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Kapitel 3

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In den ersten Wochen nach Bens Geburt sah ich ihn nicht so oft. Dafür las ich ungefähr 23 Bücher über Kindererziehung und wusste am Ende weniger als vorher. Von „man kann im Grunde nichts falsch machen, solange man seine Kinder liebt“ bis hin zu „die ersten Erfahrungen prägen ein Kind ein Leben lang (will sagen: können das Kind für immer versauen)“ war im Grunde genommen alles abgedeckt. Mit jedem Buch, das ich abends zuklappte, stieg meine Unsicherheit und Verwirrung.

Deswegen war ich nicht böse, dass mein Angebot, auch mal auszuhelfen, nicht angenommen wurde. Die beiden Mütter meinten, sie kriegten das alles alleine hin, ich solle lieber Alba in der Firma vertreten. Wenn Alba doch mal in die Firma musste, weil es da einfach zu viele Dinge gab, von denen ich nichts verstand, dann blieb ihre Mutter, Tante Agnes, bei Rana. Außerdem schickte ich meine Putzfrau zwei Mal pro Woche hin, um die Wäsche zu machen und die Wohnung in Schuss zu halten. Soweit hatte Rana also eigentlich eine absolute Luxus-Zeit, um die sie der Rest der jungen Mütter im Land beneiden würde.

Trotzdem schien sie nicht gut drauf, wenn ich mal vorbeischaute. Sie aß ohne Appetit, war immer müde, und schwankte zwischen Interesselosigkeit an ihrer Umwelt und übertriebener Sorge um Ben hin und her. Eines Abends nahm Alba mich zur Seite und erzählte mir, dass sie befürchte, dass Rana an einer postnatalen Depression leide.

„Einer post-was Depression?“

„Na ja, so eine Kindbettdepression. Das haben ganz viele Frauen. Nach der Geburt spielen die Hormone verrückt, man ist hypersensibel und es kann auch passieren, dass die Frauen eine richtige Depression kriegen.“

„Echt? Und was kann man dagegen tun?“

„Ich weiß nicht. Abwarten, versuchen, den Stress zu mindern. Ich dachte, vielleicht könnten wir sie ablenken.“

Ich nickte bedächtig, ahnte aber schon, dass Alba einen besonderen Plan hatte, und dass ich den Plan nicht mögen würde.

„Sie vermisst ihren Job.“

Rana war Moderatorin beim RBB. Früher war sie Journalistin für eine Wochenzeitschrift gewesen, hatte diesen Job aber vor ein paar Monaten ausgetauscht gegen die Stelle beim Fernsehen. Sie war auch sehr gut in ihrem Job, das musste man ihr lassen. Sie sah klasse aus, hatte eine sympathische Art und brachte Menschen dazu, ihr Innerstes nach außen zu kehren.

„Ja, aber sie hat doch Mutterschutz. Und wer würde sich denn dann um das Kind kümmern? Ben braucht sie doch.“

„Sie soll ja auch gar nicht arbeiten. Aber in einem Monat findet ein Probelauf für die Fußballweltmeisterschaft in Brasilien statt, und sie ist eine von zehn deutschen Journalisten, die eingeladen wurden. Das würde ihr so einen Spaß machen, ich bin mir sicher, sie würde wieder aufleben.“

„Hm. Mag ja sein. Dann muss Ben halt ein paar Tage ohne sie auskommen. Das wirst du schon schaffen! Ich helfe dir gerne mit Ben während der Zeit.“

„Ja, genau darum wollte ich dich bitten. Ich würde nämlich gerne mitfliegen.“

„Hä?“

„Ich bin mir einfach nicht sicher, ob sie das durchhält. Es könnte auch nach hinten losgehen. Dass ihr das doch zu viel Stress ist, und dann möchte ich einfach da sein, um sie aufzufangen. Verstehst du?“

Langsam dämmerte es mir. „Du willst, dass ich während der Zeit Ben nehme?“

Alba nickte.

