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2 Physisch auf der Höhe. Internat (1953–1962)

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Priester soll Oskar werden, das Bischöfliche Konvikt Prüm dient der Vorbereitung auf einen Priester- oder Ordensberuf. Prüm liegt in der Westeifel, unweit von Belgien und Luxemburg. Umgeben von Bergland und Wäldern zeichnet sich der Luftkurort durch sein gesundes Klima aus – für die besorgte Mutter ein Grund mehr für Prüm. Die Stadt selbst ist durch ihr Kloster berühmt. Der bedeutende Regino von Prüm war Abt um das Jahr 900 und verhalf Kloster und Ort zu ihrer Bedeutung.

Die Regino-Schule bildet zusammen mit der St. Salvator Basilika das städtebauliche Zentrum von Prüm. Ursprünglich war die Anlage ein Benediktiner-Kloster, doch seit 1814 befindet sich in den Wohngebäuden eine Schule. Zum Kloster gehörte stets auch ein Internat, dieses bischöfliche Konvikt befindet sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst auf dem Kalvarienberg. Internat und Gymnasium haben einen guten Ruf und werden von Schülern aus der ganzen Eifel und dem Saarland besucht.

Im April 1953 treffen Oskar und sein Bruder in dem verschlafenen Nest mit 4000 Einwohnern ein. Die nächsten neun Jahre sollen sie hier leben, oben im Konvikt wohnen und unten im Dorf zur Schule gehen. Die Entfernung zwischen Internat und Schule beträgt 500 Meter – ein klar abgesteckter räumlicher Rahmen für die Zöglinge.

Strikte Regeln gelten im Kloster. Vom zuständigen Trierer Bischof wird der Sinn des Konvikts deutlich formuliert: »Wir setzen also voraus körperliche Gesundheit, ausreichende Begabung, guten Charakter, religiöse Haltung und ein gläubiges Elternhaus. Wir erwarten, dass jeder, der ins Konvikt aufgenommen wird, bildungswillig ist, fleißig und ehrlich studiert, die Hausordnung treu befolgt und froh, hilfsbereit, verstehend, rücksichtsvoll und aufrichtig in der Gemeinschaft lebt. Beharrliche Selbsterziehung, opferbereite Willensschulung und feine Gewissenspflege werden die gottgewollte Frucht tragen.« Für den neunjährigen Oskar bedeutet das eine enorme Umstellung gegenüber seinem bisherigen Leben. Als Entwurzelung empfindet er das Verlassen des heimatlichen Pachten, Freunde und Familie fehlen ihm, und die Doktrin des Internats ist zunächst ein Schock.

In seinen ersten Prümer Jahren ist das Konvikt noch im alten Haus der Zoll- und Finanzverwaltung untergebracht, weil das eigentliche Konviktsgebäude im Krieg zerstört wurde. Erst 1957 wird dies wiedereröffnet, erweitert um einen Neubau. Zunächst leben die Zöglinge in einem Provisorium mit sehr niedrigem Standard: Riesige Schlafsäle mit Doppelstockbetten, die Jüngeren schlafen unter dem Dach, wo es im Winter furchtbar kalt ist, die Toiletten befinden sich im Keller, und die sanitären Einrichtungen sind so ungenügend, dass man sich mit Waschschüsseln neben dem Bett behelfen muss – sämtliche 85 Konviktoristen müssen sich in wahrlich klösterlicher Askese einrichten.

Auch die Tagesordnung fordert viel ab von den Neun- bis 18-jährigen. Morgens um fünf Uhr betritt der Präfekt den Schlafsaal, auf ein »Gelobt sei Jesus Christus« springen alle aus den Betten, stellen sich auf und antworten mit einem »In Ewigkeit Amen«. Danach geht es nach kurzem Waschen und Anziehen zum Morgengebet mit anschließender Heiliger Messe in die Konviktskapelle. Nach dem Gottesdienst folgt das Frühstück im großen Speisesaal, anschließend eilen sie zur Schule im Ort, wo sie in Reih und Glied in die Klassenräume marschieren müssen. Nach sechs Stunden Unterricht nehmen sie gemeinsam das Mittagessen im Konvikt ein. Um 15 Uhr beginnt in absoluter Stille das Studium, das mit kurzen Pausen bis 18.45 Uhr dauert, der Zeit für das Abendessen. Für die Oberstufe danach noch mal Studium, um 20.15 Uhr für alle das Abendgebet in der Kapelle. Spätestens um 21.30 Uhr ist Nachtruhe. Je nach Wochentag und Altersstufe variiert der Tagesablauf ein wenig, aber der strikte Rahmen gilt grundsätzlich für alle. Selbst die Freizeit ist durch einen »Pflichtausgang« geregelt, der mindestens zu dritt erfolgen muss. Dies gilt sogar noch für die älteren Schüler, die kurz vor dem Abitur stehen. Kontrolle und Überwachung bestimmen auch die knapp bemessene Freizeit der Konviktbewohner.

