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Ruhestand

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Ich schüttete Schokopops in die blaue Müslischüssel. Das klang lustig. Einige dieser braunen Kugeln hopsten wieder heraus, hüpften und kullerten fröhlich über den hellen Holztisch. Zwei, drei besonders vorwitzige, süße Pops sprangen hinab auf den blau-weiß gemusterten Linoleumfußboden und verschwanden unter dem Küchenschrank. Auf Nimmerwiedersehen. Renates vorwurfsvolle Miene sagte mir, dass sie ganz gewiss nicht dort unten putzen würde.

Na und? Ich atmete den Duft des frisch gebrühten Kaffees ein. So liebte ich ihn – türkisch und stark. Jahrelang hatte Renate mir eingeredet, er könnte meinem Herzen schaden. Jetzt ruhte ihr Blick stumm auf mir. Das machte ihn zu einem besonderen Genuss.

„Weißt du, Renate, ich habe mir etwas überlegt“, begann ich kauend zu sprechen. Ich wusste, wie sehr sie meine Angewohnheit hasste, mit vollem Mund zu reden. Anders als sonst üblich, fiel sie mir aber nicht ins Wort.

„Ich werde den großen Flachbildfernseher kaufen. Siebzig Zoll ...“ Genießerisch ließ ich die letzten beiden Worte auf der Zunge zergehen und biss in eine Scheibe Weißbrot mit Orangenmarmelade. Gekaufte Orangenmarmelade! Das kam in Renates Augen einem Sakrileg gleich. „Wir haben den Keller voller selbst gemachter Erdbeer-, Kirsch- und Zwetschgenmarmelade“, hatte ich jedes Mal zu hören bekommen, wenn ich der herben Orangenmarmelade im Ladenregal auch nur einen sehnsüchtigen Blick geschenkt hatte.

„Siebzig Zoll“, wiederholte ich. „Das ist ganz großes Kino.“

Die jahrelange Gewohnheit veranlasste mich, erklärende Worte nachzuschieben. Zu rechtfertigen, zu beschwichtigen.

„Deine und meine Rente zusammen bringen jeden Monat mehr Geld aufs Konto, als wir zum Leben brauchen. Warum also nicht auf die alten Tage ein paar lang gehegte Wünsche erfüllen?“

Nun musste ich doch lachen. Es war ja nicht so, dass das Erfüllen der Wünsche heute erst begann. Nein, gerade gestern hatte ich mir den ferngesteuerten roten Ferrari gekauft. Ein Kinderspielzeug, von dem ich mein Leben lang geträumt hatte. Genau das war bisher Renates Meinung dazu gewesen – kindisch. Wie die Schokopops, die ich vorgestern statt Schwarzbrot zum Frühstück eingekauft hatte. Oder das Rolling Stones T-Shirt mit der Zunge von Mick Jagger. Ich hatte es am Montag im Schaufenster eines Ladens in der Altstadt entdeckt. Jetzt fiel ein Klacks Orangenmarmelade mitten auf Micks Zunge. Ich nahm den Löffel aus dem Glas, leckte ihn ab und stoppte damit den langsam tiefer rutschenden Marmeladenklecks. Den Kopf noch leicht gesenkt, ließ ich meinen Blick hinüber zu Renate wandern und konnte mir ein leises Lächeln nicht verkneifen.

Ihr tadelnder Blick traf den meinen, doch sie schwieg.

„Ach Renate“, sprach ich und spürte so etwas wie Rührung in meinem Herzen. „Du bist und bleibst die einzige Frau in meinem Leben.“ Ich sah ihr tief in die Augen. Ja, sie gefiel mir, meine Renate. Heute mehr denn je zuvor. So konnte ich mir einen leisen Vorwurf nicht verkneifen: „Warum konntest du nicht einfach schon früher mal den Mund halten?“

Das Frühstück mit Renate war in fast fünfzig Jahren Ehe zu einem Ritual geworden, das ich nicht mehr missen mochte. Gemeinsam in den Morgen starten, den Tag planen und besprechen, wie es sich für gute Eheleute ziemt. Wobei, wenn ich ehrlich war, hatte in der Vergangenheit meist Renate gesprochen und stets gehorsames Nicken von mir erwartet. Tu dies, vergiss jenes nicht usw. Ansonsten hatte sie mich nicht nur mit vorwurfsvollen Blicken, sondern auch endlosen, nur von Seufzern unterbrochenen, Belehrungen gestraft. Vor allem beim Frühstück. Und auch den Tag über, wann immer sie meine Ohren in Reichweite ihrer schrillen Stimme wähnte. Also immer. Denn in unserem kleinen, gemeinsam geführten Lebensmittelladen gab es für mich kein Entkommen. Vor drei Monaten hatten wir das Geschäft aufgegeben. Wir waren beide über siebzig. Zuletzt hatten sich kaum noch Kunden in unseren Laden verirrt. Zumindest keine, die jünger als wir waren und mehr als ein Stückchen Butter oder ein Päckchen Kaffee kaufen wollten. Und das auch nur, weil sie es im Supermarkt vergessen hatten. Ruhestand nannte man den Zustand, in dem wir uns danach befanden. Wenn Renate doch nur endlich Ruhe gegeben hätte. Stattdessen monierte sie, wie in den Jahrzehnten zuvor, dass mir mein Frühstücksei wohl nicht schmeckte, wenn ich es nicht als Erstes aß. „Erst Herzhaftes auf Vollkornbrot, dann Süßes auf Weißbrot, Bodo“, hatte sie mich immer wieder kopfschüttelnd getadelt, wenn ich mich über diese von ihr aufgestellte Regel hinwegsetzte.

Daher hatte ich vor einer Woche einen Entschluss gefasst und direkt in die Tat umgesetzt. Seitdem sprach Renate nicht mehr mit mir. Jetzt erst empfand ich mein Leben als wahren, glückselig machenden Ruhestand. Und nicht nur das.

Unser gemeinsames Frühstück war geblieben. Der Rest des Tages aber gehörte mir allein.

Mit dem Rücken der linken Hand wischte ich ein paar Weißbrotkrümel von meiner Hose und erhob mich. Mit der Rechten tätschelte ich Renate die blasse Wange.

„Nun komm schon, meine Liebe, sonst fängst du noch an zu tropfen“, redete ich ihr gut zu. Plopp-plopp, löste mein Fuß die Blockade der Räder. Langsam schob ich Renate in ihrem Rollstuhl aus der Küche und über den Flur. Weiter durch das ehemalige Ladengeschäft hindurch, vorbei an der leeren Kühltheke und den nackten Borden an der Wand. Ich öffnete die schwere Edelstahltür des Tiefkühlraumes. Eisige Kälte schlug mir ins Gesicht. Mit Schwung lenkte ich den Rollstuhl hinein, in die Mitte des ansonsten leeren Raumes.

„Tschüss Renate, bis morgen.“ Fröhlich winkend verabschiedete ich mich von meiner Frau. Morgen würden wir wieder gemeinsam frühstücken. Für heute traf mich zum letzten Mal der stumme Vorwurf, der unauslöschlich in ihrem Gesicht eingefroren war.

Nach(t)Klang

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