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Die Stadt war in ein verwaschenes Grau gekleidet, und ich hatte gute Laune. Ungewohnt war nur die trockene Kälte, die kleine, weiße Wattebäuschchen aus den Mündern der Passanten quellen ließ. Denn eigentlich kannte die Stadt nur eine unangenehme, feuchte Kälte, die sich wie ein nasser Waschlappen auf die Lunge legte.

Die Menschen waren emsig damit beschäftigt, ihre Weihnachtseinkäufe zu tätigen. Aus fast jeder Ecke scholl einem Weihnachtsmusik entgegen, es roch nach gebrannten Mandeln, nach Bratwurst und nach Schnee. Ein Idyll. Ein Großstadt-Idyll. Die Luft summte von den Gesprächsfetzen, vom Gebrumm der Motoren des vorbeifließenden Verkehrs. Kinder umsprangen ihre Eltern wie aufgeregte junge Hunde und versuchten sie verzweifelt zu den hellerleuchteten Schaufenstern zu dirigieren, in denen Berge von buntem Spielzeug aufgetürmt waren. Nickende Stofftierchen, flitzende Eisenbahnen, Lichtsignale aussendende Computerspiele. Wie riesige Münder sogen die weitgeöffneten Türen der Kaufhäuser die Menschen hinein, pusteten die aus der Kälte kommenden Menschen mit ihrem Klimaatem warm, schleusten sie an den unterschiedlichsten Waren vorbei, um sie dann später, wohlversorgt, an anderer Stelle wieder auszuspeien.

An kleinen Tischchen standen meist junge Leute, einen Packen Flugblätter in den kalten Händen, bereit, jedem ihre Information in die Hand zu drücken. Fast unmerklich ergab sich ein Spiel zwischen den Passanten und den jungen Menschen. Versuchten die einen, wenn sie sich den Tischen näherten, möglichst wegzusehen, um nur nicht aufgehalten und in eine Diskussion verwickelt zu werden, so flogen die Blicke der anderen scheinbar unbeteiligt und voller Verachtung über die Menschen hinweg, die sich in dumpfer Ahnungslosigkeit über die Übel auf dieser Welt dem Konsumrausch hingaben. Allerdings waren sie doch nicht so unbeteiligt, denn mit steter Regelmäßigkeit sprachen sie Menschen an und versorgten sie mit einem Flugblatt, deren ganze Körperhaltung nur zu deutlich Unwillen und Ablehnung spüren ließen.

Wirklich unbeteiligt an dem ganzen Treiben waren die Penner. Sie hatten in kleinen Grüppchen die Bänke okkupiert und ließen die furchtbaren Zwei-Liter-Rotweinflaschen kreisen. Ab und zu stand einer von ihnen auf, pißte an einen Baum oder drehte zur Weihnachtsmusik ein paar Pirouetten, bis einige Menschen stehenblieben und ihm zusahen. Hatten sich genügend Zuschauer angesammelt, stoppte er seine Vorstellung und bettelte um etwas Geld. Abrupt drehten sich dann die meisten Menschen weg und setzten ihren Weg fort, nur wenige fischten ein paar Münzen hervor und drückten sie dem Penner in die Hand. Dennoch – auch hier mußte es eine Art Weihnachtsgeschäft geben, denn an den Bänken hatten sich Batterien von geleerten Rotweinflaschen angesammelt. Auch die Polizisten machten ein gutes Geschäft, sie hatten nichts anderes zu tun, als die Geschäftsstraßen hinauf- und herunterzuspazieren. Falschparker gab es genug, und auch für den Nachschub war gesorgt.

Als ich von dem Geschiebe und Gestoße genug hatte und mir auch genügend Mitmenschen auf die Hacken getreten oder mir ihre Pakete in den Rücken gebohrt hatten, so daß mich keiner einen Spielverderber schimpfen konnte, zog ich mich mit meinen wenigen Plastiktüten in ein Café zurück, ergatterte einen herrlichen Platz in der Ecke, von der aus ich den ganzen Raum übersehen konnte und wartete auf die Bedienung.

Das Warten wurde wirklich zum Warten, denn das kleine Café war bis auf den letzten Platz besetzt, aber es wurde belohnt. Plötzlich stand eine junge, anziehende Frau vor mir und fragte mich nach meinen Wünschen. Ich musterte sie verdutzt und bestimmt einen Tick zu aufdringlich, denn plötzlich sagte sie: »Oder soll ich noch mal wiederkommen, wenn Sie es sich überlegt haben?«

»Nein, um Himmels willen, bloß nicht. Ich ... ich.«

Während von links und rechts von den Tischchen schon ungeduldige Rufe nach dem Frollein laut wurden, wartete sie mit gezücktem Bleistift auf meine Bestellung.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, »das war ungehörig.«

Um ihre Augen spielte ein Lächeln.

