Читать книгу Robert und das Amulett - Jo Hartwig - Страница 4

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Das Amulett

Heute ist nicht mein Tag, denkt Robert und starrt missmutig in den Badezimmerspiegel. Über Nacht hat sich ein Pickel mit dickem weißem Eiterpunkt gebildet, genau auf seiner Stirn, wo jeder ihn sehen muss, logo, seine Pickel wachsen immer so, dass jeder sie sehen muss.

Beim Frühstück wartet er förmlich darauf, dass seine Mutter eine Bemerkung loslässt. Er schaut sie herausfordernd an.

Und prompt sagt sie: „Hast du schon gesehen: ein neuer Brummer in deinem Gesicht, Schatz“. „Den musst du ausdrücken!“ Schweigend senkt er den Blick und löffelt sein Müsli weiter.

„Soll ich ihn dir schnell ausdrücken? Ist doch gar kein Problem. Ruck, zuck, und du bist das Ding los! Komm, wir erledigen das fix.“ Robert platzt der Kragen. Er schiebt seinen Teller zurück. „Du sollst mir gar nichts ausdrücken. Und ich drück auch nichts aus. Pickel lässt man am besten in Ruhe. Sonst gibt das Narben.“ Es war ein Fehler, sich auf eine Diskussion einzulassen, er hätte es besser wissen müssen. Seine Mutter setzt sofort an zu einem langen Vortrag, sie ist OP-Schwester und weiß sowieso alles besser. Trotzdem soll sie ihn in Ruhe lassen.

„Nun lass doch den Jungen endlich“, brummt sein Vater beschwichtigend.

Jetzt ist sie beleidigt. Und obendrein ist jetzt Zoff zwischen seinen Eltern. Wirklich, das ist nicht sein Tag! Montage sollten überhaupt abgeschafft werden. Wenn er Pech hat, kriegen sie heute die Deutscharbeit zurück. Er hat Pech. Vier minus steht unter dem Aufsatz. Irgendwie hat er wohl die Aufgabenstellung nicht ganz verstanden. Seine zwei besten Freunde, Christian, den alle nur „Chris“ nennen, hat eine Drei und Tim sogar eine Drei plus.

Für den Nachmittag verabreden sich die drei Freunde im Keller. Tim und Chris tun geheimnisvoll und sehr wichtig. Der Keller des Hochhauses, in dem Robert wohnt, erstreckt sich über zwei Etagen und ist in verwinkelten Gängen angelegt. Robert hat es sich zur Gewohnheit gemacht, dort rumzustreifen, um zu sehen, was sich da tut und wer sich hier so herumtreibt. In einigen Kellern wird gebastelt, aber die meisten sind mit Brettern verrammelt, da ist einfach nichts zu erkennen. Zu einem Keller geht Robert besonders gerne. Dort arbeitet der große alte Mann mit den kurzen weißen Haaren. Er hat sich eine richtige Werkstatt eingerichtet und ist fast immer am Basteln. Geduldig gibt er Auskunft und lässt Robert bei seinem Werkeln zuschauen. Da ist alles blitzsauber, alle Späne verschwinden sofort im Müll.

Ein ganz anderer Typ schleicht da auch häufiger rum. Er hat eine runde Brille mit dicken Gläsern, durch die seine Augen riesengroß erscheinen. Sie sind blassblau und wässerig. Graue Haare, die wirr vom Kopf stehen, und ein bleiches aufgedunsenes Puddinggesicht. Meistens hat er einen grauen Handwerkerkittel voller Flecken an. Darunter schauen blass und dürr seine nackten Beine hervor, die in abgelatschten Hausschuhen stecken. Ein ganz unangenehmer Mensch, er redet überhaupt mit niemandem. Auch wenn Robert ihn grüßt, gibt er ihm keine Antwort. Aber die Gänge im Keller sind einfach so eng, dass ein Kontakt, eine Berührung, wenn der da unten rumschlurft, nicht zu vermeiden ist. Dann geht der Kerl einfach, als ob er ihn nicht sehen würde, grob auf Robert zu und stößt ihn beiseite. Widerlicher Typ.

Chris und Tim sind schon da. Sie hocken in einem der hinteren Verschläge, der zur Wohnung von Tims Familie gehört. Chris zieht feierlich eine Packung Zigaretten und ein Gasfeuerzeug aus der Tasche.

„Kommt, wir rauchen eine!“

Tim und er zünden sich gekonnt eine Filter an und geben Robert auch eine. Aber er hat noch nie geraucht. Er zögert. Deutlich ist seine Abneigung zu erkennen. Er hält die Zigarette vorsichtig zwischen zwei Fingern, als ob sie ihn gleich beißen würde. Tim zieht schon genussvoll den Rauch tief ein.

„Was ist los, Robert, mach mit!“ Chris hält ihm die Flamme hin. Robert muss husten, weil ihn der Rauch reizt, den Tim ihm ins Gesicht bläst. Außerdem brennt der Qualm in den Augen, sie fangen an zu tränen. Chris lacht spöttisch: „Das ist was anderes als Mamis Äpfelchen essen, wie?“, zieht er ihn auf.

Robert versteht die Anspielung und ärgert sich. Ja, seine Mutter gibt ihm jeden Tag einen Apfel mit in die Schule. Und wehe, er bringt den wieder mit nach Hause, dann gibt es Krach. Seine Eltern sind beide Nichtraucher und stehen überhaupt ziemlich auf Gesundheit. Na und, was ist falsch daran? Robert gibt sich einen Ruck:

„Sagt mal, ist das alles, was ihr vorhabt? Erst macht ihr das so geheimnisvoll, als ob irgendetwas Wichtiges zu besprechen wäre und dann so ein Mist. Es ist ja nichts Besonderes, zu rauchen. Jeder Depp raucht heute schon, aber ich nicht.“ Entschlossen gibt er Chris die Zigarette zurück.

„Was ist los, du bist doch kein Milchbubi“, drängt Tim. „Oder hast du Angst, dass du in die Hosen machst. Wir sind schließlich schon vierzehn. Also mach schon!“

„Keinen Bock“, sagt Robert nur cool. Er denkt an seine Tante Martha, Mutters Schwester, die immer so aus dem Mund stinkt. Angewidert muss er jedes Mal den Kopf wegdrehen, wenn sie ihn begrüßt und sich zu ihm runterbeugt. Sie will ihn unbedingt immer mit einem Kuss begrüßen. Und dabei stinkt alles an ihr ganz ekelhaft nach Rauch.

„Du musst es einfach mal probieren“, drängt Chris. „Beim ersten Mal ist es immer eine Überwindung! Ich weiß es von mir, ich musste auch husten, aber dann willst du nicht mehr aufhören!“

„Vergiss es. Ich will mich nicht überwinden und ich will auch nicht husten müssen. Macht ruhig weiter, aber ohne mich.“ Robert ist es jetzt völlig egal, ob die beiden sich ärgern oder nicht.

Jetzt versuchen sie es anders. „Du hast wohl Muffensausen, dass deine Eltern was merken? Komm, jetzt geh nicht in die Knie, probier’s einfach, du gehörst doch zu uns!“

„Ist ja gut, aber nicht damit“, Robert verzieht nur ganz leicht sein Gesicht und lächelt matt. „Kommt, macht, was ihr wollt, aber lasst mich mit so einem Blödsinn in Ruhe!“ Die beiden sind sichtlich verärgert, aber das kümmert ihn weiter nicht. Er lässt sie alleine und verzieht sich aus dem Keller.

Er fährt mit dem Fahrstuhl hoch in den elften Stock. Seine Mutter ist schon von ihrer Arbeit im Mainzer Krankenhaus zurück. Sie hat gerade Besuch von einer Nachbarin. Aufgeregt reden die beiden Frauen über das, was in letzter Zeit auf dem Parkplatz hinter dem Hochhaus passiert. Irgend jemand scheint da Glas auf die parkenden Autos zu werfen. Es scheint immer nachts zu passieren, wenn alle schlafen und wenn alles ruhig ist. Viele Autos wurden schon beschädigt. Windschutzscheiben gingen kaputt, und im Dach eines Wagens hat auch schon eine Flasche gesteckt, ein Riesenschaden. Das stört natürlich den Hausfrieden und schafft permanente Unruhe im Haus. Die Nachbarin will wissen, ob die Versicherung den Schaden bezahlt, und will deshalb seinen Vater sprechen. Er ist Versicherungsmann, jede Menge Leute rufen ständig an und brauchen seine Hilfe.

