Читать книгу Lennox und die Schrecken von Kabuul: Das Zeitalter des Kometen #35 - Jo Zybell - Страница 8

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»Einen Heiler suche ich.«

Der Alte hörte für einen Moment auf zu kauen, runzelte die Stirn und neigte den Kopf, als wäre er schwerhörig.

»Einen Medikus. Einen Medizinmann.« Marrela deutete auf den Verband, mit dem sie ihre Linke umwickelt hatte.

»Schmerzen, verstehst du? Ich brauche einen Heiler, einen Göttersprecher.«

Das Gesicht des Alten hellte sich auf. »Da.« Er fing wieder an zu kauen, hob seinen klapperdürren Arm und deutete die Gasse hinunter. »Da, da. Götter. Da, da.« Wie es schien, verstand er endlich, doch ganz sicher war Marrela nicht.

»Götter, da, da …« Er zog sich an seiner rechten Krücke hoch, klemmte auch die linke unter seine Achsel und humpelte los.

»Da, da …« An den krummen Fassaden notdürftig geflickter Ruinen vorbei führte er Marrela die Gasse hinunter.

»Schlaf nicht ein, Pushnik.« Sie war mittlerweile zu dieser Kurzform des Namens übergegangen; es klang einfach besser.

Marrela zog ihr Reittier hinter sich her und rätselte, ob der Alte einen anderen Dialekt sprach als die Räuber vor zwei Tagen und sie deswegen nicht verstand, oder ob er einfach nur schwach im Geiste war. Rapushnik trottete brav an ihrer Hand, machte aber keine Anstalten, seine schaukelnden Schritte zu beschleunigen. Dennoch zeigte er sich an diesem Morgen von seiner zahmen Seite. Vielleicht spürte er, dass sie Schmerzen hatte.

Es war kalt. Von den hohen Bergen im Norden kamen die letzten Boten des Winters, der sich noch nicht geschlagen geben wollte, in den Talkessel herab. Die nächste Wolkenfront würde sicher Schnee bringen. Marrela hatte sich in einen weißen Fellmantel gehüllt. Dessen Zottelhaar war fettig, das Leder der Innenseite grau und weich. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals ein derart warmes Kleidungsstück getragen zu haben.

Abgesehen von jenen Pelzen, die man auf den Dreizehn Inseln aus der Haut von Seehunden machte.

Bergnomaden hatten den Mantel hergestellt; aus dem Fell eines Tieres, das sie Yaakuli nannten. Die Beschreibung der Nomaden passte auf eine Art Wakuda mit großem, weit ausladenden Gehörn und langem weißen Fell. Marrela hatte die Wanderer bei der Überquerung des Gebirges getroffen. Bezahlt hatte sie den Fellmantel mit einem jungen Eluu, den sie verendet in einer Falle gefunden hatte. Sie hatte eigentlich eine Reitdecke und Zeltplane aus seiner Schuppenhaut machen wollen. Stattdessen besaß sie nun einen wetterfesten Mantel.

»Da, da … gleich da …« Der Alte wandte sich um und lächelte sie an. Er strahlte etwas Kindliches aus. Seltsamer Kerl. Er kam Marrela vor wie einer, der sein Glück nicht fassen konnte, einer jungen Frau helfen zu können und ihr nahe zu sein. Aber hatte er auch wirklich verstanden, was sie suchte?

Ein paar hundert Meter entfernt erhob sich ein Kuppeldach aus den Ruinen. Daneben ragte ein schlanker Turm in den grauen Himmel. Gewitterwolken und Regen hatten sich fürs Erste verzogen. Es war trocken, die Luft roch nach Schnee, fahles Dämmerlicht lag über den Ruinen der fremden Stadt.

Seit den Explosionen am Kratersee hatte Marrela keinen blauen Himmel mehr gesehen; und keine Sonne.

