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Kapitel 6
ОглавлениеDie Fahrt dauerte dann doch länger als zwei Stunden, weil Ben auf halber Strecke aufwachte. Und da ich ja kein Flugzeug kriegen musste oder sonst wie Zeitdruck hatte, konnte ich bequem auf dem nächsten Rastplatz anhalten. Es war alles schon Routine: Wickeltasche über die Schulter, Thermo-Tasche mit der warmen Flasche in die Wickeltasche gestopft, und das schreiende Kind auf den freien Arm genommen. Bei MacD war noch ein Tischchen frei und ich breitete die Utensilien aus: Flasche mit warmer Milch, Latz, Spucktuch, Tempos. Beim Anblick der Flasche beruhigte sich Ben bereits und machte vor Vorfreude wohlig schmatzende Geräusche. Er war ein Meister im Flaschentrinken und brauchte keine zehn Minuten für eine volle Flasche. Diese kurze Zeitspanne nutzten allerdings mehrere Frauen, sich Ben genau anzusehen und Kommentare zu geben, die von „Ach wie süß“ über „Der ist ja noch ganz klein!“ bis hin zu „Schade, dass es solche Väter wie Sie nicht öfter gibt!“ reichten. Während ich noch so dasaß und Ben zuguckte, wie er die letzten Tropfen aus der Flasche saugte, kam mir die Erleuchtung: Ich könnte Ben benutzen, um mit Frauen ins Gespräch zu kommen! Anscheinend flogen die auf Männer mit Kindern.
Vorsichtig begann ich mich umzuschauen. Richtig, da drüber saß eine Frau und grinste mich an. Allerdings sah der Typ, der neben ihr saß, nicht so amüsiert aus. Drei Tische weiter saßen zwei junge Frauen und schauten zu mir rüber. Ich lächelte. Sie lächelten zurück. Ben rülpste. Mist, das Spucktuch war verrutscht und jetzt hatte ich einen Milchflecken auf meiner Jacke. Egal, ich kramte ein Feuchttuch hervor und rieb den Fleck in den Stoff rein. Die zwei Frauen waren mit dem Essen fertig und kamen an meinem Tisch vorbei. Die erste lächelte, ging aber glatt an mir vorbei. Die zweite jedoch – victory! – blieb stehen.
„Wo ist denn die Mama?“
„Hä?“
„Na, ihre Frau! Lässt die Sie so alleine mit dem Baby verreisen?“
Verdammt, daran hatte ich nicht gedacht. Natürlich würden alle Frauen denken, ich sei in festen Händen. Vorwurfsvoll guckte ich meinen Sohn an: Er würde mir wohl doch nicht helfen können, irgendwo zu landen.
„Ich bin alleinerziehend.“
„Echt, jetzt?“ Einen Moment lang schien die Frau nach Worten zu suchen, die aber nicht kommen wollten. Schließlich murmelte sie nur „Ja dann viel Glück“ und lief ihrer Freundin hinterher.
Die anderen Gäste an den Tischen hatten unsere kurze Unterhaltung verfolgt und guckten allesamt angestrengt nicht länger in meine Richtung. Was war jetzt? Ben war doch so süß! Na ja, egal. Ich hatte Hunger und bemerkte erst jetzt, dass es keine gute Idee gewesen war, Ben auf dem Arm in die Raststätte zu bringen. Ich wollte ja auch was essen, und wo sollte ich Ben hinstecken, wenn ich keinen Kinderwagen dabei hatte? Also bestellte ich mir nur einen Hamburger, wickelte ihn einhändig aus und stopfte ihn dann in drei Bissen in den Mund.
Die eigentliche Herausforderung kam aber erst noch. Ich musste nämlich mal. Und normalerweise brauche ich dafür zwei Hände. Die Hoffnung, dass im Wickelraum auch eine Toilette war, zerschlug sich sehr schnell. Unschlüssig stand ich nun in der Männertoilette mit dem Baby auf dem Arm und der Wickeltasche über der Schulter. Sollte ich einen der Männer fragen, ob er mal kurz mein Baby halten könnte? Aber die guckten mich alle so komisch an. Konnte ich ihn mal eben im Waschbecken ablegen? Oder sollte ich zurück zum Auto und Ben dort ganz kurz in den Autositz setzen? Nee, lieber nicht, sonst klaute noch jemand das Auto gerade in den zwei Minuten, wo ich nicht da war. Also wartete ich, bis ich alleine war und begann mit der freien Hand an meinem Reißverschluss rumzumachen. Doch in dem Moment kam rein großer Blonder mit muskulösem Oberkörper rein und blieb wie angewurzelt stehen, als er mich so sah. Na ja, so dringend musste ich nun auch wieder nicht. Ich zog den Reißverschluss wieder hoch und ging. Vielleicht könnte ich ja unterwegs irgendwo anhalten und in die Büsche pinkeln.