Robert denkt darüber nach. Wer mag wohl hinter dieser Sache stecken? Er kann sich gar nicht richtig auf die Hausaufgaben konzentrieren. Ob Tim und Chris schon davon gehört haben? Er fährt nochmals runter in den Keller, um zu sehen, ob die Beiden noch da sind. Sie sind weg. Aber die Luft riecht intensiv nach kaltem Zigarettenrauch. Widerlich! Robert dreht sich um und will gerade gehen. Plötzlich hört er ein leises Flüstern: „Da ist er wieder, sag es ihm.“

Robert kehrt um und sieht in diesem diffusen Licht niemanden. Er schaut auch um die Ecke, aber auch hier kann er erst mal nichts erkennen. Doch dann sind da plötzlich die zwei großen Ratten zu sehen, eine weiße und eine schwarze, bei der ihm sofort die hellen Pfoten auffallen. Ganz schöne Brummer! Sie sitzen dicht neben den Holzleisten, die einen Keller abschließen. Robert zuckt unwillkürlich zurück. „Halt“, sagt die weiße, als er abdreht und weglaufen will, „bleib doch bitte hier!“

Verblüfft bleibt Robert stehen und glaubt nicht, was er gehört hat.

„Warst du das, hast du was gesagt? Wieso verstehe ich dich?“, sagt er zögernd zu den Ratten.

„Diese Geschichte wirst du bald verstehen, doch nun höre mir erst einmal in Ruhe zu. Ich werde dir sagen, was los ist! Wir suchen schon sehr lange einen Menschen, der so ist wie du. Der stark ist und sich nicht provozieren lässt. Wir haben dich und deine beiden Freunde beobachtet und gesehen, wie du dich standhaft geweigert hast, dich von ihnen zum Rauchen verführen zu lassen. Sie konnten dich nicht provozieren. Es klingt so einfach, aber genau das zeigt uns, dass du der Richtige bist, dass du die richtigen Anlagen hast.“

Robert kratzt seinen blonden Schopf. Die steile Falte zwischen seinen Augenbrauen vertieft sich, misstrauisch schaut er sie mit seinen tiefbraunen Augen an. Es ist ja wie im Märchen, auf einmal reden Ratten mit ihm! Und was heißt, er ist der Richtige, nur weil er es ablehnt zu rauchen? Er denkt an nichts, und auf einmal so was: sprechende Ratten! Jetzt ist er wirklich neugierig, was da auf ihn zukommt.

„Geh jetzt wieder weg und komme um Mitternacht wieder zu uns beiden in den Keller, dann wirst du alles Weitere erfahren. Beim ersten Mal, wenn wir dich einweihen, müssen wir ein Zeremoniell einhalten.“

Die beiden Ratten drehen sich um und verschwinden rasch, ohne weitere Erklärung, hinter den Holzleisten, die die einzelnen Keller trennen. Nach dem Abendessen sagt Robert schon einmal „Gute Nacht“ zu seinen Eltern und zieht sich in sein Zimmer zurück. Im Fernsehen läuft ein langweiliger Film, zumindest kommt er ihm langweilig vor, weil er es nicht erwarten kann, dass es Zwölf wird. Was wollen diese Ratten von ihm und überhaupt, wieso Ratten? Spinne ich, fragt er sich oder haben mich wirklich zwei Ratten angeredet? Na ja, wir werden sehen. Aber die Zeit schleicht heute wirklich ganz langsam dahin. Endlich ist es so weit, in einigen Minuten ist es Mitternacht. Robert schleicht aus der Wohnung und fährt in den Keller.

Da wird er schon an derselben Stelle von den beiden Ratten erwartet. Die weiße Ratte, sie ist scheinbar die dominante, stellt sich erst einmal vor:

„Ich bin Alban, und mein Begleiter ist Arix. Mit uns kannst du dich jederzeit in Verbindung setzen, wenn du Hilfe brauchst. Das wird jetzt am Anfang sicherlich noch oft der Fall sein, so lange, bis du völlig eingeweiht bist.“ Beide rücken etwas zur Seite, und Robert kann sehen, dass sie zwischen sich einen kleinen Beutel verborgen haben.

Arix zieht ihn näher heran, und Alban zischelt: “Jetzt kommt das Besondere auf dich zu. Hier drinnen ist ein kleines Amulett, das dich in Zukunft begleiten wird. Trage es immer bei dir und verrate niemandem das Geheimnis! Du wirst viele außerordentliche Fähigkeiten bekommen, aber vorher musst du eine Testaufgabe lösen. Erst dann, wenn du Erfolg hast, wirst du voll eingeweiht werden.“

„Was heißt, eine Testaufgabe, was muss ich da tun?“ Robert ist einerseits ziemlich ungläubig, auf der anderen Seite reizt natürlich das Neue.

„Das wird sich von selbst ergeben. Du wirst von irgendetwas hören, was die Leute beschäftigt, was sie sich nicht erklären können. Dann kannst du die Lösung anbieten, das Amulett wird dir dabei helfen.“

„Wie denn, wie soll mir denn so ein kleiner unscheinbarer Beutel helfen können?“, ist sein ungläubiger Einwand.

„Das Amulett wird sich von selbst bei dir melden, wenn du weißt, was du willst. Hast du irgendeine Aufgabe gefunden, wobei du helfen möchtest, wird das Amulett im Traum zu dir sprechen. Und nun nimm es und geh! Aber denke daran, es wird nur so lange für dich arbeiten, solange du niemandem davon erzählst! Wenn du redest, wird alles, was du bis dahin gelernt hast, verschwinden, das Amulett wird für dich völlig wertlos sein. Vergiss das nie!“ Alban funkelt ihn mit seinen kleinen, glänzenden Augen an: „Sei doch nicht so ungläubig, Robert, du erlebst ja schon hier etwas Außergewöhnliches. Du kannst mit uns sprechen, und nicht nur das, sondern in Zukunft wirst du mit allen Tieren reden können.“

„Wenn du uns brauchst, reibe dein Amulett, und wir werden es sofort wissen. Wir erwarten dich dann hier im Keller“, fügt Arix noch hinzu.

Die beiden, Alban und Arix, stecken über dem kleinen Beutel ihre Köpfe zusammen und zischeln etwas Unverständliches vor sich hin, dann nimmt Alban den kleinen Beutel zwischen seine Vorderpfoten, richtet sich auf, setzt sich auf seine Hinterpfoten und hält ihn Robert hin.„Hiermit nimm das Amulett an und behalte es immer bei dir!“ Abrupt drehen sie sich beide gleichzeitig um und huschen weg.

Neugierig öffnet Robert den Beutel und schaut sich den Inhalt vorsichtig an. Es ist nichts Besonderes zu sehen. Das Amulett ist ein einfaches ovales Metallstück, offenbar aus Kupfer, das ganz unscheinbar in der Hand liegt. Einige undefinierbare Linien sind eingeritzt, er kann nicht erkennen, was sie darstellen. Sicherlich durch die lange Lagerung bedingt, ist es grünlich angelaufen. Robert nimmt sich vor, das Amulett gleich morgen früh zu reinigen. Er steckt es in den Beutel zurück, fährt mit dem Fahrstuhl hoch und schleicht sich in sein Zimmer. Dort legt er das Amulett vor sich hin und schaut es nochmals aufmerksam von allen Seiten an, danach hängt er sich den kleinen braunen Lederbeutel um den Hals. Erwartungsvoll geht er zu Bett und fragt sich, was jetzt geschehen wird.

In dieser Nacht geschieht absolut nichts. Robert ist ziemlich enttäuscht, als er das nach dem Aufwachen merkt. Na gut, die beiden Ratten haben ihm ja gesagt, dass das Amulett nur dann zu ihm sprechen wird, wenn er ein Problem lösen will, und noch hat er keines gefunden. Also muss er erst suchen und überlegen. Er nimmt das Amulett vom Hals und untersucht es wieder. Es hat sich aber nichts verändert, es ist nicht anders, als am Abend vorher. Er holt sich einen Lappen und reinigt es sehr sorgfältig, noch bevor er sich anzieht.