Seite an Seite zog das ungleiche Paar die Gasse hinunter und dem Kuppelbau entgegen. Manchmal tauchten Gesichter hinter den Fensteröffnungen auf, manchmal zeigten sich Männer in den Türen, abgehärmte, dürre Burschen zumeist und mit demonstrativ geöffneten Mänteln, damit man Säbel oder Messer oder beides in ihren Hüftgurten sehen konnte. Eine unerklärliche Beklemmung ging von diesen schiefen, aus Ruinen gebauten Häusern und Hütten aus, und mit jedem weiteren Schritt hinein ins Zentrum der Ruinenstadt empfand die Frau von den Dreizehn Inseln diese Beklemmung deutlicher.

Von Zeit zu Zeit feixte ihr Stadtführer sie von der Seite an.

Ein niedlicher alter Bursche mit vielleicht sechzig oder siebzig Wintern auf dem Buckel. Vielleicht sogar weniger, schwer zu sagen – er wirkte ziemlich geschwächt und ausgezehrt.

Jedenfalls schien er mächtig stolz darauf zu sein, an der Seite einer schönen Frau durch seine Stadt zu humpeln. Seine Zähne mahlten ständig auf rotbraunen Klumpen herum, die er hin und wieder aus einer Tasche unter seinem Umhang fischte und sich in den Mund steckte.

Die Gasse wurde breiter, öffnete sich schließlich zu einem weiten Platz. Rauch stieg von fünf oder sechs Feuerstellen auf.

Unter gut zwei Dutzend aufgespannten Planen feilschten Menschen um Waren. Händler und Käufer waren mit Leder, Pelzen oder bunten Stoffen vermummt.

Links wühlten kurzbeinige Tiere in einem Schutthaufen. Sie waren schmutzig und grau und erinnerten Marrela an die Wisaaun und Piigs, die man im mittleren und nördlichen Euree kannte; allerdings waren diese hier kleiner und wesentlich dicker. Rechts standen in schwarze Tücher gehüllte Männer unter dem Vordach eines auffallend neuen Hauses. Sie beäugten die fremde Frau und ihr Kamel misstrauisch. Marrela fühlte sich gar nicht gut unter ihrem weißen Pelz.

Um die Feuerstellen hockten bis zum Kinn vermummte Gestalten, vor den zumeist halb zerfallenen Fassaden rund um den Platz ebenfalls. Auf den zweiten Blick kamen sie Marrela zerlumpt und elend vor. Nur hin und wieder entdeckte sie einzelne Männer und Frauen, deren Kleidung nach bescheidenem Wohlstand aussah, und deren Körperhaltung Kraft und Selbstbewusstsein ausstrahlte. In schwarze Mäntel aus Fell oder Leder gehüllt und mit roten oder gelben Tüchern um die Köpfe lehnten sie in Eingängen oder standen breitbeinig vor Hütten und Häusern. Sie trugen Klingen aller Art, auch die Frauen, so weit Marrela das auf die Ferne erkennen konnte.

Einer Frau, die vielleicht einen halben Speerwurf weit entfernt stand und sie beobachtete, hatte der Wind blonde Haarsträhnen unter dem roten Kopftuch hervorgeweht. Zwei Männer in ihrer Nähe trugen gepflegte blonde Bärte. Ihre roten oder gelben Tücher wurden von roten oder gelben Stirnringen auf den Köpfen festgehalten. Auch sie beobachteten Marrela.

»Da, Götter, Heil, da, da …« Der Krückenmann strahlte glücklich und deutete über den Platz. Der durchmaß gut und gern zwei Speerwürfe. Um den Brunnen in seinem Zentrum herum lungerten ebenfalls Menschen.

Auf seiner gegenüberliegenden Seite erhob sich das Kuppelgebäude mit dem schlanken weißen Turm. Eine lange, niedrige Vortreppe führte zu einem überdachten Säulengang. Auf den Stufen saßen Dutzende von Menschen.

