Kandidaten mit dem Empfang der höheren Weihen später zum Zölibat verpflichten sollten, erschien eine eigene Geschlechtlichkeit nicht wichtig, in der Konsequenz ließen viele Seminaristen „die eigene männliche Selbstwahrnehmung als Geschlechtswesen verkümmern.“391 Sie seien sich der Veränderungen ihrer Körper zwar bewusst gewesen, hätten ihre Erektionen jedoch nicht wahrhaben wollen und mit aller Kraft versucht, so asexuell wie möglich zu sein.392 Sie hätten ihre eigene Sexualität verleugnet und ihren Körper ab dem Bauchnabel bis zu den Knien als „nicht ich“ abgelehnt. Dies habe bishin zu einer Genitalphobie geführt.393

Seminaristen sollten danach streben, durchweg rein und keusch zu leben und nicht zu sündigen. Bei Verheirateten sollte das sexuelle Begehren geordnet, bei Unverheirateten sollte es aufgeschoben und bei zölibatär Lebenden ausgeschlossen werden.394 Infolgedessen wurde es im Seminar „entweder vollkommen tabuisiert oder kriminalisiert.“395 Eine offene Sprache war nicht möglich, vielmehr sei das Thema mit Angst besetzt gewesen.396 Angstbesetzte oder beschämte Seminaristen ließen sich wiederum leichterlenken.397 Diese Tabuisierung von Sexualität bedingte zugleich ein begrenztes „Sprach- und Gefühlsrepertoire für [die] eigene und fremde Sexualität.“398 Es habe „von oben“ auch ganz praktische Versuche gegeben, jegliches Sexuelle zu kontrollieren und ggf. zu unterdrücken.399 In manchen Einrichtungen seien Schutzmaßnahmen getroffen worden: „In den Duschkabinen hing immer eine zu weit geschnittene Hose, die beim Duschen zu tragen war, um eine vollständige Nacktheit und die damit offensichtlich befürchteten ‚Versuchungen‘ zu verhindern oder wenigstens zu mildern.“400 Andernorts war es vorgeschrieben, vor dem Duschen einen Bademantel über den Pyjama zu ziehen, sich unter dem Bademantel zu entkleiden, um dann nur mit dem Bademantel bis zur Dusche zu laufen, und sich anschließend unter dem Bademantel wieder anzuziehen.401 Es war auch üblich, neben den Baderäumen die Krankenzimmer und die Toiletten zu überwachen.402 Ebenso wird berichtet, Hemden seien sich beim Anziehen mit Hilfe eines Holzpaddels in die Hose zu stecken gewesen.403 Praktizierte Sexualität führte fast immer zur Entlassung aus dem Seminar, bei Homosexualität war schon allein „das Bekanntwerden der Veranlagung […] ausreichend.“404

In den Seminaren wurde deshalb darauf geachtet, dass keine unerwünschten „Partikularfreundschaften“405 entstanden. Die Seminarleitung kontrollierte Freundschaften, um die Seminaristen immer in einem Zustand gewisser Isolation zu halten406, denn besondere Freundschaften bargen auch immer „die latente Gefahr der Entwicklung gleichfalls unerwünschter homoerotischer Beziehungen“407. Mancherorts wurde „Partikularfreundschaft“ als Codewort für eine homosexuelle Beziehung gebraucht.408 Ein ehemaliger Schüler des SMB-Gymnasiums in Rebstein berichtete über seine Zeit in den 1950er Jahren, es habe schon in der Ausbildung strikte Regeln gegeben. So habe etwa gegolten:

„Dein Gegenüber niemals körperlich berühren. Dieser Anweisung ging eine andere voraus: Tagebuch schreiben verboten, denn das mache zu selbstzentriert. Und darin, in der Selbstbespiegelung, sah man eine der Quellen von Homosexualität. Wenn einer dennoch ein Tagebuch führte, musste er es beichten und erhielt als Buße: Zerreiß es und wirf es ins Feuer! Im Priesterseminar, wo dieselben Männer volle sieben Jahre zusammen waren, wurde jede Woche die ‚Tournee‘ an ein Brett gesteckt. Da wurde immer vorgegeben, welche drei Burschen in der kommenden Woche zusammen spazieren oder bergwandern oder Ski fahren oder sonst wie zusammen sein durften. Der Aufenthalt im Zimmer oder in der Zelle[!] eines anderen war grundsätzlich untersagt. […] Freundschaften waren unerwünscht, und die Mahnung der Oberen war den meisten Studenten wirklich in die Knochen gefahren. Und so hatten sie eine große Furcht vor Sexualität und ganz besonders vor Homosexualität. Noch in den 1950er-Jahren waren die Oberen auf der ganzen Welt überzeugt, Homosexualität entstehe wegen Ehelosigkeit, tiefer Freundschaft oder zu viel Beschäftigung mit sich selbst.“409

Konflikte, moralische Bedrängnis und Gewissensnöte blieben deshalb nicht aus. „Und die Auseinandersetzung mit der Sexualität endete dort, wo die Nöte des einzelnen begannen“410. Gerade Unkenntnis verstärkte die Angst, die aufkommen konnte, wenn man normale biologische Vorgänge am eigenen Körper entdeckte, aber nicht einordnen konnte. Denn auch die Gespräche mit den Seelenführern im Seminar verliefen nicht immer gleichermaßen glücklich und hilfreich.411 Im besten Fall erhielt der Seminarist die dringend benötigten Antworten. Ein Seminarist etwa, der mehrfach von eigenen Erektionen überrascht wurde, wandte sich schließlich in seiner Verwunderung und Scham an den Direktor: „Vermutlich aus einer Haltung völliger Ahnungslosigkeit erklärte er ihm die Geheimnisse seines sexuellen Lebens – die Ursachen einer männlichen Erektion und den Zweck.“412

Weitere Gespräche über die individuellen Bedürfnisse hätten zumeist nicht stattgefunden, weil die Lehren der Kirche über Sexualität oder den Zölibat nicht infrage zu stellen waren. Gespräche darüber hätten deshalb andeuten können, die Kirche sehe selbst einen Rechtfertigungsbedarf oder – schlimmer noch – es könne zu einer Lehränderung kommen. Den Themen sei vielerorts mit Schweigen begegnet worden, um den Seminaristen auch einen realistischen Ausblick auf ihre Zukunft als Priester zu geben.413

Es gab nur wenige Gründe, die das Thema Sexualität im Priesterseminar rechtfertigten. Einer von ihnen war die Vorbereitung der Kandidaten auf ihren späteren Einsatz als Beichtväter.414 Während Sexualität im Hinblick auf den einzelnen Seminaristen vermeintlich mangels Notwendigkeit wenig bis gar nicht thematisiert wurde, wurde sie mit dieser Ausrichtung geradezu penibel detailliert und peinlich ausführlich besprochen.415 Von Beichtvätern wurde erwartet, „über manche Dinge genau orientiert zu sein“416, was spätestens zu diesem Zeitpunkt eine genaue Aufklärung über die biologischen Vorgänge zwingend erforderlich machte. In Kursen der Moral- und der Pastoraltheologie wurde deshalb alles Nötige versucht zu vermitteln, was die späteren Priester an Wissen brauchten, um „über Seelen zu urteilen und sie zu heiligen“ und um „als Richter und Vorbilder in Sachen Sünde und Tugend [zu] dienen“417 (can. 1365 CIC/1917). Hierbei handelte es sich aber stets um klassische Vorlesungen, es gab keine Möglichkeit zum Austausch.418

Teils lud man erfahrene Beichtväter ins Seminar ein, um sie von ihren Erfahrungen berichten zu lassen.419 Teils hatten sich die Seminaristen Detailwissen anhand verschiedener Lehrbücher anzueignen.420 Im deutschen Sprachgebiet geschah das vielerorts mit der Moraltheologie421 des Kapuzinerpaters Heribert Jone oder den Praelectiones de sexto praecepto et de usu matrimonii des Paderborner Regens Wilhelm Tuschen, bei denen nahezu keine kasuistische Frage unbeantwortet blieb.422 Das deutsche Standardwerk Jones wechselte bei den besonders verwerflichen Taten zum Latein.423 Das Werk Tuschens war gänzlich auf Latein, allerdings enthielt es einen deutschen Anhang, in dem Anregungen geboten wurden, welche Fragen im Beichtstuhl zu stellen seien.424 In vermeintlich notwendiger Ausführlichkeit sollte das Feld möglicher geschlechtlicher Bedrohungen ausgelotet werden. Die Moral wurde überwiegend „zur Sache der Experten“425, was in der Konsequenz Gläubige entmündigte. Die Moraltheologie war „konzipiert als Morallehre von Klerikern für Kleriker zum Zwecke der rechtmäßigen Verwaltung des Bußsakramentes.“426 Die „,Unordnung‘ geschlechtlicher Betätigung außerhalb der Ehe und ihres Fortpflanzungszweckes [ist] in juristisch penibler Ausführlichkeit beschrieben worden: Schreckensgemälde, die den menschlichen Umgang mit seinem Körper auf die verbotene Sexualität geradezu fixieren.“427 In den Seminaristen wurde der Eindruck erweckt, es sei für ihr „Leben als Beichtväter im schwarzen Kasten wichtig […], eine Myriade von Unterscheidungen und haarspalterischen Regeln zu identifizieren und [sich] mit ihnen vertraut zu machen, bis gesunder Menschenverstand, individuelles moralisches Handeln und der Rückgriff auf das eigene Gewissen überflüssig wurden.“428

Zugleich aber warnte man vor einem zu fachmännischen Umgang mit Fragen der Sexualität. Priestererzieher riefen zu einer „zarten“ und „vorsichtigen“ Sprache auf. Derbe Begriffe der Moraltheologie sollten möglichst vermieden und besser umschrieben werden. Wo keine geeignete Umschreibung gefunden werden konnte, wurde bisweilen dazu geraten, gar nicht darüber zu sprechen: „Man kann sich nur so helfen, daß man nicht davon spricht. Daran muß man sich gewöhnen, daß im täglichen Verkehr unter Menschen von Erziehung gewisse Wörter nicht vorkommen, gewisse Gebiete nicht berührt werden.“429 Dies galt zumindest in dem Fall, in dem der Priester nicht in der Rolle des Seelsorgers sprach, nicht etwa für die Beichte. Denn außerhalb von Seelsorgegesprächen, in einfachen Unterhaltungen, sollte Sexualität ohnehin nicht thematisiert werden. Sexualfragen galten nicht als Unterhaltungsstoff.430 Aber auch in berechtigten Gesprächen über das Geschlechtsleben hatte der Priester darauf zu achten, nicht selbst zu fehlen, indem er „seine heranwachsenden Schützlinge mit Sexualweisheit überschüttet […], seinen Vorträgen […] eine billige Würze gibt und dabei eine staunenswerte Belesenheit auf allen Gebieten der Sexualethik und des Ehelebens verrät“431. Auch für den Seelsorger schien es dann besser, durch Unkenntnis als durch zu viel Wissen aufzufallen.432

Zudem konnte Sexualität zumindest imforum internum zum Thema werden, wenn es um die Zulassung der Kandidaten zur Weihe ging. Den Kandidaten waren schon früh und wiederholt die Keuschheitsanforderungen einzuschärfen. Das Bewusstsein um die Notwendigkeit dieser Einschärfungen belegen auch entsprechende Vorträge und Besprechungen auf den Regentenkonferenzen: 1952 widmete sich P. Gratian Gruber in seinem Referat ausführlich der „Onanie als Symptom eines seelischen Notstandes“.433 Tn einem Referat zum Thema „Erziehung zum Zölibat“434 machte der Linzer Regens Engelbert Schwarzbauer 1957 diverse Vorschläge, wie man die Bewahrung der priesterlichen Keuschheit schon im Seminar fördern könne – eine Voraussetzung dafür sei eine gründliche und klare Unterweisung der Alumnen in allen Fragen der Keuschheit.435

„Wir werden den Alumnen zunächst Inhalt und Umfang der priesterlichen Keuschheitsverpflichtung auseinandersetzen, damit nicht später Unklarheiten oder Zweifel entstehen. - Hierauf werden wir das innerste Wesen der priesterlichen Keuschheit herausarbeiten, die personale Ganzhingabe an Christus. Auf diesen Punkt müssen wir den grössten Nachdruck legen.“436

Alumnen seien zu Wachsamkeit und zur Schamhaftigkeit zu mahnen.437 Zudem seien den späteren Priestern „die Folgen des nicht (oder nicht ernst) gehaltenen Zölibates vor[zu]stellen: die Folgen für den Priester selbst, für die Complices, für das weitere Wirken in der Seelsorge, für den ganzen Priesterstand.“438

In Verbindung mit der teils mangelhaften Aufklärung ergab sich so eine angstbesetzte Sexualität. Von Seminaristen, die in diesem Feld keine ausreichende Orientierung fanden, wurde erwartet, ihren Berufswunsch aufzugeben. Denn wer gerade in sexueller Hinsicht der Pflicht der Selbstheiligung nicht entsprechen konnte, galt als ungeeignet für den geistlichen Stand (can. 1370 CIC/1917). Die Ortsordinarien wurden deshalb immer wieder angehalten, die Seminaristen vor der Erteilung der Weihen zu prüfen. Mit der Instruktion Quam ingens mahnte die Seminarkongregation 1930 vor der Weihe nicht ausreichend Geprüfter.439

Im Rahmen von Weihenichtigkeitsprozessen habe die Kongregation die Erfahrung gemacht,

„daß es sich bei den gegen die heiligen Weihen klageführenden Priestern gewöhnlich um solche handelt, die zwar nicht imstande sind, den Beweis zu erbringen, daß sie durch Gewalt oder schwere Furcht zum Empfang der Weihen gezwungen wurden, die aber […] in einer verkehrten Weise in den klerikalen Stand aufgenommen wurden, d. h. ihr Beruf war nicht genügend geprüft“440.

Im Anhang der Instruktion befand sich deshalb u. a. ein Formular, mit dem die Seminaristen vor dem Empfang der höheren Weihen unter Eid zum einen erklären mussten, frei von Zwang, Gewalt oder Furcht und aus einem wirklichen Berufungsgefühl heraus die Weihe zu empfangen. Zum anderen bestätigten sie, die sich aus der Weihe ergebenden Pflichten zu kennen, bereitwillig und frei übernehmen zu wollen und sich auch über die Tragweite des Zölibats im Klaren zu sein, den sie freiwillig und gern bis an ihr Lebensende übernähmen.441 Wer aber „zur Sinnlichkeit neigt und auf Grund einer langen Erfahrung gezeigt hat, daß er sie nicht zu beherrschen versteht; wer endlich ungeeignet ist für das Studium […]: alle diese sind für das Priestertum nicht geschaffen“442, schlussfolgerte Papst Pius XI. in der Enzyklika Ad catholici sacerdotii 1935.

