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Ausweglos

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1

Pia erwachte. Es war stockdunkel, ihre Zunge fühlte sich trocken und pelzig an. Sie musste unbedingt einen Schluck Wasser trinken. Pia drehte sich, um zum Nachtschrank hinüberzulangen. Genauer gesagt, versuchte sie es.

Rumms … stieß sie sich den Kopf. Sie stöhnte leise, hinter ihrer Stirn pochte es. Sie wollte mit der Hand nach der schmerzenden Stelle am Kopf tasten und stieß auch dabei auf ein Hindernis.

„Jakob?“

Der Ruf klang seltsam dumpf. Angst kam in ihr hoch. Nein, sie lag nicht in ihrem Bett, nicht neben ihrem Mann. Wo war sie? Vorsichtig streckte sie die Arme aus, nur, um kurz darauf an beiden Seiten an eine Barriere zu stoßen. Was war das? Links, rechts – wie eingemauert! Ihr Atem ging schneller, die Angst wurde zur Panik. Pias Hände tasteten weiter. Über ihr und neben ihr waren nur wenige Zentimeter Raum. Sie fühlte Holz. Bitte, bitte, ich will aufwachen!

Pia tastete ihren Körper ab. Sie trug ihre Unterwäsche, darüber die dreiviertellange Jeans und ein T-Shirt. Sie bewegte ihre Zehen. Ihre Füße waren nackt. Wo waren ihre Schuhe? Wo WAR SIE?

„Hallo?!“

Der dumpfe Klang ihrer eigenen Stimme verstärkte ihre Panik. Pia schlug mit der flachen Hand auf das Holz.

Nichts geschah. Sie schlug noch einmal. Es klang dumpf, wie Stein.

„Scheiße!“

Wut mischte sich mit ihrer Angst.

„Neiiiiin!“

Pia setzte auch ihre Beine ein. Trampelte wie wild und stieß doch nur mit Knien und Füßen gegen Holz. Das tat weh, und es brachte gar nichts, außer Schmerzen.

Tränen rannen ihr übers Gesicht. Was, wenn ich hier nie wieder herauskomme?

Heftige Schluchzer schüttelten sie.

Ein plötzlicher Gedanke ließ Pia jäh innehalten.

Was, wenn mir die Luft ausgeht? Muss ich dann jämmerlich ersticken?

Sie zwang ihren Atemzügen einen ruhigen gleichmäßigen Rhythmus auf. Ein … aus … ein … aus …

Ein letzter Schluchzer wirkte wie ein Schalter, den sie in ihrem Kopf umlegte.

Denk logisch!, befahl sie sich.

Die erste Frage lautete: Wo bin ich?

Auch wenn sie nichts sehen konnte, lag die Antwort klar auf der Hand. Über ihr, unter ihr und neben ihr war Holz. Sie befand sich in einem Sarg!

Bilder aus Gruselgeschichten und Horrorfilmen flammten in ihrem Kopf auf. Lebendig begraben! Nein, so etwas passiert nicht im wirklichen Leben. Nicht ihr, Pia Claas. Sie trommelte mit Händen und Füßen gegen die hölzernen Wände ihres Gefängnisses.

„Ich will hier raus!“

Nichts passierte.

Ruhig. Bleib ruhig, befahl sie sich selbst und schluckte schwer.

Pias Finger und Zehen wanderten, die Kiste genauer zu erkunden. Sie tastete das Holz zentimeterweise ab. Direkt neben ihrem Kopf gab es eine Vertiefung. Quadratisch, vielleicht zehn mal zehn Zentimeter. Hier klang es anders, irgendwie hohl. Gab es nicht sogar einen Millimeter nach, wenn sie dagegen drückte? Vielleicht war es eine Art Klappe, die sie öffnen konnte? Pia presste ihre Finger mit aller Kraft dagegen.

Nichts geschah.

Verdammt! Sie schlug mit aller Kraft gegen das Holz. Nun pulsierten ihre Handflächen vor Schmerz. Sie lauschte, hielt den Atem an. Nichts. Geräuschlose Schwärze umgab sie. Was, wenn sie sich metertief unter der Erde befand, wo niemand sie hören konnte? Pias Atem beschleunigte sich.

Sie hatte Durst. Und sie musste pinkeln.

Pia versuchte sich zu erinnern, was sie als Letztes getan hatte, bevor sie hier zu sich gekommen war.

Nach einem heftigen Streit mit ihrem Mann Jakob hatte sie fluchtartig das Haus verlassen. Sie war zu René, ihrem Geliebten gegangen. Seine starken Arme hatten ihr Trost und Halt gegeben. Und danach?

Tag oder Nacht? Pia wusste es nicht.