In der Schule ist er ziemlich unkonzentriert. Seine Gedanken sind damit beschäftigt, eine Aufgabe zu suchen, aber er findet keine. Ihm kommen die absurdesten Ideen. Soll er quasi als Robin Hood den armen Leuten helfen oder soll er in der Schule irgendwelche besonderen Leistungen zeigen? Seine Gedanken fliegen in die tollsten Richtungen. Das Ergebnis ist ziemlich unbefriedigend, in Mathe hat er sich einen kräftigen Rüffel geholt, weil er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache war. Beim Abendbrot reden seine Eltern wieder über die merkwürdigen Vorfälle im Haus. Jetzt werden schon jede Nacht Glasflaschen auf die Autos geworfen, die hinter dem Haus auf ihren Parkplätzen stehen. Immer nur nachts, so dass niemand den Werfer sehen kann. Die Betroffenen gehen zur Polizei, und die Beamten nehmen die Anzeigen auf, aber helfen können sie auch nicht.

„Was erwarten Sie von uns?“, kommt immer die Frage. „Wir können uns nicht auf Verdacht hinstellen und warten, dass etwas geschieht!“ So ist die Aussage immer gleich: „Solange der Täter nicht erwischt wird, können wir Ihnen auch nicht weiterhelfen!“

Die Hochhausbewohner sind schon ganz verzweifelt, einige werden auch schon verdächtigt, aber es hilft nichts, die Schäden an den Fahrzeugen nehmen zu. Jede Nacht sind zwei scharfe Knaller zu hören, meistens gegen Morgen. Roberts Eltern machen sich Sorgen, weil sie sich gerade ein neues Auto gekauft haben. Es ist noch nicht mal abbezahlt. Bisher hat es zum Glück noch nichts abgekriegt, aber wenn das so weitergeht mit dem Flaschenwerfen auf dem Parkplatz? Das Auto ist zwar gut versichert, aber nach so einem Schaden ist natürlich der Wert nicht mehr so hoch.

Robert hört sich alles an und wird immer aufgeregter. Da, da ist sie doch, die Aufgabe zur Probe, die er so verzweifelt sucht! Er will denjenigen erwischen, der diesen Mist macht. Klasse! Sofort nach dem Abendessen zieht er sich in sein Zimmer zurück. Sein Vater sitzt schon gemütlich vor dem Fernseher und seine Mutter ist noch in der Küche beschäftigt. Robert kann unbemerkt die Wohnung verlassen. Im Fahrstuhl drückt er den Knopf für den Keller, dann zieht er sein Amulett, das er um den Hals hängen hat, heraus und reibt es zwischen Daumen und Zeigefinger. Im Keller stehen schon die beiden Ratten und erwarten ihn neugierig. Robert ist ganz fasziniert, das funktioniert ja genauso prompt, wie es die beiden Ratten vorhergesagt haben.

„Ich will den Flaschenwerfer finden, was kann ich da tun?“, sprudelt er sofort eifrig hervor.

„Robert, wir freuen uns, dass du schon so weit bist, aber du musst warten, bis dein Amulett sich im Traum meldet. Du hast ja jetzt ein Ziel, eine Aufgabe“, antwortet Arix freundlich. „Aber bis dahin kannst du schon einmal auskundschaften, von welcher Etage die Flaschen geworfen werden.“

„Du brauchst beim Einbruch der Dunkelheit nur hinter das Hochhaus gehen und Guru rufen. Das ist eine Waldohreule, die sowieso jede Nacht auf Jagd ist. Die kann dir sicherlich helfen. Sie soll diesmal ihre Runden beim Hochhaus ziehen. Sie wird es sehen, wenn nachts jemand mit Flaschen wirft. Aber erschrick nicht, du kannst Guru nicht hören, sie fliegt völlig geräuschlos. Rufe sie immer nur abends, wenn es dunkel wird, sie ist ein total hilfsbereiter Kumpel. Alles andere wird dir das Amulett sagen.“

Alban reibt sein weißes Fell an Roberts Fuß und quietscht vergnügt: „Wir freuen uns, dass du eine sinnvolle Aufgabe gefunden hast und wir wünschen dir viel Erfolg für die Lösung!“ Damit verschwinden sie wieder in einem Kellerverschlag.

Gespannt läuft Robert in die Grünanlage hinter dem Hochhaus. Er will zum Grillplatz, wo er sich unbeobachtet fühlt. Er ist fast erschrocken, als schon auf dem ersten Baum ein großer Vogel sitzt. Es ist eine Eule, die ihn mit großen orangegelben Augen ansieht, als er um die Ecke kommt. Anscheinend wartet sie schon auf ihn, denn sofort spricht sie ihn ohne zu zögern an:

„Hallo Robert, ich habe gehört, dass du Hilfe brauchst. Sag mir, was ich tun soll.“ Robert sieht zum ersten Mal so einen großen Vogel aus der Nähe und ist überrascht, wie zutraulich er ist. Er gibt sich einen Ruck und berührt ganz vorsichtig die graubraunen Federn der Eule und fühlt, wie zart sie wirklich sind. Er hätte es nicht gewagt, die Hand nach so einem Tier auszustrecken, denn unter den dichten Federn an den Beinen sind kräftig gebogene Krallen zu sehen. Aber er fühlt sofort, dass die Eule keine Gefahr ausstrahlt. Dass sie mit ihm redet, ist auch nicht mehr ganz so überraschend, denn durch Alban und Arix ist Robert schon ein wenig damit vertraut, sich mit Tieren zu unterhalten.

„Hallo Guru, und ich freue mich, dass ich mit dir reden kann, dass wir Freunde sein können.“ Robert schaut Guru mit warmen Augen an. „Auf keinen Fall will ich dich in Zukunft in Gefahr bringen, wenn ich dich um Hilfe bitte!“

Robert ist stark beeindruckt. Mit einem Vogel Verabredungen zu treffen, ist das Größte, eine ganz neue Erfahrung! Sie vereinbaren, dass Guru darauf achtet, wer sich nachts in den oberen Stockwerken des Hochhauses zu schaffen macht, vor allem muss die Eule darauf achten, in welchem. Völlig geräuschlos fliegt Guru weg. Morgen Abend werden sie sich wieder treffen.

Robert freut sich auf diese Nacht. Endlich hat er eine sinnvolle Aufgabe, die gar nicht so leicht zu lösen sein wird. Ungeduldig versucht er schnell einzuschlafen. Doch so einfach geht das nicht. Lange liegt er wach und denkt über seine Gespräche mit den Ratten und mit Guru nach. Doch irgendwann übermannt ihn endlich die Müdigkeit und er schläft ein. Plötzlich, Robert weiß nicht ob er wach ist oder ob er träumt, sieht er vor sich ein helles weiches Licht schweben. Es hat eine ovale Form, etwas größer als sein Amulett. Es steht ruhig vor seinem Gesicht und Robert hat schlagartig die Gewissheit: Das muss das Amulett sein!

„Ja, Robert, ich bin das Amulett. Du hast deine Testaufgabe gefunden, darum komme ich wie versprochen zu dir. In Zukunft bin ich immer für dich da, wenn du genau weißt, was du willst. Du kannst dich aber nicht ausschließlich auf meine Hilfe verlassen, auch deine Kreativität ist gefragt. Ich erwarte von dir, dass du dir schon genau überlegst, wie du deine zukünftigen neuen Kräfte einsetzen willst. Heute gebe ich dir Hilfestellung, um diesen Flaschenwerfer zu stellen. Als Erstes hast du die Fähigkeit, dass du dich mit Tieren unterhalten kannst. Das hast du schon ausprobiert. Nutze diese Eignung und plane die Hilfe der Tiere gut ein! In diesem speziellen Fall wird der Flaschenwerfer, wenn du ihn identifiziert hast, zu nicken beginnen, wenn es dir gelingt, in ihm Angst und Unruhe zu erzeugen. Er muss ein schlechtes Gewissen bekommen. Wie du das machst, musst du dir genau überlegen. Er wird mit dem Nicken dann nicht aufhören können. Tag und Nacht nicht. So lange, bis er sagt, dass er es ist, der diesen Unfug macht, und bis er den Schaden, den er angerichtet hat, wieder gutgemacht hat.“

„Wie kann ich mich denn mit ihm verständigen?“, fragt Robert neugierig.

