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KAPITEL 2

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Tageslicht am Turm – Eingang – Don Felipe, der Priester – Ein Zuhause erschaffen – Hauptstützpunkt – Aussichtspunkte – Mutierte Ratten verbrennen – Lalloo organisiert Strom – Maria – Die Schule der Damnificados

Die nächtlichen Feuer schwelen nur noch. Die ersten Sonnenstrahlen brennen eine Ellipse in den Horizont und das zunehmende Licht wird eingetrübt durch den Rauch und den Nebel der Stadt. Während die Sonne auf die Shantytowns von Slomlejna Ruka, Fellahin, Dieux Morts, Sanguinosa scheint, verwandelt eine Explosion aus Licht die Hügel in ein Mosaik aus funkelnden Spiegeln. Die Stille wird durchdrungen vom Krähen der Hähne und dem abgehackten Kläffen der Hunde. Irgendwo brummt ein Truck.

Die Damnificados beginnen sich zu regen. Sie haben die ganze Nacht gewartet, Höllenhunde gesehen, die sich als Wölfe entpuppten, sie haben sich an Feuern gewärmt, ihr mitgebrachtes Essen gegessen – rohe Kartoffeln, ein bisschen Brot – und jetzt wird es Zeit, den Turm in Besitz zu nehmen.

»Die Wölfe sind weg«, sagt Nacho zu einer dicht beieinander kauernden Familie. »Wir können rein.«

Er geht mit ihnen, seine Krücken hinterlassen eine Spur aus Punkten auf dem Boden.

»Der Turm gehört uns«, sagt er.

Niemand rührt sich.

»Er ist verflucht«, sagt eine Frau. Sie steht auf. Schmutzige Stirn, durchzogen von Falten, ihr Gesicht eine Straßenkarte von Sanguinosa. Sie mag fünfundsechzig sein oder vielleicht dreißig. Niemand kennt das Alter eines Damnificados. Ihre Gesichter sind Ansammlungen von Furchen, Tälern, Kratern, unerwarteten Ausbrüchen von Hässlichkeit. »Das Tier ist ein Zeichen von Gott. Wir können nicht rein.«

Nacho bleibt stehen, wuschelt sich durchs Haar, wendet sich zu ihr um.

»Ich verstehe dich«, sagt er.

»Nein, tust du nicht«, sagt sie. »Es gibt Dinge von dieser Welt und Dinge nicht von dieser Welt. Dinge, die wir auf der Welt nicht zu sehen erwarten. Gott schickt sie uns als Warnung.«

»Was sollen wir sonst tun?«, fragt Nacho. »Gehen wir nach Hause? Nehmen wir unsere Familien wieder mit zurück in unsere armseligen Hütten, in unsere Pappverschläge unter den Brücken? Oder beten wir zu Gott, dass er uns in diesen verdammten Ort eintreten lässt? Sieh nur. Die Sonne geht auf. Auch das kommt von Gott. Ein neuer Morgen bricht an.«

Nacho steht vor ihr, während das Licht ihr Gesicht gelb färbt, eine Maske aus Linien und Vertiefungen. »Gott hat uns hergebracht. Vielleicht aus einem bestimmten Grund.«

Hans, gerade erst aus den Wäldern zurückgekehrt, geht auf Nacho zu und sagt: »Du musst hineingehen, Nacho, warum gehst du nicht als Erster? Nimm den Chinesen mit.«

Und das macht Nacho. Der Riese und der Krüppel gehen gemeinsam, einer mit dem Gang eines Wrestlers, der andere humpelt auf wurmstichigen Krücken.

»Der Turm ist verflucht«, sagt die Frau zu sich selbst. »Wir können nicht rein.«

Der Chinese tritt erneut gegen die Überreste der Tür, die er eingetreten hatte, Splitter prasseln in Staubwolken herunter. Nacho und er betreten die Vorhalle, wo sie die schlafenden Wölfe geholt hatten. Im Sonnenlicht sehen sie alles, was ihnen in der Nacht verborgen geblieben war: Auf dem Boden liegen Abfälle, Knochen, bröckeliger Stein. Der Raum ist eine kleine Höhle. Auf beiden Seiten befindet sich eine Treppe. Hinten ein offener Fahrstuhlschacht. Modernde Papierstapel, Schimmel kriecht die Wände hinauf.

