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KAPITEL 5
ОглавлениеRegen – Vor der Flut Geflüchtete kommen zum Turm – Kaputte Psychologen – Susana – Das Antlitz Jesu
Die Regenzeit kommt spät. Aber als sie kommt, trifft sie die Shantytowns Agua Suja und Oameni Morti schwer, lässt die Wände der klapprigen Anbauten und Verschläge im Matsch abrutschen. Die notdürftigen Straßen verwandeln sich in Ströme, und ein Wagen schlingert fahrerlos wie betrunken den Hang hinunter, fast wie auf Kufen. Das Wasser gewinnt an Fahrt und reißt Trümmer mit. Fahrräder schlittern hinunter, Felsen, Betonbrocken, Holzkisten, Reifen, ein Kanarienvogel in einem Käfig, entwurzelte Sträucher. Ein totes, aufgedunsenes Schaf hüpft wie ein angestochener Ball hangabwärts. Ein Fluss aus Schlamm, der alles mit sich reißt, schlägt eine Rinne zwischen die Häuser. Ein Junge klammert sich an ein Dach. Ein Hund stürzt dreißig Meter tief und überlebt, indem er sich an die Leisten eines kaputten Fasses klammert. Ganze Häuser werden vernichtet.
Alleine in Oameni Morti werden weitere sechshundert Menschen obdachlos. Ein Drittel von ihnen zieht in die nächste Stadt und findet in Favelada den Turm, von dem sie gehört haben. Den Torre de Torres. Wo ein Krüppel das Sagen hat und ein riesiger Chinese für Ordnung sorgt. Schmutzig und zerrüttet kommen sie in Gruppen an, völlig durchweicht. Der Regen schneidet scharf herunter, kommt mit dem heißen Wind heran. Die Damnificados von Oameni Morti überqueren die Straße und einer ruft Nachos Namen, aber seine Stimme geht im prasselnden Regen unter. Nacho erscheint an der Tür und winkt sie heran in die Vorhalle. Er hat diese Gesichter schon einmal gesehen. Und diese Lumpen. Die Kinder in schmutzigen T-Shirts und knielangen Shorts.
»Wir lassen Lebensmittel holen«, sagt er. »Ihr könnt im sechzehnten, siebzehnten und achtzehnten Stock wohnen. Noch ist dort nichts, aber wir arbeiten daran. Und die Räume sind sauber.«
Wortlos steigen die neuen Damnificados die Treppe hinauf. Einige legen sich sofort hin und schlafen auf den Betonböden ein. Andere sitzen an den Fensteröffnungen und schauen hinaus in die Dunkelheit, wo der Regen Lichtstrahlen aus der Neonstadt einfängt, die Straßen überflutet und das alte Ödland um den Turm herum in einen Sumpf verwandelt.
Minuten später treffen weitere einhundert aus Agua Suja ein.
»Es sind zu viele«, sagt Hans und schaut von seinem Balkon im fünfzehnten Stock. Dieter lächelt.
»Zu viele? Wir können sie nicht wegschicken.«
»Du hast Recht. Nacho würde sie niemals wegschicken. Was hat die Lady da über ihren Hund gesagt?«
»Welche Lady?«
»Die mit der Schubkarre.«
»Sie sind wie wir.«
»Sie sind wie wir. Hunde sind wie wir. Und diese Menschen auch. Willkommen.«
Fünfzehn Stockwerke tiefer sagt Nacho zu dem Priester: »Das ist erst der Anfang der Überschwemmungen.«
Und der Priester erwidert: »Bau eine Arche. Für tausend Menschen.«
Nacho schaut zum Himmel und zum Priester. »Wir sitzen schon drin.«
Aber sie wissen nicht, dass der Regen bald zur Flut werden wird, zu einer Überschwemmung, wie man sie hier seit hundert Jahren nicht mehr erlebt hat.
Die Leute aus Agua Suja bringen Schätze mit: zwei ausgebildete Lehrer, einen Mechaniker, einen Psychologen und eine Frau, die Nacho mit lächelnden Augen ansieht. Ihr Name ist Susana.