„Aber ich habe ihm noch nicht mal eine Windel gewechselt. Und gefüttert auch noch nie. Wie soll er denn überhaupt ohne Ranas Milch auskommen? Und wie lange soll das sein?“

„Pass auf. Ich dachte mir das so: Du nimmst ihn heute Abend zu dir nach Hause. Rana pumpt immer etwas Milch ab, damit ich Ben auch füttern kann. Wir geben dir genügend Flaschen mit. Ich lade Rana ein zu einem romantischen Abend zu zweit, mit essen gehen, Kino und so weiter. Dann bringst du ihn morgen früh wieder her und erzählst, wie toll alles gelaufen ist. Und dann werde ich im Lauf der nächsten Tage Rana darauf bringen, dass du ihn ja eigentlich auch mal länger nehmen könntest. Und ihr die Reise nach Rio vorschlagen. Es wären nur 5 Tage. Und du könntest in der Zeit mit Ben Urlaub machen. In so einem Ferienclub für Familien. Da hättest du jede Menge Unterstützung. Cluburlaub magst du doch gerne, oder?“

„Und Rana weiß nichts von diesem Plan?“

„Nein, soll sie auch nicht. Sie will ja Ben keine Minute aus den Augen lassen. Wenn ich sie jetzt fragen würde, wäre ihre Antwort auf jeden Fall negativ.“

„Hm.“ Ich überlegte. Bis vor wenigen Wochen hatte ich noch nie in meinem Leben ein Baby auf dem Arm gehabt. Ich wusste überhaupt nicht, ob Ben eine Nacht mit mir überstehen würde. Oder ob ich eine Nacht mit ihm überstehen würde. Und überhaupt fand ich die Idee, dass Rana und Alba so weit weg fliegen wollten, überhaupt nicht gut.

„Mattes, nimm ihn doch einfach mal eine Nacht. Und morgen früh sehen wir weiter. Wenn es gar nicht geht, rufst du an, und wir holen ihn ab. Was sagst du?“

Ich hasste es, so überrumpelt zu werden. Natürlich wollte ich mich auch mal um Ben kümmern. Nur hatte ich mir das anders vorgestellt: wie ich ihm die Elefanten im Zoo zeige, wie ich ihm helfe, Fahrrad fahren zu lernen, wie ich ihn mal von der Schule abhole. Nichts davon würde sich diese Nacht umsetzen lassen.

In dem Moment kam Rana ins Wohnzimmer, Ben auf dem Arm. Er hatte seinen Kopf an ihren Hals gelegt und schien zu schlafen. „Er hat gegessen und ist frisch gewickelt. Alba, nimmst du ihn mal. Ich muss mich mal hinlegen.“

„Warum legst du ihn nicht zum Schlafen hin?“ Das schien mir eine ganz vernünftige Frage, aber Rana guckte mich verächtlich an. Sie sah nicht gut aus, total übermüdet, stumpfe Haare, Milchreste auf ihrem T-Shirt. „Weil er dann sofort wieder aufwacht und schreit.“

Alba war gerade dabei, Rana den Kleinen abzunehmen. Der wachte auch wirklich kurz auf, gab einen Rülpser von sich, und legte dann seinen Kopf an Albas Hals. Rana sank seufzend aufs Sofa. „Mann, ich könnte jetzt hier sofort einschlafen. Aber wenn ich mich ins Bett lege, bin ich auf einmal hellwach.“

Alba guckte mich bittend an. Ich räusperte mich. „Sag mal, wollt ihr beiden nicht mal einen Abend ausspannen? Ich würde Ben gerne auch mal betreuen. Ich könnte ihn mit nach Hause nehmen und ihr hättet den ganzen Abend frei.“

Sehr überzeugend klang ich wahrscheinlich nicht, denn Rana reagierte nur mit einem spöttischen Schnauben. Doch schnell hakte Alba nach. „Das ist gar keine schlechte Idee. Wir könnten wirklich mal einen Abend für uns gebrauchen. Rana, du hast doch selbst gesagt, wir bräuchten einen Babysitter. Und Mattes soll ja schließlich eine Beziehung zu Ben aufbauen, das wäre doch eine super Gelegenheit.“