Obwohl das streng reglementierte Leben für die Lafontaine-Zwillinge gewöhnungsbedürftig ist, fühlen sie sich allmählich im Konvikt wohl. Bereits beim ersten Besuch der Mutter soll Hans bei der Verabschiedung gesagt haben: »Mama, wenn du dich auch ärgerst, es gefällt uns im Konvikt besser als daheim.« Oskar Lafontaine erinnert sich gleichwohl, wie schwierig die Anfangszeit in Prüm war: »Ich habe das als Bruch, als Schock empfunden und brauchte eine Zeitlang, bis ich die Situation als junges Kind verkraftet hatte. Ich habe dann aber, wie Kinder eben sind, versucht, mich einzurichten.«

Beide finden Gefallen am Gruppenleben, neben der offiziellen Hausordnung gelten allerdings eigene Gesetze unter den 85 Jungen. Verschiedene Cliquen, meist identisch mit dem jeweiligen Jahrgang, scharren sich zusammen. Das Recht des Stärkeren spielt in jeder dieser Banden eine große Rolle, ohne körperliche Kraft und Durchsetzungsvermögen ist man der Gruppe ausgeliefert – die internatstypische Rang- und Hackordnung. Oskar gehört wie in der heimischen Fischerstraße schnell zu den führenden Köpfen, obwohl er einer der Jüngsten ist. Er sei alles andere als zimperlich und bald der Anführer seiner Clique gewesen. Den Zwillingsbruder habe er wie schon zuvor in Pachten geschützt, dieser wäre ansonsten in Prüm gescheitert, wie Mitkonviktoristen meinen.

In der Schule finden sich die Brüder ebenfalls schnell zurecht. Sie belegen den altsprachlichen Zweig mit erster Fremdsprache Latein, zweiter Griechisch und dritter Französisch. Das humanistische Gymnasium verlangt ihnen viel ab, aber beide sind den schulischen Anforderungen gewachsen. In der abgeschlossenen Atmosphäre von Benediktinerabtei und Bischöflichem Konvikt, zwischen Kreuzgang und Kapitelsaal, Bibliothek und Barockaula versenken sie sich nachmittags ins Studium. Ihre Noten sind gut, und bei Familienbesuchen legen sie die Zeugnisse stolz ihrer ehemaligen Grundschullehrerin Irmgard Hoffmann vor.

Nach Hause fahren die Konviktoristen nur in den Oster-, Sommer- und Weihnachtsferien. Katharina Lafontaine besucht ihre Söhne alle drei Wochen, auch wenn die Reise beschwerlich und langwierig ist. Die Entfernung von Pachten nach Prüm beträgt zwar weniger als 200 Kilometer, doch da das Saarland noch nicht zur Bundesrepublik gehört, müssen Landes- und Zollgrenzen passiert und mehrfach die Transportmittel gewechselt werden. Sie bringt den Zwillingen Wäsche, Kleidung und Süßigkeiten mit und wohnt eine Nacht im Hotel. Diese Besuche an jedem dritten Wochenende sind für die Familie Lafontaine ein festes Ritual über die gesamten Prümer Jahre.