Um 15 Uhr kam ich schließlich im Familienclub-Hotel an. Hinweisschilder wiesen darauf hin, dass das Familien-Ferienland autofreie Zone war und man sein Auto bitte auf dem außerhalb liegenden Parkplatz parken solle. Gepäckwagen stünden reichlich zur Verfügung. Es gab natürlich keine Gepäckwagen mehr. Ich würde das alles selber schleppen müssen. Vielleicht erst mal nur das Nötigste?
Dieses Mal ließ ich Ben in seinem Kindersitz liegen und nahm das ganze Teil heraus. Dazu schulterte ich noch seine Wickeltasche um und machte mich auf den Weg zur Rezeption. Da war eine ganz schön lange Schlange. Alles Leute mit Kindern. Panik überkam mich. Was machte ich hier? Ich hatte doch bis jetzt immer einen großen Bogen um Familien aller Art gemacht. Da verbrachte ich schon lieber Zeit mit Leuten, die mir von ihren Hunden erzählten, als mit Eltern, die über nichts anderes als Windelgröße, erste Babylaute und putzige Kinderstreiche sprechen konnten. Doch jetzt war es zu spät, ich war mitten unter ihnen.
Der Mann vor mir hielt ein Mädchen an der Hand, das irgendwo zwischen zwei und sechs Jahren alt war (was ich daraus schloss, dass das Kind schon gut laufen konnte, aber noch zu klein war, um einen großen Schulranzen auf dem Rücken zu schleppen) und ein kleineres Kind auf dem Arm. Er drehte sich zu mir um und lächelte mich an.
„Hallo, zum ersten Mal hier?“
„Ich schon. Bei Ben hier weiß ich’s nicht genau, aber ich glaube schon.“
„Auch ein Pflegekind?“
„Nein, wieso das denn? Das ist meiner!“
Der Mann nickte nur und drehte sich wieder nach vorn. Was meinte er denn mit „auch“ ein Pflegekind? Ich guckte mir seine zwei genauer an. Sehr ähnlich sahen sie ihm nicht, aber das musste ja nichts heißen. Ben sah mir schließlich auch nicht sehr ähnlich, er kam ganz nach seiner Mutter: dunkle Augen und dunkle Haare.
Kurze Zeit später war ich an der Reihe und reichte meine Buchungsunterlagen einer jungen Frau, die Sabine Wetzel hieß und Auszubildende war, wie mir das kleine Schildchen an ihrer Brust verriet.
„Willkommen, Herr Mattheus. Ihre Wohnung ist schon bereit. Sie sind zum ersten Mal hier? Hier ist ein Plan unserer Anlage. Es gibt die Bärenhöhle, dort sind die Häuser braun, das Spatzennest mit grünen Häusern, das Haifischbecken mit blauen Häusern, und den Fuchsbau, dort sind die Häuser rot. Diese vier Trakte liegen um unseren Adlerhorst herum, wo Sie das Restaurant, ein Schwimmbad und den Wellnessbereich finden.“
„Und welche Farbe hat der Adlerhorst?“
Sabine Wetzel hielt für eine Millisekunde inne, aber dann fiel ihr doch noch die Unterrichtseinheit „Wie gehe ich mit doofen Kunden um, die blöde Fragen stellen?“ wieder ein, denn sie fuhr unbeirrt in ihrer Einweisung fort. „Dort sind auch die Sportanlagen und Kinderclubs, aber ich sehe, dass Ihr Kleiner noch etwas zu jung dafür ist. Wenn Sie einen Babysitter brauchen, lassen Sie uns das wissen, das ist gar kein Problem. Also hier ist Ihr Schlüssel, Nr. 45 im Fuchsbau. Das ist hier,“ – sie warf mir einen schwer zu durchschauenden Blick zu, zeichnete mit dem Stift in meinem Plan herum und betonte dabei: „im ROTEN Bereich. Abendessen beginnt um 17:30. Dann viel Spaß bei uns!“
Abendessen um 17:30? Meine Großeltern hatten gerne schon um 17:30 zu Abend gegessen, aber die waren damals über 70 gewesen und standen morgens schon um 5 auf. Ich war doch gerade mal halb so alt. Obwohl, Hunger hatte ich eigentlich jetzt schon, hatte ja auch so gut wie nichts zu Mittag gegessen.