Die Lehrer sind jung und anders als Nacho unterrichten sie beide Kinder. Er setzt sie in den fünfzehnten und den fünfundzwanzigsten Stock und schickt den Chinesen mit riesigen Papierrollen, Tafeln und ganzen Händen voller gestohlener Kulis hinauf. Er erfährt, dass in einer der normalen Schulen in der Gegend das Schuljahr endet, die Zwillinge gehen und plündern deren Müllcontainer. Sie bringen eine Lasterladung zerfledderter, zerrissener Bücher mit, die aber noch lesbar sind: eine Anthologie mit Gedichten, fünfundzwanzig Geschichtsbücher, bereits vor dreißig Jahren erschienen, eine Kiste mit verschiedenen Romanen mit an den Rand gekritzelten Bemerkungen, Fibeln, Einführungen in die Mathematik und zwei vom Schimmel feuchte Bände einer Enzyklopädie von insgesamt fünf: A-E und K-N. Sie würden ohne das restliche Alphabet leben müssen.
Nacho lädt den Psychologen Dewald zu sich in seinen kargen Raum ein. Er braucht Männer und Frauen, die ihm beim Anleiten helfen. Er will dem Mann etwas zu trinken anbieten, merkt aber, dass es das letzte ist, was Dewald braucht. Nacho sieht, dass Dewald in seinem alten Leben getrunken hat, sieht die weiße Stelle auf seiner braunen Haut, wo einst der Ehering saß. Er betrachtet Dewalds müde Augen mit den schweren Tränensäcken darunter, sie sind beinahe blau. Der zottelige Bart ist grau meliert. Er ist ein Mann, denkt Nacho, der vermutlich zu viel gesehen hat, obwohl Nacho spürt, dass Dewald kaum älter ist als er selbst, vielleicht vierzig, vielleicht fünfundvierzig. Sie sprechen eine Weile über Agua Suja, dann schiebt Nacho Müdigkeit vor und wünscht ihm eine gute Nacht.
Die Frau ist anders. Er lächelt sie an und sie erwidert seinen Blick. Als er sich im Spiegel betrachtet, was er selten tut, sieht er ein von Sorgen gezeichnetes Gesicht, aus dem das Jungenhafte verschwunden ist, die Haare zerzaust wie von einem Tornado, der halbe Körper verkümmert, die andere Hälfte drahtig. Einzig unverändert ist das Muttermal unter seinem Auge, ein vollkommen runder, dunkelbrauner Fleck. Nacho besteht nur aus Haut und Knochen, über seine Arme und seine Stirn ziehen sich dicke grüne Venen wie Schnüre. Er hat nie erwartet, zu erfahren, wie sich eine Frau anfühlt, ihren Geruch zu riechen, ihre Aura zu spüren. Als Erwachsener ist er nie einer nahe gekommen. Dennoch ist er nicht ohne Begehren. In seinem Leben vor den Damnificados hat er schöne Frauen gesehen, in vielen Sprachen mit ihnen gesprochen. Einmal hat er eine Frau zum Lachen gebracht und gesehen, wie sie die Augen schloss und den Kopf zurückwarf, und dieses Bild ist ihm immer vor Augen geblieben.
Emil war es, der Frauen in Verzückung brachte, sie unbekannten Sinnesfreuden entgegentaumeln ließ. Emil mit seinem Schneid, seinem raschen Verstand, seiner Furchtlosigkeit. Emil, der einmal einen tollen Witz riss, als sie in einem Kreis von Freunden um ein Feuer saßen. Bevor das Gelächter verklungen war, stand er auf, ging zehn Meter und sprang mit einem einzigen Satz auf eine hohe Mauer, um die Sonne aufgehen zu sehen. Dabei landete er, ohne seine Hände zu benutzen, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung oben auf dem schmalen Sims. Nacho blieb still im Licht der Flammen sitzen und sah, dass alle Mädchen in der Gruppe den Umriss seines Bruders vor der aufgehenden Sonne betrachteten.
Aber mit Susana hatte er zumindest Blicke gewechselt. Von weitem lässt sich ihr Alter unmöglich erraten. Einmal sieht er sie mit einigen anderen Frauen Wäsche waschen und er kommt näher, unter dem Vorwand, fragen zu wollen, ob die Pumpe funktioniert. Von hinten und dann von der Seite betrachtet, vermutet er, dass sie älter ist als er, vielleicht zehn Jahre, und ein bisschen verlässt ihn der Mut, aber sie ist eine gut aussehende Frau. Sie ist klein, hat hohe Wangenknochen, eine bräunliche Haut und ist immer sauber. Er stellt seine Frage und eine der anderen Frauen antwortet, ja, die Pumpe ist in Ordnung, und er wendet sich rasch ab und geht zurück in den Turm.