Viele der Mitschüler leben ebenfalls fern von ihren Familien. In der Regino-Schule kommt nur ein Drittel der Gymnasiasten aus dem Eifelstädtchen, das sind die Söhne wohlsituierter Prümer. Ein Drittel kommt aus der Umgebung, zumeist Bauern- und Handwerkersöhne, die täglich eine längere Anreise haben. Das letzte Drittel wird von Konviktoristen gestellt, hauptsächlich aus dem Prümer Konvikt, aber auch aus anderen katholischen Internaten in der Umgebung. Die Konviktoristen kommen fast durchweg aus ärmeren Familien, denn das katholische Internat bietet gerade Söhnen aus sozial schwachen Verhältnissen eine vergleichsweise günstige Ausbildung. Viele stammen auch aus Gegenden, in denen es keine weiterführenden Schulen gibt. Das eigentliche Ziel des Konvikts, nach dem Abitur Theologie zu studieren, um Priester zu werden, wird jedoch nur von wenigen weiterverfolgt. Oskar Lafontaine merkt dazu an, dass man als Neunjähriger noch gar nicht wissen konnte, was man will: »Das hat man anfangs gar nicht mitbekommen, was das Ganze eigentlich sollte. Erst später, als wir mündiger wurden, sind wir dahinter gekommen.« Aus Oskars Schulklasse entscheiden sich von 25 Abiturienten nur vier zum Theologiestudium, zwei davon werden zum Priester geweiht; die meisten werden später Lehrer.

Die religiöse Erziehung stellt im Lauf der Konviktszeit für viele eine immer größere Belastung dar. Über zwei Stunden am Tag ist Silentium, absolutes Sprechverbot, was vielen besonders schwer fällt. Die wirklich Frommen sind in der Minderzahl, die Mehrheit versucht, dem katholischen Drill zu entkommen. Auch Oskar Lafontaine erinnert sich noch gut an die intensive religiöse Erziehung: »Jeden Morgen Gottesdienst, um sechs Uhr in der Frühe. Ich war auch Messdiener. Das heißt: Ich habe für mein Leben ausreichend Messen besucht.« Für Studium, Beten und Meditation ist für den Geschmack der meisten Zöglinge viel zu viel Zeit, der Bewegungsdrang der heranwachsenden Jungen verlangt nach anderen Aktivitäten. Sport ist daher die beliebteste Freizeitbeschäftigung für die Konviktoristen. Oskar tut sich beim Fußball besonders hervor, bereits mit 14 spielt er als Jüngster in der ersten Mannschaft des Konvikts. Das sportliche Angebot wird nach dem Umzug in den Neubau im Jahr 1957 durch einen konvikteigenen Sportplatz mit Aschenbahn, Tennisplatz und diversen Sportgeräten erweitert.

Neben Sport ist Musik besonders beliebt. Dafür stehen genügend Mittel bereit, im Konvikt genießt musische Betätigung hohes Ansehen. Musiklehrer für Blas- und Streichinstrumente, für Klavier und Orgel unterrichten die Schüler, teilweise für ein kleines Aufgeld. Der Kirchenchor und die verschiedenen Orchester im Konvikt haben oft Anlass aufzutreten, ob bei gewöhnlichen Sonntagsgottesdiensten oder an Feiertagen. Oskar spielt kurzzeitig Trompete, beschränkt sich dann aber auf das Singen in der Schola. Diese umfasst zehn Sänger und wird von einem Mitschüler als Organisten geleitet. Bernd Niles an der Orgel erinnert sich noch gut an den leidenschaftlichen Chorsänger: »Oskar war ein toller Sänger. Er beherrschte sämtliche Stimmen. Ich brauchte ihm nur ein Zeichen zu geben, dann konnte er den Tenor verstärken oder in den Bass hinuntergehen. Oskar war wendig. Mit seinem Gehör spürte er, wo es stimmlich fehlte, und er sprang dort ein.« Das Repertoire der Schola reicht von Gregorianik über Mozart, Beethoven und Schubert bis hin zu Gospels. Oskar Lafontaine erinnert sich, wie wichtig ihm die Musik im Konvikt war. »Hierbei entwickelte ich das erste Mal Sinn für Ästhetik. Für meine musikalische Bildung war das von Bedeutung. Bis zum Ende der Schulzeit sang ich in der Schola mit.« Die hochgelobte Schola tritt auch außerhalb der Konviktsmauern auf, eine Reise führt die jungen Sänger nach Frankreich, wo sie in russisch-orthodoxen Kirchen auftreten. Oskar Lafontaine wird seine sängerischen Qualitäten später nutzen: Mit Gefühl für den richtigen Takt stimmt er Lieder bei Wahlkampfauftritten an oder singt aus voller Kehle auf Straßenfesten.