»Danke, Alter. Wie heißt du?«

»Steiner, ja, Steiner, ja, ja …« Er lächelte mit feuchten Augen, griff nach ihrer Rechten und drückte seine spröden Lippen auf ihren Handrücken. »Ja, ja, da, da …«

Marrela entzog ihm ihre Hand. »Schon gut, schon gut.«

Sie versuchte zu lächeln, nickte ihm zu und stieg in den Sattel.

Von hier oben wirkte das Zentrum dieser fremden Siedlung nicht ganz so bedrohlich. Rapushnik trug sie über den Platz und dem Kuppelbau entgegen. Der Alte brabbelte aufgeregt, wischte sich den Rotz von der Oberlippe und winkte ihr hinterher.

Rapushnik trottete gemächlich an Feuerstellen vorbei, an den mit Planen überspannten Verkaufsständen und schließlich am zentralen Springbrunnen. »Beweg dich, Pushnik, mein Finger schmerzt immer mehr.«

Aus schmalen Augen betrachtete Marrela die Menschen. Sie schmatzten alle auf irgendetwas herum, Kautabak vermutlich.

An den Feuern entdeckte sie einige, die ähnlich brabbelten und strahlten wie ihr Stadtführer, und die ähnlich alt und verbraucht aussahen. Auch die jüngeren Leute wirkten zufrieden und heruntergekommen zugleich.

Eigenartige Mischung, eigenartiges Volk.

Drei oder vier Männer und einige Frauen jedoch fielen ihr auf, die nicht kauten. Hektisch und mit angespannten Mienen hetzten sie von Gruppe zu Gruppe. Die Männer machten irgendwelche Geschäfte, denn Marrela beobachtete, wie sie Textilien, Waffen oder Werkzeuge anboten und dafür mit etwas bezahlt wurden, das so klein war, dass Marrela es nicht erkennen konnte; Edelsteine vielleicht, Münzen oder sogar Goldkörner.

Die Frauen schienen ihren Lebensunterhalt als Huren zu verdienen. Eine sah Marrela mit einem Mann, den sie zuvor am Brunnen angesprochen hatte, auf ein ehemals rotes Haus zustreben. Auch unter den Leuten an den Verkaufsständen beobachtete sie eine Hure, die sich einen Freier angelte und ihn zu genau demselben Haus abschleppte.

Unter den Planen der Verkaufsstände entdeckte sie weitere Gestalten, die weder abgerissen noch kränklich wirkten; ausschließlich Männer. Braunäugig, schwarz- oder graubärtig und mit großen schönen Augen fielen sie ihr durch ihre aufrechte, stolze, ja fast ein wenig überhebliche Haltung und ihre samtbraune Haut auf. Auch ihre Kleidung unterschied sich von der der meisten anderen Leute, die den Platz bevölkerten.

Sie trugen schwere Gewänder aus Wolle oder Leinen, blau und rot und vor allem grün. Die Tücher, die sie wulstartig um ihre Köpfe gewunden hatten, waren weiß oder schwarz oder, in seltenen Fällen, grün. So gefährlich es in den Blicken dieser Männer loderte, wenn sie die fremde Frau musterten, so schnell wandten sie sich wieder von ihr ab, sobald sie zurückgaffte.

Marrela registrierte es amüsiert.

Ein Gespann schwarzer Wakudas zog einen Karren über den Platz. Auf dem Kutschbock hockten zwei Männer in schwarzen Mänteln und mit roten Kopftüchern. Von allen Seiten liefen die Leute zusammen, gafften in das Gefährt und redeten danach auf die beiden Männer ein. Der Karren fuhr an Marrela vorbei, und sie konnte fünf oder sechs Leichen auf der Ladefläche erkennen: drei Taratzen und mindestens zwei Schwarzmäntel.

Der Karren steuerte in eine der Gassen, die auf den Platz mündeten. Einer der Kutscher drehte sich nach Marrela um.