„Du kannst nachts, wenn er schläft, im Traum mit ihm reden. Du kannst ihn bedrohen und beunruhigen. Das musst du so lange machen, bis er begriffen hat, dass zwischen seinem Nicken und seinem Flaschenwerfen ein Zusammenhang besteht. Er muss sich fürchten, wieder ins Bett zu gehen. Um Ruhe zu haben und mit dem Nicken aufhören zu dürfen, wird er letztendlich alles tun, was du von ihm verlangst.“

„Wie geht das denn, wie kann ich ihm im Traum erscheinen?“

„Rede einfach nachts laut zu ihm, als ob er vor dir stehen würde. Du kannst ihm Albträume verursachen. Sage einfach als Beispiel: „Eine große Schlange wird sich um deinen Körper wickeln, und er wird genau diese Szene im Traum erleben. So, und nun lasse ich dich mit deiner ersten Aufgabe alleine.“

Den ganzen nächsten Tag gehen Robert die Worte des Amuletts nicht aus dem Kopf. Der Werfer muss ein schlechtes Gewissen bekommen, dann kann er ihn fassen. Aber wie macht man das, jemandem ein schlechtes Gewissen zu verursachen?

Ungeduldig wartet er auf den Abend. Endlich ist es so weit: Er trifft Guru in den Grünanlagen, beim Grillplatz. Robert hat das Gefühl, einen alten Freund zu treffen. Dass auch Guru so fühlt, erkennt er daran, dass sie sich ihm ohne Scheu auf die Schulter setzt und dicht an seinem Ohr berichtet:

„Gegen Morgen hat sich in der obersten Etage ein grauhaariger Mann blicken lassen. Er hat an dem Fenster neben dem Müllschlucker lange gestanden und hat nur beobachtet. Alles war ruhig und kein Mensch war zu sehen. Plötzlich hat er sich gebückt und zwei Flaschen mit Schwung nach unten geworfen.“ Guru dreht ihren Kopf ohne den Körper zu bewegen und sagt: „Robert, genügt dir das?“

Robert überhört die Frage, weil er ganz fasziniert gesehen hat, wie die Eule ihren Kopf ohne Anstrengung drehen kann. Das schaut aus, als ob der Hals ein eigenes Gelenk hat, schießt es ihm durch den Kopf. Guru merkt, dass er mit seinen Gedanken nicht da ist und wiederholt die Frage.

„Ja, ja, vielen Dank, Guru. Du hast mir sehr geholfen.“ Zufrieden fliegt die Eule weg.

Nachdenklich Robert fährt wieder in den elften Stock hoch. Seine Eltern sind beim Fernsehen. Erstaunlicherweise ist auch sein Vater schon zu Hause, sonst macht er um diese Zeit immer noch seine Kundenbesuche. Robert setzt sich an seinen Computer und überlegt, was er tun kann. Ein merkwürdiger Typ muss das sein, der da in der Nacht Glas aus dem neunzehnten Stock wirft. Was könnte man machen, damit dieser Mensch ein schlechtes Gewissen bekommt? Wenn er an den Unbekannten nur appelliert, wie groß der Schaden ist, den er den anderen zufügt, wird das nichts nützen. Das wird dem völlig egal sein, der lacht sich höchstens eins.

Plötzlich kommt Robert eine Idee. Er wird eine Nachricht schreiben, die der Unbekannte finden muss, wenn er nachts wieder rumgeistert. Sofort setzt er sich an seinen PC und schreibt: Hallo, du Mistkerl, ,ich habe dich entdeckt, ich weiß, wer du bist. Die Strafe wird folgen, bald hörst du von mir.

Robert druckt die Nachricht fett aus. Leise, damit seine Eltern nichts merken, schleicht er aus der Wohnung. Er läuft die acht Etagen übers Treppenhaus bis in den neunzehnten Stock hinauf und klebt den Zettel auffällig an die Wand neben der Fensteröffnung, die zum Parkplatz zeigt. Hier muss ihn der Unbekannte unbedingt sehen, wenn er wieder aktiv wird. So, der Köder ist ausgelegt, mehr kann ich momentan nicht tun, überlegt Robert. Jetzt muss ich nur noch auf den Morgen warten und beobachten. Robert kann kaum einschlafen, so gespannt und aufgedreht ist er. Wird dieser Zettel Wirkung zeigen oder ist es umsonst, was er da geschrieben hat? Wie wird es aussehen, wenn der Kerl sich so verhält, wie das Amulett angekündigt hat? Lange beschäftigen ihn diese Fragen noch, bis er endlich übermüdet einschläft. Es ist wieder ein strahlend schöner Morgen, blauer Himmel und die Sonne lacht. Es wird bestimmt ein warmer Tag werden.

Robert ist schon neugierig, ob er jemanden sehen wird, der ständig nickt. So richtig kann er sich das gar nicht vorstellen, wie das ausschauen soll. Schon früh steht er auf und guckt sich neugierig die Augen aus, aber er sieht niemanden. Dann muss er zur Schule, auch danach ist niemand zu sehen. Den ganzen Tag treibt er sich rum, voller Angst, dass er den Mann übersehen könnte. Natürlich kommt er mit seinen Hausaufgaben in Verzug. Wieder kann er sich am nächsten Tag in der Schule kaum konzentrieren, vor lauter Angst, etwas zu versäumen. Aber auch danach an diesem Tag kann er niemanden sehen, der am Nicken ist. Ganz klar, dass sich wieder Zweifel einstellen. Vielleicht hat der Mann durch seine Nachricht gar keine Angst bekommen und den Zettel gar nicht ernst genommen? Vielleicht ist es ihm auch völlig egal. Dann war sein Versuch ein Schlag ins Wasser.

Robert überlegt, ob er wieder mit den Ratten sprechen soll, aber dann sagt er sich, dass er den Vorhersagen des Amulettes vertrauen muss, sonst hätte das Ganze ja überhaupt keinen Sinn. Die beiden Ratten können ihm in dieser Situation auch nicht helfen. Er überlegt sogar, ob er nicht in der neunzehnten Etage bei jeder Wohnung läuten soll, um zu sehen, wer da nickt. Aber der Mann braucht doch ganz einfach seine Wohnung nicht zu verlassen, und niemand sieht ihn. Aber irgendwann muss er schließlich einmal rauskommen, er kann doch nicht ewig im Verborgenen bleiben.

Voller Ungeduld liegt Robert weiter auf der Lauer, er schleicht nochmals in den neunzehnten Stock hoch und sieht, dass sein Zettel nicht mehr da klebt. Also wurde er von irgendjemandem gefunden und entfernt. Immer wieder streift er durch das Treppenhaus und treibt sich im Eingangsbereich herum. Er bewacht sogar die Briefkästen und beobachtet, ob die Post entnommen wird. Aber auch da ist nichts Ungewöhnliches zu erkennen. Aber Robert fällt auf, dass in den letzten Tagen nachts auf einmal alles ruhig war. Das ist auf jeden Fall ein gutes Zeichen. Es wurde keine Flaschen geworfen.

Endlich, am dritten Tag geht früh am Morgen die Fahrstuhltür auf, und der bleiche Typ mit dem Puddinggesicht kommt heftig nickend aus dem Fahrstuhl. Er läuft, ohne sich umzusehen, aus dem Haus. Er hat den schmierigen grauen Kittel an, den er im Keller immer trägt. Cool, denkt Robert erleichtert: er hat den Typ! Robert ist jetzt voll aufgedreht, der Kerl entkommt ihm jetzt nicht mehr! Der Bursche nickt so heftig, dass er andauernd seine Brille festhalten muss. Er schaut weder nach links noch nach rechts, sondern stürmt direkt in den Fußgängerbereich des Einkaufszentrums. Es ist gelungen, der Mann lebt in Angst, sein Nicken ist der Beweis. Es ist Herr Reben aus dem obersten Stockwerk, ein Einzelgänger, unverheiratet. Endlich ist er aus seinem Loch heraus gekrochen. Es ist schon sehr auffällig, wenn ein Mann, noch dazu einer in einem schmierigen grauen Kittel, so heftig nickend, dass ihm die Brille dauernd von der Nase rutscht, durch die Straßen läuft. Den wenigen Menschen, die schon unterwegs sind, fällt er jedenfalls mächtig auf. Herr Reben wirkt völlig konfus, eindeutig läuft er in Richtung Arztpraxis. Robert ist voll zufrieden. Jetzt kann er sich in Ruhe eine gute Strategie überlegen, wie er den Mann zu einem Geständnis bringen kann.