Der Alltag in Prüm sieht Ringen ebenso vor wie Singen. Auch im Gymnasium steht Sport auf dem Lehrplan, und da der Erdkunde- und Sportlehrer Josef Kessler einst deutscher Vizemeister im Boxen war, nimmt dieser Sport großen Raum im Unterricht ein. Er führt die Schüler in alle Tricks des Boxsports ein, teilweise kommt es zu wüsten Faustkämpfen, bei denen schon mal Blut fließt. Oskar findet großen Gefallen am Boxen und ist ein zäher Kämpfer, der auch lernt, wie man den Gegner gekonnt niederstreckt.

Überhaupt hat Oskar in Prüm bald den Ruf weg, mit Fäusten und Worten hart zuzuschlagen. »Wer ihn angriff, musste sich warm anziehen und mit brutalen Reaktionen rechnen. Gnadenlos konnte er Kameraden niedermachen, körperlich und verbal. Seine sarkastischen Sprüche und verletzenden Anwürfe waren gefürchtet. Für ihn ein Stück Belustigung, für die Nichtbetroffenen beliebte Unterhaltung. Oskar suchte die Konfrontation, doch er suchte sich auch Opfer, die er fertigmachen konnte«, so ein Mitschüler. Nach eigenem Bekunden war er manchmal »ein richtiger Deiwel«. Vieles in Prüm, ob im Konvikt oder im Gymnasium, ist auf Macht und Dominanz aufgebaut. Die autoritären Methoden der Aufsichtspersonen, die katholische Zucht im Internat und die pädagogische Strenge in der Schule übertragen sich auf die Schüler, insbesondere auf die kasernierten Konviktoristen. Der Aggressionsstau entlädt sich gegenüber unterlegenen Schülern und zartbesaiteten Lehrern.

Die Lehrer im Gymnasium und die Priester im Konvikt sind sehr konservativ. Sie fühlen sich der ›alten Schule‹ verpflichtet, in der harte Disziplinarmaßnahmen bis zur Prügelstrafe als pädagogisches Mittel gelten. Die Regino-Schule dient im Kultusministerium von Rheinland-Pfalz der Strafversetzung für unliebsame Lehrer, weil Prüm so abgelegen ist. Nicht wenige der Lehrer von Oskar haben eine Nazi-Vergangenheit. Als ehemalige NSDAP-Mitglieder waren sie mit Berufsverbot belegt, bevor sie nach Prüm beordert wurden. Alle sind streng katholisch, viele politisch in der CDU organisiert.

Eine der umstrittensten Gestalten in der Prümer Lehrerschaft ist Erwin Schneider, der Klassenlehrer von Oskar und Hans. Ein unverbesserlicher Militarist, der seine politischen Überzeugungen unverhohlen äußert. Schneider macht es sich zur Angewohnheit, nationalsozialistische Lieder und Märsche zu pfeifen, während er die Bankreihen seiner Schüler im Stechschritt abgeht. Der »Onkel«, wie er bei den Schülern genannt wird, ist alles andere als beliebt. Mit Oskar versteht er sich allerdings bestens. Der ist sein Lieblingsschüler, umgekehrt ist Schneider Oskars Lieblingslehrer. Seine Noten sind auch sehr gut – Schneider unterrichtet naturwissenschaftliche Fächer –, aber dem Lehrer gefällt vor allem Oskars Charakter. »Oskar war sein Mann, dem er alles zutraute, der alles erstklassig beherrschte. Er spürte seine Intelligenz und Kraft, Schneider verehrte und liebte begabte Schüler, verachtete und schikanierte Untalentierte und Dumme«, wie ein Klassenkamerad urteilt. Der »Onkel« unterstützt seinen Schützling wo es nur geht, stellt ihn vor der ganzen Klasse heraus und befördert somit dessen Eitelkeit und Hochnäsigkeit. Zwischen dem kinderlosen Lehrer und dem vaterlosen Schüler entwickelt sich ein enges Verhältnis, wobei er kein Ersatzvater gewesen sei. »Eine prägende Figur war er für mich schon. Er hat vielen Mitschülern Probleme bereitet. Mich behandelte er wie ein Hätschelkind, das eben sehr begabt war, wie er meinte.« Zwischen seinen unerträglichen politischen Meinungen und seinem fachlichen Können hätte er zu unterscheiden gewusst. »Er war kein besonders guter Pädagoge für schwächere Schüler. Er konnte kommandieren und demütigen. Schneider brachte Schüler zur Verzweiflung. Mich hat er immer geschont und gelobt.« Das besondere Verhältnis zu Schneider hat auch Folgen für Oskar Lafontaine: »Er war mitverantwortlich für meine Entscheidung, Physik zu studieren. Ohne seinen nachhaltigen Einfluss hätte ich auch Sprachen oder Jura machen können«, urteilt er heute. Der Hardliner Schneider verkündet noch 1990, dass er kein Anhänger der Demokratie sei und die Monarchie für die beste Staatsform halte. An Oskar Lafontaine schreibt der ehemals stolze Lehrer später wütende Briefe, weil er mit dessen Politik überhaupt nicht konform geht – als »Vaterlandsverräter« und »moskauhörig« beschimpft er ihn.