Diverse Richtlinien für Priestererzieher folgten: So gab die Fuldaer Bischofskonferenz 1946 den Beichtvätern ein Schreiben zur Hand, das ihnen die Berufsprüfung bei Verfehlungen gegen das 6. Gebot erleichtern sollte.443 Zu Beginn hieß es dort: „Die Richtlinien sind aus der Erfahrung der älteren und der jüngeren Vergangenheit gesammelt“444. Damit erkannte die Bischofskonferenz zwar die Realität unkeuscher Seminaristen an, allerdings sollten jene Richtlinien nur helfen, diese Seminaristen zu entdecken, „auf daß sie nicht erst nach mehreren Semestern und vielleicht erst nach dem einen oder anderen verhängnisvollen Fehlgriff ihren Weg finden.“445 Vor allem die Masturbation unter Seminaristen wurde als ein geläufiges Problem gesehen, denn ihr widmeten sich die Richtlinien besonders ausführlich.446

Schon seit dem Mittelalter gehörte die Verurteilung der „Selbstschändung“ oder „Selbstbesudelung“447 aufgrund einer sexualbiologischen Interpretation zur Tradition der Kirche.448 Grundsätzlich war die gelebte Sexualität ausschließlich der Ehe vorbehalten und die eigene Reinerhaltung sittliche Pflicht.449 Der Geschlechtsakt wurde als Mittel zum Zweck gesehen und nur das Ziel der Fortpflanzung legitimierte ihn. In der Folge galten alle geschlechtlichen Akte, die nicht zur Zeugung offen waren, als sündhaft. Diese Sünden der Unkeuschheit wurden zudem in solche intra naturam (innerhalb der Natur) und contra naturam (gegen die Natur) geteilt. Bei ersteren bleibe der gottgewollte Fortpflanzungszweck gewahrt, etwa bei vorehelichem Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung und Ehebruch. Letztere, beispielsweise die Masturbation, der Verkehr mit Tieren oder Analverkehr, verstoße gegen die gottgewollte Zeugungsoffenheit.450 Diese Sünden würden schwerer als solche innerhalb der Natur bewertet, hieß es bei bekannten Moraltheologen.451

1951 wiederholte Papst Pius XII., der einzige Ort sittlich erlaubter geschlechtlicher Akte sei die Ehe, und auch dort sei die Sexualität nur unter der Voraussetzung der Offenheit für Zeugung legitim.452 Wenig später wies er

„als irrig die Behauptung derjenigen zurück, die Verfehlungen in den Jahren der Reifezeit als unvermeidlich erachten, von denen man nicht viel Aufhebens machen sollte, als seien sie keine schwere Schuld, weil, wie sie erklären, für gewöhnlich die Leidenschaft die Freiheit aufhebe, die nötig ist, damit jemand für seine Handlung sittlich verantwortlich sei.“453

Es half auch nicht, die Selbstbefriedigung als natürlich zu betrachten, weil zunehmend die positive Bewertung der Natur kritisiert wurde, dass alles, „was für naturgemäß gehalten wird, was irgendwie mit der Natur zusammenhängen soll, […] ohne weiteres als gut und erstrebenswert, ja geradezu als heilig [gilt].“454 Diese „moderne Naturbejahung“ gefährde jegliches Vollkommenheitsstreben und sogar den Zölibat, „der ja von der naturgemäßen Linie abbiegt“455. Nicht jede menschliche Naturregung und nicht jeder Trieb müsse bejaht werden, so wie nicht jeder Kampf gegen Triebe unnatürlich sei. Selbst Priester würden heute schon „gegen die genuin christlichen Haltungen der Selbstüberwindung und Abtötung verschiedentlich“ ankämpfen, „theoretisch und noch mehr praktisch“456. Im Christen müsse sich die Natur unbedingt eine Beschneidung gefallen lassen.457 Der Verzicht auf die sündhafte Selbstbefriedigung galt als Ausdruck dieser Beschneidung. Neben die Sündhaftigkeit der Selbstbefriedigung traten zudem seit dem 18. Jahrhundert die Mythen von körperlichen Auswirkungen, die man der „Selbstschwächung“ nachsagte: Verblödung, Auszehrung, Mattigkeit, Verdauungsprobleme, Sehstörungen, Gedächtnisschwäche und sogar Knochenmarkverlust.458

Die Richtlinien der Fuldaer Bischöfe rieten deshalb, Verfehlungen gegen das 6. Gebot, etwa die „starke Gewohnheit der Selbstbefriedigung“459, mit Blick auf die „Berufseignung sehr ernst zu bewerten.“460 Differenziert wurde nach der bewussten Handlung des Seminaristen, der Häufigkeit und der Stärke der Versuchung:

„Hat einer im allgemeinen weniger starke Versuchungen, aber versagt er, falls diese einmal heftig auftreten, fast regelmäßig, so ist dies noch ernster zu beurteilen, als wenn einer oft starke Versuchungen durchkämpfen muß, aber die Fälle, in denen er versagt, gering an Zahl sind gegenüber den Versuchungen.“461

Würden sich Verfehlungen wiederholen, die „mit Eintritt der Pollution“ als „jugendliche Balgereien“462 abgetan werden könnten, solle der Beichtvater über einen längeren Zeitraum eine gewissenhafte Berufsprüfung vornehmen. Zeige sich jedoch schon zu Beginn des Studiums eine „stark sinnliche[] Veranlagung […], die nicht hinreichend gemeistert wird, […] so ist ihm von vornherein der Rat zu geben, den Beruf zu wechseln.“463

Deutlichere Worte hinsichtlich der beruflichen Konsequenzen fanden die Bischöfe bei „[g]ewohnheitsmäßige[r] Selbstbefleckung bei vollem Wachsein“464: Könne der Seminarist diese Gewohnheit nicht rechtzeitig überwinden, müsse er in diesem Fall das Theologiestudium aufgeben.465 Der Überwindung der Selbstbefleckung zum Zeitpunkt des Wachwerdens sei ggf. ein längerer Zeitraum zu gewähren. Doch auch hier solle der Beichtvater von dem Seminaristen einen Berufswechsel fordern, falls dieser sich nach einem Jahr seine Gewohnheit noch nicht abgewöhnt hätte.466 Denn „[e]ine Berufung auf Halbschlaf“ dürfe nicht dazu dienen, „Dinge zu entschuldigen, die objektiv und subjektiv Sünde sind.“467 Schließlich seien auch in der Regel diejenigen abzuweisen, die „im letzten Jahre vor dem Introitusexamen eine größere Zahl von Einzelrückfällen erleide[n]“468, auch wenn es sich um keine Gewohnheit handele. Mildere Urteile erlaubten die Bischöfe in ihren Richtlinien bei Kandidaten kurz vor der Subdiakonatsweihe. Hier sei zu unterscheiden, ob die Verfehlung echt freiwillig begangen oder etwa die Pollution aufgrund nervöser Erregung herbeigeführt worden sei.469 Für diejenigen, die sich schon vorher wegen „nervöse[r] Erektionen“ gewohnheitsmäßig der „nervös-aktiven Pollution“470 hingegeben hätten, galt ebenfalls eine zeitliche Frist, um ihre Gewohnheit zu überwinden.

Zur Umsetzung der Richtlinien sollten die Beichtväter bei triftig begründeten Fragen zum sittlichen Verhalten des Kandidaten in der Vergangenheit darauf achten, wer die offene Auskunft verweigere. Denn dies gebe „zu ernsten Bedenken gegen seinen Beruf Anlaß.“471 Beichte ein Seminarist bei einem fremden Beichtvater eine nicht einmalige oder sehr seltene schwere Sünde gegen das 6. Gebot, solle der Beichtvater dem Pönitenten nahelegen, über die Sünde auch seinen ständigen Beichtvater zu unterrichten. Sei der Pönitent dazu nicht bereit, müsse der Beichtvater selbst die Berufsprüfung vornehmen.472

Sechs Jahre nach dem Erscheinen der Richtlinien der Fuldaer Bischofskonferenz veröffentlichte auch das Bischöfliche Generalvikariat Münster konkrete Richtlinien, um die Priesterberufe zu beurteilen und zu fördern.473 Mit den Fuldaer Richtlinien von 1946 als Vorbild wiederholte die Münsteraner Veröffentlichung unverändert, wann eine Handlung als Gewohnheit zu bewerten sei, nach welchem Zeitraum die Gewohnheit als überwunden gelten könne und wie es moralisch um die Pollution im Halbschlaf stehe.474 Inhaltlich gab diese Veröffentlichung nichts Neues her. Und doch ist die Publikation an sich bemerkenswert, weil sie widerspiegeln könnte, dass die nur wenige Jahre alte Veröffentlichung der Fuldaer Bischofskonferenz nicht die gewünschte Rezeption fand, die Sorge um die sündhaften Verfehlungen angehender Priester 1952 noch immer aktuell war und deshalb eine Einschärfung der bestehenden Regelungen angebracht schien.

Ende 1955 folgte schließlich ein an die Ortsordinarien gerichtetes Zirkularschreiben der Sakramentenkongregation, das die Durchführung der 25 Jahre zuvor ergangenen Instruktion Quam ingens sicherstellen sollte, weil sie nicht (mehr) die nötige Beachtung finde.475 Den Professoren der Moraltheologie wurde es zur besonderen Pflicht gemacht, die Alumnen - besonders vor den höheren Weihen – über die Inhalte der Instruktion ausführlich zu informieren.476 Ein besonderes Anliegen der Sakramentenkongregation war die Beachtung und Befolgung deshalb, weil sie sich davon einen Rückgang an Weihenichtigkeitsprozessen versprach. Die Zahl klagender Priester habe zugenommen, die behaupteten, ihre Seelenführer hätten ihnen trotz offenkundiger (psycho-)sexueller Anomalien nicht von der Weihe abgeraten.477 Obwohl sie sich bisweilen bis kurz vor dem Empfang der höheren Weihen verfehlt hätten, habe man ihnen geraten, an ihrer vermeintlichen Berufung festzuhalten. Diese Priester behaupteten, mit den Vorschriften der 1930er Instruktion nicht vertraut gewesen zu sein478, und seien nun so unverdrossen, von der kirchlichen Autorität zu fordern, die Irrtümer, die durch ihre Beauftragten entstanden seien, mit einer Befreiung aller durch die Weihe entstandenen Pflichten zu korrigieren.479

Die Regentenkonferenz nahmen dieses Schreiben deshalb zum Anlass, sich erneut über die anscheinend unveränderte Lage in den Seminaren auszutauschen. Es bedürfe keines Beweises, hieß es 1956, dass die Fragen des Schreibens „für unsere Konferenz eine gerade klassische Materie darstellen.“480 Mit Blick auf die beschriebenen späteren Weihenichtigkeitsprozesse diskutierten sie dort, ob nicht ein späterer Weihetermin helfen könne.481 Denn es sei nicht mehr zu übersehen, „dass ein nicht geringer Teil unserer Abiturienten, was die seelische Reife, die Ausreifung der Persönlichkeit angeht, noch in der Pubertät steckt. Wir müssen daher auch damit rechnen, dass die Schwierigkeiten, weil und insoweit sie Ausdruck der Reifeproblematik sind, sich länger hinziehen“482.

Nicht alle tatsächlichen Problematiken waren jedoch mit einem Weiheaufschub zu beheben, weil es nicht nur altersbedingte Reifeproblematiken gab. Auch gesellschaftliche Einflüsse erschwerten die zeitgenössiche Priesterbildung, indem sich auch dort der Wunsch nach Veränderungen ausdrückte.

2.1.2.2.4 Aufkeimendes Problembewusstsein

Als Crottogini zu Beginn der 1950er Jahre in Priesterseminaren mit seinen Untersuchungen begann, war der gesellschaftliche Wandel und sein Einfluss auf die Kirche nicht mehr zu leugnen. Die traditionellen Hauptakzente der Seminarerziehung - die Trias Gehorsam, Ordnung, Abgrenzung – waren mehr und mehr ins Wanken geraten.483 Der Wandel beschränkte sich nicht nur auf die Priesterseminare, aber sie waren oftmals der Ausgangspunkt für weitere innerkirchliche Entwicklungen.484 Im Hinblick auf die Priesterseminare kam eine Theoriebildung in Gang, die die bisherige Erziehungssicherheit erschütterte, in der Begriffe wie „Mündigkeit, Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstfindung, […] Demokratie und Gleichberechtigung, Brüderlichkeit und sach-, fach-, personengebundene Autorität eine bedeutsame Rolle spielten“485. Mit den Gesellschaftsstrukturen veränderte sich auch das Aufgabenfeld des Priesters. Defizite „der überkommenen Seminarerziehung [wurden] spürbar.“486 Zunehmend wurde die bisherige Seminarerziehung als reformbedürftig wahrgenommen, vor allem in den Erziehungsmethoden, den Idealen, den Ausbildungsinhalten und mit Blick auf die Anforderungen und Aufgaben der künftigen Priester.487

Zum einen war da der Wunsch nach mehr Autonomie. Es gab in zunehmender Zahl Seminaristen, die mehr Selbstbestimmung und Freiheit für sich forderten488, die „mit dem Zustand und Erscheinungsbild der Kirche unzufrieden waren, die gewohnte priesterliche Lebensform als überholt ansahen und Umkehr und Erneuerung anstrebten.“489 Gleichermaßen gab es ehemalige Seminaristen, „die in der Praxis das Defizit an von der pädagogisch-wissenschaftlichen Theorie geforderten Grundhaltungen und Grundfähigkeiten spürten und dies wesentlich auf Fehler in der Erziehung zurückführten“490. Die Erziehung zur Disziplin und zum Gehorsam wurde von den Seminaristen oft als nicht mehr zeitgemäß empfunden, während die Verantwortlichen die zunehmende Disziplinlosigkeit beklagten.491 Doch auch unter manchen Lehrenden kam der Wunsch nach Veränderung in der Erziehung auf, was sich auch in der Praxis bemerkbar machte. Das blieb der Seminarkongregation nicht verborgen und veranlasste sie, gegen neue Erziehungsansätze Stellung zu nehmen. Sie wolle an einige „fundamentale Grundsätze der kirchlichen Formation“492 erinnern, schrieb sie, denn ein Mangel daran könne die korrekte Ausbildung des Kandidaten beeinflussen und damit auch dessen Erfolg im priesterlichen Amt.