Nacho und der Chinese gehen über die beiden Treppen, jeder über eine. Die Stufen sind flach, ausgetreten. Nacho schleppt sich in das Stockwerk darüber. Ein Gang. Der Chinese taucht auf der anderen Seite des Gebäudes auf. Kleine Apartments. Zehn auf jedem Gang. Nacho zählt bereits, überlegt, wie viele Damnificados sie sind, wer kommt in die oberen Stockwerke und wer nach unten. Wie bringt man jemanden fünfzig Stockwerke hoch im Himmel unter, wenn der Fahrstuhl kaputt ist? Wie löst man das Problem: Die Älteren müssen in die niedrigeren Stockwerke, aber dort werden auch die Krieger gebraucht, denn wenn der Turm angegriffen wird, dann zuerst dort.

Wie kann er seine Beziehungen nutzen, damit wieder Wasser in den verrosteten Leitungen fließt? Wie ein Gemeinwesen aufbauen in dieser hoch aufragenden Gruft?

Er bahnt sich einen Weg in die Vorhalle zurück und will die Damnificados gerade rufen, als er sie langsam, wie Zombies, durch den Eingang strömen sieht. Familien mit schlafenden Kindern über den Schultern. Männer mit Dreadlocks so alt wie Methusalem.

Gebeugte Schultern, die Menschen verlieren sich in ihren Mänteln, Taschen und Mützen, die in der morgendlichen Hitze ungeeignet sind.

Und er denkt: »Das ist es. Das ist der Anfang.«


»Zweifle nie daran, was hundert Seelen vollbringen können, sofern Zeit und Not vorhanden sind.« Don Felipe Holguin steht vor Nacho. Ein Priester in Sandalen. Unrasiert, grau. Er ist groß und leicht gebeugt, hat aber die Nase des Boxers, der er einmal war, bevor er den Ruf des Herrn vernahm.

»Wir haben sechshundert Seelen«, sagt Nacho.

Damnificados. Die Ärmsten der Armen, sie erklimmen die Höhen des dritthöchsten Gebäudes der Stadt. Sicarios. Messerstecher. Auftragskiller. Bandidos. Flink, mit kaltem Blick. Die Unheiligen, die Unbehausten, angeführt von einem Lahmen. Nacho teilt die Damnificados in Sechsergruppen ein, lässt die Familien zusammen. Ein Viertel von ihnen kennt er mit Namen.

»Nur in kleinen Gruppen werden sie etwas zustande bringen«, sagt der Priester zu ihm. »Mehr als acht, und sie bilden Fraktionen, dann geht alles zur Hölle. Hab ich schon erlebt.«

Zuerst schreibt Nacho die anstehenden Aufgaben in drei Sprachen an große Tafeln. Schutt zusammenfegen, Abfall entfernen, Böden schrubben, undichte Stellen stopfen, Mauern wiederaufbauen, Ungeziefer töten. Er sieht Unverständnis und ihm fällt wieder ein, dass die meisten Damnificados nicht lesen können. Er spricht mit ihnen, erfährt, wer was machen kann. Unter ihnen findet er einen Soldaten, einen Ingenieur und einen Mechaniker. Er bestimmt Aufgabenleiter in den jeweiligen Gruppen. Ruft diese zusammen. Sagt ihnen, was sie tun müssen und welches Werkzeug sie dafür benötigen. Sie kehren in ihre Gruppen zurück und leiten diese an. Die körperlich Kräftigeren kommen weiter oben ins Gebäude.

Er sendet eine Delegation aus, die Besen, Schrubber, Schubkarren, Hämmer und Nägel suchen soll. Sie durchkämmen die Müllhalden, betteln und borgen. Eine Gruppe älterer Frauen baut einen Rost vor dem Gebäude auf und grillt darauf Mais, Kochbananen, Hühner- und Schweineabfälle. Eine weitere Gruppe sendet er als Spähtrupp aus, damit sie in der Umgebung Land findet, wo sie Nahrung anbauen können. Kleine Beete.

»Wir werden Farmer«, sagt er. »Karotten, Kartoffeln, alles was wachsen will. Und auch Bäume. Es gibt keinen Schatten. Wir brauchen Bäume, damit sich die Alten daruntersetzen können. Und um Vögel anzulocken.«

»Wozu wollen wir Vögel anlocken? Die werden unser Essen stehlen«, sagt Regenmantel.