Das Internat lenken ebenfalls resolute Erzieher. Der Konviktsdirektor Peter Hammes, der sich für die Aufnahme von Hans und Oskar verwendet hatte, ist berüchtigt für seine Strafmaßnahmen. Mit einer aus Lederriemen geflochtenen Peitsche züchtigt der Priester die ihm Anbefohlenen schon für kleinere Vergehen wie das unerlaubte Pflücken von Erdbeeren. Sein Nachfolger ab 1958, der Priester Helmut Löscher, wird noch mehr als Hammes von den Konviktoristen gehasst. »Er war ein Psychopath und verkörperte die neurotische Seite des Christentums, Hammes und Löscher existieren für mich bis heute als Alptraumfiguren«, erinnert sich ein Konviktorist. Löscher drängt mit regelrechtem Psychoterror darauf, dass sich alle Zöglinge auf eine anschließende Priesterlaufbahn festlegen, ansonsten flögen sie gleich aus dem Konvikt. »Die Konviktsleitung versuchte uns zu indoktrinieren«, so Oskar Lafontaine. »Wir haben uns dagegen aufgelehnt, als unser Bewusstsein kritischer wurde.« Löscher verteufelt auch jede Form von Sexualität, Onanie gilt als Todsünde, Duschen und Baden muss entsprechend zügig vonstatten gehen. Kontakte zu Mädchen sind sowieso rar, und Löscher beobachtet mit dem Fernrohr, was seine Zöglinge in der Stadt treiben. In der Schule gibt es ohnehin reine Jungenklassen, so dass kaum Kontakte zum anderen Geschlecht bestehen. »Die sexuelle Entwicklung des jungen Menschen wurde brutal unterdrückt. Wer anfällig für die gepriesenen Ideale des Konviktsdirektors war, sah in jeder Frau entweder die Jungfrau Maria oder eine Nutte. Wie wir unsere eigene Mutter zu begreifen hatten, war ein Rätsel«, urteilt ein Konviktorist.

Der saarländische Schriftsteller Alfred Gulden, im Prümer Konvikt ein Jahrgang unter Lafontaine, heute der engste Freund aus Konviktzeiten, beschreibt in seinem Roman ›Die Leidinger Hochzeit‹ (1984) die Erziehung unter Internatsleiter Helmut Löscher: »Keiner von ihnen ist Priester geworden. Keiner hat sich einlullen lassen von den dümmlichen Reden des Herrn Direktors. Im Gegenteil. Geradezu gierig hatten sie, kaum aus dem Konvikt, Kontakt zu den Mädchen gesucht. Nachholbedarf, hatte Erich gelacht. Und sie hatten erkannt, was sie, noch im Konvikt, nur vermutet hatten: verdreht, völlig verdreht waren die Ansichten des Herrn Direktors gewesen. Abschreckung, keine Frau anzurühren, des Teufels die Weiber, in sich das Böse.«

Sich hier behaupten zu können, verlangt den Konviktoristen viel ab. Unter der Jungen sind Schlägereien und Machtkämpfe an der Tagesordnung. Die Schwächeren werden zu Sklavendiensten für die Stärkeren herangezogen, mit Gemeinheiten und Demütigungen reagiert man sich an Jüngeren und Hilflosen ab. Oskar setzt sich hier durch, er genießt eine unangefochtene Vormachtstellung in der Gruppe, die er auch ausspielt. Dass er immer Vorsänger im Kirchenchor, Mittelstürmer auf dem Fußballplatz und Anführer jedes Klassenkrawalls gewesen sei, betont er später stolz, auch, dass er »physisch ganz schön auf der Höhe« gewesen sei, sprich: die anderen verdroschen habe. »Ich habe mich gut behauptet in diesem Klüngel von Jungs – Raufen, Stellungskämpfe, so wie ihn junge Hunde oder Katzen austragen. Weil ich auch die notwendigen körperlichen Kräfte hatte, fiel mir das leicht. Ich war dann Klassensprecher, ich konnte mich in Gruppen gut zurechtfinden – das ist sicherlich eine Grundlage für die späteren politischen Aktivitäten gewesen, dass ich mich in diesem Konvikt gut behauptet habe. Diese Zeit war prägend, ich musste dort mein soziales Verhalten üben.«

