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3 Ich mach’ den Vorsitz. Studium (1962–1969)
ОглавлениеGleich nach dem Abitur nimmt Oskar Kurs auf Bonn. Schon im letzten Schuljahr in Prüm stand für ihn fest: Physik zu studieren und zwar in Bonn. Ausschlaggebend für die Studienwahl sind seine ausgezeichneten Leistungen in diesem Fach, manche Physikaufgaben bei Lieblingslehrer Schneider habe er als einziger zu lösen vermocht. Für Bonn entscheidet er sich, weil sein Prümer Schulfreund Bernd Niles dort einen Onkel hat, bei dem beide unterkommen können.
Als der 18-jährige Student Oskar Lafontaine zum Sommersemester 1962 in der Hauptstadt eintrifft, regiert Konrad Adenauer als erster Kanzler der Bundesrepublik bereits im vierzehnten Jahr. Adenauer muss seit der letzten Wahl eine Koalition mit der FDP bilden, die absolute Mehrheit hat seine CDU verloren. Ende des Jahres gibt der 86-Jährige bekannt, im folgenden Jahr sein Amt niederzulegen, auch ein Tribut an die ›Spiegelaffäre‹ und das Ausscheiden mehrerer Minister im Oktober 1962. Ludwig Erhard wird vom Ministerposten auf den Kanzlerthron aufrücken. Dagegen ist die SPD seit dem Godesberger Programm von 1959 im Aufwind. Mit dem neuen, von Herbert Wehner durchgesetzten Grundsatzprogramm verabschiedet sich die Partei von marxistischem Gedankengut und bekennt sich zur Sozialen Marktwirtschaft sowie zur Westbindung der Bundesrepublik. Aus der alten Arbeiterpartei wird eine moderne Volkspartei. Der neue Kurs der SPD hat auch personelle Konsequenzen. Willy Brandt löst Erich Ollenhauer als Kanzlerkandidaten ab, Ollenhauer bleibt SPD-Parteivorsitzender. Auch wenn Brandt bei der Bundestagswahl 1961 Adenauer unterliegt, gibt er der Partei Hoffnung, die SPD endlich auch bundesweit in die Regierung zu bringen. In Landesparlamenten sind die Genossen bereits auf dem Vormarsch. Brandt ist beliebt als Regierender Bürgermeister von Berlin, Helmut Schmidt hat sich im Februar 1962 als Hamburger Innensenator bei der Hochwasserkatastrophe einen Namen als Krisenmanager gemacht. Durch den Bau der Berliner Mauer, der bei Oskars Eintreffen in Bonn noch nicht einmal ein Jahr zurückliegt, haben die eigentlichen Jahre der Bonner Republik gerade erst begonnen.
Bernd Niles und Oskar Lafontaine beziehen bei Niles Onkel gemeinsam ein Zimmer. Vier Semester werden sie dort in brüderlicher Gemeinschaft leben, bevor Oskar Lafontaine sich ein eigenes Zimmer nimmt. Die beiden sind seit Prümer Zeiten eng befreundet. Niles war Leiter der Schola, bei der Oskar so eifrig mitsang. Er brillierte als Klassenprimus in allen Fächern und galt dabei als angenehmer Schulkamerad. Er verließ wie Oskar vorzeitig das Konvikt und lebte bis zum Abitur in einer Prümer Privatunterkunft. Nachdem sie die lang ersehnte Freiheit ein Jahr lang gemeinsam in Prüm genossen, wollen die beiden nun die Bundeshauptstadt erobern.
Oskar Lafontaine schreibt sich an der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität ein. Er belegt Kurse in angewandter Physik und Chemie, muss dabei zahlreiche Praktika absolvieren und schwierige Klausuren in Mathematik bestehen. Doch Lernen sei ihm immer leicht gefallen, wie Oskar Lafontaine gern erwähnt. Nebenbei beschäftigt er sich mit philosophischen und geschichtlichen Fragen, auf die die Gymnasiasten in Prüm nie Antworten erhielten. Bundesweit setzt in den 60er Jahren erstmalig eine kritische Auseinandersetzung mit dem Faschismus ein. Zunächst an den Hochschulen, bevor weitere Gesellschaftskreise erreicht werden. Von den Priestern und Lehrern in Prüm wurde die jüngste politische Vergangenheit geflissentlich ausgespart, erst jetzt erfahren die jungen Studenten vom Ausmaß der nationalsozialistischen Gräueltaten. An der Existenz Gottes regen sich Zweifel, denn wie konnte er solche Verbrechen zulassen? Für die ehemaligen Konviktoristen, die mit dem hohen moralischen Anspruch der Kirche konfrontiert wurden und dabei die Verlogenheit ihrer irdischen Vertreter erleben mussten, besteht ein Sinn-Vakuum, das neu gefüllt werden muss – politische Arbeit liegt da nahe.