„Man hat den Eindruck, dass die Lehrenden, fernab davon, sich in Zurückhaltung zu üben, Neues und Unversuchtes ermutigen und nahezu davon besessen sind. Sie sind eher darüber beunruhigt, was dem Studenten besser gefällt, als darauf zu bestehen, was ihm am ehesten nützlich ist. Und sie haben nicht den Mut, Selbstverleugnung und Opfer einzufordern.“493

Mehrfach wurde außerdem gefordert, die priesterliche Berufung als prozesshafte Entwicklung zu verstehen und die Priesterausbildung persönlichkeitsorientiert zu gestalten. Der „entwicklungsmäßige[] Abschnitt der Ausreifung, Festigung und Stabilisierung“494 ging meist zeitlich einher mit einem bewahrenden Erziehungsstil, der die Seminaristen vor bedrohlichen und herausfordernden Erfahrungen abschirmen sollte. Ohne es weiter zu thematisieren, ging man davon aus, dass „die äußerlich verfügte Bewährung vollkommen internalisiert wird im Blick auf das vorgegebene Ziel, das in einer Art Berufung oder Neigung bereits ausgeprägt erschien und in sich keiner besonderen Entwicklung mehr bedurfte.“495 Katholische Herkunft, religiöse Anlagen und eine rein intellektuelle Studierfähigkeit hatte man bisher als ausreichende Voraussetzungen einer Berufung angesehen. Die Berufs- und Glaubensentscheidung wurde irrtümlich als ein einmaliger Akt gesehen. Diese Entscheidung sollte im Seminar nur noch ausgestaltet und „gepflegt“ werden, indem man störende Faktoren abschirmte.496 Lange sei man der theologischen Auffassung gewesen, „Gott berufe Buben schon im Kindesalter zum Priester, und die Buben könnten diese Berufung auch schon sehr früh erkennen. Aufgabe der Seminarerziehung war es dann, die Berufung zu schützen und zur Reife zu bringen.“497

Durch den allgegenwärtigen Gehorsam in der Ausbildung kam es zusätzlich zu einem Dilemma grundsätzlicher Art: Auf der einen Seite sollte mit der Seminarausbildung die Loyalität der Seminaristen und späteren Priester gegenüber der Kirche gesichert werden. Auf der anderen Seite sollten im Seminar charismatische Priester erzogen werden, „die sich, einmal in der Öffentlichkeit stehend, vom ersten Tag an durch einen diffusen persönlichen Einfluß auf die normative orientierung anderer auszeichnen soll[en].“498 Die Seminarerziehung, die aber weder Selbstständigkeit noch Eigenverantwortlichkeit förderte, stattdessen auf die vorausgesetzte Lenkungsbedürftigkeit mit Gehorsam und Zucht reagierte, erreichte dieses Ziel hingegen nur schwer.499 Vielmehr kollidierte die aus der kirchlichen Sicht notwendige Prägung der Seminaristen, „die Erzeugung der erforderlichen moralischen Einstellung zur Kirche und die Anerkennung und Internalisierung ihrer internen Machthierarchie und deren Normen […] mit dem Ziel der sukzessiven Entwicklung charismatischer und patenter Persönlichkeiten“500. Die Verbindung dieser beiden Ziele nannte auch der Soziologe Leo von Deschwanden „eine außergewöhnliche, permanente Organisationsleistung“501, weshalb es in den meisten Fällen bei einem Wunschdenken blieb. Der Historiker Thomas Forstner bezeichnete diesen Spagat zwischen der spezifischen Sozialisation der Seminaristen und ihrem „späteren Interaktionsnetz“ als einen „scharfen Gegensatz“502.

Der als „Pionier der Priesterausbildung“503 geltende Mainzer Regens Weihbischof Josef Maria Reuß forderte schon 1954, vermehrt auf die Persönlichkeitsentwicklung der angehenden Priester zu achten.504 Andere erkannten erst später, dass

„viel Kummer und schreckliches psychisches Leid von Priestern in Not von einer Seminarausbildung verhindert werden könnte, die auf eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung abzielt. Die tragischen Priesterfiguren, deren Berufungen Schiffbruch erlitten, oder die sich schmerzhaft im Priestertum quälen, sind das schlagendste Argument für eine gesteigerte Sensibilität gegenüber den psychologischen Faktoren im Seminarleben. Für Seminaristen müssen die Bedingungen geschaffen werden, die ihnen helfen, sich so vollständig wie nur möglich während ihrer Jahre im Seminar zu entwickeln.“505

In die gleiche Richtung gingen auch Reformwünsche der Gläubigen in den Gemeinden, die von den Defiziten der Seminarausbildung ebenfalls betroffen waren. Für den angestrebten „Uniformismus“ in der Priesterausbildung war die Isolation ein begünstigender Faktor506, die Kehrseite der Medaille war jedoch, dass nicht selten die vorherige „,Set-apart‘-Konzeption“507 des Seminars zu einem „Praxisschock“508 führte, wenn die Alumnen nach ihrer Weihe in den Seelsorgedienst zu treten hatten. Durch die weltabgewandte Erziehung waren möglicherweise seelische Kräfte für spätere missionarische Aufgaben gewonnen, worin die Berechtigung einer solchen Erziehung liegen durfte. „Durch bloße Abgeschlossenheit aber wachsen weder zutreffende Erkenntnisse noch Kontakte mit denen, die zu missionieren sind.“509 Als Priester sollten die ehemals isolierten Seminaristen mit einer Welt in den Dialog eintreten, der sie zuvor aus Angst vor schädlichen Einflüssen nicht einmal hatten begegnen dürfen.510 Papst Pius XII. hatte dieses Problem selbst erkannt und auch bereits 1950 öffentlich angesprochen:

„Wenn hingegen die Jugendlichen - besonders jene, die schon im zarten Alter in die Seminarien aufgenommen worden sind – an Orten erzogen werden, die von der menschlichen Gesellschaft allzuweit entfernt sind, werden sie später nicht leicht weder mit dem einfachen Volk noch mit den Gebildeten umgehen können, und es wird ihnen nur zu leicht passieren, daß sie sich entweder dem christlichen Volke gegenüber ungeschickt benehmen oder ihre eigene Erziehung ungünstig beurteilen. Daher muß man dafür sorgen, daß die Zöglinge allmählich und klug in die innersten Gedanken und Wünsche des Volkes eindringen, damit sie nicht, wenn sie einmal im Priesteramt sind und in der Seelsorge arbeiten, unsicher in ihrer Tätigkeit sind. Das würde nicht allein sie selber verwirren, sondern auch ihr priesterliches Wirken beeinträchtigen.“511

Darüber hinaus wurde auch die Anpassung der Ausbildung an die spätere Seelsorgetätigkeit gefordert, weil die Verlautbarungen des Hl. Stuhles in diesen Jahren vermehrt als „monolithische Konzepte ohne realistischen Bezug zu ihrer Zeit“512 empfunden wurden. Über die Ausbildungsinhalte sprach von Deschwanden im Hinblick auf die späteren Seelsorgetätigkeiten in einer Pfarrei noch 1968 von einer „Dysfunktion der Seminarausbildung“, weil die Studieninhalte der Seminaristen „nicht der Pfarreitätigkeit des späteren Priesters“513 entsprächen. Praktisch habe die Seminarausbildung nur wenig mit dem späteren tatsächlichen Arbeitsbereich des Priesters gemein.514 Man zweifelte, ob das zeitgenössische Ausbildungssystem die Kandidaten so effizient wie möglich auf ihre pastorale Tätigkeit vorbereitete.515 Stattdessen sah man in der Ausbildung

„lediglich die geforderten Voraussetzungen für diesen Dienst [geschaffen] und […] der Normierung und Strukturierung des Glaubensdiskurses [gedient] […]. Der kulturelle Rahmen des Priesterseminars entsprach zudem in keiner Weise der technisch-rationalen Welt der Moderne, mit welcher der Priester später konfrontiert werden sollte. Die Ausbildung war geradezu geprägt von einer systematischen Weltentfremdung.“516

Schließlich sollten Änderungen in der Ausbildung persönlichen Krisen vorbeugen. Die Schwächen der Seminarausbildung zeigten sich gerade bei Neu-Priestern: Jene „Bewahrungs- und Gewöhnungspädagogik“517 in der Ausbildung wirkte sich nach dem Studium oft negativ aus und führte teils schon früh zu Berufskrisen. Durch die starren Strukturen in der Ausbildung war die Gewöhnung an Tagesabläufe und Riten gewährleistet, ihre Ausführung war teilweise sogar mit „legalistischen Erfüllungszügen“518 zu vergleichen. Mitunter wurde der „rhythmisierte Tagesablauf im Seminar zum höheren Gesetz auch um der Disziplin willen, er stellte eine Form der Gehorsamsübung dar.“519 Wenn der äußere Gehorsamszwang nach dem Studium bzw. nach der Priesterweihe jedoch wegfiel und ein Neu-Priester zuvor Erlerntes und Geübtes nicht habituell verkörperte, war die Krise oft nur eine Frage der Zeit.520 Nicht selten wurde dann die Sinnhaftigkeit dieser Strukturen angezweifelt und hinterfragt. Dieses Problem anerkannte Pius XII., als er 1950 eingestand, dass ehemalige Seminaristen „ihre eigene Erziehung ungünstig beurteilen.“521 Trotzdem wurde weiterhin die Selbstheiligung des Priesters und der Gehorsam als Fundament aller Tugenden und Wille Gottes betont.522

Drastischer als Pius XII. formulierte es 1954 wiederum Weihbischof Reuß: Diese regelnde Einwirkung auf die Seminaristen dürfe unter keinen Umständen zur Dressur werden, die sich in disziplinären Maßnahmen zur Erreichung äußerer Korrektheit erschöpfe: „Das Ergebnis wäre der nur äußerlich korrekte Priester.“523 Nur äußerliche Korrektheit sei aber ein Gegensatz zum echten Zeugnisleben. Die regelnde Einwirkung müsse deshalb in strenger Güte, mit viel Geduld und immer mit Begründung anleiten, persönliche Fehler zu bekämpfen. Die bildende Einwirkung unterscheide am stärksten die Erziehung von Dressur. Sie vermittle Einsichten, die als Werterkenntnisse zu Motiven für den freien Willen werden könnten.524 Von Vorschriften und Regeln im Seminar, die nicht zwingend gefordert und zum Hineinwachsen in die priesterliche Existenz nicht unbedingt nötig seien, riet er ab.525 Die Hausordnung solle kein Selbstzweck sein.526 Stattdessen empfahl er einen Ordnungsrahmen, „dessen gewissenhafte Beobachtung wirklich möglich ist, mit Recht als Pflicht betont wird und innerhalb dessen doch zugleich auch eine eigene Lebensgestaltung möglich ist.“527 Darin sah er die Möglichkeit, die Kandidaten zu einem echten Pflichtbewusstsein und damit auch zu einem aufrichtigen Verantwortungsbewusstsein erziehen zu können. Er wandte sich deshalb an die Priestererzieher, deren „psychologisch und pädagogisch richtig zu gebenden motivierenden Hinweise […] den Charakter des Rates und nicht wie die Rahmenordnung den Charakter der Verpflichtung“528 haben sollten.

Hinzu kam, dass das Leben der Seminaristen aufgrund des Priesterbildes auch zur Mitte des 20. Jahrhunderts bis in das kleinste Detail einer übergenauen Struktur und Reglementierung ausgesetzt war. Das Ziel der Abschottung war stets, Kontakte nach außen zu unterbinden und damit die Homogenität der Gruppe zu fördern.529 Und selbst innerhalb der geschlossenen, homogenen Gruppe des Seminars versuchte man die Seminaristen mehrheitlich noch zu Einzelgängern zu erziehen530 – „Interaktionen mit anderen Bezugsgruppen wurden systematisch gemieden oder verhindert.“531 Die Seminaristen waren von der Außenwelt weitgehend isoliert, befanden sich aber zumindest in einem ihnen bekannten Umfeld.532 Nach dem Seminar – als zur Totalabstinenz verpflichteter Priester in einer noch fremden Pfarrei – kam deshalb nicht selten Einsamkeit auf, wenn die vertraute Umgebung und Gemeinschaft wegbrachen.533 Schließlich war es ein Zusammenspiel dieser Faktoren, das spätere Krisen begünstigte:

„Die Isolation der Seminare, die engstirnige Sicht auf das Leben, eine falsche Vorstellung der Tugend des Gehorsams, Tradition, die nicht lebendige Tradition ist, sondern schlicht Überbleibsel vergangener Zeiten, eine Inzucht an Fähigkeiten – das sind nur ein paar der vielen Fäden in dem Geflecht an Ursachen.“534

Im Wesentlichen hielt sich das System der genauen Regelungen und Reglements durch die Seminarordnungen, die teils schon weit vor dem CTC/1917 erlassen wurden, aber bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil.535 „Da und dort durchgeführte kleine Erleichterungen änderten nichts an der grundsätzlichen Tendenz.“536 Crottogini setzte mit seiner Arbeit in eben diesem Spannungsfeld zwischen idealisierter Einsamkeit einerseits und der realen existenziellen, emotionalen Einsamkeit im Sinne fehlender körperlicher Nähe und erfüllenden zwischenmenschlichen Beziehungen andererseits an.537

2.2 Die Dissertation

Die konzeptionellen wie praktischen Probleme der Priesterausbildung waren Crottogini aus seiner eigenen Seminarzeit wie auch aus seiner Zeit als Erzieher bekannt, weshalb er vor den konkreten Ergebnissen im Vorfeld auch keine Angst verspürte. Mit Methoden der empirischen (Berufs-)Soziologie und Psychologie suchte er nach möglichen statistischen Gesetzmäßigkeiten, die Aufschluss über die Situation der Priesterberufsfindung geben könnten. Ausgangspunkt seiner Arbeit war „die Grundannahme, dass die Priesterberufswahl von soziologischen, erbbiologischen, psychologischen und pädagogischen Faktoren abhängt“538.

2.2.1 Die Methodik

2.2.1.1 Der Fragebogen

Für seine Analyse wollte Crottogini zunächst empirisch-soziologisch die inneren und äußeren, die fördernden und die hindernden Faktoren untersuchen, die die Wahl des Priesterberufes beeinflussten. Im Anschluss hatte er eine berufspsychologische Interpretation und eine pädagogische Auswertung der erhobenen Ergebnisse geplant.539 Obwohl von Léon Walther zu dem Projekt inspiriert, begann die tatsächliche Arbeit daran unter der Betreuung von Eduard Montalta.540 Unter der Leitung Montaltas und „in enger Fühlungnahme mit einer ganzen Reihe führender Theologen und Priestererzieher“ ging Crottogini zunächst „mit der grösstmöglichsten Vorsicht ans Werk.“541 Zuerst war zu entscheiden, wie die Daten am besten erhoben werden konnten. Zur Auswahl standen die „freie Form“542, bei der die Versuchsperson sich mündlich oder schriftlich frei zu einem bestimmten Thema äußert, oder ein vorher festgelegter Rahmen an Fragen in Form eines Fragebogens. Eine mündliche Erhebung wäre, da war sich Crottogini sicher, sehr zeitintensiv geworden, weshalb für ihn schnell die schriftliche Erhebung feststand. Sowohl eine freie Beantwortung durch die Kandidaten (z. B. in Form eines Aufsatzes) als auch die Datenerfassung durch einen Fragebogen bot aber Vor- und Nachteile. Deshalb plante Crottogini einen Vorversuch, um zu überprüfen, welche Methode der schriftlichen Erhebung ergiebiger sein würde.543

Er legte neun Priestern und 31 Theologiestudenten ein vorläufiges Frageschema vor und bat die Teilnehmer, den Bogen nach bestem Können auszufüllen. Er hoffte auf eine kritische Rückmeldung mit Blick auf den Inhalt und die Form. Abschließend fragte er, ob man es persönlich vorzöge, den Fragebogen zu beantworten oder den Werdegang des Berufes frei zu schildern. Die Mehrheit der Teilnehmer sprach sich für den Fragebogen aus, womit für Crottogini die Entscheidung gefallen war, die Erhebung mit Hilfe eines Fragebogens auf diese Art durchzuführen.544

Crottogini entschied sich damit für eine der zeitgenössisch gängigen Methoden der empirischen Berufswahlforschung: der Erhebungsmethode. Die Erhebungsmethode kennzeichnete sich durch spontane oder erfragte Selbstäußerungen aus, von denen er sich erhoffte, äußere Tatbestände und innere Gesinnungen ermitteln zu können.545 Bewusst entschied er sich damit zugleich gegen Methoden der Selbstbeobachtung oder der reinen Fremdbeobachtung. Denn die das Berufsbewusstsein anregenden oder auslösenden Momente seien, so begründete er, niemals durch äußere Symptome, sondern nur durch eine vertrauenswürdige Antwort festzustellen. Diese Antworten bedürften allerdings im Anschluss einer Verifizierung, um sie tatsächlich nutzen zu können.546