Gegenüber der Konviktsleitung verhält er sich moderat, er habe nicht rebelliert und die klerikale hierarchische Ordnung respektiert, so ein Mitkonviktorist. Opponiert habe er schon, das enge Korsett habe ihm nicht behagt, so Lafontaine heute. In einem Aufsatz im Konvikt, ›Welche Formen des Anstands und der Höflichkeit sind für mein Alter angebracht?‹, vom 26. Juni 1956, schreibt der 12-jährige Oskar: »In meinem Alter sind die Jungen in den sogenannten Flegeljahren. In diesem Alter befallen uns die Versuchungen besonders stark, und daher fällt es uns manchmal schwer, uns zusammenzureißen. Wir müssen also in unserem Alter schon einigen Wert auf Anstand und Höflichkeit legen. In dem Hause, in dem wir uns befinden, wird die Versuchung noch dadurch verstärkt, daß wir eine ganze Horde sind. Wir sind wohl auch die schwerste Last für die Aufsichtsperson. Wenn diese nicht das nötige Verständnis für uns zeigt, kommen wir meistens nie gut zusammen aus. Zum Glück ist dies im Hause nicht der Fall. Die Aufsichtspersonen bringen uns gegenüber das nötige Verständnis auf, und so versuchen auch wir, ihnen gegenüber dasselbe aufzubringen. Zwar bringen wir dies manchmal nicht fertig, aber an unserem Willen sieht man doch, daß wir den Sinn des Hauses erfaßt haben. Unter uns müssen wir auch Anstand und Höflichkeit zeigen. Wir müssen auf Unseresgleichen Rücksicht nehmen und zur Gemeinschaft in unserem Hause nach besten Kräften beitragen.«

Für die kurz vor dem Abitur stehenden Konviktoristen werden Zucht, Ordnung und Eingesperrtsein immer quälender. Im Sommer 1960 bittet Hans Lafontaine seine Mutter, sich in Prüm ein Zimmer außerhalb des Internats nehmen zu dürfen. Der stille und verschüchterte Bruder hält es nicht mehr aus, er gehörte immer zu den Unterlegenen in der Gruppe, auch wenn Oskar seine schützende Hand über ihn hielt. Außerdem wäre Hans wahrscheinlich sowieso ausgeschlossen worden, da er unerlaubterweise zu einer Sportveranstaltung gegangen war. Einem Rauswurf kommt er mit seinem Auszug zuvor.

Oskar folgt seinem Bruder bald nach – allerdings auch nicht freiwillig. Nach einer Probe der Schola sucht er mit ein paar anderen Sängern eine Kneipe auf, wo sie mehrere Gläser Bier trinken. Als die Anstaltsleitung davon erfährt, fliegen alle »verruchten Sünder« hochkant aus dem Konvikt. Nach knapp acht Jahren ist der Aufenthalt im Bischöflichen Konvikt Prüm für Oskar Lafontaine jäh beendet. Die Absicht, Priester zu werden, hatte er schon längst nicht mehr.

Im Februar 1961 bezieht er ein Zimmer in Prüm. Er kommt bei dem Polizistenehepaar Gierten im Achterweg 7 unter. Ein kleines Zimmer unterm Dach, mit geringem Komfort, aber er ist froh, dem Konvikt entkommen zu sein. Bis zum Abitur fehlt nur noch ein gutes Jahr. Für die Mutter entstehen durch die Privatunterkünfte ihrer Söhne noch mal Extrakosten, aber Oskar kann durch Nachhilfeunterricht wenigstens ein bisschen Geld hinzuverdienen.

Nach der jahrelangen Kasernierung und totalen Kontrolle im Internat kann er das letzte Jahr in Prüm etwas freizügiger verbringen. Zunächst muss er sich an die neu entstandene Freiheit gewöhnen. Kneipen, Kino, Kegeln – völlig neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung, die im Konvikt verboten waren. Als Pubertierender habe er langsam angefangen, sich »für Mädels zu interessieren«. Im letzten Schuljahr trifft er dann bei einem Aufenthalt im Saarland Ingrid Bachert, seine erste große Liebe, die er Jahre später heiraten wird.