Der Tag vergeht wieder viel zu langsam. Robert versucht, seine Hausaufgaben zu machen. Es ist sinnlos, er kann sich nicht konzentrieren. Dann macht er wieder seine Expanderübungen, das lenkt ab. Jetzt ist er schon verdammt neugierig, wie das mit dem Traum funktionieren wird. Robert kann sowieso nicht einschlafen, er wartet jetzt gespannt bis nach Mitternacht. Er setzt sich auf sein Bett, denkt intensiv an Reben und sagt laut vor sich hin: „Du gehst jetzt auf den Flur und willst wieder eine Flasche auf die parkenden Autos werfen. Steh auf und geh! Du holst jetzt weit aus und wirfst. Plötzlich merkst du, dass du die Flasche nicht loslassen kannst, du klebst an ihr fest. Sie zieht dich mit hinaus und du fällst ins Leere. Schweißgebadet wachst du auf. Du wirst wieder einschlafen und noch zweimal denselben Traum erleben.“ Robert bleibt voller Zweifel noch länger auf seinem Bett sitzen. Hat das wirklich einen Sinn, was er da tut, oder redet er nur einfach so vor sich hin? Wie kann er das kontrollieren?

Am nächsten Morgen ist Robert schon wieder früh auf den Beinen, es hält ihn nichts in den Federn. Aufmerksam wartet er bei den Fahrstühlen. Was wird jetzt geschehen? Plötzlich sieht er die Fahrstuhlanzeige aufleuchten, der Fahrstuhl kommt vom neunzehnten Stock herunter. Gespannt wartet Robert, wer kommt da?

Die Fahrstuhltür geht auf, und ein bleicher, völlig verstörter Herr Reben kommt heftig nickend heraus. Das Gesicht noch bleicher als sonst, die Augen gerötet und stark verquollen. Er wirkt richtig unausgeschlafen. Klasse, es hat wirklich funktioniert! Der Bursche muss ganz schön gequält worden sein! Außerdem wird er bestimmt Schwierigkeiten gehabt haben, ruhig im Bett liegen zu bleiben, denn das ständige Nicken muss ihn doch ziemlich behindern. Robert geht ihm nach. Der Mann ist so mit seinem Kummer beschäftigt, dass er überhaupt nichts von seiner Umgebung wahrnimmt. Er läuft wieder zum Arzt. Robert muss die Schraube fester andrehen, dieser Reben muss erkennen, dass das Nicken nur dann verschwinden wird, wenn er seine Schuld eingesteht. Dabei kann ihm kein Arzt helfen.

Kommende Nacht ist der Traum schon intensiver. Der Werfer träumt, dass plötzlich ein fremdes Wesen in seiner Wohnung ist, er spürt seine Anwesenheit, kann aber niemanden sehen. Das kann aber einfach nicht sein, er weiß, dass seine Tür dreifach verriegelt ist, da kann niemand reinkommen! Trotzdem läuft es ihm im Bett richtig kalt über den Rücken, seine Haare stellen sich auf. In der Dunkelheit hört er das leise Atmen des Fremden, er spürt intensiv die Nähe, dann raschelt etwas. Er macht sofort Licht … aber da ist niemand. Reben springt aus dem Bett , läuft hektisch durch seine ganze Wohnung und kontrolliert nochmals akribisch den Eingang, aber da ist niemand.

Kaum eingeschlafen, träumt der Werfer schon wieder. Es ist schon wieder jemand in seiner Wohnung. Leise Schritte kommen immer näher. Diesmal hört er sie direkt im Schlafzimmer vor seinem Bett. Als er wieder das Licht anmacht, erschrickt er. Dabei weiß er nicht mehr, ob er wach ist, oder ob er träumt. Vor seinem Bett steht eine hohe dunkle Gestalt mit einem bodenlangen, schwarzen Kapuzenmantel. Ihr Kopf ist komplett von der spitzen Kapuze verhüllt. Dort, wo eigentlich das Gesicht sein sollte, ist nur ein leerer drohender, schwarzer Hohlraum. Die Gestalt sagt mit einer heiseren, hohlen Stimme: „Du hast sehr großen Schaden angerichtet, den du wieder gutmachen musst. Geh zur Polizei, gestehe, dass du derjenige bist, den sie suchen, und dass du dafür bezahlen wirst. Danach wirst du wieder in Frieden weiterleben können. Dein lästiges Nicken wird dann sofort aufhören.“ Das Licht verlischt, die Gestalt ist verschwunden. War das ein Traum oder Realität, überlegt Reben.

Unruhig steht er auf, er kann nicht mehr einschlafen und überlegt, was da in seiner Wohnung geschehen ist. Das kann doch nicht sein, das gibt’s doch nicht! Kaltes Grauen beschleicht ihn, nochmals streift er durch sämtliche Räume, natürlich kann er nichts finden. Schlafen kann Reben auch nicht mehr, dafür hat er viel zu viel Angst. Den Rest der Nacht verbringt er schlaflos, er wagt es nicht mehr, ins Bett zu gehen.

Am nächsten Morgen trifft Robert seine beiden Freunde im Treppenhaus.

„Sag mal, Robert, hast du den Reben gesehen, wie der immer so komisch mit dem Kopf wackelt? Mensch, der Kerl hat doch bestimmt ne Macke, vielleicht ist er auch schon ganz übergeschnappt! Wie verrückt läuft der immer durch die Gegend“, lacht Tim spöttisch. Auch er kann diesen Typ nicht leiden, aber wer mag den schon.

„Es sind neue Leute in den siebten Stock im Hochhaus eingezogen. Ich glaube, das sind Russen oder Polen. Ich habe zwei Männer und eine Frau gesehen, die mit mir im Fahrstuhl hochgefahren sind. Irgendetwas stimmt mit denen nicht“, erzählt Chris.

„Die Frau hat ganz verweinte Augen gehabt und alle haben wortlos vor sich hin gestarrt. Es war eine hübsche blonde Frau mit einem Super - Mini. Weißt du noch, Robert, als vor drei Jahren der Tankstellenpächter verhaftet wurde, weil im Keller der Tankstelle Rauschgift gefunden wurde? Er war schon lange süchtig und hat auch damit gedealt. Niemand hätte gedacht, dass bei uns so etwas möglich sein könnte! Wir wollen die Leute etwas beobachten, vielleicht kommen wir einer Bande auf die Spur. Machst du mit?“

„Übrigens, Robert, das mit dem Rauchen kannst du vergessen! Wir haben das auch nur mal ausprobiert. Wir wissen auch nicht, ob wir wirklich damit anfangen werden“, grinst Tim. „Außerdem fehlt uns das Geld dafür.“

„Okay, ich mach mit, reden wir morgen nach der Schule wieder darüber, okay? Rauchen ist sowieso Mist.“ Robert hat es heute nämlich ziemlich eilig, wieder ins Hochhaus zurück zu kommen, er will sehen, was Reben macht. Aber der Typ ist zäh, er geht auch an diesem Tag nicht zur Polizeiwache. Den ganzen Tag lässt er sich nicht blicken. Sicherlich verkriecht er sich in seiner Wohnung und hofft, dass das Nicken von selbst aufhören wird. Robert freut sich schon diebisch auf die kommende Nacht: Warte nur, Freundchen! Ich mach dir die Hölle heiß! Diese Nacht wirst du nicht so schnell vergessen.

Er lässt Reben sofort wieder träumen. Im Traum geht er nachts wieder auf den Flur zum Müllschlucker, um seine Flaschen runter zu werfen. Plötzlich hört er hinter sich ein leises Geräusch. Als er sich umdreht, steht wieder die unheimliche, dunkle Gestalt hinter ihm. Er kann wieder kein Gesicht erkennen, er sieht nur Dunkelheit und drohende Schwärze hinter der Kapuze. Die Gestalt hebt, ohne ein Wort zu sagen, den rechten Arm, und Reben fliegt mitsamt seiner Flasche ins Leere.