Damit erwies Crottogini sich nicht nur bei der Themenwahl, sondern auch bei der Vorgehensweise als Kind seiner Zeit. Seit der Nachkriegszeit hatte sich auch in den deutschsprachigen Ländern als beliebter Ansatz der empirischen Sozialforschung die Soziographie entwickelt.547 Beim soziographischen Ansatz wurden eingrenzbare soziale Einheiten „beschrieben und in ein gesellschaftliches Kräftefeld und Bedingungsgefüge hineingestellt. Auf diese Weise lassen sich die sozialen Ursachen analysieren, welche auf bestimmte Handlungsformen oder Organisationsmuster begünstigend oder hemmend einwirken.“548 Die Soziographie hatte jedoch schon bald deutliche Konkurrenz von der Demoskopie bekommen. In der Nachkriegsgesellschaft wurden viele Marktforschungsunternehmen gegründet, die sich zunächst mit konsumorientierten Fragen beschäftigten. Schnell kamen aber auch zahlreiche Meinungsforschungsunternehmen hinzu, die Meinungen, Einstellungen oder Verhaltensweisen empirisch erhoben.549 Bei der Erhebung ihrer Ergebnisse gab es zwar Schnittstellen, doch hatte sich die Meinungsforschung als eigene Methode parallel seit den 1930er Jahren entwickelt. Mit Meinungsforschung oder Demoskopie waren all jene Methoden gemeint, „die auf dem […] Verfahren der Auswahl einer ‚repräsentativen‘ Stichprobe (Quota-Sample oder Random-Sample) basieren, um Meinungen, Einstellungen, Motive oder auch Verhaltensweisen empirisch zu erheben.“550

Crottogini verband so verschiedene Ansätze miteinander, weil er nicht nur an der Quantität der Priesterberufe, sondern mehr „qualitativ an der Berufspraxis des Priesters“551 interessiert war. Die Daten erhob er mit Fragebögen, obwohl in katholischen Kreisen gerade diese Methode in den 1950er Jahren immer wieder für Diskussionsstoff sorgte. Die Einstellungen zu dieser Methode waren ambivalent, die Rezeption ihrer Ergebnisse zögerlich.552 Grund war nicht zuletzt der 1948 erschienene erste Kinsey-Report, dessen – so fasste man es katholischerseits auf – „wissenschaftliche Forschungsergebnisse auf diesem Gebiete mit all ihren delikaten Details wahllos der lüsternen Sensationslust der Menge als Beute vor[ge]w[o]rfen“553 wurden. Im katholischen Milieu war die Soziologie mit ihren Methoden damit in Verruf geraten. „Und die im Rahmen der katholischen Moralvorstellungen mit Notwendigkeit bestehende Brisanz des Themas Sexualität verstärkte die negativen Rückwirkungen auf die Rezeption der Technologie in der Kirche.“554

Man unterstellte ihr einen primitiven Erkenntnisdrang, Szientismus und fehlende Ehrfurcht verbunden mit „Indiskretionsmanie“555. Dennoch wurden auch von und für Katholiken Umfragen zu verschiedenen Themen begonnen, aber die Popularität, die Umfragen und Fragebögen in anderen Kreisen genossen, war katholisch mehrheitlich gedämpft.556 Diese ablehnende Haltung weiter katholischer Kreise war auch Crottogini nicht verborgen geblieben. Möglicher Schwierigkeiten des Projekts war er sich somit bewusst, als er mit den Arbeiten an seiner Dissertation begann.557

Franz-Xaver von Hornstein558, Professor der Pastoraltheologie in Fribourg, der über das Projekt informiert war, gab den Rat, sich vielleicht besser vorab bei den verantwortlichen Erziehern in Priesterseminaren und Ordensgemeinschaften zu erkundigen, ob man von dort Mithilfe erwarten dürfe.559 Crottogini befolgte den Rat und erbat daraufhin bei über 20 Ordensoberen, Novizenmeistern und Seminarvorstehern aus den deutschsprachigen Ländern mündlich oder schriftlich eine grundsätzliche Stellungnahme zu seinem Vorhaben, verbunden mit der Anfrage, ob er bei der Durchführung mit ihrer Unterstützung rechnen dürfe.560 Von den 21 schriftlichen Anfragen, die er verschickt hatte, erhielt er von zwei Angeschriebenen keine Antwort, zwei lehnten aus theologischen Gründen ab, die große Mehrheit von 17 Verantwortlichen sicherte ihm aber schriftlich ihre Unterstützung zu.561 Nicht nur ihm persönlich bekannte Priestererzieher gaben positive Rückmeldungen: So antwortete ihm z. B. Prälat Blasius Unterberger, Regens des Priesterseminars in Graz, am 23. Juli 1951:

„Sie haben sich ein sehr interessantes, aber auch ein schwieriges Thema zur Bearbeitung gewählt. Ich bin gern bereit, unseren Theologen die Fragebogen vorzulegen und ihnen auch die entsprechenden Hinweise zu geben, worauf es bei solchen Erhebungen ankommt, damit sie nicht das schreiben, wie es sein soll oder wie sie es gewünscht hätten, sondern wie es war und ist.“562

Robert Weber, Regens des Priesterseminars St. Peter der Erzdiözese Freiburg i. Br., antwortete ihm am 15. Oktober 1951:

„Ich erkläre mich gern bereit, dass Sie die Alumnen unseres Seminars in den Kreis der Befragten einbeziehen. Damit die Herren Ihnen lieber und unbefangener antworten, schlage ich vor, dass Sie sich selber an Sie wenden und die Regentie [Seminarvorstand; J. S.] auch nicht einmal als Vermittlerin auftritt. […] Ich interessiere mich sehr für Ihre Unternehmung.“563

Ebenfalls eine positive Antwort kam von Augustin Frotz564, Regens des Priesterseminars der Erzdiözese Köln in Bensberg, am 29. September 1951:

„Gerne will ich Ihnen behilflich sein. Die Frage nach dem Priesternachwuchs darf uns ja nicht ruhen lassen. Gewiss ist die Berufung Gnade, aber wer in der Theologen- und Priesterausbildung steht, weiss, wie bedeutsam die natürlichen Voraussetzungen sind“565.

Diese Rückmeldungen bestärkten Crottogini darin, mit dem Erstellen des endgültigen Fragebogens zu beginnen. Nach einigen Anläufen und Korrekturen wies der Bogen schließlich 85 Fragen auf. Vier komplexere Kategorien unterteilten den Fragebogen, um ihn etwas aufzulockern und auch übersichtlicher zu machen.566 In der ersten Kategorie waren die Fragen zu finden, die Heimat und Familie des Befragten betrafen. In der nächsten Kategorie ging es um die Probleme der Volks- und der Mittelschulzeit. In der dritten Kategorie waren all jene Fragen zusammengefasst, die die eigentliche Genese des Berufswunsches und des Berufswillens angingen. In der vierten und letzten Kategorie kamen Fragen zum Fachstudium. Von dieser endgültigen Fassung ließ Crottogini 650 deutsche und 250 französische Exemplare drucken.567

2.2.1.2 Die praktische Durchführung

Nach den notwendigen Vorarbeiten konnte Crottogini im Spätherbst 1951 endlich mit der tatsächlichen Erhebungsarbeit beginnen. Mit Ausnahme von fünf Einrichtungen durfte er seine Erhebungen in allen angefragten Ausbildungsstätten ohne Schwierigkeiten durchführen.568 Geografischer Schwerpunkt der Befragungen war die Schweiz. Fünf diözesane Priesterseminare, ein Theologenkonvikt und 24 Studienhäuser von insgesamt 19 verschiedenen Gemeinschaften (Orden, Kongregationen und Gesellschaften) beteiligten sich an seiner Erhebung.569 Zum Vergleich erhielten noch je zwei deutsche und österreichische Weltpriesterseminare und eine deutsche, eine französische und eine österreichische Ordenseinrichtung die Fragebögen. In den meisten Fällen übergab Crottogini die Bögen persönlich und konnte sich deshalb den Teilnehmern auch vorstellen. So konnten sich auch die Teilnehmer ein Bild vom Fragesteller machen. Er erklärte noch einmal Sinn und Zweck des Projekts und wies auch auf die ihm bewussten Schwierigkeiten hin. Die Teilnehmer wurden schließlich gebeten, sich in einer ruhigen Minute mit dem Fragebogen vertraut zu machen. Würden sie sich dann dazu entschließen, die einzelnen Fragen beantworten zu wollen, so hätten sie dafür drei Wochen Zeit. Ein besonderes Anliegen war ihm, die Anonymität der Teilnahme zu betonen. In den meisten Fällen konnte er diese den Teilnehmern persönlich garantieren. Die Teilnehmer, denen er das Projekt nicht persönlich vorstellen konnte, erhielten dafür ein Begleitschreiben, in dem er erklärte:

„Leider verlangt der Charakter der Arbeit auch einige intimere Fragen. Um jede Gefahr einer persönlichen Bloßstellung zu vermeiden, wird die Rundfrage streng anonym durchgeführt. Und ich möchte Sie bitten, keine Namen zu nennen, welche die Anonymität irgendwie gefährden können. Auch mir wird die strengste Diskretion bei der Sammlung und Auswertung der Antworten Gewissenssache sein.“570

Ebenso betonte er, die Beantwortung der Fragen sei völlig freiwillig. Wer eine Frage nicht beantworten wolle oder könne, solle sie durchstreichen oder unbeantwortet lassen.571 Zum Schluss der Erhebung wurde jeweils aus der Gruppe eine Vertrauensperson gewählt, der die Bögen in einem geschlossenen Umschlag und innerhalb der genannten Frist zurückzugeben waren.572 Auch den Oberen der jeweiligen Einrichtungen sollte so die Einsicht in die ausgefüllten Bögen verwehrt bleiben.573 Für die Auswertung war es Crottogini wichtig, auch die leeren, bewusst nicht ausgefüllten Bögen zurückzuerhalten. Auf diese Weise konnte die effektive Zahl an bearbeiteten Bögen bzw. die effektive Mitarbeit einer Gemeinschaft festgestellt werden.574

Neben den Befragungen in Priesterausbildungsstätten gingen zusammen mit dem oben genannten Begleitbrief außerdem noch 60 Fragebögen an einzelne Seelsorger, d. h. Priester mit abgeschlossener Ausbildung.

2.2.1.3 Die Auswertung der Erhebung

Aus der Schweiz erhielt Crottogini von den 600 versandten Fragebögen 425 ausgefüllt zurück. Unter den 600 waren 318 Ordensmänner, von denen 231 antworteten. Von den 60 Geistlichen aus der Seelsorge kamen nur 16 Antworten. Von 250 ins Ausland verschickten Fragebögen kamen 196 zurück. Von insgesamt also 850 in Umlauf gebrachten Fragebögen im In- und Ausland erhielt Crottogini 621 auswertbare Exemplare und damit 73,1% zurück, d. h. fast drei Viertel aller Fragebögen. Bei den übrigen 229 Exemplaren gaben 52 Befragte immerhin einen Grund für die Nicht-Bearbeitung an. Neben grundsätzlicher Ablehnung („,Wozu das alles? […] Lassen wir doch so feine, geheiligte Bereiche verschont vom kalten, profanierenden Geist der Statistik‘“575) wurde hauptsächlich Zeitmangel als Begründung genannt.576 Die bearbeiteten Fragebögen waren unterschiedlich ausführlich beantwortet. Crottogini merkte aber an, viele Befragte schienen auf eine solche Aussprachemöglichkeit gewartet zu haben. Das ergebe sich nicht nur aus der offenen und gründlichen Beantwortung selbst der delikatesten Fragen, sondern auch aus den mehr als 200 spontan bekundeten Interessens- und Dankesbezeugungen am Ende der Bögen.577

An der Zuverlässigkeit der Teilnehmeraussagen zweifelte Crottogini nicht. Aus den bejahenden wie auch den ablehnenden Aussagen spreche gleichermaßen Ernst wie Wille zur Wahrheit gegenüber sich selbst als auch dem Fragesteller. Es handele sich bei den Teilnehmern zudem um Personen, die nach Erziehung und Bildung eine gewisse Übung darin hätten, über sich selbst und ihre Mitwelt Rechenschaft zu geben, und die außerdem über ein verhältnismäßig hohes Maß an Vorsicht und Selbstkritik verfügten. Natürlich dürfe nicht übersehen werden, dass hauptsächlich nach dem Berufsbewusstsein gefragt worden sei. Insofern beschränke sich das Material darauf, was den Befragten innerlich und äußerlich zugänglich gewesen sei.578

Vor der inhaltlichen Auswertung des Materials sortierte und kennzeichnete Crottogini die Fragebögen. Er trennte zunächst die Bögen nach In- und Ausland und vergab Kennziffern. Danach sortierte er feiner nach dem Kriterium Welt- oder Ordenskleriker. Schließlich unterschied er nach dem Berufsstand, d. h., ob die Antwort von einem Novizen, einem Studenten oder einem Priester stammte. Bei den 425 Bögen aus der Schweiz kam er so zu dem Ergebnis, dass 194 der Antwortenden dem Welt- und 231 dem Ordensklerus angehörten, von den 196 ausländischen Bögen stammten 128 vom Welt- und 68 vom Ordensklerus. Von den Schweizern waren 32 Bögen von Novizen, 314 von Studenten und 79 von Priestern. Unter den ausländischen Antworten waren 22 von Priestern, 173 von Studenten und eine von einem Novizen.579

Crottogini erfasste im Anschluss die 8960 Fragebogenseiten in einer Tabelle und klassifizierte sie. So wollte er das Material erst quantitativ sichern und auswerten, um es anschließend psychologisch-pädagogisch (qualitativ) zu interpretieren. Einen Anspruch auf die allgemeine Gültigkeit seiner Ergebnisse erhob er nicht. Ihm war klar, es könne erst nach ähnlichen Untersuchungen andernorts mit ähnlichem Material geurteilt werden. Eine relative Allgemeingültigkeit schloss er vorab allerdings nicht aus, sollte sich das Material der schweizerischen Hauptgruppe mit den ausländischen Vergleichsgruppen deutlich ähneln oder sogar decken.580

2.2.2 Der Inhalt

Crottogini gliederte seine Dissertation mit dem ursprünglichen Titel „Die Wahl des Priesterberufes als psychologisch-pädagogisches Problem“ in zwei ungleich große Teile. Der erste im Umfang deutlich kleinere Teil trug die Überschrift „Zur Problemstellung und zur Methode“581. Er sollte in die Thematik, das Vorhaben und die Vorgehensweise einführen. Hier erfuhr der Leser zunächst den Beweggrund für das Projekt: „Der Mangel an Priesternachwuchs ist […] die große Sorge der kirchlichen Obern und damit jedes verantwortungsbewußten katholischen Gläubigen. Diese Tatsache drängt zu neuer Auseinandersetzung mit den Vorbedingungen des Priesterberufes.“582 Crottogini bemühte sich in diesem Teil um eine verständliche und nachvollziehbare Darstellung seiner gewählten Methode und seiner Vorgehensweise.583 Dazu gehörte auch eine theologische Rechtfertigung. Crottogini war die überwiegend ablehnende Haltung gegenüber Meinungsumfragen ebenso bewusst wie die Brisanz des Themas, weshalb er die ganz eigenen theologischen Bedenken berücksichtigte.