Pia zitterte am ganzen Körper. Das Atmen fiel ihr immer schwerer, die Luft, die in ihre Lungen strömte, fühlte sich heiß und verbraucht an. Der Druck in ihrem Bauch wurde unerträglich. Sie hielt es nicht länger aus, sie musste dem Drängen nachgeben.

Jetzt.

Ihre Jeans wurde nass. Die Feuchtigkeit zog die Beine hinab und den Rücken hinauf. Sie hörte ein Kichern und brauchte einen Moment, um zu kapieren, dass es aus ihrem Mund kam. Das Gekicher wuchs zu einem irren Lachen. Eingepisst und irre. Soweit ist es also mit mir.

Ein Geräusch neben ihrem Kopf ließ sie verstummen. Da war etwas. Oder jemand. Im nächsten Augenblick spürte sie einen Hauch, einen Luftzug. Frische, unverbrauchte Atemluft strömte herein. Jemand hatte die kleine Klappe neben ihrem Kopf geöffnet.

2

Verlegen blickte der Mann sich um, als Polizeiobermeister Krengel ihn bat, Platz zu nehmen.

„Was kann ich für Sie tun?“

„Ich heiße Claas. Jakob Claas. Ich möchte meine Frau Pia als vermisst melden.“

„Seit wann ist sie denn verschwunden?“

Claas wurde noch verlegener.

„Seit vorgestern Abend. Ungefähr.“

Krengel runzelte die Stirn.

„Ungefähr?“

„Na ja, sie geht mittwochs immer gegen sechzehn Uhr ins Fitnessstudio. Und kommt gegen zweiundzwanzig, manchmal auch dreiundzwanzig Uhr wieder nach Hause.“

„Ihre Frau ist sehr sportlich?“ Krengel notierte etwas auf einem kleinen, karierten Block.

„Ja, schon. Sie geht immer noch in die Sauna hinterher.“

Krengel nickte und sah Claas direkt ins Gesicht.

„Vorgestern kam Ihre Frau nicht nach Hause. Und nun wissen Sie nicht, ob sie vor oder nach dem Fitnessstudio verschwand, richtig?“

Claas schüttelte den Kopf.

„Ich kam Mittwoch erst gegen Mitternacht nach Hause. Pia war nicht da.“ Er stöhnte leise. „Ich hab seitdem nicht geschlafen. Versuchte vergebens, sie auf dem Handy zu erreichen.“

Krengel stellte noch weitere Fragen und ließ sich ein Foto von Pia Claas geben.

Zum Abschied schüttelte er seinem Besucher die Hand.

„Wir tun unser Möglichstes, um Ihre Frau zu finden, das verspreche ich Ihnen.“

„Ja, finden Sie sie!“ Claas sah Krengel beschwörend in die Augen. Dann verließ er den Raum.

3

Pia drehte den Kopf, brachte ihren Mund dichter an die offene Klappe und atmete gierig die Frischluft ein. Der schwache Lichtschein hinter der Öffnung ließ Hoffnung in ihr aufkeimen. Sie zwängte ihre Hand durch die Öffnung und fühlte kühlen, glatten Beton. Ein kleiner Schacht schien senkrecht nach oben zu führen.

„Hallo?!“ Ihre Stimme krächzte. Was gäbe sie jetzt für einen Schluck kühlen Wassers!

„Hallo?! Ist da jemand? Ich bin hier!“

Nichts.

„Hallo! Bitte helfen Sie mir!“

Pia hämmerte mit den Fäusten gegen das Holz über ihrem Kopf, trampelte mit den Füßen und schrie immer lauter:

„Hilfe! Hiiiilfeeee!“

Ihre Schreie gingen mehr und mehr in Weinen über. Warum hörte sie denn niemand.

Da spürte sie etwas. Eine fast zärtliche Berührung, ein Streicheln an ihrer Stirn, die der Öffnung im Holz zugewandt war. Für einen winzigen Augenblick wollte Pia sich der Berührung hingeben, in ihr Trost finden. Aber dann ... Sie schrie. Lauter und irrer als zuvor. Gleichzeitig wurde die Öffnung von außen wieder verschlossen. Es klang, als würde ein Riegel vorgeschoben. Erneut war Pia von absoluter Finsternis umgeben, die langsam auch ihren Verstand in Besitz nahm.

4

Krengel stapfte die Treppe des Mehrfamilienhauses empor. Kaum hatte er die Klingel im dritten Stock betätigt, wurde die Wohnungstür von innen aufgerissen.

„Haben Sie sie gefunden?“ Jakob war ganz außer Atem.

„Darf ich reinkommen?“, fragte Krengel.

„Aber sicher.“ Jakob bat den Polizisten mit zitternden Händen herein. Er war unrasiert. Sein Hemd hatte Schweißflecken unter den Achseln.