»Nun mach schon schneller, Pushnik«, zischte Marrela. »Merkst du nicht, dass wir Aufmerksamkeit erregen?«

Der Kamshaa-Bulle grunzte und lief noch langsamer. Marrela stieß einen Fluch aus, verzichtete aber darauf, ihm ihre Stiefelfersen in die Flanken zu treten. Rapushnik wäre vermutlich stehengeblieben und hätte sich zwei Stunden lang nicht mehr von der Stelle gerührt.

Auf der anderen Seite des Platzes ertönte die Stimme einer Frau. Ein Mann hatte sie zu Boden gestoßen, jetzt rief sie um Hilfe. Eine der Huren, vermutete Marrela. Der Turbanträger, den sie angesprochen hatte, trat nach ihr. Drei oder vier andere sprangen herbei, packten sie und zerrten sie vom Platz und durch ein Tor rechts des Kuppelbaus in einen Hof hinein.

Das Geschrei der Frau sorgte für einige Aufregung auf dem Platz. Die Leute sahen von ihren Geschäften auf, die abgerissenen Gestalten an den Feuerstellen und den Brunnen tuschelten miteinander. Einige zerlumpte Frauen eilten dem roten Haus entgegen – ohne Freier – oder suchten Schutz bei den Säbelträgern mit den schwarzen Mänteln. Die Schreie der Frau entfernten sich, blieben aber noch immer deutlich hörbar.

Endlich erreichte Rapushnik die andere Seite des Platzes.

Von der Vortreppe des Kuppelbaus erhoben sich sieben oder acht Lumpengestalten. »Willkommen in Kabuul, fremde Frau! Alla segne dich! Glück auf deinen Wegen!« Solche und ähnliche Grüße und Wünsche ausstoßend, eilten sie Marrela und ihrem Reittier entgegen. Einige grinsten heiter und winkten ihr fröhlich zu, als würden sie in ihr eine alte Freundin wieder erkennen.

Ehe Marrela sich versah, umringte die Schar das Kamshaa.

Zwei selig grinsende Bettler hielten es am Zaumzeug fest. Ja, Bettler, das waren sie, denn es war keiner unter ihnen, der nicht seine Hand zu Marrela hinaufstreckte, sie flehend anschmachtete und irgendeinen routinierten Spruch herunterleierte: »Ein Steinchen für einen armen Krüppel«, »Nur ein Krümel deines Reichtums für mich«, »Ein Münze für den lieben Saschabinalfred, eine klitzekleine nur«, oder einfach nur »Da, da, ja, ja, da, da …«

Immer fordernder streckten sie ihre Hände nach ihr aus, immer unverschämter überboten sie einander in gierigen Sprüchen, und immer mehr wurden es. Von links und rechts zerrten sie an ihrem Yaakuli-Pelz, diebische Finger machten sich an ihren Decken zu schaffen.

»Genug jetzt!«, rief Marrela. »Verschwindet, lasst mich in Ruhe!« Es war, als würde sie gegen eine Wand anschreien – die Männer, Frauen und Kinder bettelten nur noch flehender.

Marrela griff über die Schultern, um ihr Schwert aus der Rückenkralle zu reißen, doch im selben Moment ging ein Ruck durch die Menge der Bettler. Einige stolperten, andere stürzten zu Boden.

»Weg hier!«, brüllte eine tiefe Männerstimme hinter ihr. »Wollt ihr wohl die Dame in Frieden ihres Weges ziehen lassen?! Verdammtes Gesindel!«

Vier Schwarzmäntel schwangen Knüppel, Säbel oder einfach nur ihre Fäuste. Sie schlugen und traten nach links und rechts, und schneller als Marrela schauen konnte, löste sich der Belagerungsring um das Kamshaa auf. Die Bettler suchten ihr Heil in der Flucht. Ein paar krochen auf allen Vieren davon, weil die Schläge und Tritte der Schwarzmäntel sie verletzt hatten. Schwerer verwundet oder gar getötet wurde niemand, Wudan sei Dank …