Gemäß katholischer Dogmatik gilt die Berufung zum Priestertum als Werk Gottes, als besondere göttliche Beistandsgabe – ein göttlicher Akt –, die in einem ewigen göttlichen Willensdekret wurzelt.584 Um möglichen Kritikern zu begegnen, die Crottogini hätten vorwerfen können, mit psychologisch-empirischen Methoden „ein Geheimnis ewiger göttlicher Vorherbestimmung und […] ein Wunderwerk der göttlichen Gnade“585 untersuchen zu wollen, erkannte er die Notwendigkeit einer Rechtfertigung. Er bekannte eigens, er stehe auf dem Standpunkt des Offenbarungsglaubens und in voller Übereinstimmung mit dem Lehramt der Kirche. Eine Theologie des Berufes schließe eine Psychologie aber nicht aus, sondern gerade ein.586 Eine wirkliche Berufung sei ohne berufenden Gott nicht denkbar und deshalb widersinnig. Gleichwohl gebe es äußere Fakten, die über die in der Gnadenführung aktive Berufung Auskünfte geben könnten, nicht über die göttliche Gnadenführung selbst, sondern die sich daran anschließenden Faktoren, die die Wahl des Priesterberufes ermöglichten und anregten.587 Wichtig war Crottogini hier vor allem die Betonung der „grundsätzliche[n] Nichterfaßbarkeit der Berufung und der Gnade in sich“588. Die göttliche Gnade sei damit nicht ausgeschlossen oder gar verneint; sie ließe sich nur nicht direkt einer Prüfung unterziehen.589 „Wer könnte die Gnade in direkter wissenschaftlicher Erfahrung fassen?“590 Crottogini baute auf diese Weise möglichen grundsätzlichen Einwänden gegen das Projekt vor.

Der zweite Teil und zugleich der Schwerpunkt seiner Dissertation trug die Überschrift „Die Faktoren der Berufswahl“591. In ihm stellte Crottogini seine Ergebnisse und Interpretationen dar. Auf die äußeren Faktoren wie Umwelt, Familie und weitere Umwelt folgte der Abschnitt der inneren Faktoren wie Begabung, Temperament, sittlich-religiöse Dispositionen, Sexus, Eros und Zölibat.592 Im dritten Abschnitt schließlich sollte das Zusammenspiel der äußeren und inneren Faktoren untersucht werden.593 Für dieses Schlusskapitel erarbeitete er außerdem einen weiteren „kleinen“ Fragebogen, der an eine kleine Vergleichsgruppe in ihrem Priesterwunsch gescheiterter „Ehemaliger“ ging, um die hemmenden Faktoren derjenigen zu evaluieren, die sich final gegen den Priesterberuf entschieden hatten. Denn

„[e]in nicht ungescheiter Psychologe und Pädagoge wird einwenden, das ganze Experiment hinke. Wolle man etwas über die tatsächlichen fördernden und hemmenden Faktoren in der Wahl des Priesterberufes ausmachen, so gehe es nicht an, nur jene zu befragen, die schlußendlich auf dem direkten Weg zum Ziel stehen oder dasselbe schon erreicht haben; die Rechnung stimme erst dann, wenn sozusagen die Passiven einbezogen werden, […] es müßten auch die sogenannten ‚Ehemaligen‘, die ‚gescheiterten‘ Berufe einbezogen werden.“594

Für die Auswertung der einzelnen Fragen stellte Crottogini die Antworten der „Ehemaligen“ statistisch mit den Antworten der Theologen in einer Tabelle dar. Die statistische Auswertung wurde oft noch um Zitate der Befragten ergänzt.595 Dann kommentierte er die Antworten, zog Schlüsse und/oder betrachtete sie je nachdem im Kontext der Theologie, der Psychologie und der Pädagogik. Schließlich bewertete er manchmal auch seine eigene Fragestellung dahingehend, ob sie ergiebig oder ergebnislos gewesen sei.

Bei den äußeren Faktoren ergab sich z. B. ein annähernd gleicher Anteil von Teilnehmern ländlicher (50,4%) wie städtischer Herkunft (49,6%), bei leichtem Überhang ersterer. Dazu rekrutierten sich die Theologen aus allen gesellschaftlichen Schichten. Vor allem Handwerker- und Bauernsöhne hätten ein besonderes Interesse am Theologiestudium. Die Geschwisterreihe und -anzahl beeinflusse die Wahl zum Priesterberuf, ebenso die väterliche Mitgliedschaft in einer christlichen Gewerkschaft.596 Den Religionsunterricht hätten viele Teilnehmer als unbefriedigend bewertet, zugleich habe er aber viele bei ihrer späteren Berufswahl beeinflusst. Das Fachstudium habe den Berufswunsch überwiegend gestärkt wie auch der regelmäßige Altardienst und das Vorbild geistlicher Persönlichkeiten.597

Die Antworten auf die Fragen nach den inneren Faktoren fielen hingegen mehrheitlich unterschiedlich aussagekräftig aus. Mit Ausnahme der Antworten auf die Sexualfragen verfügte Crottogini nur über sehr bescheidenes Material, was die Interpretation erschwerte. Für Crottogini zeigte sich hier die Begrenzung der Fragebogenmethode, „die in bezug auf die saubere Erfassung einzelner innerpersönlicher Wirkkräfte nie an die Möglichkeiten der modernen psychodiagnostischen Methoden heranreicht.“598 Erkennbar sei aber: Die Teilnehmer seien meist gute bis sehr gute Volksschüler gewesen. In der Mittelschule habe es kleinere Notenverschiebungen nach unten gegeben. Die Mehrheit sei begabter in den sprachlichen Fächern, sodass Moderne Sprachen, Philosophie und Geschichte bei den Lieblingsfächern überwogen.599 Schwieriger zu interpretieren seien z. B. Angaben zur Selbsteinschätzung der Befragten gewesen, ob sie eher zu den Lebhaften, den Nervösen oder den Stillen gehörten. 203 Befragte zählten sich zu den Lebhaften, nur 5 zu den Nervösen und 217 zählten sich zu den Stillen. Auch der religiöse Eifer in Kindertagen sei nicht bei allen Befragten gleichermaßen auszumachen gewesen, sodass es „verfehlt [gewesen wäre], darin ein absolut notwendiges Zeichen für die Echtheit des Priesterberufes zu sehen.“600

Zu den inneren Faktoren zählten schließlich die Fragen zu Sexus, Eros und Zölibat, die aus heutiger Sicht sehr vorsichtig wirken, für damalige Verhältnisse aufgrund ihrer Intimität aber eine wirkliche Besonderheit waren. So interessierte sich die erste Frage für kleine oder große sexuelle Schwierigkeiten in der Pubertät.601 Diese Frage wurde von 413 Schweizern (97,2%) und 191 Ausländern (97,4%) beantwortet. 286 der Schweizer (69,3%) und 122 der befragten Ausländer (63,9%) berichteten von großen sexuellen Schwierigkeiten. 127 Schweizer (30,7%) und 69 Ausländer (36,1%) gaben kleine sexuelle Probleme an. Alle blickten auf mindestens kleine sexuelle Schwierigkeiten in der Pubertät zurück, zwei Drittel sogar auf große. „Die Qualifikationen ‚groß‘ und ‚klein‘“, so Crottogini, „beziehen sich dabei nicht auf die objektive ‚Schwere‘ des Tatbestandes, sondern auf die Intensität, mit welcher die Schwierigkeiten damals empfunden wurden.“602

Crottogini fragte sodann nach den genauen Ursachen und den Erscheinungsformen der Schwierigkeiten. Auf diese Frage antworteten ihm 323 Schweizer und 131 der ausländisch Befragten. Als größter Problembereich habe sich die Selbstbefriedigung erwiesen: 181 Schweizer (56%) und 68 der Ausländer (51,9%) gaben dies zur Antwort. Darauf folgten, wenn auch mit Abstand, unsaubere Phantasien (13,6%/15,3%), mangelnde Aufklärung (13%/14,5%), Verhältnisse zu Mädchen (9,3%/10,7%), homosexuelle Tendenzen (4,4%/3,8%) und Ängstlichkeit (3,7%/3,8%). Die Mehrheit, so Crottogini, habe oft jahrelang und schwer unter dieser Schwäche gelitten.603 Insgesamt hätten „von 621 Befragten mindestens 40,1% vor oder während der Pubertät längere oder kürzere Zeit sich der Selbstbefriedigung hin[gege]ben.“604 Den „effektive[n] Bestand der Onanisten“ setzte er aber noch höher an, weil er „von 167 Kandidaten keine oder nur ungenügende Angaben über die Richtung ihrer sexuellen Schwierigkeiten“605 erhalten habe. Die Höchstgrenze schätzte er auf 45%. Nach Vergleichen mit ihm vorliegenden „Onanistenstatistiken“ kam er zu dem Fazit, die zumindest zeitweise Selbstbefriedigung sei eine weitverbreitete Erscheinung unter Jugendlichen. Er schlussfolgerte weiter: „Daraus aber schließen zu wollen, nicht der Onanist, sondern der sich geschlechtlich Enthaltende sei die Ausnahme, scheint uns mindestens gewagt, wenn nicht eine vorzeitige und nicht bewiesene Verallgemeinerung.“606 Aus den Angaben einiger Teilnehmer, sie hätten gar nicht gewusst, was sie taten, schloss Crottogini auf den Zusammenhang zwischen mangelnder Aufklärung und Selbstbefriedigung.607

Die dritte Frage lautete, ob Schwierigkeiten durch Fremdeinflüsse (Dritte) geweckt oder gestärkt worden seien. Dies bejahten 157 Schweizer (26,3%) und 60 Befragte der Vergleichsländer (31,4%). Die Mehrheit der Schweizer (106) gab eine direkte Verführung an (z. B. durch Aufklärungen von Gleichaltrigen). In seltenen Fällen sei es auch zu Verführungen durch Hausangestellte oder sogar Geschwisterkinder gekommen. Die sexuellen Schwierigkeiten seien in mehreren Fällen auch durch unsittliche Lektüre, Filme und Reklame bestärkt worden.608

Im Anschluss fragte Crottogini, ob die Schwierigkeiten im Internat oder in den Ferien stärker spürbar gewesen seien. Die Antworten fielen hier jedoch sehr spärlich aus, da nur die überwiegend Schweizer Befragten in einem Internat lebten. 378 Schweizer (88,9%) beantworteten ihm die Frage. 153 schrieben, in den Ferien seien die Schwierigkeiten ausgeprägter gewesen, 147 hätten keinen Unterschied feststellen können. Nur 78 hätten die Probleme deutlicher im Internat empfunden. Dies erklärte Crottogini damit, dass „[d]er geregelte Tageslauf, die frohe Spiel- und Arbeitsgemeinschaft und die Schwierigkeit sich [im Internat; J. S.] abzusondern“, zumindest dem einen oder anderen Seminaristen „im Gegensatz zum allzu freien Ferienbetrieb eine starke Hilfe in den sexuellen Schwierigkeiten“609 geboten habe.

Die Frage nach der Überwindung („Kamen Sie relativ rasch und leicht über die Schwierigkeit hinweg oder nicht?“) wurde immerhin von 392 Schweizern (92,2%) und 186 Ausländern (94,9%) beantwortet. Insgesamt seien zwei Drittel nur schwer über ihre sexuellen Probleme hinweggekommen, während es einem Drittel leichter gefallen sei. Nur sechs Kandidaten gaben an, ihre Schwierigkeiten noch nicht im Griff zu haben und noch immer regelmäßig zu masturbieren.610 Diese niedrigen Zahlen kämen zustande, folgerte Crottogini, weil „ein junger Mann, der nach erlangter Geschlechtsreife dem Sexualtrieb immer wieder unterliegt, in der Regel kaum den zölibatären Priesterberuf anstrebt.“611 Außerdem seien auch die Priestererzieher verpflichtet, einem solchen Seminaristen von seinem Wunsch abzuraten.612

Zum Abschluss des Bereichs Sexus bat er um Auskunft, ob ihr Priesterberufswunsch durch diese Pubertätsschwierigkeiten ernsthaft in Frage gestellt worden sei. Alle antworteten, davon 200 Schweizer (47,1%) und 65 Ausländer (33,2%) bejahend.613 Die Mehrheit von 221 Schweizern (52%) und 115 Ausländern (58,7%) sahen ihren Berufswunsch dadurch nicht in Frage gestellt. Nur sieben Schweizer und 16 Ausländer gaben an, zur Zeit der Schwierigkeiten sei der Berufswunsch noch nicht vorhanden gewesen.614 Diejenigen, deren Wunsch ins Wanken geraten war, fühlten sich aufgrund ihrer sexuellen Verfehlungen nicht mehr würdig und fähig, einst dem hohen und reinen Priesterideal gerecht zu werden.615 Crottogini merkte hier an, viele der Jugendlichen übersähen die einfache Tatsache, „daß die vom Priesterberufsideal geforderte sichere Beherrschung des Sexualtriebs im Normalfall erst der Preis für ein langes, hartes, oft von Niederlagen gezeichnetes Ringen und Kämpfen darstellt.“616

Aufgabe eines klugen Erziehers in dieser Zeit sei es, den jungen Menschen auf diese Wirklichkeit aufmerksam zu machen, damit er nicht den Mut und das Vertrauen in die Realisierbarkeit des hohen Berufsideals verliere. „Wir haben es hier mit einem Gefahrenmoment zu tun, das vor allem von den verantwortlichen Erziehern unserer studierenden Jugend ernst genommen werden muß.“617 In der Zusammenfassung dieses Abschnitts stellte Crottogini deshalb gerade die Unzulänglichkeiten der Erzieher nochmals klar heraus:

„Rund zwei Drittel der befragten Priester und Priesteramtskandidaten hatten während der Reifezeit mit großen sexuellen Schwierigkeiten zu kämpfen. Unter diesen Schwierigkeiten steht die Onanie an erster Stelle. […] Häufig und oft mit einem bittern Unterton wird von den Beantwortern darauf hingewiesen, daß ihnen viele dieser Schwierigkeiten erspart geblieben oder wenigstens erleichtert worden wären, wenn sie von den verantwortlichen Erziehern rechtzeitig aufgeklärt oder von einem Beichtvater in ihrer Not richtig verstanden worden wären. Bei schwach der Hälfte unserer Theologen führten die großen Schwierigkeiten der Reifezeit zu einer ernsthaften Gefährdung des jugendlichen Berufswunsches. […] Doch liegt die Vermutung nahe, daß es keine Ausnahmefälle sind. […] Es scheint, als ob von den maßgebenden Erziehern – wozu wir auch die Beichtväter der Jugendlichen rechnen – in der Behandlung der sexuellen Schwierigkeiten der Pubeszenten immer noch viel bloße Oberflächenarbeit geleistet wird, statt zu einer positiven, verstehenden Behandlung der Probleme vorzustoßen, wie sie uns vor allem von der Tiefenpsychologie nahegelegt wird.“618

Zum Themenfeld Eros erfragte Crottogini, ob es jemals in der Pubertät oder danach eine tiefere Liebe zu einem Mädchen gegeben habe.619 Im zutreffenden Falle bat er, anzugeben, ob das Mädchen davon gewusst habe, ob es zu einer Freundschaft gekommen sei, wie lange diese ggf. gedauert habe und was die Trennung bewirkt habe. Abschließend wurde gefragt, ob sich diese Erfahrung positiv oder negativ auf die spätere Entwicklung ausgewirkt habe. Crottogini ging es bei diesen Fragen allerdings weniger um den sexuellen als um den Bereich der sinnlichen Anziehung und dessen Rückwirkung auf den Berufswunsch der Theologen.620 Von allen Befragten erhielt er Auskunft und etwas weniger als die Hälfte hatte von einer Liebe zu einem Mädchen zu berichten (41,9% Schweizer/46,9% Ausländer). Die knappe Mehrheit ohne solche Erfahrungen führte Crottogini zum Teil auf fehlende Kontaktmöglichkeiten zurück. Dem größeren Teil gestand er aber zu, sich schon vor der Reifezeit ausschließlich auf das Berufsideal des Priesters konzentriert zu haben. Im Konkreten gingen die Angaben auseinander: Bisweilen sei es bei einer einseitigen Liebe geblieben (37,4%/17,4%), teilweise habe es ein gegenseitiges Verliebtsein gegeben (12,6%/9,8%), mehrheitlich sei es aber zu einer echten freundschaftlichen Beziehung gekommen (50%/72,8%). Auch die Dauer dieser Erfahrungen hätte stark von mehreren Wochen bis hin zu mehreren Jahren variiert. Mancher Teilnehmer habe es absichtlich beim Verliebtsein belassen, ohne eine tatsächliche Freundschaft einzugehen, um sein Berufsziel nicht zu gefährden.621 Diejenigen, die eine Freundschaft eingegangen waren, hätten sie aber überwiegend positiv gewertet (von 154 Beantwortern 107 positiv, 13 negativ, 34 noch unklar wegen zu geringen zeitlichen Abstands). Acht der Befragten gaben an, die Freundschaft dauere aktuell noch an.