„Herr Claas“, begann Krengel. Misstrauen lag in seiner Stimme.

„Sie haben mir heute früh nicht die Wahrheit gesagt.“

Jakob räusperte sich.

„Wie meinen Sie das?“

„Ihre Nachbarin sah Sie am frühen Mittwochnachmittag nach Hause kommen.“

Jakob schluckte, sah zu Boden.

„Herr Claas, warum haben Sie mich angelogen? Weil es Streit gab, lautstark, wie Ihre Nachbarin behauptet?“

Jakob schüttelte den Kopf.

„Sie glauben doch nicht, ich hätte Pia etwas angetan?“

„Ich glaube erst einmal gar nichts. Vor allem nicht Ihre Lüge von heute Morgen.“ Krengel hatte Mühe, seinen Zorn zu unterdrücken.

„Was ist am Mittwoch passiert?“

Jakob blickte dem Polizisten nun direkt in die Augen.

„Pia hat einen anderen.“

Jetzt war es offiziell gesagt und damit wahr.

„Ich kam nach Hause, weil ich ein paar Unterlagen vergessen hatte. Pia hörte mich nicht kommen und so wurde ich unfreiwilliger Zeuge ihres Telefonats. Es war eindeutig, dass sie mit einem Mann sprach, mit dem sie ...“, Jakob sucht nach den passenden Worten, „... nun ja, intime Geheimnisse verbanden.“

Krengel nickte stumm und schrieb etwas auf seinen Block, den er aus der Tasche des Jacketts gezogen hatte.

„Wir sind seit zehn Jahren verheiratet, kinderlos. In der Bank bin ich letztes Jahr aufgestiegen, verdiene nun richtig gutes Geld. Pia und ich teilten von Anfang an den Traum vom eigenen Haus. Und ausgerechnet jetzt, wo wir dabei sind, ihn zu erfüllen, vögelt sie mit einem anderen?“

Jakob lief unruhig im Zimmer hin und her und fügte verbittert hinzu:

„Pia wollte mir nicht sagen, wer es ist. Ich stellte sie vor die Wahl, sich zu entscheiden. Er oder ich. Dann fuhr ich zurück ins Büro. Den Rest kennen Sie.“

„Sie haben Ihre Frau also seit Mittwochnachmittag wirklich nicht mehr gesehen?“

Jakob schüttelte den Kopf.

„Okay. Klingt ganz so, als habe Ihre Frau beschlossen, nicht mehr hier zu wohnen. Irgendwann wird sie sicher ihre Sachen holen.“

Krengel packte seinen Notizblock wieder ein. Er war sauer und zeigte dies auch offen.

„Wenn Sie in drei Tagen noch immer nichts von ihr gehört haben, rufen Sie mich an.“

Schnaufend begab er sich zur Tür.

5

Ihr eigenes Kreischen erfüllte Pias Kopf. Ein heftiger Schmerz. Aus dem Kreischen wurde ein Brüllen.

Etwas hat mich gebissen!, heulte sie. Ihre Wut wuchs. Sie trat und stampfte, schlug mit den Händen. Stieß dabei immer wieder ans Holz. Etwas kroch über ihren Bauch, sie packte mit beiden Händen zu. Spitze Zähne schlugen sich in ihren Daumen. Pia heulte erneut auf, noch wütender.

Ungeahnte Kräfte wurden in ihr freigesetzt. Pia drückte und drehte, was sie festhielt, ignorierte das Zappeln und auch den Schmerz, den die spitzen Zähne ihr wieder und wieder zufügten, während sie sich in ihrem Daumen verbissen. Endlich, nach mehreren knackenden Geräuschen, erstarb die Bewegung, das fellige Etwas in ihren Händen wurde schlaff. Es war vorbei. Die Ratte war tot.

In diesem Moment war Pia beinahe dankbar für die Dunkelheit, die sie umgab und ihr den Anblick auf das tote Tier ersparte, das jetzt neben ihrem rechten Knie lag. Pia schluchzte. Ihr Daumen tat höllisch weh, sie spürte das Blut heruntertropfen. .

Sie führte die wunde Hand zum Mund und saugte ihr eigenes Blut . Ihre ausgetrocknete Kehle schrie MEHR!, und so biss und kaute sie auf ihrem zerfetzten Daumen herum, genoss jeden einzelnen Tropfen ihres warmen Lebenssaftes wie einen Schluck köstlichen, kühlen Quellwassers.

Ein Glücksgefühl wie nach einem hart erkämpften Sieg durchströmte sie. In diesem Moment verspürte sie einen stechenden Schmerz in der linken Wade.