»Ich hoffe, dieses Kolkgesindel hat dich nicht bestohlen, schöne Frau.« Einer der Schwarzmäntel stand breitbeinig neben dem Kamshaa und reichte ihr den entglittenen Zügel hinauf. »Achte auf deine Schritte in dieser Scheißstadt, man rutscht allzu leicht aus hier.« Ein gelber Stirnring hielt sein rotes Kopftuch. Seine Brauen und sein Bart waren dunkelblond, seine Augen blau.

Marrela nahm ihm die Zügel ab. »Danke.«

»Stets zu Diensten, schöne Frau. Rate dir übrigens, die Waffe abzulegen, gefährlich, gefährlich.« Er grinste breit, sein Gebiss war tadellos. »Nur die verdammten Turbanträger dürfen mit Klingen herumlaufen in dieser verdammten Stadt.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist nun mal so. Wir sind die Einzigen, die ihr Waffenmonopol ungestraft ankratzen dürfen. Gib einfach dein Schwert her, schöne Frau, wir verwahren es dir, bis du die verdammte Stadt wieder verlässt. Kostet dich nichts, nicht einmal einen Kuss.«

Zwei der anderen drei Schwarzmäntel lachten. Der dritte, eine große, grobknochige Frau, machte ein grimmiges Gesicht.

»Ich werde über dein Angebot nachdenken.« Marrela drückte dem Kamshaa nur sanft die Knie in die Flanken.

Glücklicherweise trottete Rapushnik sofort los. Manchmal war er zu wahren Geistesblitzen fähig. Ihr Finger schmerzte, dass es kaum noch auszuhalten war.

»Frag nach Toorsten, wenn du nachgedacht hast, schöne Frau!«, rief der Schwarzmantel ihr nach. »Toorsten Al'Myller, Berliner Platz siebzehn. Und wie lautet dein Name?«

Marrela drehte sich im Sattel um. Der Kerl hatte ein großes Maul und fand sich überaus wichtig. Doch er sah gut aus, soweit sie das beurteilen konnte – die Kleidung war lang und weit und verhüllte natürlich eine Menge –, und irgendwie war er ihr sympathisch. »Marrela von den Dreizehn Inseln!«, rief sie zurück. Der Schwarzmantel namens Toorsten verneigte sich tief, die anderen beiden Männer grinsten, und die Frau fing an, mit ihm zu schimpfen.

Marrela kümmerte sich nicht weiter um sie. Allmählich begriff sie, dass sehr unterschiedliche Gruppen von Menschen in dieser Ruinenstadt lebten.

Sie erreichte das Tor neben dem Kuppelbau. Von ihrem Sattel aus konnte sie in einen weiträumigen, auf zwei Seiten von vielen kleinen Gebäuden gesäumten Hof blicken. Links grenzte er an den Kuppelbau. Dort lag eine Frau im Staub.

Männer standen um sie herum. Sie hielten Steine in den Händen, und eine Menge weiterer Steine war um die Frau am Boden verteilt. Ein Mann mit grünem Turban beugte sich über sie und tastete nach ihrer Halsschlagader. Dann drehte er sich nach anderen Steinewerfern um und nickte.

Marrela wurde übel. Bei Wudan, in was für einem Schreckensort bin ich hier gelandet? Ohne dass sie Rapushnik stoppen konnte, stieg der Kamelbulle die vier Stufen der Vortreppe zum Säulengang vor dem Portal des Kuppelbaus hinauf. »Stehen bleiben!«, rief Marrela. »Was macht das für einen Eindruck, du dummes Kamshaa!« Sie sprang aus dem Sattel und riss an den Zügeln. »Bleib stehen, Pushnik, bleib um Wudans willen stehen!« Die Bettler auf der Treppe beobachteten sie amüsiert. Endlich stand das Reittier still.