„Es handelt sich in all diesen Fällen um eine rein erotische [in Abgrenzung zur sexuellen; J. S.] Beziehung, die von sieben im Hinblick auf ihre bisherige charakterliche und berufliche Entwicklung positiv gewertet wird. […] Beachtet werden muß, daß nur einer dieser acht Beantworter, ein 44jähriger Ordensmann, bereits Priester ist, während die andern sieben erst in den ersten Semestern des Theologiestudiums stehen.“622

Aufgrund dieser Antworten stellte Crottogini die von ihm beispielhaft belegte gängige Ansicht in Frage, Mädchenfreundschaften seien für Priesterkandidaten schädlich.623 Für die Mehrheit der Teilnehmer registrierte er positive Auswirkungen solcher Freundschaften. Ob eine solche deswegen aber empfehlenswert sei, hielt er für nicht entscheidbar. Dazu müsse man die innere und äußere Entwicklung der Beantworter bis zum Ende verfolgen können:

„Gelingt es nämlich dem jungen Menschen nicht, ein derartiges Liebeserlebnis sowohl verstandes- wie gefühlsmäßig positiv aufzuarbeiten, so kann es, wie die Tiefenpsychologie lehrt, nach Jahren oder gar Jahrzehnten plötzlich wieder im Bewußtsein auftauchen und dann für den reifen Mann und Priester noch zur Gefahr werden.“624

Ende eine Beziehung nicht glücklich, bestehe eine nicht zu vernachlässigende Gefahr im möglichen „Weiberhaß“625, ‚jene[r] unselige[n] Verschließung und Verhärtung des Herzens, die den Priester unfähig macht für jeden echten seelischen Kontakt […] und […] ihn zum […] verbissenen und verbitterten Junggesellen werden läßt“626. Grundsätzlich gestand Crottogini aber ein, dass die Frage, ob und wie stark sich Mädchenliebe oder -freundschaft schließlich hemmend oder fördernd auf den Berufswillen der Theologen auswirke, mit den Mitteln seiner Erhebung von einem rein psychologischen Standpunkt aus keiner objektiven Lösung zuzuführen sei.627

Im letzten Bereich thematisierte Crottogini schließlich den Zölibat.628 Die Teilnehmer sollten ihren Verzicht auf die eheliche Gemeinschaft und Familie aufgrund des Zölibats einstufen, und angeben, ob er ihnen leicht, schwer oder sehr schwer falle. Bei einer Antwort mit mindestens „schwer“, bat Crottogini noch um konkretisierende Ergänzungen: Ob es der Verzicht auf das eigene Kind und Heim sei oder der Verzicht auf die seelische Ergänzung durch eine verstehende Gattin oder die Angst vor der Macht des Sexualtriebes oder priesterlicher Einsamkeit. Antworten erhielt er von nahezu allen – von 606 Teilnehmern (98,9%). Zwei Fünftel bewerteten den Verzicht als leicht und waren somit von den Folgefragen nicht betroffen. Diese Teilnehmer waren überwiegend diejenigen, die zuvor angegeben hatten, keine Freundschaft mit einem Mädchen gehabt zu haben. 342 bewerteten den Verzicht als schwer, insgesamt 13 als sehr schwer. Die jeweiligen Begründungen dürfe man nicht exklusiv verstehen, erklärte Crottogini, weil viele Beantwortende mehrere Motive genannt hätten.629 Angst vor fehlender seelischer Ergänzung und den Verzicht auf Heim und Kind bereite die meisten Sorgen. Der Verzicht auf eine eigene Familie werde demnach als das größte Opfer empfunden. Der Verzicht auf sexuelle Betätigung hingegen spiele nur eine untergeordnete Rolle. Die geringe Angst vor priesterlicher Einsamkeit überraschte Crottogini nicht. Diese Einsamkeit sei zwar eine der schwersten Belastungen des Priesterlebens, doch „tritt […] dieses Belastungsmoment in den Jahren der Vorbereitung auf das Priestertum und auch in den ersten Priesterjahren weniger spürbar hervor.“630

Im anschließenden Kapitel setzte Crottogini die erhobenen inneren und äußeren Faktoren in Beziehung zueinander und untersuchte, wie sie sich gegenseitig bedingt haben könnten. Dabei ging er zunächst auf den Zeitpunkt der Entstehung und die Umstände der Berufsgenese, die erste Bekanntgabe, die inneren und äußeren Krisen, die endgültige Festlegung auf den Ordens- oder Weltpriesterstand und schließlich auf die inneren und äußeren Motive der letztlichen Berufsentscheidung ein.631 Hinsichtlich der Entstehung des Berufswunsches arbeitete er drei Phasen heraus: Die erste Berufswunschphase war meist der kindliche Berufswunsch vor dem 11. Lebensjahr.632 Darauf folgte die Phase des Abenteuerberufswunschs zwischen dem 11. und 16. Lebensjahr.633 Theologen, die sich nach dem 16. Lebensjahr zum Priesterberuf entschieden, bezeichnete er als „Spätberufene“634. Bei 90%, so Crottoginis Ergebnis, sei schon vor dem 16. Lebensjahr eine Neigung zum Priesterberuf spürbar gewesen. Meist sei eine Beeinflussung von außen nötig gewesen (z. B. direkter persönlicher Kontakt mit einem Geistlichen, Primizfeiern, Exerzitien).635 Damit bestätige sich die Wichtigkeit dieser der katholischen Kirche von jeher bewussten Zusammenhänge.636

Für ein objektiveres Bild zog Crottogini nun auch die Ergebnisse des „kleinen“ Fragebogens (des „Laien-Fragebogens“) heran, den diejenigen erhalten hatten, die ihr Berufsziel aufgegeben hatten.637 Dieser Fragebogen, der reinen Vergleichszwecken diente, zielte vornehmlich auf die Gründe und Umstände ab, ob und warum sich jemand erst für und schließlich gegen den Priesterberuf entschieden hatte. Crottogini kam auf diese Weise an Vergleichsmaterial von 627 Maturanden und 24 Laienakademikern. Von diesen gaben nun zwei Drittel an, sich in der Kindheit, in der Volks- und in der Mittelschulzeit ernsthaft damit auseinandergesetzt zu haben, Priester zu werden. 67% hätten die Idee aber noch vor oder in der Reifezeit verworfen.638

Zur Bekanntgabe des Berufswunsches konnte Crottogini unter den Theologen ermitteln, dass die meisten zunächst mit ihren Eltern darüber gesprochen hatten. An nächster Stelle rangierten erst Priester (auch etwa der Beichtvater) als Ansprechpartner, dann Freunde, Geschwister, Lehrer und andere Verwandte. Hier fand es Crottogini bezeichnend, dass sich mehr als 90% der Befragten daran erinnern konnten.639

Zu inneren und äußeren Krisen (Berufskrisen) gab nur etwas mehr als ein Drittel an, keine nennenswerten Schwankungen erlebt zu haben. Die restlichen Befragten (69,4% der Schweizer, 58,7% der Ausländer) nannten vor allem Schwierigkeiten in den Bereichen Sexus, Eros und Zölibat. Bei 271 Schweizern (63,8%) und 117 Ausländern (59,7%) sei dadurch der Berufswunsch ernst in Frage gestellt worden.640 Zeitlich sei das meist mit der Reifephase einhergegangen. Psychologisch fand Crottogini dies aber leicht erklärlich: Da in dieser Zeit der Reife eine Umwertung der Werte stattfinde, sei es nicht verwunderlich, wenn auch das kindliche Ideal des Glaubens und des Berufes davon erfasst würde.641 Aber auch hier erkannte Crottogini Problemstellen seines eigenen Projekts:

„Erst wenn wir in der Lage wären, neben den ‚positiven‘ auch die Zahl der ‚negativen‘ Fälle zu ermitteln, d. h. die Anzahl jener Jugendlichen, die infolge der obigen Schwierigkeiten am früher angestrebten Priesterberufsideal endgültig irre wurden, könnten wir uns über die wirkliche Tragweite dieser phasenbedingten Berufskrise ein objektives Urteil erlauben.“642

Deshalb stellte er wieder einen Vergleich mit der Gruppe der Laien („Ehemalige“) an, von denen zwei Drittel (67%) angaben, den einstigen Berufswunsch aufgegeben zu haben. „Wie bei den Theologen, so fiel auch bei diesen ‚Ex-Theologen‘ die verhängnisvolle Berufskrise meistens mit den Anfängen der Pubertätskrise zusammen.“643 Crottogini leitete ab, die Merkmale der ersten Phase der Reifezeit („innere Unbestimmtheit, Unsicherheit, Unabgeklärtheit und affektive Labilität“644) stellten für das naive Berufsstreben jugendlicher Priesterkandidaten eine ernste und schwere Belastung dar, denen der Großteil der jungen Männer nicht gewachsen gewesen sei. Wobei Crottogini weniger solche Krisen als Problem bewertete, sondern eher ihr Fehlen:

„Da dieser Tatbestand [der ernsten Belastung und Herausforderung; J. S.] Anspruch auf eine gewisse Allgemeingültigkeit erhebt, sollte er vor allem von Eltern und Erziehern angehender Priesteramtskandidaten beachtet werden. […] Es handelt sich dabei nicht um etwas Abnormales. Vielmehr sollten die Erzieher sich klar darüber sein, daß es für die Weiterentwicklung und die Stetigkeit in der späteren Berufsausübung nicht ohne weiteres ein gutes Omen ist, wenn der Jugendliche diese Phase ohne jede Störung durchläuft.“645

Viele dieser Jugendlichen, so Crottogini weiter, die ihr Ideal einst aufgaben, wären trotz ihrer sexuellen Schwierigkeiten durchaus fähig und letztlich auch bereit gewesen, dem Priesterberufsideal die Treue zu halten. Allerdings habe ihnen in diesen Sturm- und Drangjahren eine Erzieherpersönlichkeit gefehlt, die nicht nur das notwendige innere Verständnis für die entwicklungsbedingten Schwächen aufgebracht, sondern auch den Mut gehabt hätte, mit entsprechenden Forderungen an ihren jugendlichen Idealismus heranzutreten.646 Im Hinblick auf andere Berufswünsche hätten bei der Theologengruppe diejenigen, die überhaupt eine Alternative zum Priestertum wahrgenommen hätten (ca. 50%), sich meist vorstellen können, Arzt oder Lehrer zu werden. In beiden Berufen sah er Parallelen zum Priesterberuf, da lehren und erziehen bzw. helfen und heilen gemeinsame äußere Tätigkeiten von Lehrern bzw. Ärzten und Priestern seien.647

Zu der Frage nach der Entscheidung zwischen Welt- und Ordenspriesterberuf berichteten 66,5%, erst eine Weile unentschlossen gewesen zu sein, bevor sie sich endgültig entschieden hätten.648 Dabei ging es Crottogini nicht mehr um die grundsätzliche Frage, Priester werden zu wollen oder nicht, sondern nur noch um die Wahl der Lebensform. Im Durchschnitt sei diese Entscheidung in der Adoleszenz gefallen, ein für Crottogini erwartungsgemäßes Ergebnis, weil diese definitive Entscheidung einen hohen Grad innerer Reife und äußerer Sachkenntnis voraussetze.649 Als den entscheidenden äußeren Faktor für die Wahl der Lebensform ermittelte er den persönlichen Kontakt zu einem Welt- oder Ordenspriester. Eltern, Freunde, Publikationen und katholische Schulen folgten erst an weiterer Stelle. Seine Frage nach den entscheidenden inneren Faktoren für die Wahl der Lebensform war nur bedingt eindeutig auswertbar, weil es auch hier wieder Mehrfachnennungen gab.650 70% aller Teilnehmer aber gaben an, sich von gott- oder gemeinschaftsbezogenen Beweggründen haben leiten zu lassen.651 Insgesamt wertete Crottogini noch aus, die „Weltkleriker ließen sich in ihrer endgültigen Berufswahl mehrheitlich von sozialen Motiven leiten, während die letzte Berufsentscheidung der Ordenskleriker vorwiegend unter dem Einfluß religiöser Werte stand.“652 Er bedauerte, keine genaueren Aussagen machen zu können.653

In seinen Schlussbetrachtungen betonte Crottogini zusammenfassend noch einmal die besondere Rolle des Priestererziehers: Der Erzieher müsse unbedingt von den natürlichen entwicklungsbedingten Schwierigkeiten der Kandidaten wissen. Nur dann werde er die Krise, selbst wenn sie mit der Preisgabe des kindlichen Tdeals ende, nicht zu tragisch nehmen, andererseits aber doch alles einsetzen, um den Jugendlichen in ihrer oft harten Berufsnot beizustehen. Allein so könne man vielen die innere Berufssicherheit wieder schenken können. Die übrigen könne er aber immerhin in dieser Zeit von einer definitiven Berufsentscheidung abhalten, bis man das angestrebte Berufsziel objektiv bewerten könne.654 „Durch eine solche, von einem klugen Erzieher geleitete Verzögerungs- und Ermutigungstaktik könnte von den vielen, objektiv – wie wir gesehen haben – oft gar nicht gerechtfertigten ‚Pubertätsabgängern‘ vermutlich mancher dem Priesterberuf erhalten bleiben.“655