Zunächst gerät Oskar Lafontaine jedoch in ähnliche Kreise wie in Prüm. Ein Religionslehrer des Regino-Gymnasiums hatte ihm empfohlen, sich für ein Stipendium des Cusanuswerks, der Bischöflichen Studienförderung, zu bewerben. Nach dem ersten Semester, das er mit guten Noten abschließt, erfüllt er die Voraussetzungen für eine Bewerbung – und er bekommt das Begabtenstipendium, das ihm über das gesamte Studium zustehen wird. Mit Büchergeld beträgt die monatliche Beihilfe 350 DM, eine Summe, mit der man in der Zeit auskommen kann. Das Cusanuswerk fördert seine Stipendiaten nicht nur mit Geld, sondern auch in Form eines umfangreichen Bildungsprogramms. Ziel der katholischen Stiftung ist es, die Stipendierten »in ihrem Verantwortungswillen zu bestärken und dazu zu befähigen, Dialoge zwischen Wissenschaft und Glauben, Gesellschaft und Kirche anzustoßen.« Jeder Stipendiat ist dazu verpflichtet, an den Ferienakademien und an anderen Veranstaltungen des Cusanuswerks teilzunehmen. Oskar Lafontaine setzt sich also wieder mit der grundsätzlichen Frage auseinander, wie man ein Leben als verantwortungsbewusster Christ führt. Im Gegensatz zu den dogmatischen Klerikern in Prüm findet er intellektuelle Gesprächspartner aus akademischen Kreisen.
Lafontaine habe das Studium mit »minimalem Aufwand« betrieben, sagt er heute. Er habe viel gelesen in dieser Zeit, Camus und Sartre seien seine Lieblingsautoren gewesen, und gemeinsam mit seinem Freund Bernd Niles besucht er philosophische Vorlesungen. Niles studiert zunächst Griechisch, Latein und Philosophie, bevor er zur Germanistik wechselt; heute unterrichtet Niles, der mit seinem alten Gefährten Oskar noch in freundschaftlichem Kontakt steht, als Linguist am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Lafontaine verlässt Bonn noch während des Studiums. Ansonsten habe Oskar Lafontaine ein typisches Studentenleben geführt, »viele Feste wurden gefeiert«, und »der Drang des Mannes zum Weibe« habe großen Raum in seinem Leben eingenommen.
Die Semesterferien verbringt er hauptsächlich im heimischen Pachten. Er wohnt bei seiner Mutter in der Fischerstraße und geht gut bezahlten Ferienjobs nach, auf der Dillinger Hütte im Stahlbau und auch einmal auf dem Dillinger Finanzamt. Dem Saarland ist er über die Jahre im rheinland-pfälzischen Prüm und im nordrhein-westfälischen Bonn eng verbunden geblieben, auch räumlich hat er sich nie mehr als 200 Kilometer von seinem Elternhaus entfernt.
Bei einem der Ferienaufenthalte noch zu Abiturzeiten lernte er während eines Ausflugs Ingrid Bachert kennen. Sie ist die Wirtstochter in einem Lokal, in das er mit Freunden einkehrt. Aus dieser ersten Begegnung wird schnell eine feste Beziehung. Ingrid Bachert ist zwei Jahre älter als Lafontaine, hat eine kaufmännische Lehre abgeschlossen und arbeitet in einem Unternehmen in der Werbeabteilung. Später wird sie ein Geschäft mit Glaskunst führen. Oskar Lafontaine fasst ihretwegen den Entschluss, Bonn den Rücken zuzukehren und nach Saarbrücken zu wechseln.
Ab dem Sommersemester 1965 setzt er sein Studium an der Universität des Saarlandes fort. Oskar Lafontaine und Ingrid Bachert ziehen beide nach St. Johann, einem Stadtteil von Saarbrücken, wo auch das Rathaus des Oberbürgermeisters steht. Vorerst leben sie in getrennten Wohnungen, allerdings im selben Haus. Bereits ein Jahr später entschließen sie sich zu heiraten. Die kirchliche Trauung findet in einem der schönsten Klöster des Saarlandes statt, in St. Gangolf, unweit der berühmten Saarschleife bei Mettlach. Oskar Lafontaine ist noch keine 24 Jahre alt, als er im Sommer 1967 mit Ingrid Bachert – die Braut traditionell ganz in Weiß – vor den Altar tritt.