Vier Turbanträger in bunten Kleidern stürmten aus einer Seitentür. »Was suchst du hier, Fremde?«, herrschte einer mit grünem Turban sie an. Seine Augen glühten. Marrela glaubte den Mann wiederzuerkennen, der eben im Hof nebenan den Tod der armen Frau festgestellt hatte. »Weg hier, sofort!« Er schwang eine Art Peitsche und baute sich drohend vor Marrela auf.

»Ich muss mit dem Heiler sprechen.« Vermutlich war der Peitschenmann der Älteste der vier, denn während die anderen drei glatte braune Haut und schwarze Bärte hatten, durchzogen seinen Bart silberne Fäden und eine Menge Furchen sein Gesicht.

»Hier gibt es keinen Heiler!« Wie drohend holte er mit der Peitsche aus. »Das hier ist ein Ort des Gebetes und der Götterworte. Keine Waffen außer meinen überqueren diese Schwellen!« Er deutete auf die Türen und das Portal. »Und Weiber dreimal nicht!«

»Und wo bete ich und höre die Götterworte?«, erkundigte sich Marrela so höflich, wie sie konnte.

»Im Hof! Verschwinde, und her mit dem Schwert!«

»Nimm es dir, wenn du dich traust.« Marrela wandte sich an einen seiner Begleiter, ein stattlicher Jüngling. »Wo gibt es einen Heiler oder Medizinmann in eurer Siedlung?« Der Angesprochene wich erschrocken zurück.

»Dort, neben dem Hurenhaus findest du den Medikus von Kabuul, Weib!«, blaffte der grüne Turban. »Nun her mit dem Schwert und dann fort mit dir!«

»Hol es dir, Kerl!« Sie sprach so leise, wie sie immer sprach, wenn sie ihrer Wut Zügel anlegte. Mit einem Satz sprang sie in den Kamshaa-Sattel. Der silberbärtige Turbanträger ließ die Peitsche sausen. Marrelas Pelzmantel dämpfte den Hieb, der Mann holte wieder aus und zielte diesmal auf ihren Kopf. Sie wich zur Seite aus und hielt sich an den Zügeln fest. Die Peitschenriemen pfiffen an ihr vorbei.

Blitzschnell riss Marrela ihr Schwert aus der Kralle und schlug zu. Ihr Schlag kappte den Peitschenstiel knapp über der Faust des Turbanträgers. Entgeistert starrte der Mann auf die Riemen zu seinen Füßen. »Hat deine Mutter dir nicht beigebracht, wie man sich einer Frau gegenüber benimmt?«, fauchte Marrela.

Sie trieb Rapushnik die vier Stufen der Vortreppe hinunter.

Hinter ihr begann der Silberbart zu brüllen. Über die Schulter blickte sie noch einmal zurück. Vergeblich versuchte der Mann mit dem grünen Turban seine Eskorte hinter ihr herzuschicken.

Doch die jungen Männer schienen irgendwie nicht in der rechten Kampfstimmung zu sein.

»In dieser Ruinenstadt leben eine Menge Verrückte, Pushnik.«

Das Gebäude neben dem blass-roten Hurenhaus war groß und hoch und sehr weiß. Sogar ein paar Säulen standen unter dem Vordach. Ein armer Mann wohnte nicht unter diesem stabilen und neu wirkenden Dach, so viel war klar. In der Warteschlange auf der Vortreppe und in dem Hof davor entdeckte Marrela dagegen eine Menge zerlumpter Gestalten.

»Zu viele Verrückte nach meinem Geschmack«, murmelte sie. »Wir gehen jetzt zu diesem Heiler dort drüben. Er soll nach meinem Finger schauen und mir Medizin geben. Danach ziehen wir weiter, und zwar so schnell wie möglich.«

Das Kamshaa grunzte.

Lennox und die Schrecken von Kabuul: Das Zeitalter des Kometen #35

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