2.2.3 Das Promotionsverfahren und die geplante Veröffentlichung

Anfang 1954 reichte Crottogini seine Dissertation bei seinem Erstgutachter Montalta ein. Sein Zweitgutachter war Norbert Luyten OP.656 Die Gutachter kamen zur übereinstimmenden Bewertung summa cum laude.657 Die sich anschließenden mündlichen Prüfungen am 15. Mai habe er auch mit Auszeichnung bestanden, berichtete Crottogini in einem Brief an seinen Generaloberen am 23. Mai 1954.658 Im selben Brief beschrieb er die aktuelle Uneinigkeit zwischen ihm und Montalta über den Ort der Drucklegung. Montalta sei viel daran gelegen, die These in dessen Reihe Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und Heilpädagogik im Universitätsverlag zu veröffentlichen. Die finanziellen Bedingungen seien aber ungünstig. Crottogini sei deshalb vom Generalökonom der SMB gebeten worden, noch andere Angebote einzuholen. Er sei dem auch nachgekommen, habe aber bislang keine Antworten erhalten.659 Die Frage der Drucklegung war vor allem finanziell relevant: Die von der Hochschule geforderte Auflage von 50 gedruckten Pflichtexemplaren wäre eine kostspielige Angelegenheit geworden und, da er aufgrund seines Armutsversprechens nur über ein kleines monatliches Taschengeld verfügte, zu Lasten der Missionsgesellschaft gegangen.660 Konnte er aber einen Verlag finden, der seine Dissertation in seinem Verlagsprogramm veröffentlichte, könnten die Bedingungen angenehmer und die Eigenbeteiligung niedriger ausfallen. „Bereits der erste Verlag, der Benziger Verlag in Einsiedeln, war sofort bereit, meine Dissertation zu veröffentlichen.“661 Ob Crottogini überhaupt weitere Verlage kontaktierte, geht aus seinen erhaltenen Aufzeichnungen nicht hervor. Am 18. Juni 1954 erhielt Montalta einen Brief von Oscar Bettschart, Direktor des Benziger Verlags in Einsiedeln, in dem er sich auf ein vorheriges Telefonat bezog: „[V]on der Arbeit von CROTTOGINI werden 200 Exemplare in der Wissenschaftlichen Reihe des Institutes erscheinen und 50 Exemplare als Dissertation.“662 Daneben sollte eine normale Buchausgabe in den Handel gehen.663

Im Juni 1954 stand damit zumindest fest, dass der renommierte Verlag aus Einsiedeln mit Zweigstelle in Köln das Buch verlegen würde. Der Verlag war bereit, die Dissertations-Exemplare Crottoginis mit seinem Honorar für die Exemplare aus dem

Handel zu verrechnen.664 Knapp zwei Wochen später, am 2. Juli, erhielt Crottogini deshalb zwei Ausfertigungen des Verlagsvertrags.665 Zu diesem Zeitpunkt trug das Werk noch den Originaltitel Die Wahl des Priesterberufes als psychologisch-pädagogisches Problem. Am 13. Juli schickte Crottogini die Verträge unterschrieben zurück – vermutlich nach vorheriger Konsultation mit seinem Generaloberen bzw. dem Generalökonom – und bedankte sich für die „großzügigen Bedingungen“666. Einzig die genaue Anzahl der Exemplare bedürfe noch einer Absprache mit seinem Oberen und Montalta.667 Man einigte sich auf ein Treffen in Zürich noch im Juli 1954, um weitere Details persönlich zu besprechen.668 Wiederum fast zwei Wochen später erhielt Crottogini auch einen unterschriebenen Verlagsvertrag für seine Unterlagen zurück und Bettschart beteuerte noch einmal, sich zu freuen, dass der Grundstein zu einer guten Zusammenarbeit gelegt worden sei.669 In den Sommermonaten kam es zu einem persönlichen Kennenlernen. Am 9. September 1954 schrieb Bettschart an Crottogini:

„Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verbunden, wenn Sie uns Ihr korrigiertes Manuskript einsenden könnten, weil ich es in der nächsten Zeit in den Satz geben möchte. Wie steht es um die Vorbesprechungen, über die wir uns das letzte Mal unterhalten haben? Ferner würde mich interessieren, was nun mit Prof. Montalta herausgekommen ist.“670

Wenige Tage später erhielt er von Crottogini das Manuskript. Er habe es noch um die neueste Literatur und ein paar wenige von den Gutachtern gewünschte sachliche Klarstellungen ergänzt.671 Crottogini schrieb außerdem, er habe sich mit Montalta auf 160 Reihen- und 40 Dissertationsexemplare geeinigt. Crottoginis Mitbruder Hans Krömler habe sich außerdem zu einer Vorbesprechung in der Schweizerischen Kirchenzeitung bereit erklärt.672 Aus zeitlichen Gründen könne das jedoch nicht vor Dezember 1954 geschehen.673 Crottogini sprach dann zudem selbst die Frage nach dem Titel der Arbeit an: „Auch wäre es gut, wenn wir uns bis zu diesem Datum über den endgültigen Titel der Buchausgabe einigen könnten. Ich habe ungefähr zehn Vorschläge zur Hand, von denen mich aber keiner recht befriedigt.“674

Der nächste erhaltene Brief stammt wieder von Crottogini und datiert auf den 5. Oktober 1954.675 Er lässt zwischenzeitliche Kontakte zwischen Bettschart und Crottogini vermuten. Zunächst übersandte Crottogini einige seiner Titelvorschläge an Bettschart. Dabei erwähnte er mehr beiläufig, er habe die „beiliegende Druckerlaubnis […] ohne Schwierigkeiten erhalten, nachdem Prof. Luyten und Montalta ihr Gutachten vorlegten. Das Imprimatur der Gesellschaft muss nicht hineingedruckt werden.“676 In einem Interview 2011 erklärte Crottogini:

„Aufgrund des Themas meiner Arbeit wurde mir geraten, den Bischof von Chur darum zu bitten, offiziell die kirchliche Druckerlaubnis, das Imprimatur, zu erteilen. Dadurch erhoffte man sich, mögliche Vorbehalte einiger Pfarrer bereits vornherein zu zerstreuen. Der Bischof von Chur, den ich gut gekannt habe, bat mich darum, ihm ein Gutachten der Universität und von einem meiner Mitbrüder zu schicken. Daraufhin habe ich das Imprimatur sehr schnell erhalten.“677

Am 7. Oktober 1954 bat Crottogini in einem Brief an die Philosophische Fakultät, seine Pflichtexemplare auf 30 reduzieren zu dürfen, weil seine Dissertation in der Reihe Arbeiten zur Psychologie, Pädagogik und Heilpädagogik der Professoren Montalta und Dupraz erscheinen werde.678 Die auf den gleichen Tag datierte Antwort im Auftrag des Dekans teilte ihm mit, sein Gesuch müsse zur Annahme der Fakultät (dem Fakultätsrat) vorgelegt und von ihr beschlossen werden. Die Vorlage würde in der ersten Sitzung des neuen Semesters geschehen.679 Auf seiner Sitzung am 21. Oktober entsprach der Fakultätsrat Crottoginis Gesuch. Der Dekan teilte ihm am 22. Oktober schriftlich mit, die neue Zahl an Pflichtexemplaren betrage 30.680

Als nächstes standen noch redaktionelle Arbeiten an. Dazu zählte auch die Frage nach den verschiedenen Ausgaben seines Buches. Die Unterschiede zwischen der einfachen Buchausgabe und der Reihenausgabe mussten besprochen werden. Um die Ausgaben für die Reihe zu besprechen, fragte Bettschart bei Crottogini am 11. November 1954 nach einem Termin mit Montalta an.681 Crottogini antwortete direkt, schlug ein Treffen vor und erkundigte sich auch nach dem weiteren Vorgehen: „Wann darf ich etwa die ersten Druckbogen zur Durchsicht erwarten?“682 Bei einem Treffen in Zürich Ende November wurden schließlich die offenen Fragen geklärt.683 In den ersten Wochen des Jahres 1955 tauschten sich Bettschart und Crottogini noch mehrfach über kleinere Fragen der Aufmachung aus („Problematisch sind mir nur die Tabellen. Ich glaube, dass alle […] Tabellen vom übrigen Text durch eine leichte Umrahmung abgehoben werden sollten“684). Ein erster Abschluss lässt sich in einem Brief Crottoginis an Bettschart vom 28. April 1955 ausmachen: Er informierte Bettschart, Montalta wünsche „unbedingt einen Umbruch der Reihenexemplare zur Einsicht“685, bevor der Titel in den endgültigen Druck gehe. Von Crottoginis Seite aus dürfe aber „[f]ür die Aufarbeitung der Buch- und Dissertationsausgabe […] nun alles bereit liegen.“686 Die Reihenausgabe werde sich wahrscheinlich etwas verzögern, was aber der vorherigen Einsichtnahme Montaltas in das Muster geschuldet sei.687 Mit Blick auf die bald anstehende endgültige Drucklegung wandte sich Crottogini erneut an die Philosophische Fakultät. Er bat, den vereinfachten Titel seiner Dissertation „auch für die Drucklegung der Pflichtexemplare gutzuheissen.“688 Der Dekan antwortete ihm, eine besondere Erlaubnis der Fakultät sei nicht nötig.689 Mit diesem Wissen informierte Bettschart Crottogini am 3. Mai, die Buchausgabe werde nun druckbereit gemacht.690

Nahezu seit Beginn 1955 wurde Crottoginis Arbeit Werden und Krise des Priesterberufes prominent beworben. Bereits im Februar 1955 war eine mehrteilige Besprechung der Arbeit durch Crottoginis Mitbruder Krömler in der überregionalen Schweizerischen Kirchenzeitung erschienen.691 Im März folgte eine kurze Buchempfehlung des Freiburger Regens Egidius Holzapfel im Oberrheinischen Pastoralblatt.692 Mindestens im Anzeiger für die katholische Geistlichkeit schaltete Benziger eine Anzeige693 und die Schweizer Verlags- und Buchhandlungskette Räbers nahm den Titel in ihr Oster- und Frühjahrsprospekt auf.694 Die wahrscheinlich größte Aufmerksamkeit erregte das Buch allerdings durch die Besprechung in der Herder Korrespondenz im Mai 195 5695, die berichtete, in „einigen Wochen“696 werde der Titel im Benziger-Verlag erscheinen.

Zu diesem Zeitpunkt, so Crottogini, seien zwar bereits 4000 Exemplare gedruckt, aber noch nicht gebunden gewesen.697 Die verhältnismäßig hohe Auflage für einen vergleichsweise teuren Titel lässt darauf schließen, dass sich der Verlag einigen Erfolg von diesem Buch versprach.698 Dafür spricht zudem, dass Bettschart auch Übersetzungen des Werkes plante.699

Seit Mai 1955 wurden jedoch Bedenken gegen die Publikation laut. Die Bedenken richteten sich gegen die Seiten über Sexus, Eros und Zölibat und stellten die Opportunität einer Veröffentlichung solchen Materials in Frage. Versuche, mit dem Apostolischen Stuhl eine Lösung zu finden, verzögerten sich.700 Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit und die anhaltenden Publikationsschwierigkeiten schrieb Crottogini am 4. Juni 1956 erneut an die Philosophische Fakultät. Er entschuldigte die Abgabeverzögerung seiner Pflichtexemplare.701 Die Veröffentlichung und damit auch die endgültige Drucklegung der Dissertation seien auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen. Deshalb sei es ihm bis zur Stunde nicht möglich gewesen, die verlangten Pflichtexemplare abzuliefern.702 „Ich hoffe, dass dies aber bis spätestens Ende dieses Jahres möglich wird. Hätten Sie also die Güte, den Ablieferungstermin für die Pflichtexemplare bis Ende 1956 zu verlängern?“703

Crottoginis Hoffnung erfüllte sich nicht. Genau zwei Wochen später erhielt er das Dekret, das die Veröffentlichung des Buches verbot.704 Mit der Sitzung des Fakultätsrats vom 23. Juni 1956 wurde er schließlich ausnahmsweise von der Ablieferung der Pflichtexemplare befreit.705 Am 11. Juli antwortete ihm der Kanzler der Universität, das Doktordiplom sei bereits in der Druckerei. Crottogini werde es noch im Sommer 1956 erhalten.706 Damit hatte er das Promotionsverfahren erfolgreich abgeschlossen.

2.3 Rezeption

Verlag und Autor war ursprünglich gleichermaßen daran gelegen, den Priesterberuf intensiv zu bewerben, um die Verbreitung zu steigern. Vorabbesprechungen in (Fach-)Zeitschriften waren dafür ein beliebtes und günstiges Mittel. Um das Buch besprechen zu können, das bislang nicht im Laden erhältlich war, erhielten die Verlage Manuskripte bzw. Umbruchexemplare. Diese enthielten bis auf wenige Details (z. B. fehlendes Vorwort und Register) den druckfertigen Text.707 Vor dem Hintergrund des späteren Publikationsverbots stachen zwei Rezensionen wegen ihrer Ausführlichkeit hervor. Dabei handelte es sich um die Besprechungen in der Schweizerischen Kirchzeitung und in der Herder Korrespondenz zwischen Februar und Mai 1955. Darüber hinaus gab es nur wenige veröffentlichte Besprechungen. Zwar waren weitere Besprechungen geplant, gingen aber nicht in Druck.708

2.3.1 Rezensionen

2.3.1.1 „Schweizerische Kirchenzeitung“

Crottogini hatte schon seit September 1954 mit seinem Mitbruder Krömler besprochen, dieser werde eine Rezension zum Priesterberuf schreiben.709 In einer mehrteiligen Serie sollte die Besprechung zu Beginn des Jahres 1955 in der überregionalen Schweizerischen Kirchenzeitung (SKZ) erscheinen. Dabei sollten die Teile der Besprechung nicht nur separat abgedruckt, sondern, weil Krömler sehr beschäftigt war, auch zeitlich versetzt verfasst werden. Wann immer er einen weiteren Beitrag fertiggestellt hatte, sandte er ihn zunächst an Crottogini. Am 27. November 1954 schrieb er so an Crottogini: „Beiliegend der 2. Beitrag. Den 3. schreibe ich eben.“710 Der erste Teil von Krömlers Serie erschien am 17. Februar 1955 unter der Überschrift „Werden und Krise des Priesterberufes. Vor- und Zwischenbemerkungen zu einem neuen Buch“711. Im Laufe der nächsten Wochen folgten vier Fortsetzungen. Krömlers Besprechung umfasste insgesamt zehn Seiten und war damit für eine Buchvorstellung sehr umfangreich.712

Nach kurzen Bemerkungen zu Erkenntnisinteresse und Notwendigkeit der Studie begann Krömler, den Priesterberuf seiner Gliederung entlang zusammenzufassen. Er stellte Crottoginis Methode vor und umriss den Ablauf der Befragungen sowie mögliche Einwände von Kritikern. Bereits zum Ende seines ersten Teils kam Krömler zu einem ersten knappen Urteil:

„Alle jene, die an der Erziehung und Betreuung der männlichen Jugend und im besondern derjenigen, die den Wunsch oder den Entschluß zum Priestertum im Herzen trägt, maßgebend beteiligt sind, […] erhalten hier eine psychologisch-pädagogische Studie in die Hand, die sie als aufschlußreiches Novum begrüßen werden“713.