Die frisch Vermählten ziehen in eine Vierzimmerwohnung auf den Saarbrücker Eschberg, Pater-Delp-Straße 50. Ihre Einkünfte sind nicht hoch, aber Oskar Lafontaine hat neben dem Stipendium, das durch die Heirat ein wenig aufgestockt wird, und den regelmäßigen Ferienjobs mittlerweile auch eine Assistentenstelle an der Uni. Er veranstaltet zweimal in der Woche Praktika für Studenten der Medizin und Naturwissenschaften und erhält dafür immerhin 220 DM.
Wie schon in Bonn besucht er auch in Saarbrücken Vorlesungen in Staatsrecht und Philosophie. Noch gut im Gedächtnis sind ihm Vorlesungen bei Werner Maihofer, Dekan und Rektor an der Universität des Saarlandes. Der Jurist wird 1972 von Willy Brandt als Minister für besondere Aufgaben ins Kabinett gerufen, unter Helmut Schmidt ist der FDP-Mann von 1974 bis 1978 Bundesinnenminister. Lafontaine hört bei ihm Vorlesungen über ›Ideologien‹ und über den ›jungen Marx‹.
Doch vor allem treibt er zielgerichtet sein Physikstudium voran. In Bonn hatte er ein gutes Vordiplom in Physik abgelegt, in Saarbrücken wird Experimentalphysik zum Schwerpunkt seines Studiums. Anfang 1967 beginnt er am Institut für Experimentalphysik eine Diplomarbeit über die Zucht von Bariumtitanat. Zwei Jahre wird er mit Laborversuchen beschäftigt sein, in denen er eine höchst komplexe Versuchsreihe zu Einkristallen aufbaut. Er macht sein Diplom mit dieser Arbeit über Festkörperphysik: Er sei ein »Experte für ein bestimmtes Material in einem bestimmten Temperaturbereich eines bestimmten Frequenzbereiches« gewesen, wie er im Nachhinein seine Abschlussarbeit umschreibt. Das Studium, das seine »Fähigkeit zum exakten Denken« weiterentwickelt habe, schließt er im Februar 1969 als Diplom-Physiker ab: »Es war kein Spitzenexamen. Aber mit der Gesamtnote ›Zwei‹ hatte ich noch ein gutes Examen geschafft, obwohl mein Fleiß, mein Engagement an der Uni in den letzten drei Jahren merklich nachgelassen hatten«. Das verminderte Interesse am Studium liegt an einer neuen Priorität in seinem Leben.
Bereits im Januar 1966 tritt Oskar Lafontaine in die SPD ein: Landesbezirk Saar, Unterbezirk Saarbrücken, Ortsverein St. Johann. Den Eintritt in die Sozialdemokratische Partei Deutschlands begründet er damit, dass die Postulate der Bergpredigt und die christliche Nächstenliebe am ehesten in dieser Partei befolgt werden, mehr als in der CDU, die das ›C‹ im Namen führt. Die religiöse Erziehung, von früh auf durch die Mutter und dann im Prümer Internat, habe sein Weltbild dahingehend geprägt, dass er den Anspruch des Christentums in praktische Politik übersetzt sehen möchte: Nächstenliebe gleich Solidarität. »Hier verbündet sich die katholische Erziehung mit dem heutigen politischen Denken«, so Oskar Lafontaine. Die reaktionären, teilweise nazistischen Lehrer und Priester in Prüm waren fast alle Unionsmitglieder, und deren »Pharisäertum und Heuchelei« habe ihn abgestoßen. »Unter allen denkbaren Lösungen – und da spielte die Erfahrung aus Prüm eine wichtige Rolle – war die SPD die einzig mögliche Entscheidung für mich damals«, sagt Lafontaine heute.