»Weil Vögel singen. Hier gibt es keine Musik.«

»Dann gründen wir einen Chor«, sagt der Priester.

Der Ingenieur baut ein System aus Seilen und Flaschenzügen, um Werkzeug, Wasser und Lebensmittel in die höher gelegenen Stockwerke zu transportieren. Aber es gibt keine Seile, die lang genug sind, um über den zehnten Stock hinauszureichen. Nacho beschafft ein Moped. Dann lässt er auf die äußere Treppe Holzbretter legen, die in langen Diagonalen aufsteigen. Ein ehemaliger Armee-Mechaniker versieht das Moped mit verstärkten Reifen und jetzt fährt es mit Waren beladen Tag und Nacht dröhnend die Planken hinauf.

Die Räume des Monolithen sind zugemüllt mit Schutt und Abfall. Vertrocknete Käferleichen und Kakerlaken sprenkeln den Boden. Nacho betritt einen Raum im ersten Stock, sucht seine Basis und stößt auf die Überreste der Bewohner von vor langer Zeit: ein zerfallener Stuhl, eine stockfleckige Decke voller Wolfshaare, sechs umgekippte Weinflaschen, die sanft aneinanderklirren, im Wind hin und her rollen, der durch das fensterlose Loch in der Mauer bläst. Er schaut durch das Loch nach draußen. Denkt: »Im ersten Stock kann ich den Eingang sehen und die Straße, die man überqueren muss, wenn man herwill.« Aber irgendwas gefällt ihm nicht an seinem Blickfeld hier. Er kann das große Ganze nicht sehen. Ich muss höher, sagt er sich. Aber dann muss ich auf meinen Krücken Treppen steigen. Er zwingt sich ein weiteres Stockwerk hinauf, betritt einen Raum, den eine Familie gerade fegt. Sie nicken ihm zu und wollen gehen.

»Nein, bleibt«, sagt er.

Er humpelt an das herausgewehte Fenster und schaut erneut auf die Straße. Jetzt ist die Perspektive schon besser. Er kann über die Bodegas und die Straßenverkäufer hinwegsehen. Aber zufrieden ist er noch nicht.

»Was geht dir durch den Kopf?«, fragt der Priester.

»In welchem Raum ich wohnen soll.«

»Warum?«

»Ich muss die Umgebung sehen.«

»Warum?«

»Weil ich gerne weiß, wer kommt. Wenn sie hören, dass wir das Gebäude eingenommen haben, werden sie kommen. Früher oder später.«

»Wer sind sie

»Ich weiß nicht. Die Gangs. Die Polizei. Die Armee. Die Politicos. Ich weiß es nicht, aber es wird jemand kommen, der es auf uns abgesehen hat.«

»Nacho«, sagt der Priester, »was willst du machen? Jede Nacht wach bleiben, die ganze Nacht und nach Feinden Ausschau halten? Du hast hier sechshundert Augenpaare. Die können für dich Ausschau halten. Du musst dir nicht alles alleine auf die Schultern laden. Ehrlich gesagt sind deine Schultern gar nicht dafür gebaut.«

Und so bezieht Nacho ein Zimmer im ersten Stock und bittet den ehemaligen Soldaten, Wachen zu organisieren, rund um die Uhr auf drei Ebenen und auf allen vier Seiten: im sechzigsten Stock, von dem aus man meilenweit sehen kann, einen Konvoi oder einen Panzer eine halbe Stunde, bevor er durch den Verkehr herankommt, entdecken würde. Vier Paar Augen die ganze Zeit, im Norden, Süden, Osten und Westen. Auch im dreißigsten Stock werden vier Späher sein. Und auch im ersten, wo man ohne Fernglas den Gesichtsausdruck eines jeden sehen kann, der sich dem Eingang nähert, und auch, ob er ein Messer dabei hat, eine Bombe oder einen Obstkorb. Und natürlich gibt es Wachposten an den Eingängen im Erdgeschoss, alle vier bewaffnet und jeder mit einem Spielzeug-Walkie-Talkie, das sie auf einer Müllhalde gefunden haben.