Ich bedankte mich, nahm den Schlüssel an mich mitsamt Lageplan und trat wieder ins Freie. Unschlüssig blickte ich um mich. Es gab zwei Wege, einer der direkt in die Ferienanlage hineinführte, der andere außen herum. Aber laut meinem Plan hätten die Häuser hier blau sein müssen, sie waren aber grün.
„Suchst du den Fuchsbau?“
Es war der Mann mit den Pflegekindern. Also, ich würde mich jetzt nicht auf das infantile Niveau von Vorschulkindern begeben! „Ich suche Haus Nr. 45 im roten Bereich. Aber ich glaube, ich weiß schon, wo ich hin muss.“
„Fuchsbau, sag ich doch. Da wohnen wir auch. Das ist auch der netteste Teil der Anlage, dort gibt es einen kleinen See mit Enten und Schwänen. Hier außen lang, das ist der schnellste Weg.“
Der kleine Junge auf dem Arm, der mich schon die ganze Zeit fixiert hatte, sagte plötzlich laut und vernehmlich: „Dickefacke!“
Erschrocken blieb ich stehen. „Was?“
Der Junge strahlte, zeigte auf mich und intonierte nochmals ganz laut: „Baby Dickefacke!“
Das Mädchen begann zu lachen und der Mann hatte sichtlich Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. „Das heißt Kinderwagen. Er meint, das Baby ist im Kinderwagen. Das Wort für Autositz kann er noch nicht.“
Jetzt merkte ich auch, dass der Kleine nicht auf mich, sondern auf Ben zeigte und dass das Wort doch eher wie Gickewacke klang.
„Willst du den Kindersitz nicht hier auf meinen Gepäckwagen stellen, der muss ja auf Dauer ziemlich schwer sein.“
„Nein, danke, es geht schon.“ Der Mann zuckte nur die Schultern und schob seinen Wagen an. Ich lief ihm hinterher, auch wenn er in eine andere Richtung ging, als ich vermutet hätte. „Haben Sie gerade noch den letzten Gepäckwagen ergattert, was?“ fragte ich, bemüht, dabei nicht vorwurfsvoll zu klingen.
„Nein, wieso, da waren doch noch ganz viele, direkt neben der Rezeption, hast du die nicht gesehen?“
„Hm. Weiß nicht. Wie weit ist es denn noch?“
„Nicht mehr weit. Willst du den Sitz nicht doch hier oben raufpacken?“
Als ob ich mein eigenes Kind nicht tragen konnte. „Nee, der wiegt ja nicht viel.“
„Aber ich wiege ganz viel!“ sagte das kleine Mädchen stolz, das auf dem Gepäckwagen stand und sich schieben ließ.
„Ja, aber ich wiege noch mehr,“ antwortete ich, weil ich mich ja nicht von einem kleinen Mädchen übertrumpfen lassen musste.
„Aber mein Papa wiegt noch mehr. Und er ist auch viel stärker als du!“
Unglücklicherweise stellte sich heraus, dass der starke Papa mit seinen reizenden Kindern in der 48, mir schräg gegenüber wohnte. Der fragte mich zum Abschied: „Kommst du später auch zu Sule?“
Verblüfft guckte ich ihn an. Mit wie vielen Männern hatte sich Sule denn hier verabredet? „Weiß nicht, ich bin ein bisschen müde. Wohl eher nicht.“
„Na ja, bis demnächst dann!“ Und damit verabschiedeten wir uns.
Meine Wohnung war sehr schön. Ein großes Wohnzimmer mit eingebauter Küche, großer Essecke und Terrasse auf den See hinaus, dann ein geräumiges Schlafzimmer und getrenntes Kinderzimmer mit Kinderbettchen und kleiner Rutsche, und natürlich ein Bad mit Wickeltisch, Babywanne und Heizstrahlern. Alba unterteilte Menschen gerne in zwei Sorten, zum Beispiel in solche, die, wenn sie über das Geld von Anderen verfügten, mehr ausgaben, als sie für sich springen lassen würden, und solche, die sparsamer mit fremdem Geld umgingen als mit eigenem. Alba selbst gehörte anscheinend zu der ersten Sorte.