Sein Bruder Hans trat bereits 1960 in Prüm der SPD bei. Dieser Parteieintritt sorgte für Aufregung in der Konviktsleitung, die eine »kommunistische Unterwanderung« des Internats befürchtete; kurz danach verließ Hans zu deren Erleichterung das Konvikt freiwillig. Den Schülern wurde von ihren konservativen Erziehern lediglich erlaubt, Veranstaltungen der Union zu besuchen. Die lokalen CDU-Politiker machen auf die Abiturienten allerdings keinen überzeugenden Eindruck. Oskar habe beispielsweise Peter Altmeier, den Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz und einen der Gründer der CDU, als »Dummschwätzer« bezeichnet und wegen »mangelnder geistiger Fähigkeiten« abgelehnt. Altmeier zitierte in seiner Rede mehrfach Bibelstellen, allerdings »total falsch interpretiert«. Ein Mitkonviktorist erinnert sich, wie sich die Jungen auf CDU-Wahlveranstaltungen verhielten. »Wir machten daraus eine Riesengaudi, benahmen uns flegelhaft und stellten am Ende auch noch dreiste Fragen.« Die ehemaligen Mitschüler von Hans und Oskar werden später allerdings mehrheitlich diese Partei wählen. »Der normale Weg ist dann doch, dass die ›braven Schüler‹ die Leitvorstellung der Eltern oder der Erzieher übernehmen«, so Oskar Lafontaine. »Ich war insofern eine Minderheit.«
Die Prümer Abiturienten versäumen kaum eine der seltenen Veranstaltungen der Sozialdemokraten. Ein Initialerlebnis ist die Diskussion mit dem jungen Trierer SPD-Abgeordneten Karl Hähser. Im Prümer Gasthaus erleben die Gymnasiasten zum ersten Mal einen Politiker, der sich angenehm von dem Phrasengedresche der etablierten Politkaste abhebt. Zu diesem Zeitpunkt sei Lafontaine allerdings nicht sonderlich an Politik interessiert gewesen, räumt er ein, man habe sich als 17-Jähriger lediglich ein wenig informiert. In Bonn wird er von der einsetzenden Politisierung an der Uni berührt, in Saarbrücken tritt er dann bald der Partei bei.
Sein Bruder Hans studiert in Saarbrücken Jura. 1967 legt er an der Universität des Saarlandes sein erstes, 1970 in München das zweite Staatsexamen ab. Zunächst ist er Anwalt in Augsburg, später geht er nach Bordeaux. Heute arbeitet Hans Lafontaine als Anwalt in Saarbrücken und wohnt im nahen Frankreich. Ihn zeichnet ein großes soziales Engagement aus, und er vertritt Randgruppen wie Kriegsdienstverweigerer und Asylanten. Dem zurückhaltenden Hans fehlt der Glanz seines Bruders, das Durchsetzungsvermögen und Machtstreben von Oskar Lafontaine hat er nicht. »Er ist zu ehrlich, zu aufrichtig, zu weich«, wie ein gemeinsamer Freund der Lafontaine-Zwillinge urteilt. Hans Lafontaine wird sich einmal, als sein Bruder Ministerpräsident des Saarlandes ist, zur Bürgermeisterwahl in Wadgassen stellen, einer Gemeinde mit 20 000 Einwohnern im Landkreis Saarlouis. Dieser Ausflug in die aktive Politik scheitert, und er konzentriert sich wieder auf seinen Anwaltsberuf. Der Kontakt zwischen den Brüdern ist heute nicht eng, so Oskar Lafontaine: »Wir hatten immer ein etwas gespanntes Verhältnis, mein Bruder und ich. Ich war der Kräftigere und er der Sensiblere.« Ein Unterlegenheitsgefühl von Hans sei bestehen geblieben, wenn er gefragt wurde: »Bist Du nicht der Bruder von dem Lafontaine?«
Für Oskar Lafontaine beginnt nach seinem Eintritt bei den Jusos, dem SPD-Nachwuchsverband für Parteimitglieder bis 35 Jahre, ein steiler Aufstieg. Schnell erkennt das neue Parteimitglied, dass es bei den Jungsozialisten für clevere und tatkräftige Macher wie ihn gute Aufstiegschancen gibt. Und die Jusos im Saarland scheinen geradezu auf ihn gewartet zu haben, denn bereits nach ein paar Monaten ist er einer ihrer führenden Köpfe. Er beginnt zunächst, den völlig unorganisierten Jusoverband systematisch aufzubauen. Sein strategisches Geschick ist ihm dabei ein großer Vorteil, und er besetzt die wichtigen Posten mit den richtigen Leuten.