Rana machte eines ihrer Augen auf, um zu sehen, ob ich noch da war. „Ja, aber doch nicht jetzt. Ben ist noch viel zu klein. Und Mattes hatte ihn ja noch nie länger als eine Stunde. Was, wenn Ben nachts schreit und Mattes schläft so tief, dass er ihn nicht hört. Nee, lasst mal. In ein paar Wochen vielleicht.“

„Rana, jetzt hör mir gut zu. Du musst dich mal ausspannen. Mattes wird nichts falsch machen mit Ben. Ich möchte mit dir einen schönen Abend verbringen, und morgen früh bringt Mattes ihn uns wieder.“

Jetzt hatte Rana beide Augen auf. „Ich muss mich nicht ausspannen. Ich muss nur mal schlafen. Wenn ich nicht weiß, wie es Ben geht, dann kann ich sowieso nicht entspannen.“

Ben selbst meldete sich jetzt auch zu Wort, und zwar mit einem lauten Schrei. Rana sprang auf, riss ihn Alba aus dem Arm und drückte ihn fest an sich. Dabei rannen ihr die Tränen übers Gesicht. Ben beruhigte das nicht. Oh Mann, das lief ja wirklich nicht sehr rund. Am liebsten hätte ich mich jetzt leise aus dem Staub gemacht, aber Alba hatte Ben inzwischen wieder an sich genommen und drückte mir das schreiende Kind in den Arm. „Geh mal ein bisschen mit ihm auf und ab, ich muss mit Rana reden.“ Und damit schubste sie mich aus dem Wohnzimmer.

Vom Wohnzimmer zur Küche waren es sechs Schritte. Von der Küche zum Kinderzimmer waren es zehn Schritte. Nicht viel Freilauf, aber Ben schien den kleinen Spaziergang trotzdem zu genießen. Er beruhigte sich sehr schnell und war schon nach fünf Minuten wieder eingeschlafen. Nach zehn Minuten durfte ich wieder ins Wohnzimmer. Rana hatte ihr Einverständnis gegeben, dass ich Ben über Nacht mit nach Hause nehmen durfte. Sie ging mit mir zum Auto, holte den Kindersitz aus ihrem Wagen und half mir, Ben anzuschnallen. Währenddessen gab sie mir noch einige Ratschläge:

„Fahr vorsichtig. Und denk dran, immer sein Köpfchen zu halten. Nach dem Füttern muss er Bäuerchen machen. Und die Windel gewechselt kriegen. Die Milch muss lauwarm sein. Nicht zu heiß, sonst verbrüht er sich. Und trink keinen Alkohol. Leg ihn nicht auf den Bauch, sonst kann er am Plötzlichen Kindstod sterben. Wenn irgendwas ist, ruf den Kindernotdienst an. Hast du die Nummer? Warte, ich hol sie dir.“

Doch glücklicherweise kam in dem Moment Alba raus mit sechs Taschen: einem Reisebett, einer Wickeltasche mit Windeln und Feuchttüchern, einer Kühltasche mit den fertigen Fläschchen, die zu Hause gleich in den Kühlschrank sollten, einer weiteren Tasche mit dem Flaschenwärmer, Kuscheldecke und Babyphone, einer Reisetasche mit Ersatzwäsche und schließlich ein Beutel mit Spielzeug, Teddybär und Einschlafuhr.

„Babywanne brauchst du ja nicht für eine Nacht. Aber den Kinderwagen. Oder hättest du lieber das Tragetuch?“

„Äh, keins von beiden. Es sei denn, ihr habt einen Anhänger.“ Jetzt verstand ich, warum Familienautos die Ausmaße von Lieferwagen hatten.

„Sehr witzig. Hier ist noch die Liste, da steht genau drauf, wann Ben seine Flasche kriegt, und wann er schläft. Also viel Spaß mit ihm, ruf an, wenn was ist, aber ich hoffe, du musst nicht anrufen.“

„Doch!“ warf Rana ein. „Ruf auf jeden Fall an. Am besten jede Stunde. Oder schick zumindest eine SMS.“ Alba stand hinter Rana und schüttelte von ihr unbemerkt heftig mit dem Kopf.

„Klar, mach ich.“ Und dann drückte ich aufs Gaspedal und brauste davon.



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