Schweißgebadet wacht der Werfer auf und springt voller Panik aus dem Bett. Er kann es nicht fassen, was ist da los, wieso träumt er immer so schrecklich? Oder ist es kein Traum, geschehen diese entsetzlich Dinge wirklich? Er fürchtet sich davor, wieder ins Bett zu gehen und einzuschlafen. Diese ständige Nicken macht ihn schon ganz fertig, und nun kann er auch nicht mehr ruhig schlafen, die gruselige Traumgestalt quält ihn immer wieder. Er traut sich schon nicht mehr auf die Straße, die Menschen drehen sich nach ihm um. Er kommt sich vor, als ob er im Zoo zur Schau gestellt würde, sein Nicken ist einfach unübersehbar. Doch er ist so fürchterlich todmüde, dass er sich aufs Bett legt und nickend, trotz seiner Angst wieder einschläft. Schon träumt er erneut. Wiederum kommt etwas durch die verschlossene Tür in sein Schlafzimmer. Nachdem er erschrocken Licht gemacht hat, sieht er wieder dieselbe hohe dunkle Gestalt. Als er voll Panik aus dem Bett springen will, kann sich plötzlich nicht mehr bewegen. Die schwarze Gestalt hat einen großen Beutel bei sich, in dem sich irgendetwas hektisch bewegt. Sie sagte mit ihrer hohlen Stimme: „Du wirst so lange keine Ruhe mehr haben, bis du alles zugegeben hast. Was du gerade jetzt hier erlebst, ist nur der Anfang!“

Reben sieht voller Entsetzen, wie sich der dunkle Beutel öffnet und Hunderte von Kakerlaken auf ihn fallen. Es sind große, fette, schillernde Tiere, die wie verrückt über ihn herfallen und auf ihm herumkrabbeln. Hektisch schlägt er um sich und versucht, die Tiere abzuschütteln. Einige kann er zerquetschen, aber es wird dadurch nur noch schlimmer. Dieser klebrige Brei aus Insekten, der sich kaum wegwischen lässt, erzeugt bei ihm noch mehr Abscheu und Ekel. Er schreit und schreit ganz laut und kann nicht mehr aufhören. Sogar als er aus dem Traum erwacht, schreit er noch weiter. Immer noch sieht er diese großen, schwarz glänzenden Insekten vor sich, wie sie sich gierig auf ihn stürzen. Ekelhaft!

Langsam wird Robert selbst müde. Immerhin muss auch er wach bleiben, um diesem Reben die quälenden Träume zu senden. Früh am Morgen beobachtet er im Eingangsbereich wieder gespannt die Fahrstuhlanzeige. Erneut kommt der Fahrstuhl ganz früh runter, und Reben rennt heftig nickend in Richtung Polizeistation. Sein grünlich schimmerndes Gesicht erinnert Robert an die OP-Kittel seiner Mutter.

Als der Mann Stunden später zurückkommt, ist er wieder ganz normal. Das Nicken hat aufgehört. Robert kann sich denken, warum. Er könnte jauchzen voller Begeisterung, diese Aufgabe wäre erfolgreich erledigt! Den Typ kann er jetzt abhaken, der ist bestimmt geheilt und wird in Zukunft gewiss keinen Schaden mehr anrichten. Robert sieht noch, wie Reben mit gesenktem Kopf rasch in den Fahrstuhl steigt, und weg ist er.

„Den Zettel anzukleben, um dem Werfer ein schlechtes Gewissen zu erzeugen, ihm Angst zu machen, war eine sehr gute Idee von dir“, sagt das Amulett in der nächsten Nacht im Traum. „Damit hast du auch bewiesen, dass du kreativ bist. Sein schlechtes Gewissen hat ihn so verunsichert, dass er sich nicht mehr getraut hat, nochmals Flaschen auf den Parkplatz zu werfen.“

Robert wacht ausgeruht und entspannt auf. Er freut sich irrsinnig über das Lob und überlegt schon eifrig, was er weiter tun könnte. Er vermutet eine neue Möglichkeit bei den Fremden, von denen Chris und Tim erzählt haben. Irgendetwas stimmt da wirklich nicht. Er war jetzt schon öfter im Flur der siebten Etage, hat aber hinter der Wohnungstür der Neueingezogenen nichts gehört, als er gelauscht hat. Ein Namensschild ist auch noch nicht angebracht, sie haben noch nicht einmal einen Fußabstreifer vor der Tür liegen. Am Nachmittag trifft Robert sich wieder mit Chris und Tim. Sie verabreden, sich um diese Leute zu ein wenig zu kümmern. Jeden Tag soll ein anderer für die Beobachtung zuständig sein. Beginnen wird Chris, dann kommt Tim an die Reihe, danach Robert. Fast ist es wie bei einem von den Krimis in der Glotze. Vielleicht haben sie Glück, und es wird noch ein spannender Fall, Robert kommt sich richtig cool vor!

Sie haben beobachtet, dass die Männer einen Fiat als Lieferwagen und einen roten Mercedes fahren. Also, wenn die zwei Autos da sind, müssen auch die Leute da sein. Robert braucht mehr Informationen, bisher weiß er so gut wie nichts. Also reibt er sein Amulett und geht in den Keller. Diesmal ist Alban alleine da.

„Bei den neuen Mietern im siebten Stock stimmt etwas nicht. Meine Freunde und ich wollen sie beobachten. Ihr Keller ist so dicht verrammelt, dass ich nicht durchblicken kann. Könnt ihr das erkunden und mir sagen, was da drin ist?“

Alban quietscht leise:

„Warte Robert, ich bin gleich wieder da, das ist überhaupt kein Problem für uns.“

Geräuschlos huscht die weiße Ratte weg. Es vergehen keine zwei Minuten, schon ist sie wieder da.

„Der Keller ist fast leer. Es sind nur einige Regale montiert, dann steht da ein Karton mit Büchern. Außerdem steht eine Liege zwischen den Regalen. Robert bedankt sich zufrieden und sagt zu Alban, wie schön es ist, solche Freunde wie ihn zu haben. Chris hat am ersten Tag seines Einsatzes nichts entdeckt. Es war langweilig, er hat sich den ganzen Tag sinnlos herumgedrückt, ist ständig ums Hochhaus geschlichen, und nichts ist geschehen. Natürlich ist so etwas frustrierend. Heute hat Tim Dienst. Er sieht den Lieferwagen kommen und läuft sofort ins Treppenhaus. Unbefangen steht er bei den Briefkästen und tut so, als ob er die Werbeprospekte lesen würde. Er hört erregte Stimmen näher kommen. Es sind Ausländer, jedenfalls sprechen sie nicht Deutsch. Als die Leute Tim sehen, sind sie ruhig. Es sind zwei Männer, begleitet von drei jungen Frauen. Sie steigen in den Fahrstuhl, und Tim sieht, dass sie in den siebten Stock fahren. Den Rest des Tages sieht Tim sie nicht mehr. Auch das Auto bleibt auf dem Parkplatz unbenutzt stehen. Eigenartig, so viele Menschen in einer Vierzimmerwohnung. Da muss doch auch noch die junge blonde Frau dabei sein, die sie anfangs gesehen haben? Die mit den verweinten Augen und dem tollen Minirock.

Am nächsten Tag ist Robert auf Beobachtungsdienst und sieht, wie aus dem roten Mercedes einige große Pakete ausgeladen und von einem hochgewachsenen, schwarzhaarigen Mann ebenfalls in die Wohnung gebracht werden. Am Nachmittag kommt ein grüner Jaguar an und parkt vor dem Haus. Zwei dunkelhaarige, gepflegt gekleidete Männer steigen aus. Robert fallen besonders ihre eleganten, schwarzen Schuhe auf. Sie drücken im Fahrstuhl den Knopf in die siebte Etage. Also wollen sie sicherlich auch zu dieser bewussten Wohnung. Robert wartet geduldig. Nach einer Stunde kommen die beiden in Begleitung zweier junger Frauen aus dem Fahrstuhl und gehen zu ihrem Auto. Die Frauen werden von den beiden Männern so fest an den Oberarmen gehalten … kein Zweifel, die gehen nicht freiwillig mit! Die jungen Frauen werden brutal in das Auto auf den Rücksitz gedrängt, die beiden Männer steigen vorne ein und dann fahren sie weg. Abends geht Robert hinter das Haus und ruft nach Guru, seiner Eule.