1966 schließt er die wohl wichtigste Freundschaft seiner politischen Laufbahn. Im Bus zur Saarbrücker Universität spricht er Reinhard Klimmt an, Student der Geschichte, ein Jahr älter als er selbst. Er kennt Klimmt vom Sehen, bei einer großen Demonstration ist der junge SPD-Mann in einer feurigen Rede über die Hochschulpolitik hergezogen. Oskar fragt den Studentenfunktionär, ob man nicht gemeinsam »den laschen Haufen« der Jusos in Saarbrücken aufmischen könne. »Ich mach’ den Vorsitz, du den Stellvertreter«, schlägt er vor. »Ich fand das etwas kurios«, so Klimmt über Oskar Lafontaines Führungsanspruch. Diese Anekdote ihres Kennenlernens wird von beiden oft und gern erzählt, nicht zuletzt, weil der im Bus geplante Coup bald gelingt: Lafontaine wird Juso-Chef im Unterbezirk Saarbrücken, Klimmt sein Stellvertreter. Der Beginn eines jahrzehntelang agierenden Polit-Tandems, das vom Jusoverband über Stadt und Land bis zum Bund erfolgreich sein wird. Ebenso wirft die Anekdote ein Licht auf das Verhältnis der beiden, auf Klimmts bedingungslose Gefolgschaft, denn die Rollenaufteilung bleibt immer dieselbe: Oskar Lafontaine kommt an erster, Reinhard Klimmt an zweiter Stelle.
Bei den Jungsozialisten findet Lafontaine auch wieder einen Kreis, dem er sich zugehörig fühlt. Nach der engen Gemeinschaft im Internat fehlte ihm eine solche Geborgenheit. In der Gruppe empfindet er nicht nur ein Gefühl von Heimat, sondern er kann auch seine Talente optimal entwickeln. Er hat Mitstreiter, die ihn akzeptieren, und er hat Gefolgsleute, die auf ihn hören. Oskar Lafontaine findet bei den Jusos und in der SPD ein ideales Betätigungsfeld für sein Streben nach Einfluss und Macht.
1968 hat er bereits den Sprung in den Landesvorstand der SPD Saar geschafft, als dessen medienpolitischer Sprecher er fungiert. Er bekommt in der Uni ein eigenes Büro mit Telefonanschluss und mischt bereits als Student kräftig in der Kommunalpolitik mit. Für Hochschulpolitik interessiert er sich hingegen kaum. Während seine Kommilitonen 1968 an Demonstrationen und ›Sit-ins‹ teilnehmen, konzentriert er sich auf Stadt-, Landes- und Bundespolitik. »Ich habe zwar einmal eine Demonstration mit Cohn-Bendit mitgemacht, aber eigentlich galt ich damals als Rechter.« Lafontaine schließt sich nicht der Rebellion der Söhne an, er glaubt vielmehr an die Kraft des patriarchalen Politikers. In den Augen revoltierender 68er gilt ein Jusofunktionär als angepasst und spießig. Auch Reinhard Klimmt bewertet die Jusos am Beispiel des Saarbrücker Verbandes nicht gerade als »revolutionäre Truppe«, es sei eher eine »Nachwuchsrekrutierungsorganisation« gewesen.
Im März 1968 meldet sich der 24-jährige Lafontaine auf dem SPD-Bundesparteitag in Nürnberg couragiert zu Wort: »Viele unserer Genossen scheint die Frage zu bewegen, warum sich die Kritik der Studenten denn gerade und vor allem gegen die Sozialdemokratische Partei richtet. Genossinnen und Genossen, die Antwort darauf ist leicht. Ich will es mit einem Beispiel versuchen. Man fühlt sich von der Frau betrogen, die man einmal geliebt hat«. Das Protokoll vermerkt zu Lafontaines erstem bundesweiten Auftritt »Heiterkeit und Beifall«.
Die umstrittene ›Große Koalition‹ in Bonn unter Kurt Georg Kiesinger (CDU) als Kanzler und Willy Brandt (SPD) als Außenminister und Vizekanzler stößt bei den Jusos auf Ablehnung. Sie ironisieren den Regierungskurs als das Bemühen der SPD, die beste CDU zu werden, die es je gab. Oskar Lafontaine schildert in ›Das Herz schlägt links‹ (1999), wie er den ›faulen Kompromiss‹ dieser Koalition erlebte: »Willy Brandt sah ich zum ersten Mal 1966. Er war zu jener Zeit noch Regierender Bürgermeister von Berlin und hielt in der ATSV-Turnhalle in Saarbrücken eine Rede, in der er einer großen Koalition eine klare Absage erteilte. Wenige Tage später wurde die große Koalition geschlossen und Willy Brandt Außenminister. So erlebte ich bereits als junger Student, daß in der Politik das gesprochene Wort nicht immer für bare Münze zu nehmen ist.«
Der innerparteiliche Machtkampf Ende der 60er Jahre führt zu Konzessionen des Partei-Establishments gegenüber dem Nachwuchs. In der Folge vollzieht sich ein spürbarer Generationswechsel, und Jungsozialisten erhalten Schlüsselpositionen in der Landes- und Kommunalpolitik. Einer dieser Jungsozialisten wird Oskar Lafontaine sein, der schon mit seinem Auftritt beim Nürnberger Parteitag größere Verantwortung einforderte. Unter dem Druck der Studentenbewegung vollzieht sich 1969 auch ein Kurswechsel bei den Jusos: Karsten Voigt tritt als Jusochef an die Stelle des rechten Peter Corterier. Der linke Flügel bestimmt von nun an die Geschicke des SPD-Nachwuchsverbandes.