Mit anderen Konviktaussteigern gründet er den »Club der Ehemaligen«, das Gruppenleben hat alle geprägt und will zu einem Teil beibehalten werden. Mit dem Chor unternimmt er in diesem Jahr die Frankreichreise durch russisch-orthodoxe Klöster, die ihn besonders beeindruckt. Das letzte Jahr in Prüm geht schnell vorüber, allein die Vorbereitung auf das Abitur kostet viel Zeit und Mühe.

Am ›Staatlichen Regino-Gymnasium‹, die Schule trägt seit dem Wiederaufbau und der Einweihung neuer Schulgebäude im Sommer 1961 diesen Namen, legt Oskar Lafontaine im März 1962 das Abitur ab. Er schließt mit überdurchschnittlicher Leistung ab, der Note ›gut‹, denn »unsere Lehrer waren damals der Ansicht, dass es keine Schüler gebe, die ein ›sehr gut‹ verdient hätten«, so Oskar Lafontaine. Wegen eines Streiches, an dem er beteiligt ist – der Griechischlehrer setzt sich in die präparierte Wasserlache auf seinem Stuhl –, wäre beinahe die gesamte Klasse um ein Jahr zurückversetzt worden. Doch in letzter Minute können Oskar und der Übeltäter durch eine Entschuldigung beim erzürnten Lehrer ihre Klasse vor dieser Schmach bewahren.

Die Abiturienten des Jahrgangs 1962 bilden bis heute eine verschworene Gemeinschaft. Alle fünf Jahre kommen sie zum Klassentreffen in Prüm zusammen. Das Regino-Gymnasium befindet sich weiterhin in der alten Benediktinerabtei, das Bischöfliche Konvikt ist mit Ende des Schuljahres 1999/2000 geschlossen worden.

Oskar bricht Ostern 1962 aus Prüm auf. Das Städtchen in der Eifel wird er nicht sehr vermissen, aber die Internats- und Gymnasiumsjahre haben ihn geprägt. Ein Jesuitenzögling, wie es später immer wieder über ihn heißt, ist er allerdings nicht, ein Bischöfliches Konvikt ist kein Jesuitenkolleg. »Mit Jesuiten hatte ich nur Kontakt in den Exerzitien, das Jesuitische habe ich nicht unkritisch gesehen.« Weltanschauliche Parallelen zu Jesuiten gebe es schon, beispielsweise zu Heiner Geißler (CDU), der heute auch quer gegen seine Partei stehe: »Man bleibt den eigenen aus dem Christentum abgeleiteten Auffassungen treu.« Die katholische Erziehung habe einen moralischen Kodex, die humanistische Erziehung »eine grundsätzliche, methodische Herangehensweise an ein Thema« entstehen lassen: »Bei den heute Handelnden wie Schröder oder Merkel vermisse ich die philosophisch-literarische Bildung, während man mit einer humanistischen Bildung immer wieder angehalten ist, sich zu fragen: Was heißt denn Freiheit, was heißt denn Solidarität, wie definierst du das überhaupt?« Den altsprachlichen Zweig beurteilt er im Rückblick als »eine gute Grundlage des Denkens, weil Latein und Griechisch zur Exaktheit zwingen und einen guten Einstieg in die Philosophie darstellen«.

Im Konvikt bildet der jugendliche Oskar Lafontaine seine natürlichen Anlagen aus. Das Internat ist eine Schule der Disziplin, und diese Schule besteht er glänzend. Kraft und Intelligenz stellt er in den Dienst eines Systems, in dem er sich souverän behauptet. In den Internatsjahren wird er geformt. Er entwickelt emotionale und soziale Intelligenz, lernt Rang- und Hackordnungen kennen, erfährt Demütigung und Befriedigung, aber auch Freundschaft und Solidarität. Darüber hinaus erlernt er Fertigkeiten und erkennt Fähigkeiten: Humanistische Bildung, mit der er intellektuell bestechen kann, rhetorische Begabung, mit der er argumentativ zu überzeugen vermag. Er erwirbt das Rüstzeug für Größeres.

Provokation und Politik. Oskar Lafontaine

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