Am liebsten wäre ich gleich aufs Bett gefallen, aber ich musste ja noch den Rest der Sachen holen. Kurz überlegte ich, ob ich Ben alleine hierlassen konnte, aber das ging wohl nicht. Ich hatte Rana versprochen, ihn keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als nochmal zurück zum Parkplatz zu gehen, mitsamt dem schweren Autositz. Mittlerweile hatte Ben schon wieder Hunger und ließ seinen „Wo ist die verdammte Flasche“-Schrei hören. Als ich unterwegs einen leeren Gepäckwagen sah, schnappte ich ihn mir und stellte Bens Sitz darauf. Das war schon besser. Das Rumpeln gefiel ihm und er wurde wieder still.
Beim Auto angekommen stellte ich Ben zunächst wieder zurück ins Auto, bepackte den Gepäckwagen und nahm den Kinderwagen heraus. Dann bettete ich Ben um und schloss das Auto ab. Doch wie sollte ich Gepäckwagen und Kinderwagen gleichzeitig bewegen? Wenn ich jeweils einen Wagen mit einer Hand lenkte, stießen die Räder immer gegeneinander. So ging das nicht. Ich versuchte es damit, einen zu schieben und den anderen zu ziehen. Das funktionierte auch nicht. Schließlich schubste ich den Gepäckwagen immer ein paar Schritte nach vorne, lief mit dem Kinderwagen hinterher und schubste dann den Gepäckwagen erneut von mir weg. So kam ich schließlich verschwitzt und erschöpft bei Nr. 45 an. Langsam verstand ich, warum Alba sagte, ein Kind brauche ein ganzes Dorf. Für einen alleine war ein Kind eine ganz schöne Herausforderung.
Eine halbe Stunde später lag Ben satt und frisch gewickelt auf meiner Brust, während ich durch die Kanäle flippte. Aber schon nach wenigen Minuten machte ich den Fernseher wieder aus. Ben war viel lustiger anzusehen. Er konnte seinen Kopf schon ganz gut heben und sah mich mit schelmischem Blick an. Und lächelte dabei. Als wolle er mir auch ein Lächeln entlocken. Wie hübsch er war! Sein Kopf hatte die perfekte Form. Über seinen Kopf zu streicheln war wie eine kleine, flaumige Bowlingkugel zu polieren. Seine Augenbrauen waren fein geschwungen, die dunklen Augen groß, die Nase klein, und der Mund voll und rot. Am besten gefielen mir seine langen Augenwimpern.
Weil er am liebsten auf dem Rücken lag, hatte ich seine Babydecke auf dem Boden im Wohnzimmer ausgebreitet. In Rückenlage schien er sich nie zu langweilen. Ich guckte ihm eine Weile zu, wie er mit den Beinen ausschlug, den Kopf drehte, oder sich seine Hände anguckte. Alba hatte recht. Auf meine besorgte Frage, was ich denn den ganzen Tag lang mit ihm machen sollte, hatte sie gesagt, er müsse gar nicht bespaßt werden. Er hätte so viel zu entdecken, zu üben und zu schauen, da komme keine Langeweile auf. Zu viel Stimulation würde ihn nur verwirren.
Was wohl in seinem kleinen Kopf vorging?
„Verrückt: wenn ich meine Bauchmuskeln anspanne, dann gehen da unten am Horizont zwei Füße auf. Das sollte dieser Papa-Typ auch öfter mal machen, vielleicht bekäme er dann seinen Wabbelbauch wieder in den Griff.“
„Immer wenn ich wünsche, dass sich die Finger bewegen, tun sie es auch. Echt cool! Ich habe es schon 578 probiert, und es klappt jedes Mal. Papa, guckst du? Ich mache es jetzt zum 579. Mal.“
Und dann gibt es noch ein tolles Spiel. Ich blase Spuckblasen und danach lutsche ich an meiner Unterlippe, das flutscht so schön. “
Als Ben seine Rückenlage dann doch langweilig wurde, war es auch schon Zeit zum Abendessen. Ich zog mir meinen Lieblingspulli über, nahm Ben auf den Arm und lernte Lektion Nr. 7: Während der ersten Lebensmonate eines Kindes (genauer: der ersten drei Jahre) einfach keine schönen Sachen anziehen. Babies haben einen siebten Sinn für frisch gewaschene und teure Stoffe und spucken bei Berührung mit solchen sofort, während sie alte Schmuddelpullis oft tagelang nicht beachten. Dann eben wieder der alte Schmuddelpulli. Und richtig, noch nicht einmal ein Tropfen Sabber ließ Ben auf ihn fallen. Ich packte ihn in den Kinderwagen und machte mich auf den Weg. Den Plan ließ ich zu Hause, so schwer würde das Zentrum ja nicht zu finden sein. Es gab tatsächlich genug Hinweisschilder auch für die doofsten Eltern: Adler, die an jeder Straßenecke mit dem Flügel in die richtige Richtung wiesen. Diese ganze Anlage erinnerte mich irgendwie an die Mini-Version eines amerikanischen Vororts, wo vor jedem Haus ein Basketballkorb steht und in jeder Haustür eine kleine Klappe für den Hund hin und her schwingt. Und auch die Leute, die Richtung Adlerhorst strömten, kamen mir vor wie aus einem Film. Jung, schön, fröhlich, und alle mit 1,5 Kindern.