Der Haupteingang gehört dem Chinesen. Er wird stundenlang reglos mit verschränkten Armen dort sitzen. Ein Zimmermann aus Blutig baut ihm einen Stuhl aus Gegenständen, die er im Gebäude gefunden hat: große Holzbretter von einer kaputten Kommode und die noch verwertbaren Federn einer Matratze. Der Chinese hat die Gabe der Stille. Ein Besucher könnte glauben, er schlafe, weil sein Kinn seine Brust berührt und man seine Augen unter dem breiten Schirm der Basecap, die er manchmal trägt, nicht sehen kann. Aber wie Nacho ist er stets wachsam.

Die Müllhaufen vor dem Gebäude sind die schlimmsten von allen. In ihnen hausen Kolonien riesiger Ratten, die durch die dunklen Abfalltunnel flitzen. In der zweiten Generation sind einige und in der dritten alle mutiert. Sie können sich jetzt der Farbe des Mülls anpassen, wie Chamäleons. Nacho beruft ein Treffen mit seinen Anführern ein. Sie versuchen es mit einer Jagd, aber die Ratten sind zu schnell. Sie versuchen es mit Gift, aber die Ratten passen sich an und fressen es wie Brot. Sie betonieren ein Stück des Müllhaufens zu, um zu sehen, ob es hilft, aber die Ratten knabbern sich durch den Beton und sausen nachts lachend über die Gänge.

»Wir müssen sie ausräuchern«, sagt Nacho. »Nicht mal Ratten können im Feuer überleben.«

Er hat kontrolliertes Abbrennen bereits gesehen, aber nie mitten in der Stadt. Er weiß, dass es auf den Wind ankommt und dass man natürliche Barrieren braucht, die das Feuer aufhalten. Er geht um den Turm herum, berechnet Winkel und die Länge der Rinnsteine.

Eines ruhigen Tages, wenig später, sagt er den Damnificados, sie sollen drinnen bleiben und die Fensteröffnungen mit Brettern, Decken oder Pappe verschließen, was sie nur finden können, um den Rauch abzuhalten. Er lässt sich von dem Mechaniker einen Kanister voll Diesel mit Benzin mischen und baut sich eine Drip Torch aus einer alten Kaffeedose. Er befestigt sie am Moped. Einer der Zwillinge zündet den Docht an und fährt damit um den Turm, tropft Feuer auf den größten Abfallhaufen. Tausende Ratten flitzen los und die Haufen werden eingeebnet.

Während der Müll verkohlt und zu Asche zerfällt, steigen giftige Dämpfe auf, schwarze Schleier schrauben sich in den Himmel. Sie kräuseln sich in Richtung der Fensteröffnungen des Monolithen, aber da diese bedeckt sind, treten kaum Dämpfe ein. Sie verfliegen vielmehr, werden verschluckt vom sonnenbeschienenen Dunst, der die Stadt umhüllt.

Der Truck des Vaters der Zwillinge fährt vor, orangefarbene Glut knistert ringsum. Hans steigt mit zwei weiteren Männern aus der Kabine und beginnt, riesige Säcke von der Ladefläche des Trucks zu ziehen. Der Chinese löst die Schnüre um die Säcke, und fünfzig Wildkatzen mit messerscharfen Zähnen springen heraus. Sie nehmen die Witterung der fliehenden Ratten auf, folgen ihnen in Löcher hinunter, durch Rohre hinauf, an alle dunklen Orte, wo Ratten sich verstecken könnten. Als das Massaker beendet ist, verschwinden die Katzen wieder in den Gassen und Schlupfwinkeln der Stadt.

»Wo hast du die Katzen her?«, fragt der Priester.

Dieter sieht ihn an. Er hat noch nie mit einem Priester gesprochen.

»Von der Katzenfängerin in Estrellas Negras. Wir haben sie mit einem Tisch und Stühlen bezahlt. Es heißt, sie ist eine Hexe.«

»Die Bruja von Estrellas Negras. Gibt’s die wirklich?«, fragt der Priester.

»Sie hat nach Katzenpisse und Stinktieren gerochen. Hans hätte sich fast übergeben.«


Sie lassen Lalloo holen. Er weiß, wie man Masten und Generatoren anzapft. Aber als er eintrifft, ist er betrunken. Singt vor sich hin, seine Augen sind blutunterlaufen. Die Zwillinge stützen ihn auf beiden Seiten und lassen ihn im Vorhof seinen Rausch ausschlafen.