Einige Tage nach der Ankunft der Männer und Frauen aus Agua Suja hört man Gepolter von oben. Schreie und Glockenschläge erheben sich über den prasselnden Regen. Mit Baritonstimme singt jemand eine a capella-Hymne und dann ein zweites Mal noch lauter. Nacho wacht auf, erhebt sich schwankend von seiner Palette, reibt sich die Augen und zieht sich eine braune Hose über. Er schließt den Gürtel und schlüpft in ein T-Shirt. Er nimmt seine Muletas, die an der Wand lehnen. Der Lärm ist jetzt in menschliches Raunen übergegangen. Er legt drei Treppen nach oben zurück und sieht eine Schlange von Menschen im Treppenhaus, zusammengekauert wegen des Regens.
»Es ist ein Wunder«, sagt eine Frau in einem roten Kleid.
»Gott hat uns besucht«, sagt ein Buckliger im Schlafanzug.
Nacho sieht Regenmantel in der Schlange.
»Was ist passiert?«, fragt er.
»Auf einem Brotlaib ist das Antlitz Jesu erschienen. Klingt für mich nach Betrug. So einen Blödsinn hab ich schon mal gehört. Aber ich dachte, ich seh’s mir mal an. Die Wichser verlangen einen Libro pro Minute. Fünfzig Corazons für Kinder. Neugeborene sind kostenlos.«
In der Schlange stehen lauter Kinder, Hunde, alte Frauen, Betrunkene, ehemalige Bergarbeiter, Trauernde, Geschlagene. Allesamt Damnificados.
Nacho zieht weiter, sieht ein improvisiertes Schild an der Tür der Bäckerei: »Bilt von ›Jesus Christus‹ 1 Libro 1 Minute, Unter 12 Jahre 50 Crzn, Neugeborene umsonst.«
Ein brasilianischer Farmarbeiter erkennt ihn und sagt: »Tritt ein, Nachinho. Pode entrar. Voce nao precisa ’sperar com’a gente.«
Nacho dankt ihm und sagt, dass er wie alle anderen in der Schlange warten wird. Er geht wieder zurück ans Ende. Als Nächstes kommt eine Familie, die Augen der Kinder strahlen, jedes trägt eine Plastikpuppe, mit der es Französisch spricht. Dann ein paar einzelne Nachzügler, ein Mann, der ein Spinnennetz ins Gesicht tätowiert hat, ein Junkie auf Entzug, eine Frau mittleren Alters gestützt auf einen Stock. Nacho denkt, ich kenne diese Menschen nicht. Erreicht man eine gewisse Anzahl, eine gewisse Masse, verliert man den Bezug.
In der Schlange geht es nur langsam voran, jeder hat eine Minute. Nacho sieht, wie sich die Wolken zusammenziehen, sich für das Gewitter des Tages bereit machen. Sie warten dort im harten Licht, ein Fresko der Verdammten, schlurfen weiter, um den Herrn zu betrachten. Als Nacho sich der Tür nähert, sieht er die Besucher nach Ablauf ihrer Minute herauskommen. Eine dicke schwarze Frau kommt an ihm vorbei, bekreuzigt sich. Eine Minute später folgt ihr ein Säufer, der ruft: »Es ist Jesus! Es ist Jesus!«, dann erleidet er einen Hustenanfall.
Nacho sieht jetzt den Eingang zur Bäckerei. Er ist mit einem schwarzen Tuch verhangen und davor sitzt einer der Bäcker auf einem Hocker. Sein Bruder steht neben ihm, eine große Farbdose in der Hand. Die Dose ist voller Geld. Sie sehen Nacho.
»Du musst nicht zahlen. Komm herein.«
Die Schlange teilt sich, als sie ihn durchlassen.
Sie ziehen den Schleier beiseite und Nacho tritt ein. Er ist hundert Mal dort gewesen. Der vertraute Geruch nach gebackenem Brot, die aus Milchsteigen gezimmerten Regale, der Tresen aus Linoleum und Glas. Er wird in den Bereich weiter hinten geführt, wo der Ofen die halbe Wand einnimmt. Zwei weitere Brüder noch in ihren weißen Kitteln machen ihm Zeichen, er möge vortreten. Nacho bleibt an einem Tisch stehen, beugt sich darüber und sieht einen großen ovalen Laib auf einem Stück Papier. Darauf in einem dunkleren Braunton eingeprägt ist der exakte Umriss von Christus am Kreuz, die Arme diagonal, die Knie gebeugt, der Kopf geneigt. Das Kreuz erstreckt sich über die Länge des Laibs.
»Wir haben es heute Morgen gebacken«, sagt einer der Brüder. »Es kam so aus dem Ofen. Ich hab’s gleich gesehen. Und Harry hier gerufen.«
»Er hat mich geweckt«, sagt Harry.