Ich passte überhaupt nicht hierher! Ben brauchte das alles nicht, keinen Adlerhorst, keinen Kinderklub und keine Wasserwelt. Und ich brauchte das auch nicht. Als wir im Restaurant ankamen, stand mein Entschluss fest: Ich würde morgen wieder nach Hause fahren und mir dann mit Ben ein paar schöne Tage zu Hause machen! Ich stellte den Kinderwagen ab und nahm Ben mitsamt der Tragetasche heraus.
Während ich auf einen Zweiertisch am Fenster zusteuerte, hechtete mir einer der Kellner hinterher. „Darf ich fragen, welche Zimmernummer Sie haben?“
„45.“
„Ach ja, aus dem Fuchsbau. Wollen Sie zu Sule?“
„Äh, ich wollte nur zu Abend essen.“
„Ja, genau. Folgen Sie mir bitte.“
Wer verflucht war denn diese Sule? Und woher wusste der Kellner, dass meine Cousine mich mit ihr verkuppeln wollte?
In dem Raum, in den der Kellner mich führte, saßen viele Männer mit Kindern, aber komischerweise nur eine einzige Frau. War das Sule? Einige der Typen nickten mir freundlich zu und ich beschloss nach einigem Zögern, mich an einen Tisch nahe der Durchgangstür zu setzen, die zurück in den großen Speiseraum mit dem großen Büffet führte.
Ich legte meinen Zimmerschlüssel auf den Tisch zum Zeichen, dass er besetzt war und nahm die Tasche mit Ben, um mir was zum Essen zu holen. Ein Mann mit rotem Pulli und grüner Hose am Nebentisch rief mich zurück: „Lass das Kind doch hier, ich pass drauf auf.“
Durfte ich ihm trauen? Auf den ersten Blick machte er einen ganz netten Eindruck, und ich wollte schließlich nicht wie ein überbehütender Gluckenvater erscheinen. Ihm gegenüber saßen Zwillinge und stritten sich um die Ketchup-Flasche. „Super, danke! Bin gleich wieder da.“
Ich nahm mir einen großen Teller und von allem ein bisschen, sicherheitshalber auch schon mal einen Schokoladenbrownie – nicht, dass nachher keiner mehr da war – und eilte zurück zum Tisch. Der nette Mann hatte inzwischen die Ketchup-Flasche an sich genommen und damit die Wut der Zwillinge auf sich gelenkt. Hätte er überhaupt gemerkt, wenn jemand Ben hätte klauen wollen?