1968, im Jahr der europäischen und westdeutschen Studentenrevolte, ziehen fast zweitausend so genannte Reisekader der SED durch die Bundesrepublik. Ihr Auftrag ist die Unterwanderung von Gewerkschaften und Parteien, damit diese gegen rechte SPD-Mitglieder agitieren. Beliebtes Ziel der DDR-Propagandisten sind Jusos, die als leicht manipulierbar gelten. Im März 1968 berichtet ein Parteifunktionär aus Cottbus dem Zentralkomitee in Ostberlin: »Oskar Lafontaine, Saarbrücken, Pater-Delp-Str. 50. Juso, Delegierter des Landes- und Bundesparteitages der SPD, steht sehr links. Verbindung mit ihm ist auszubauen. Lehnt Führungsgruppe der SPD um Wehner/Schmidt völlig ab. Aber für Brandt. Wünscht Zusendung der 8 Bände Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung und Marx/Engels Gesamtausgabe.« Im Oktober 1968 steht Lafontaine bei den SED-Funktionären auf der ersten Stelle der Besucherliste im Saarland. Sie notieren, dass er beabsichtige, »in zwei Jahren hauptamtlich politisch zu arbeiten« und weitere Kontakte wünsche. Er habe sich verständnisvoll – »realpolitisch« – zum Einmarsch in der Tschechoslowakei gezeigt, aber »bedauerte, daß nicht rechtzeitig eine politische Lösung gefunden werden konnte«. Im April 1969, beim nächsten und letzten Besuch der zwei Reisekader aus Cottbus, erleben diese eine herbe Enttäuschung. Lafontaine will nichts mehr von ihnen wissen: »Entgegen Gesprächen im Oktober 1968, Entwicklung nach rechts genommen. Begrüßt und unterstützt jetzt die Politik von Brandt, Schiller und Schmidt.« Die erst nach dem Untergang der DDR bekannt gewordenen Dokumente decken sich mit der politischen Haltung, die Lafontaine 1968/1969 auch offiziell einnimmt. Er selbst erinnert sich amüsiert an die Reisekader, die sich als Professoren ausgaben. »Es war eine Gaudi mit den beiden. In einem Saarbrücker Café sagte der eine: ›Der Ulbricht ist ein Künstler!‹ Da habe ich schallend gelacht, ich hielt es für einen Witz.«
Parallel zu seinen politischen Aktivitäten hat er sein Examen als Diplom-Physiker abgelegt und kümmert sich nun um eine Arbeitsstelle. Es trifft sich, dass die SPD gemeinsam mit der CDU im Saarbrücker Rathaus das Sagen hat, ein Parteibuch erleichtert die Stellensuche im Öffentlichen Dienst. Oskar Lafontaine steht in Kürze an der Spitze von 800 Beschäftigten – seine steile Karriere beginnt.
Oskar Lafontaines Anlagen und die Disziplinierung im Internat werden in den Studienjahren systematisiert. Der Student der Physik gibt allem bisher Gelernten eine Methode, ein analytisches Gerüst. Mit der Präzision des Naturwissenschaftlers begreift er Sachverhalte und entwickelt sie logisch weiter. Auch Sprache und Rhetorik entwickeln sich mit dieser Exaktheit weiter: Er denkt und spricht in Kausalketten, die nur einen logischen Schluss zulassen – andere Folgerungen sind für ihn schlichtweg falsch. Der Theorie im Studium folgt bald die Praxis, seine Begabungen verlangen nach einem weiteren Betätigungsfeld. Der kleine Ausschnitt der Wissenschaft ist ihm zu eng, er muss seinen Horizont erweitern. In der Politik kann er Generalist sein, und seine Kenntnisse und Fähigkeiten mit seiner Überzeugungskraft und sozialen Intelligenz verbinden.