Er wacht auf. Nacho begrüßt ihn. Lalloo schläft wieder ein.

Eine Stunde später wacht er wieder auf. Nacho gibt ihm einen Teller voll zu essen und einen Becher Wein. Das Essen beachtet er gar nicht.

»Wir brauchen Strom für dieses Gebäude«, sagt Nacho.

Am Nachmittag steht Lalloo auf einer Leiter, an seinem Gürtel sind Bolzenschneider und Zangen befestigt. Er schließt den Monolithen ans Netz, brummend leuchten Lampen auf, und als in der Abenddämmerung aus einer nahegelegenen Moschee der Ruf zum Gebet ertönt, ziehen sie Stechmücken an. Später versucht Lalloo den Fahrstuhl zu reparieren, aber es gelingt ihm nicht. Er erklärt Nacho, dass das Ding endgültig hinüber ist.


Der Chinese hebt Nacho auf seine Schultern und geht sechzig Stockwerke über die Treppen hinauf. Als er oben ankommt, keucht er. Mit dem Chinesen, dem Priester, den Zwillingen und Regenmantel an seiner Seite schaut Nacho hinaus. Er sieht die halbe Stadt, andere Türme verteilen sich über die Skyline – Hotels und Büroblocks, Dutzende halb verdeckter Werbetafeln dahinter. Taxis und eine Million Autos, Rikschas und gelbe Busse, aus denen Salsa dröhnt, verstopfen die Straßen, Abgaswolken wabern hinauf, Leute trödeln oder hasten.

Er schaut hinunter auf das den Turm umgebende Land, unregelmäßig, uneben, zerfurcht wie von Wunden, schwarze schwelende Stellen dort, wo die Ratten vertrieben wurden.

»Das ist Ödland«, sagt er. »Unter der Oberfläche liegen Müllberge vergraben. Egal, was passiert, wir dürfen nie wieder im Müll leben. Nicht hier. Der Turm muss innen wie außen sauber sein.«


Die Familien ziehen ein. Solche mit Alten nehmen die Stockwerke weiter unten. Sie bringen Möbel, Laternen, Kerzen und alles mit, was sie von den Müllhalden holen können. Einige haben Herde und sogar Kühlschränke. Sie bauen sich Betten aus Paletten und wiederverwerteten Brettern. Alte Sofas kommen von der Schutthalde in Minhas. In Puertarota brennt ein Hotel ab und die Damnificados ziehen um drei Uhr früh los, bergen Betten und Kleiderschränke, laden sie auf den Truck des Vaters der Zwillinge und lehnen sich weit über die Seiten, als dieser sich zum Turm zurückschlängelt.

Sie suchen die reichen Viertel nach auf die Straße gestellten Fernsehern ab und holen sie von den Bürgersteigen. Lalloo repariert alles Elektrische, wofür Nacho ihn in einem Zimmer im sechsten Stock übernachten lässt. Seine Hände zittern, aber mit Elektrizität findet er sich auch noch im Schlaf zurecht, und wochenlang geht er von Stockwerk zu Stockwerk, repariert alles im Tausch gegen Essen und Wein.

Südlich von Agua Suja bricht ein Aufstand aus und in dem darauffolgenden Chaos schaffen es sechs Brüder irgendwie, einen Brotbackofen nach Hause in den Turm zu verfrachten, sie tragen ihn wie den Sarg bei einem Trauerzug. Die ganze Nacht brauchen sie, bis sie ihn zum Turm geschleppt haben, und als sie eintreffen, bluten ihre Hände und Schultern. Am nächsten Tag stellen sie ihn im dritten Stock auf und eröffnen eine Bäckerei.

Im sechsten Stock richtet Maria Benedetti, eine ehemalige Schönheitskönigin aus Sanguinosa, einen Salon ein. Sie verwendet geklaute Kämme und Bürsten, Shampoo aus Seife und Ziegenmilch und einen Haartrockner, der einst ihrer Mutter gehörte. Ein paar Damnificadas, herausgeputzte Mädchen mit Schmollmündern, drängen in den Salon und schon bald kommen die Frauen aus Favelada und Fellahin und lassen sich die Haare machen. Maria stellt ein Schild auf die Straße: »Marias Bjuty & Herrsalong«. Nacho wird misstrauisch, als er mitbekommt, dass die von draußen herein-kommenden Frauen nachmittags eintreffen und erst am nächsten Morgen wieder gehen. Er sagt zu dem Priester: »Das sind Prostituierte. Sie gehen in den Salon, geben Geld für ihre Haare aus und verdienen es sich gleich wieder, ohne überhaupt den Turm zu verlassen.«