„Liebe Guru, versuche doch bitte im siebten Stock über dem Balkon zu erkennen, was in dieser Wohnung geschieht“, bittet er die Eule. Schon nach einigen Minuten kommt Guru zurück und berichtet, dass sie nichts sehen kann, weil Jalousien die Fenster verschließen. Allerdings sind erregte Stimmen da oben zu hören. Am nächsten Nachmittag treffen die drei Jungs sich wieder und besprechen, was sie bisher gesehen haben. Was ist da Geheimnisvolles im Gange, was treiben diese Typen da oben? Die Freunde verabreden weitere Überwachungen. Die nächsten zwei Tage geschieht nichts. Überhaupt nichts. Chris und Tim überlegen schon, ob das, was sie da tun, nicht absoluter Blödsinn ist. Die Burschen haben einfach keine Ausdauer. Am dritten Tag, als Robert Dienst hat, sieht er wieder den grünen Jaguar vor dem Haus parken. Die Ankunft des Wagens hat er anscheinend verschlafen. Robert wartet im Eingangsbereich und ist neugierig, was da wohl geschehen wird. Nach endlosen zwei Stunden sieht er, wie der Fahrstuhl in den siebten Stock hoch geholt wird. Robert atmet auf. Diese Warterei geht doch ganz schön auf die Nerven. Zwischendurch hatte er sich schon überlegt, ob es nicht klüger wäre, wieder nach oben zu fahren und endlich seine Hausaufgaben zu machen. Dazu kommt die Überlegung, ob er sich hier vielleicht nur einbildet, einer kriminellen Bande auf die Spur zu kommen. Jedenfalls ist Robert froh, dass sich etwas bewegt. Er stellt sich so zu den Briefkästen, dass er nur schwer zu sehen ist. Dazu nimmt er sich einen Werbeprospekt und tut so, als ob er darin lesen würde.

Einer der elegant gekleideten, schwarzhaarigen Männer mit den auffälligen Schuhen, die er schon beim letzten Mal gesehen hat, ist in Begleitung der zwei anderen aus der Wohnung. Die beiden schleppen große Pakete zu dem Auto und verfrachten sie im Kofferraum. Alle drei fahren danach mit dem Fahrstuhl wieder hoch.

Kurze Zeit später kommt der Lift wieder herunter. Diesmal ist er randvoll. Es steigen aus: die beiden Männer, die mit dem Jaguar gekommen sind, drei junge Frauen und zwei Männer aus der Wohnung. Zwei der Frauen sind blond, die andere schwarzhaarig. Sie reden ganz schnell auf die Männer in einer Sprache ein, die Robert nicht kennt. Sie gehen gemeinsam zu dem Jaguar, die drei Frauen steigen hinten ein und werden von den zwei eleganten Männern weggefahren. Die beiden Hausbewohner gehen, heftig diskutierend, zum Fahrstuhl zurück und fahren in ihre Wohnung hoch. Danach geschieht einige Tage lang nichts. Absolut nichts.

Sowohl der Mercedes als auch der Fiat Lieferwagen stehen unbenutzt auf dem Parkplatz. Chris und Tim haben mit der Überwachung Schluss gemacht, es ist ihnen zu langweilig geworden. Die beiden haben sich doch glatt vorgestellt, dass sie mal so ruck zuck eine Verbrecherbande überführen könnten. Stundenlang auf der Lauer zu liegen und nichts geschieht, das ist zu viel verlangt, darin sehen sie keinen Sinn.

Robert ist nun auf sich alleine gestellt, aber nicht gewillt, aufzugeben. Er ist überzeugt, irgendetwas Merkwürdiges geschieht da. Er hat sich schon überlegt, mit seinem Amulett Kontakt aufzunehmen, aber er weiß nicht, wie. Es hat doch zu ihm gesagt, es wird sich melden, wenn er genau weiß, was er will. Na gut, noch hat er keine Ahnung. Natürlich will er, weiß aber nicht, was. Er hofft, dass er, wenn er nur genug Ausdauer hat, etwas Wichtiges entdecken wird. Irgendetwas stimmt hier wirklich nicht.

Es ist ein milder Sommerabend, leise streicht der Wind um das Hochhaus, alles ist ruhig. Die Sonne ist gerade untergegangen und verglüht am Horizont. Plötzlich hört Robert den Motor eines Autos. Als er schnell aus dem Fenster seines Zimmers blickt, sieht er gerade noch den blauen Lieferwagen der ausländischen Hausbewohner ankommen. Schnell läuft er durch das Treppenhaus ins Erdgeschoß hinunter, um zu sehen, was da ausgeladen wird. Es ist mittlerweile schon dunkel geworden, also kann er sich ungesehen hinter den Büschen links vom Eingang verstecken. Direkt vor ihm parkt das Auto. Aus dem Inneren hört er Gepolter und danach laute Stimmen. Vorne im Führerhaus sitzen die beiden Hausbewohner, die er schon kennt. Sie diskutieren heftig mit nach hinten gedrehten Köpfen. Mit wem, kann er noch nicht erkennen. Beide steigen aus und gehen zum Heck des Wagens, wo sie die beiden Türen öffnen.

Vier junge Frauen, die Robert bisher noch nicht gesehen hat, springen heraus, laufen mit den beiden Männern schnell ins Haus, und verschwinden sofort mit dem Fahrstuhl nach oben. Keiner hat ein Wort gesprochen. Robert fährt mit dem nächsten Fahrstuhl ebenfalls hoch, lauscht gespannt an der Wohnungstür im siebten Stock, kann aber absolut nichts hören. Es bleibt ruhig. Es hat keinen Sinn, länger zu warten.

Robert absolviert sein Trainingsprogramm mit dem Expander und geht danach ins Bett. Er liegt lange wach und denkt über das nach, was er da gesehen hat. Wieso kommen so viele unterschiedliche Frauen zu diesen beiden Männern? Warum tun sie alle so geheimnisvoll? Von wem werden sie dann wieder abgeholt? Gehören die zu einer Bande, die Menschen schmuggelt? Lauter Fragen, auf die Robert keine Antwort weiß. Hoffentlich meldet sich das Amulett! Kaum ist er eingeschlafen, meldet es sich tatsächlich. Es kommt strahlend und leuchtend auf ihn zugeschwebt und bleibt vor seinem Gesicht ruhig in der Luft stehen:

„Robert, was hier abläuft, ist sehr gefährlich. Ich werde dir jetzt helfen, damit du genug Informationen bekommst. Du wirst mit einem der Leute sprechen können, und der wird dir alle Fragen beantworten. Sage nur das Wort ‚remember’, und er wird auf dich fixiert sein, alles vergessen und sich auch später an nichts mehr erinnern können.“ Langsam weicht das Amulett zurück, das weiche Licht erlischt.

Natürlich ist Robert am nächsten Morgen völlig aufgedreht. Am liebsten möchte er sofort ausprobieren, was er angeblich können soll. Wie war das? Er muss „remember“ sagen und der Angesprochene wird ihm alles erzählen, was er hören will? Momentan interessiert ihn keine Schule, eigentlich nichts sonst, er will nur Gewissheit haben, ob auch alles wirklich so funktioniert, wie es das Amulett angekündigt hat. Jetzt muss er ganz sorgfältig planen.

Zu sehen sind immer nur zwei von den Ausländern. Beide sind, na ja, wie alt werden sie sein, Mittelalter. Einer ist sehr groß und kräftig gebaut. Er hat schwarze Haare und ein breites Gesicht mit einer fleischigen, runden Nase. Den hat Robert schon beim Ausladen aus dem roten Mercedes gesehen. Der andere ist eher das Gegenteil. Er hat auch schwarze Haare, ist aber einen Kopf kleiner und sehr schmal. Außerdem hat er eine komische dünne, lange Nase. Beide tragen immer nur Jeans. Der Kleinere trägt dazu meistens ein schwarzes Jackett und immer ein weißes Hemd, der andere nur Pullover. Robert muss jetzt einen der Männer alleine erwischen, um mit ihm reden zu können. Wer es ist, ist eigentlich egal. Plötzlich sieht Robert vom Fenster seines Zimmers aus wieder den grünen Jaguar ankommen.

