Читать книгу Lennox und die Schrecken von Kabuul: Das Zeitalter des Kometen #35 - Jo Zybell - Страница 7
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ОглавлениеSie hatte keine Schmerzen und schrie dennoch. Die Gewitterwolken verzogen sich, aber der Himmel wurde um keine Spur heller. Sie lief und schrie und stöhnte, bis der Abend ging und die Nacht kam. Schatten huschten hin und her.
Gebüsch, kahle Äste, der Stamm eines Baumes – sie lehnte mit dem Rücken dagegen und rutschte zu Boden. Ihre Zunge war so schwer, und sie fror entsetzlich.
Die Schatten huschten nicht mehr, sie standen jetzt aufrecht, wuchsen und wuchsen und wuchsen …
»Wer seid ihr? Ich bin verletzt, ich besitze nichts, überhaupt nichts!« Die Schatten kamen näher, langsam, Schritt für Schritt. »Ich bin nur die arme Bergar, ich hab gar nichts, nur meinen Körper … ehrlich … Wollt ihr Liebe? Wir können uns einigen …«
Die Schatten waren zu dritt. Sie verwandelten sich, je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, wurden schwarze Pelzkerle, bekamen spitze Schnauzen, schmale, rötlich glühende Augen, Schnurrhaare und große Ohren …
»Ich habe nichts, ehrlich … nur ein Messerchen, ein klitzekleines Messerchen …« Sie griff unter ihren Mantel. »Ich schenk‘s euch …« Sie wollte nach dem Säbel greifen, wollte ihn zücken, wollte aufspringen und auf die erste Taratze einschlagen und das Biest in Stücke hacken. Und wahrhaftig, sie sprang auf, griff nach dem Knauf des Säbels – doch sie griff ins Leere … denn da war nichts zum Greifen.
Voller Entsetzen starrte sie auf den Griff des Säbels. Er ragte aus der Scheide an ihrem Gurt: der Knauf aus grün angelaufenem Kupfer, der Griff von schwarzen Lederriemen umflochten, die Glocke aus schwarzer Bronze. Der Säbel – da hing er an ihrer Hüfte unter ihrem Mantel, aber sie konnte ihn nicht ziehen!
Die drei Taratzen waren bis auf sechs Schritte heran. Die erste ließ sich auf die Vorderläufe herab und bleckte die Zähne.
Sie konnte nicht ziehen, sie konnte nicht einmal den Griff berühren, jedenfalls nicht mit den Fingern ihrer rechten Hand!
Da waren keine Finger mehr, und auch keine Hand. Da war nur noch ein schwarz verkrustetes Handgelenk, eine blutende Wunde …
Panik füllte ihr Hirn mit Eis. Sie schrie noch lauter, denn jetzt erst, im Augenblick der Erkenntnis, flammte der Schmerz auf, und mit ihm abgrundtiefer Schrecken: keine Hand mehr!
Nie wieder greifen mit der Rechten! Nie wieder einen Säbel führen, nie wieder …
Ihr wurde schwarz vor Augen, sie taumelte gegen den Baumstamm und brach zusammen. Die erste Taratze schnappte nach ihrem Stiefel, riss sie weg vom Baumstamm und hin zu den anderen beiden Schwarzpelzen.
Auf einmal war da ein Fauchen in der eisigen Nachtluft. Die Taratze ließ ihren Stiefel los, bäumte sich auf, fiel und blieb auf dem Rücken liegen. Der Knauf eines Messers ragte aus ihrer Hüfte.
»Weg von ihr!«, blaffte eine Frauenstimme. »Haut ab, tausendfach verfluchte Brut Orguudoos! Weg mit euch, sag ich!«
Die anderen beiden Taratzen ließen sich auf die Vorderläufe nieder und wichen zurück. Ihre Nackenfelle sträubten sich. Ein Schatten schob sich aus der Dunkelheit. Nein, zwei Schatten: ein Mensch und sein Reittier.
Und ein Schwert.
Die Frau! Die Frau, die sie überfallen hatten! Die Frau, die Ali Bin Kurt und Marco Bin Ali getötet hatte!
Ihr langes Schwert fuhr einem der beiden Schwarzpelze in die Schnauze. Das Biest kreischte erbärmlich, wälzte sich im Dreck, fiepte und fauchte, bis der zweite Hieb es erlöste. Die dritte Taratze huschte in die Nacht.
Die Frau ging in die Hocke und begutachtete den Armstumpf. »Armes Miststück!«
Ihr wurde wieder schwarz vor Augen. Sie träumte von ihrem Großvater. Zum tausendsten Mal durchlebte sie den Augenblick, in dem sie sich nach seiner Leiche bückte und ihm den Säbel abschnallte.
Als sie die Augen öffnete, schwebte Kara Bin Lapais Gesicht über ihr. Er blutete aus einer Wunde an der Schläfe. »Nimm sie und bring sie zu einem Medizinmann oder einem Göttersprecher«, hörte sie die raue Stimme der Frau sagen, die sie überfallen hatten. »Beeil dich, bevor ich es mir anders überlege!«