In der ersten Fortsetzung, so schrieb er, wolle er in medias res einsteigen714, d. h., Crottoginis Studie detailliert vorstellen. Dabei beschrieb er zunächst Crottoginis Erhebungsmethode und ging dann zur Auswertung der Ergebnisse über. Er exzerpierte die einzelnen auszuwertenden äußeren Faktoren wie etwa Familie und Schule. Für seine Auszüge übernahm er auch das Zahlenmaterial von Crottogini und stellte es ebenfalls tabellarisch dar.715 Die nächste Fortsetzung knüpfte daran an und widmete sich nun den inneren Faktoren.716 Auch hier arbeitete er gleichermaßen ausführlich wie zuvor und ging nach allgemeineren Ausführungen auf das Kapitel über Sexus, Eros und Zölibat ein. Er stellte Crottoginis Detailfragen der Arbeit vor und resümierte als Ergebnis: „Alles in allem nehmend, ergibt sich das Schlußresultat, daß zwei Drittel der befragten Priester und Priesteramtskandidaten während der Reifezeit mit großen sexuellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten.“717 Mit Blick auf das aussagekräftige Zahlenmaterial Crottoginis nannte er dessen Urteil „klug und vorsichtig“718. Im nächsten Teil erfasste er das Zusammenspiel der inneren und äußeren Faktoren, ausführlich gegliedert in Berufsgenese, -krise und -motive.719 Dem Leser bot er wieder aussagekräftige Tabellen an und ermutigte ihn: Wenn auch einige Ergebnisse bedrückten, verrieten manche Antworten, dass heute noch eine Jugend lebe, die religiös beeinflussbar sei und auch das praktische Heldentum noch kenne.720 Crottoginis Zusammenstellung von über 100 persönlichen Bekenntnissen bezeichnete er zum Schluss dieses Abschnitts als „eine aufrüttelnde geistliche Lesung“721. Im vierten und letzten Fortsetzungsteil fragte er schließlich nach Crottoginis Endresultat. Er konstatierte noch einmal, die Arbeit Crottoginis sei die erste dieser Art und werfe Licht in Zusammenhänge.722 Er lobte die „klaren Linien“723 der Arbeit und die Tatsachendarstellung der Berufswahlprobleme angehender Priester. Es sei ein Plus der Arbeit, solche Tatsachen einmal in konkreten, nachweisbaren Fakten sichtbar gemacht zu haben.724 Für ihn stand damit fest, der Priesterberuf müsse „ein eindrückliches Lese- und Lernbuch für alle werden, denen die Erziehung und Ausbildung des Klerus überbunden ist.“725

Krömler setzte in seiner Besprechung keinen inhaltlichen Schwerpunkt, kein Kapitel Crottoginis referierte er bevorzugt oder ausführlicher als ein anderes. Alle Kapitel mit Unterkapiteln gewichtete Krömler, wie sie dem jeweiligen Seitenumfang bei Crottogini entsprachen. Für Crottogini fiel die Besprechung zwar sehr positiv und wohlwollend aus, doch war er trotzdem nicht gänzlich zufrieden. Für seinen Geschmack sei die Besprechung fast schon zu ausführlich ausgefallen, schrieb er an seinen Verleger.726 Womöglich fürchtete Crottogini zu diesem Zeitpunkt, die Ausführlichkeit könnte unter dem Aspekt der Verbreitung kontraproduktiv sein, weil dem Leser kaum ein Detail vorenthalten wurde.

2.3.1.2 „Herder Korrespondenz“

Eine weitere Buchbesprechung erschien unter der Überschrift „Wie sie Priester wurden“727 in der Mai-Ausgabe der Herder Korrespondenz (HK). Crottogini erinnerte sich später, die Zeitschrift habe sich von sich aus um die Möglichkeit einer Vorbesprechung beworben.728 „In einigen Wochen wird der Benziger-Verlag ein Buch vorlegen, in dem 621 Theologen über ihren Weg zum Priestertum Auskunft geben“729, eröffnete der anonyme Rezensent der deutschen Zeitschrift seinen Beitrag. Und auch er folgte in seiner Besprechung der Struktur der Crottogini-Arbeit, als er nach einer Einleitung zunächst die äußeren und inneren Faktoren und anschließend deren Zusammenwirken zusammenfasste. Er verwies auf die vielen Teilnehmer an Crottoginis Studie, die aufgeschlossen und demütig genug gewesen seien, um an einer solchen erfahrungswissenschaftlichen Studie mitzuwirken.730 Insofern, beschwichtigte er, hoffe er, werde auch die Leserschaft die Berichterstattung über diese Untersuchung nicht als indiskret empfinden.731 Und bereits zum Ende seiner Einleitung kam der Rezensent zu einem ähnlich wohlwollenden Urteil wie Krömler, auf den er sich auch ausdrücklich zustimmend bezog: Manche Ahnungen bekämen durch Crottoginis Arbeit „ein derart massives Gewicht, daß man dem Rezensenten der ‚Schweizerischen Kirchenzeitung‘ zustimmt, wenn er schreibt: ‚Diese Tatsache einmal in konkreten, nachweisbaren Fakten sichtbar gemacht zu haben, ist ein erstes Plus dieser Arbeit. ‘“732

Die einzelnen Kapitel von Crottoginis Arbeit fasste er ausreichend zusammen, wenn auch nicht so detailliert wie Krömler für die SKZ. Ihm war daran gelegen, die Interpretationen der Arbeit stets als die des Autors Crottogini darzustellen, deshalb verzichtete er weitgehend auf ein eigenes Urteil. Auffallend ist, dass der Rezensent fast durchgehend alles mit kurzen Sätzen in eigenen Worten wiedergab und Aussagen höchstens mit Zahlenmaterial Crottoginis unterstrich. Indirekte Rede mit einem Verweis auf den Verfasser nutzte er nur selten. Einzig die Zusammenfassung des Kapitels der inneren Faktoren Sexus, Eros und Zölibat wich davon ab: Der Rezensent benutzte verhältnismäßig lange und direkte Zitate Crottoginis.733 Er selbst erweckte in diesen Abschnitten einen möglichst neutralen Eindruck. Allein in diesem Besprechungsteil unterstrich er das Wiedergegebene dreimal als Meinung Crottoginis.734 Wann immer er aber sonst eine eigene Meinung erkennen ließ, fiel diese stets wohlwollend und zugunsten Crottoginis aus. So betonte er etwa, die Aussagen der Studie müssten aufgrund ihres Einflusses auf die Söhne den katholischen Müttern bekannt gemacht werden.735 Ebenso kam er auch zu dem Schluss, Crottoginis Studie bestätige exakt bisherige Vermutungen, und dürfe deshalb all jene in der Priestererziehung überaus interessieren.736 Crottoginis Untersuchung böte ein Bild vom Werden der jungen Priester, das einen starken und befriedigenden Eindruck hinterlasse.737 „Es bleibt ein hoffnungsvolles Bild zurück, das vielleicht doch in höherem Maße, als der Verfasser in wissenschaftlicher Bescheidenheit selber annimmt, über den erforschten Kreis hinaus gültig ist und pädagogische Ansätze enthält.“738 Auch moralisch kritische Themen, die bei der Lektüre des Priesterberufes Anstoß erregen könnten, blieben in der Rezension nicht ausgespart. Stets wurde dabei aber wohlwollend die positive Gesinnung Crottoginis hervorgehoben, wenn dieser etwa schreibe, strauchelnden Seminaristen sei mit einem klugen Seelenführer zu helfen.739

Mit Blick auf den Umfang hatte Crottogini hiermit eine weitere ausführliche und zugleich positive Vorausbesprechung erhalten. Die äußeren Faktoren, die bei Crottogini 92 Seiten umfassten, besprach der Rezensent auf etwas mehr als zwei Seiten.740 Die inneren Faktoren umfassten bei Crottogini 56 Seiten, die der Rezensent auf eineinhalb Seiten besprach.741 Dem Zusammenwirken beider Faktoren – das Kapitel umfasste bei Crottogini 81 Seiten – widmete der Rezensent drei Seiten.742 Der Schwerpunkt der Buchbesprechung lag damit auf dem letzten großen Kapitel Crottoginis, weniger auf dem Kapitel über die inneren Faktoren.743 Der Rezensent nutzte gleichermaßen das anschauliche Zahlenmaterial Crottoginis und setzte es in allen Untergliederungen seiner Besprechung ausgewogen ein.744

2.3.1.3 Weitere (unveröffentlichte) Rezensionen

2.3.1.3.1 „Oberrheinisches Pastoralblatt“

In der März-Ausgabe 1955 des Oberrheinischen Pastoralblatts erschien ebenfalls eine Buchbesprechung, wenn auch von kleinerem Umfang. Autor dieser Rezension war der Freiburger Regens Egidius Holzapfel, der zugleich Schriftleiter des Oberrheinischen Pastoralblatts war.745 Anders als die SKZ- und HK-Besprechungen beließ Holzapfel es bei einer oberflächlichen Zusammenfassung ohne Details. Er bewertete das Buch als eine bedeutende Neuerscheinung, die für alle in der Priesterausbildung Beschäftigten eine wichtige Lektüre sei.746 Die Arbeit sei eine psychologische Studie, „wie der Untertitel sagt“747. Holzapfel fasste das Inhaltsverzeichnis zusammen und versprach dem Leser eine „interessante Untersuchung“748 über die Faktoren der Berufsgenese. Zur Begründung für dieses Versprechen verwies er auf die vielen wertvollen Originalaussagen der jungen Menschen und das zahlreiche statistische Material. Dessen „sehr kluge und zurückhaltende, abwägende und zusammenfassende Auswertung bilden zusammen mit dem im Anhang vorgelegten Fragebogen und dem guten Literaturverzeichnis einen besonderen Vorzug des Buches“749, was auch die psychologische Auswertung glaubhaft mache. Holzapfel kam so zu dem Ergebnis, das Buch könne „wärmstens empfohlen werden.“750

2.3.1.3.2 „Mitteilungen für Seelsorge und Laienarbeit im Bistum Limburg“

Auch die April/Mai-Ausgabe der Mitteilungen für Seelsorge und Laienarbeit im Bistum Limburg widmete sich besonders dem Priestermangel und machte in diesem Kontext besonders auf den bald erscheinenden Priesterberuf aufmerksam. Zwar handelte es sich um keine eigene und einzelne Buchbesprechung im engeren Sinne, doch warb sie innerhalb des Artikels „Zu wenig Priester!“751 für das Buch und auch für die HK. Unter der Überschrift „Wie sie Priester wurden“ habe die kürzlich erschienene Ausgabe der HK eine Vorbesprechung des Priesterberufes gebracht.752 621 Theologen hätten an der wissenschaftlichen Umfrage zu den „äußeren und inneren Faktoren des werdenden Priesterberufs“753 teilgenommen.

„Als wertvolle Ergänzung der ausführlichen Abhandlung über die Untersuchungsergebnisse, die in diesem Buch zusammengetragen sind, enthält das gleiche Heft der Herder-Korrespondenz eine soziographische Beilage mit wertvollem Zahlenmaterial über Priester und Priesternachwuchs in den Ländern der Welt und in den deutschen Diözesen. Auf beide Arbeiten sei nachdrücklich hingewiesen.“754

2.3.1.3.3 „Kölner Pastoralblatt“

Eine weitere Rezension hatte der Bonner Pastoraltheologe Anton Stonner angefertigt. Seine Rezension hätte in der Sonderausgabe zum Thema Priesterberuf des Kölner Pastoralblattes im August 1955 erscheinen sollen. In einem Brief vom 5. Juli 1955 schrieb Stonner an Bettschart, er habe die Besprechung bereits an die Redaktion des Pastoralblattes geschickt.755 Zusammen mit dem Titel von Crottogini wollte er noch eine weitere Veröffentlichung amerikanischer Berufungsgeschichten besprechen.756 In diesem Brief erwähnte er keine inhaltlichen Details seiner Rezension, doch wurde seine grundsätzlich positive Bewertung von Crottoginis Arbeit deutlich. So schrieb er, er sei von Crottoginis Schlussworten überzeugt: Man müsse nur an den Idealismus der Jugend glauben, ihn finden und zu wecken wissen. „Gerade Crottoginis Buch mit den konkreten Schilderungen zeigt die wundersamen Wege auf, die Gottes Vorsehung bei der Weckung der Priesterberufe geht. Ich schicke Ihnen das Heft mit dem Aufsatz, sobald es in meinen Händen ist, zu.“757

Dieses Versprechen konnte Stonner aber nicht einhalten, denn die Besprechung in dieser ursprünglichen Form ging nie in Druck. In der entsprechenden Ausgabe des „Kölner Pastoralblattes“ veröffentlichte er zwar schließlich eine zweiteilige Besprechung der Arbeit des Amerikaners George Kane. 758 Crottoginis Titel fand aber keine Berücksichtigung mehr. Auf wessen Betreiben diese Änderung erfolgte, muss offen bleiben.759

2.3.1.3.4 „Archives de sociologie des religions“

Die letzte veröffentlichte Rezension zu Crottoginis Priesterberuf erschien mit einiger Verzögerung erst 1957.760 In der ersten Ausgabe der damals halbjährlich erscheinenden Zeitschrift Archives de sociologie des religions veröffentlichte der Chefredakteur, Theologe und Soziologe Henri Desroche eine Besprechung.761 Die eher kurze Buchbesprechung führte den Leser in die Vorgehensweise Crottoginis ein und bot einen knappen inhaltlichen Überblick über die einzelnen Kapitel.762 Etwas umfangreicher beschrieb er Crottoginis Ergebnisse; sein Schwerpunkt lag damit ebenfalls auf dem Kapitel des Zusammenwirkens der Faktoren. Konkret bezeichnete Desroche den erarbeiteten Fragebogen und die Auswertung als „komplex und anregend“763. Als Fachkundiger regte er am Ende an, bei der Auswertung der Ergebnisse vielleicht noch detaillierter vorzugehen. Dieses angezeigte Desiderat änderte jedoch nichts an seiner grundsätzlichen Bewertung von Crottoginis Studie als mutig und seriös.764

2.3.2 Konsequenzen

Von all diesen Rezensionen war es die in der HK, die schließlich am meisten Aufsehen erregte und Wirbel verursachte. Crottogini war sich sicher und gab das auch später in Interviews an, mit ihr habe das Publikationsverbot seinen Anfang genommen. Nach dieser Besprechung habe der Benziger-Verlag einen Anruf aus Köln bekommen. Der Generalvikar von Josef Kardinal Frings765, Joseph Teusch766, habe vom Verlag verlangt, das Buch nicht zu veröffentlichen, weil „es das Priesterbild des einfachen Volkes erschüttern würde.“767

Mit Blick auf den zeitgeschichtlichen Rahmen, in dem der Priesterberuf veröffentlicht werden sollte, verwundert die Reaktion des Generalvikars nur bedingt. Der Einfluss und die Macht der Kirche hatten im Deutschland der 1950er Jahre wieder zugenommen, und der Priesterberuf stellte womöglich eine Bedrohung dar.

Zensur im Dienst des Priesterbildes

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