Er will schnell ins Erdgeschoss fahren, muss aber sehr lange auf den Fahrstuhl warten. Als er endlich unten ankommt, sieht er nur noch das leere Auto vor dem Haus parken. Trotzdem freut sich Robert. Nach langem Stillstand bewegt sich endlich wieder etwas! Jetzt muss er nur warten.

Es ist ziemlich viel Betrieb im Haus. Einige Bewohner kommen nach Hause, es ist der übliche morgendliche Berufsverkehr, die Fahrstühle sind ständig besetzt und bringen Leute rauf und runter. Die Leuchtanzeige im siebten Stock glüht auf, der Fahrstuhl kommt nach unten. Schnell versteckt sich Robert, um zu beobachten. Er sieht wieder die beiden altbekannten eleganten Typen aus dem Fahrstuhl aussteigen und zu ihrem Jaguar gehen. Sie diskutieren wieder heftig in einer unbekannten Sprache miteinander. Einer schaut vor dem Einsteigen noch mal kurz nach oben, dann fahren sie weg.

An diesem Abend tut sich nichts mehr. Robert sitzt in seinem Zimmer und betrachtet sich im Spiegel. Seinem Spiegelbild flüstert er „remember“ zu, aber nichts tut sich. Seine typische Stirnfalte vertieft sich und er lächelt sich zu, als ihm bewusst wird, dass er sich nicht selbst befragen kann. Der Mond schickt sein bleiches Licht und erhellt das Zimmer. Robert zieht sich die Bettdecke über den Kopf und überlegt, was in der letzten Zeit so alles auf ihn zugekommen ist. Dieser widerliche Reben wurde kaltgestellt, und jetzt hat Robert vom Amulett ein Zauberwort bekommen, das angeblich Menschen gefügig machen soll. Immer hat er sich ein dickes altes Buch vorgestellt, in dem uralte Zauberformeln verschlossen sind, die nur bestimmte Menschen lesen und anwenden dürfen. Jetzt hat er selbst so ein geheimnisvolles Wort bekommen: „remember“. Was wird das bringen, wird es wirklich wirken? Robert kuschelt sich unter sein Federbett. Diese Höhle gibt Robert immer ein sicheres Gefühl der Geborgenheit, jedes Mal gleitet er dann sanft ins Traumland.

Am Morgen sieht Robert den kleineren der beiden Männer aus der bewussten Etage ganz früh alleine wegfahren. Rasch fährt er mit dem Fahrstuhl nach unten in die Eingangshalle, überzeugt sich, dass niemand sonst in der Nähe ist, und drückt auf die Klingel der Wohnung im siebten Stock. Ungeduldig meldet sich eine Stimme in der Gegensprechanlage:

„Ja.“ „Post für Sie, kommen Sie runter!“, sagt Robert mit belegter Stimme. Jetzt hat er natürlich Angst. Er hat ganz nasse Hände vor Aufregung, und im Magen spürt er einen ziemlich großen Stein. Hoffentlich kommt jetzt kein anderer Hausbewohner dazu, er will den Mann alleine haben! Robert sieht, wie der Fahrstuhl nach unten kommt. Die Tür geht auf, und der größere der beiden Männer kommt heraus. Er schaut sich suchend um. Als er nur Robert sieht, zieht er seine Stirn in Falten und kommt sofort in seine Richtung.

„Hast du geläutet?“ fragt er barsch. Robert sagt schnell mit trockenem Mund: „Remember!“ und weicht ängstlich zurück. Wird es gelingen? Der Gesichtsausdruck des Großen verändert sich schlagartig. Freundlich und entspannt sagt er zu Robert: „Was kann ich für dich tun?“ Robert könnte schreien vor Begeisterung. Es funktioniert! Jetzt merkt er auch, dass er sich vor lauter Anspannung seine eigenen Fingernägel in den Handballen gekrallt hat.

„Komm mit mir in die Grünanlage hinter das Haus, da sind wir ungestört.“ Der Mann dreht sich willig um und folgt Robert durch den rückwärtigen Eingang, durch den sie direkt in die Grünanlage kommen.

„So, nun erzähl mir, wer du bist und was du hier tust.“

Bereitwillig beginnt der Mann zu reden: Sein Name ist Alexander, unter Seinesgleichen heißt er Sascha. Er ist 33 Jahre alt und stammt aus Kasachstan. In seinem Land hat er seinen Freund Igor kennen gelernt, der jetzt mit ihm im Hochhaus wohnt. Sie haben hier die Wohnung angemietet und erfüllen Aufträge für zwei Männer aus dem Iran. Das sind die zwei mit dem grünen Jaguar. Der Wortführer der beiden heißt Nosrath, den anderen hat er noch nie mit Namen angesprochen. Alexander weiß nur, dass die beiden Mitglieder einer Organisation sind, die an ihn und Igor Aufträge weitergeben. Der Sitz der Organisation ist in Frankfurt. Sie werden sehr gut bezahlt. Ihre Aufgabe ist es zurzeit, Mädchen, die vorwiegend aus Osteuropa und von den Philippinen eingeschmuggelt werden, zu übernehmen, einige Tage versteckt zu halten und dann, wenn die Luft rein ist, an die zwei Iraner weiterzugeben.

Sie wissen, dass sie viel riskieren, sie spielen praktisch den Puffer, denn wenn die Polizei etwas merkt oder wenn eines der Mädchen wegläuft und alles ausplaudert, haben sie beide sich strafbar gemacht und nicht die eigentliche Organisation. Die beiden Perser holen die Mädchen später ab und bringen sie weiter. Wohin, hat ihm noch keiner gesagt. Die Mädchen haben alle große Angst. Einige verstehen auch die deutsche Sprache nicht. Sie haben oft viel Geld bezahlt, dass sie nach Deutschland kommen dürfen. Das ist aber illegal. Sie werden eingeschmuggelt, und dann müssen sie sich einige Tage vor der Fremdenpolizei verstecken, sonst werden sie wieder ausgewiesen und müssen zurück, dahin, wo sie hergekommen sind.

Die Frankfurter Organisation verdient sehr viel Geld mit diesen Frauen, also müssen sie streng bewacht werden. Jedenfalls haben sie hier ein besseres Leben als dort, wo sie herkommen. Ganz freimütig erzählt Alexander, dass sie manchmal die Mädchen bestrafen müssen, wenn sie nicht gehorchen und widerspenstig sind. Die Mädchen werden aber relativ selten geschlagen oder gefesselt, nur wenn eine ganz und gar renitent sein sollte. Wenn die Frauen von den beiden Persern abgeholt worden sind, hören die beiden vom Hochhaus nie wieder etwas von ihnen.

Alexander berichtet auch, dass er und Igor höllische Angst davor haben, dass eines der Mädchen abhaut und sie bei der Polizei anzeigt. Sie würden dann von der Bande grausam bestraft werden, und das ist das Allerschlimmste. Immer wieder lesen sie in der Zeitung von unbekannten Toten. Robert fragt ihn, was er wohl denkt, wohin die Mädchen gebracht werden. Alexander sagt beiläufig, dass sie irgendwo in Ostdeutschland in verschiedenen Bordellen abgeliefert werden.

„Alexander, diese Frauen haben viel Schreckliches erlebt, mach es ihnen nicht noch schwerer! Sei freundlich zu ihnen und behandle sie gut. Sag das auch deinem Partner.“ Robert kann sich jetzt ungefähr denken, in welcher Gefahr er sich befindet, wenn er sich da einmischt. Ganz klar hat er schon von den verschiedenen Banden gehört und auch davon, wie grausam Leute, die stören, bestraft werden. Aber er ist voller Tatendrang und will helfen. Das kann nur über das Amulett gehen. Zum ersten Mal hat er „remember“ ausprobiert und ist restlos begeistert. Aber er ahnt, dass er damit alleine nicht allzu viel erreichen wird.

Es ist schon verblüffend, wie Alexander reagiert hat. Kein Widerstand, sofort hat er ihm alles vertrauensvoll erzählt. Nur, mit dem Wissen alleine wird sich nicht viel machen lassen. Robert hofft, dass er vom Amulett Hilfsmittel bekommen wird, die ihm helfen, aktiv eingreifen zu können und etwas zu verändern, mit einem Wort: zu helfen! Der Tag vergeht wieder viel zu langsam. Als es endlich so weit ist, geht Robert schnell ins Bett und freut sich schon darauf, dass das Amulett sich melden wird.

Robert und das Amulett

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