Es war noch nicht vorbei! Instinktiv schnellte Pias rechte Hand neben ihr Knie und zuckte angeekelt zurück. Der Kadaver der Ratte lag immer noch dort. Es musste eine zweite Ratte hier sein. Pia schrie, tobte, trampelte und schlug um sich. Sie kreischte, als kleine, krallenbesetzte Füße über ihre nackten Waden huschten. Spürte den langen, nackten Schwanz, der den Füßen folgte. Immer wilder strampelte sie, stieß dabei schmerzhaft mit dem Kopf gegen das Holz, konnte die Ratte aber nicht erwischen.

„Verdammt!“ Nein, sie wollte das nicht mehr. Nicht mehr schreien, nicht mehr kämpfen. Sie wollte raus aus dieser Dunkelheit, aus dem Geruch nach Pisse und Blut. Wollte nach Hause, zu ihrer weißen Couch, den Blumen auf dem Fensterbrett, die im Licht der Abendsonne leuchteten.

„Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ Mit jedem heftig herausgepressten Fluch stampfte Pia, so kräftig sie nur konnte, gegen das Holz zu ihren Füßen. Es war ihr egal, dass sie sich dabei die Knie aufschlug, Blut nun auch ihre Jeans tränkte. Beim dritten Verdammt spürte sie etwas Weiches unter ihren Füßen. Hatte sie das Vieh tatsächlich erwischt? Wie irre trampelte Pia nun, immer und immer wieder auf das Fellbündel, das ihre nackten Füße spüren konnten. Es bewegte sich längst nicht mehr, doch sie trat weiter und weiter … bis sie das Gefühl hatte, kein Tier, sondern einen unförmigen Lappen zu treten. Jetzt hörte sie auf, schwer atmend und zitternd vor Wut und Erregung. Ruhig, ganz ruhig, redete sie sich selbst gut zu. Doch es gelang ihr nicht, ihre Atemfrequenz herunterzufahren. Pia brauchte eine Weile, bis ihr der Grund dafür einfiel – natürlich, die Atemluft hier drinnen war verbraucht.

Jemand hatte die Klappe geschlossen. Und die Ratten hier hereingesetzt.

Wer hasst mich so? Wer hat die Macht, mir das anzutun?

„Hilfe! Ich will hier raus!“

Salzige Tränen rannen über ihre Wangen, vermischten sich mit dem Blut auf den Händen, an denen sie zwischen ihren Schreien immer wieder kaute und sog. Der Schmerz hielt sie wach, denn sie spürte Schwindel in sich aufkommen, hatte Angst, das Bewusstsein zu verlieren und in ewiger Nacht zu versinken.

Pia schniefte.

Ihr Schluchzen ging in ein Wimmern über. Ihr Atmen war nur noch ein Keuchen. Pia spürte, wie sie kraftloser wurde, ihr Bewusstsein schwand und ihr Hirn stattdessen tröstende Bilder vorgaukelte.

Ein Wald, in dem die Vögel zwitscherten.

Das Rauschen des Meeres.

Vor allem aber Sonne. Licht.

Es sollte nicht für immer Nacht sein.

Pia erwachte aus einem traumlosen Schlaf. Unter größter Anstrengung gelang es ihr, die Augen einen Spaltbreit zu öffnen. Da war wieder dieser schwache Lichtschein. Jemand hatte die Klappe erneut geöffnet. Sie konnte frei atmen. Eine vertraute Stimme sprach zu ihr:

6

„Hallo Pia, wie fühlst du dich?

Lachen erklang.

„Du sagst ja gar nichts? Hatte dein k.o-Tropfen-Kater Spaß mit den beiden Ratten?“

Er kniete nieder, sodass sein Kopf dicht über dem kleinen Schacht im Boden war.

Die Bodenplatte war längst ausgehärtet. Nur noch über diesen Zugang ließ sich die Klappe an der Seite der Holzkiste erreichen.

„Weißt du Pia, alles wäre anders gekommen, wenn du bescheidener gewesen wärst. Aber du konntest ja nicht genug kriegen. Dein Ehemann sollte dir dein Traumhaus bezahlen. Ich sollte es nicht nur bauen, sondern dir auch noch jeden Mittwoch deine Langeweile wegficken.“

Seine Hand zog einen Mörteleimer heran.

„Pia, Pia. Du hast dich für ihn und gegen mich entschieden. Ich akzeptiere das. Da hast du dein Haus! Liege deinem Mann ewig zu Füßen!“

René beugte sich noch tiefer hinab. Zuerst schloss er sorgfältig die kleine Holzklappe. Dann füllte er das Loch in der Bodenplatte mit Beton.

„Gute Nacht, Pia.“

Ihre Schreie hörte er nicht mehr.

Nach(t)Klang

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