»Ich musste sicher sein, dass ich mir’s nicht bloß einbilde.«
»Der Mistkerl hat mich geweckt und gesagt, Jesus ist auf einem Brot.«
»Hab ihn geweckt. Er hat es sich angesehen.«
»Hab’s mir angesehen.«
»Hat gesagt, das ist Jesus am Kreuz. Ich hab dann noch die anderen Brote gebacken. Die Leute müssen trotzdem essen, Jesus hin oder her.«
»Und ich hab die Glocke geläutet, gesungen, allen erzählt, was ich gesehen habe.«
»Harry hat gesungen. Hat eine ganz schöne Stimme. Dad hat gesagt, schreib ein Schild, lass die Leute bezahlen.«
»Hab ein Schild geschrieben.«
Nacho sagt: »Was wollt ihr machen mit dem Brot?«
Harry und der andere sehen einander an.
Harry: »Wir wissen es nicht. So weit sind wir noch nicht. Vielleicht stellen wir’s ins Museum?«
Der andere Mann: »Mach einen Rahmen drum. Stell’s auf ein Podest.«
Nacho: »Auf einen Sockel. Da wird es schimmeln.«
Harry: »Vielleicht nicht. Ist ja ein Wunderlaib.«
Harry nickt zur Bestätigung seiner eigenen Bermerkung. »Ein Wunderlaib.«
Aber es sollte keinen Rahmen und keinen Sockel geben. Auch kein Museum.
Fünf Minuten nachdem Nacho gegangen ist, bezahlt ein Irrer seinen Libro, nimmt den Laib und beißt Jesus den Kopf ab. Die Brüder zwingen ihn zu Boden und Harry hat ihn schon halb erwürgt, als zwei andere seiner Brüder – die Wächter vor der Tür – den Lärm hören, hereinkommen und ihn zurückhalten. Ein Raunen geht durch die draußen wartende Menge.
»Er hat ihn gegessen«, sagt ein Zehnjähriger.
»Er hat Jesus gegessen?«, fragt ein Betrunkener, der an der Bäckereiwand schwitzt.
»Er hat ihm den Kopf abgebissen«, sagt eine Putzfrau aus Agua Suja.
»Er hat den Herrn ermordet«, behauptet eine Hure, ihre Unterlippe bebt.
»Er ist ein Teufelsanbeter«, sagt ein Teufelsanbeter aus Fellahin.
In der Bäckerei macht sich Harry von seinen Brüdern los. Er wendet sich an den Irren. »Dafür wirst du bezahlen!«
»Hab ich schon«, sagt der Brotbeißer. »Einen. Beschissenen. Libro.«
Er schluckt die teigigen Überreste des Herrn Jesus und geht zur Tür hinaus in den peitschenden Regen.
Susana verbringt ihre Zeit mit einer anderen Frau von ähnlicher Statur und Aussehen. Nacho denkt, dass sie vielleicht Schwestern sind, aber er fragt nicht nach. Sie leben zusammen im sechzehnten Stock in einem von Sperrholzplatten unterteilten Raum. Jeden Morgen sieht er sie gemeinsam aus dem Turm zur Arbeit gehen, sie machen in den Häusern der Reichen drüben in der Cadenza Street sauber. Es ist ein langer Weg, aber sie gehen zu Fuß, auch im Regen, um das Fahrgeld für den Bus zu sparen. Manchmal sieht Nacho ihnen von seiner Fensteröffnung aus nach, bis sie in der Rottweiler Avenue und außer Sichtweite sind.
Einmal dreht Susana sich um und schaut zum Turm zurück und Nacho bewegt sich so schnell er kann vom Fenster weg und bereut es sofort, denn er kommt sich vor wie ein Kind, das bei einem schweren Vergehen erwischt wurde. Dann überlegt er vernünftig: Der Turm hat sechshundert Fenster. Sie hätte auf jedes einzelne von ungefähr hundertfünfzig auf dieser Seite schauen können. Und vermutlich kann sie sowieso nichts sehen, weil ihr der Regen die Sicht verschwimmen lässt. Und selbst wenn sie mich gesehen hat, ich bin nur ein Mann, der aus dem Fenster schaut. Das bedeutet nicht, dass ich ihr nachspioniere.
Jedenfalls wird Nacho sich bald wegen schlimmerer Dinge Sorgen machen müssen – wegen eines heraufziehenden Unwetters und eines Schwarms, der aus dem Himmel kommt, um sie alle zugrunde zu richten.