Der Priester sagt: »Aber wer kann sie hier bezahlen? Im Turm leben nur Damnificados. Wer von denen hat Geld für Frauen?«

Der Priester weiß nicht, dass im Turm auch arbeitende Menschen leben. Viele finden Jobs in den Fabriken als Wächter, Hausmeister, Kehrer und Putzleute. Nacho unternimmt nichts wegen der Huren, denkt, Freiheit ist die Hauptsache, die Freiheit, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, ein Zuhause zu haben, mit Huren zu schlafen.

Er eröffnet drei Schulen, jeweils eine im fünften, im fünfzehnten und im fünfundzwanzigsten Stock. Auf einem Schrotthaufen findet er alte Schreibtische und Tafeln und er kauft einen Vorrat an Kreide. Hinter den Büros einer Versicherung in Amado lässt er mit anderen einen Container plündern und findet eine halbe Tonne benutztes Schreibpapier. Er legt es in zweieinhalb Meter lange Wannen aus einer Fabrik und begießt es mit Seifenwasser, dann streicht er den Brei mit riesigen Walzen glatt. Die Blätter werden auf den Balkonen des ersten bis zehnten Stocks aufgehängt und als sie trocken sind, schneidet Nacho sie mit seinem gesunden Arm in Rechtecke. Jetzt haben sie Papier. In der Zwischenzeit stehlen die Zwillinge im Umkreis von zehn Kilometern sämtliche Kugelschreiber und Bleistifte aus den Banken, Büros, Postämtern und Bibliotheken.

Zuerst kommt niemand. Die Kinder sind alle unterwegs, Geld verdienen. Sie putzen Autofenster, sammeln Glas zum Recyceln, verkaufen Süßigkeiten oder Schirme in der Regenzeit, betteln, jonglieren an den Ampeln, zaubern. Nacho fängt also erst einmal mit einstündigen Sitzungen für die Eltern an. Er zeichnet Gegenstände an die Tafel und lässt es die Schüler ebenso machen. Sie zeichnen alles, was ihnen wichtig ist, und sagen, wie man es nennt. Dann schreiben sie die Wörter zusammen an die Tafel, jeden Laut einzeln. Kinder. K.I.N.D.E.R. Sie sagen, was sie sich für ihre Kinder wünschen. G.E.L.D.C.H.A.N.C.E.N.G.L.Ü.C.K. Und Nacho fragt, wo sind eure Kinder jetzt? Auf der Straße. Autos waschen, betteln. Und Nacho fragt, wo sollen da Geld, Chancen und Glück herkommen? Und schließlich finden die Eltern das Wort. B.I.L.D.U.N.G.

Nacho geht mit ihnen spazieren und sie entziffern die Worte auf Schildern, allmählich beginnen sie die Welt zu lesen. Sie schreiben zusammen Geschichten an die Tafeln, Nacho fungiert als Schriftführer. Ihre Familiengeschichten. Mythen und Legenden aus ihren Städten. Aufgeschnappte Märchen. Und als sie fertig sind, bildet Nacho Paare und sie »lesen« die Geschichten gemeinsam, enträtseln die Wörter.

Nacho bringt Comics mit: Superhelden, Männer in Strumpfhosen, die Städte retten, Mädchen mit sieben Meter langen Gummiarmen und Adleraugen, Hellseherinnen und Bösewichter. Sie reimen sich die Geschichten zusammen. Sie erzählen sie neu, finden Bedeutungen und schreiben Wörter aus den Geschichten auf.

Woher kam der Turm? Wer hat ihn gebaut? Wie wurde er genannt? Warum? Warum stand er leer? Sie schreiben ihre Antworten auf Papier. Woher kamen die Schreibtische, an denen sie sitzen? Und bevor der Zimmermann seine Säge ans Holz setzte, wo kam da das Holz her? Wer hat es in die Stadt gebracht? Wie? Warum?

Und schließlich tauchen ganz allmählich auch die Kinder der Damnificados auf.

Damnificados

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