„Bin wieder da. Danke nochmal.“
„Ist doch kein Ding. Wie heißt er denn?“
„Ben.“
„Und, zum ersten Mal hier, stimmt’s?“
„Na ja, so alt ist er ja noch nicht. Und ohne Kind kommen normale Erwachsene ja wohl kaum hierher, oder?“
„Stimmt. Ohne Kinder wäre ich jetzt auch lieber in einem Hotel mit Lounge-Bar und Clubsesseln. Freddy, gib jetzt sofort Ricky das Salz! Deine Pommes sind sowieso schon völlig versalzen.“
Ich setzte mich an meinen Tisch und begann hastig zu essen, damit ich so viel wie möglich schaffen würde, ehe Ben auf den Arm wollte. Der Vater der Zwillinge hatte sich wieder fortgedreht, aber jetzt wollte ich doch etwas wissen. „Sag mal, sind alle hier im Raum für Sule da?“
„Ja klar! Wir kommen jedes Jahr über Ostern hierher. Das ist unser sechstes Mal!“
„Und was macht Sule so?“
„Na alles, schwimmen, basteln, reden, Spaziergänge, Fußball spielen, was du willst.“
War Sule etwa nur eine Kinderbetreuerin? Ich warf einen Blick nach hinten zu der Frau, die mir aufgefallen war. Braune, zum Pferdeschwanz zusammengebundene Haare, wenig Make-up, lässige Kleidung – ja, könnte hinkommen. Irgendwie war ich enttäuscht. „Und abends, wenn die Kinder schlafen?“
„Ja, dann geht’s erst richtig los! Willst du mitmachen? Ich hol dich ab. Zimmer 45, hab’s auf deinem Zimmerschlüssel gesehen. Ich heiße übrigens Tobias.“
Dann geht’s erst richtig los? Sule machte mir langsam Angst. „Ich hab aber keinen Babysitter.“
„Ein Babyphone reicht auch! Wenn du keins dabei hast, kannst du dir sicher eins an der Rezeption ausborgen. Also bis später, ich habe meinen Jungs noch eine Runde Wii versprochen.“
Gedankenverloren kaute ich weiter, bis Ben schließlich doch anfing zu protestieren und hochgenommen werden wollte. Ich würde ihn bestimmt nicht alleine lassen am ersten Abend! Mit ihm auf dem Arm machte ich mich nochmal auf in Richtung Büffet. Es gab leckeren Käse, Trauben und Baguette. Dazu ließ ich mir noch ein Glas trockenen Riesling bringen.
„Hier Ben, guck mal, das ist eine Traube. Möchtest du mal dran lecken? Schmeckt schön saftig, nicht?“
Plötzlich wurde meine Hand nach oben geschlagen und die Traube flog in hohem Bogen durch die Luft und landete in meinem Weinglas. „Spinnst du? Weißt du, wie viele Kleinkinder jedes Jahr an Trauben ersticken?“ Sule stand neben meinem Tisch und schüttelte entrüstet den Kopf. Ben lachte und wollte, dass ich nochmal eine Traube durch die Luft fliegen ließ.
„Ich hab ihn doch nur dran riechen lassen. Bist du hier die Traubenpolizei?“
„Ach, entschuldige, ich habe vielleicht ein bisschen überreagiert. Aber du musst echt aufpassen, was er sich in den Mund steckt. Bist du neu hier?“
Oh je. Jetzt war es soweit. Sule hatte mich bemerkt. Es war an der Zeit, ihr mitzuteilen, dass ich nicht zu dem Kreis ihrer Verehrer gehören wollte. „Ich soll dich grüßen von Alba.“
„Alba?“
„Ja, Alba und Rana. Kennst du die nicht?“
„Sind das die Mütter von dem Kleinen hier?“
„Genau. Die Mütter. Und ich bin der Vater.“
„Das ist ja nett. Woher wussten sie denn, dass ich hier sein würde?“
„Das scheint doch anscheinend jeder zu wissen.“
„Echt? Wow!“ Sule schien sich zu freuen. Sie sah ganz nett aus, wenn sie lächelte. „Wir wollen später noch was anstellen. Machst du mit?“
„Nein, ich glaube nicht. Ich will Ben nicht alleine lassen.“
„Ist doch kein Problem. Oder hast du kein Babyphone?“
„Nee, habe ich nicht. Außerdem bin ich ein bisschen müde. Ich glaube, ich muss jetzt auch gehen.“
„Ja, gut. Schlaf schön. Vielleicht bis morgen dann.“
Und damit drehte sich Sule um und ging. Ich war jetzt eh satt, und meinen Wein wollte ich auch nicht mehr trinken. Also packte ich Ben wieder in seine Tasche und machte mich auf den Heimweg.
Gegen 21 Uhr hatte Ben seine letzte Flasche getrunken und schlief fest. Er sah so friedlich aus. Als es klopfte, seufzte er einmal kurz auf, schlief dann aber weiter. Um ein zweites Klopfen zu verhindern, ging ich trotz meines Entschlusses, so zu tun, als schliefe ich schon, doch zur Tür. Es war Tobias.
„Hallo, schläft der Kleine?“
„Ja, grade eingeschlafen.“
„Und, hast du Lust? Wir treffen uns in Wohnung 53. Das sind nur ca. 30 Meter von hier, das ist kein Problem für das Babyphone.“
„Ach weißt du, ich bin so müde. Heute nicht. Vielleicht ein andermal?“
„Okay, kein Problem. Gute Nacht… wie heißt du eigentlich?“
„Mattes. Ich bin Mattes.“
„Schön, dann gute Nacht, Mattes. Bis morgen.“
„Ja, und euch viel Spaß.“