»Ihre Bestellung, bitte.«

»Frollein, bitte zahlen – wir müssen doch weiter!« rief es mahnend von einem Nebentisch.

Die junge Frau drehte ihren Oberkörper ein ganz klein wenig von mir weg und rief: »Komme sofort.«

»Einmal Apfelkuchen mit einem Hauch von Sahne und ein Kännchen Kaffee«, sagte ich.

Nun lachte ihr Mund mit, als sie sagte: »Na, war das denn nun so schlimm?«

Ehe ich antworten konnte, entfernte sie sich schon. Die Frau gefiel mir, nur die Gesundheitslatschen an ihren Füßen störten mich. Hochhackige Schuhe wären mir lieber gewesen. Aber der Mensch kann nicht alles haben.

Ich sah auf meine Armbanduhr, noch eine gute halbe Stunde hatte ich Zeit, bis mich eine gewisse Vera Beininger in diesem Café treffen würde, um mich um Rat zu fragen, wie es mein Freund Klaus Lutzenberger ausdrückte, als er mich in einem Telefonat darum bat, einer alten Freundin von ihm, der er viel zu verdanken hätte, zu helfen. Na, ich würde ja sehen, was der Besuch der guten alten Freundin brächte. Gerade suchte ich nach meiner Packung Zigaretten und meinem Feuerzeug, als die junge Frau auf meinem Tisch einen Haufen Geschirr plazierte und dazu sagte: »Ein Apfelkuchen mit einem Hauch von Sahne und ein Kännchen Kaffee, bitte sehr.«

Mein gemurmeltes »Vielen Dank« hörte sie nicht mehr, denn sie befand sich schon wieder auf dem Rückweg zum Buffet. Ich stand auf und drängelte mich ebenfalls an den Tischchen vorbei, allerdings in Richtung Garderobe, um aus meiner Manteltasche die Zigaretten und das Feuerzeug zu holen. Als ich an meinen Platz zurückkehrte, saß eine schnaufende, rotgesichtige, dicke Frau an meinem Tisch, starrte auf den Kaffee und den Kuchen und murmelte: »Dabei bin ich doch eben erst gekommen und hab noch nichts bestellt.«

Ich war verblüfft und sagte kein Wort. Erst als sie ihre von der Kälte gerötete und von der Arbeit ganz schwielige Hand hob und nach der Kuchengabel griff, rief ich: »Stop.«

Ihr Hals, der in einem derben, grauen Mantel stak, dessen Kragen sich über den Haaransatz geschoben hatte, löste bei mir das Bild einer Schildkröte aus. Und genau so behäbig und langsam wie eine Schildkröte drehte sie ihren Kopf, um mich anzusehen. Zu allem Überfluß hatte sie auch so alte Augen wie eine Schildkröte, die mich nun blinzelnd anschauten. Vornübergebeugt, den Kopf mir zugewendet und die Kuchengabel in der Hand, versuchte sie sich darüber klar zu werden, ob ich wohl zu ihr gesprochen hatte. Sie sagte aber kein Wort, und ich konnte mich nicht von dem Bild der Schildkröte befreien, ja ich bedauerte schon, keinen Salat bestellt zu haben.

»Das ist der Tisch des Herrn«, hörte ich eine weiche, aber bestimmte Stimme sagen. Und ohne mich umzudrehen, wußte ich, daß meine Bedienung hinter mir stand.

Ich räusperte mich, denn ich hatte das Gefühl, nun auch etwas sagen zu müssen.

»Da vorn wird ein Tisch frei«, sagte meine Bedienung, und ich spürte, wie sie sich hinter mir bewegte. Irgendwie standen wir sehr unglücklich in diesem schmalen Gang vor meinem Tisch, zumal die Schildkröte einen riesigen Berg von Tüten wie einen Schutzwall um sich aufgebaut hatte.

»Da vorn wird ein Tisch frei«, wiederholte meine Bedienung.

»Ach, sonst kann ich doch auch ...«, sagte ich.

»Nein«, sagte die Schildkröte.

»Nein«, sagte meine Bedienung.

Ich schwieg. Die Schildkröte legte meine Kuchengabel hin und erhob sich ganz langsam. Sie war von enormer Leibesfülle. Als sie sich nach ihren Tüten bückte, wollte ich ihr helfen und bückte mich ebenfalls.

»Lassen Sie das«, sagte die Schildkröte und griff nach der Tüte, die ich gerade aufnehmen wollte. Also richtete ich mich wieder auf und drehte mich dabei um. Das Gesicht der jungen Frau war nun unmittelbar vor meinem. Eine richtige Erholung.

»Ich glaub, wir müssen zurück, sonst...«, weiter kam ich nicht, denn plötzlich erhielt ich einen Stoß in den Rücken, der mir das Gleichgewicht nahm, und hörte die Schildkröte schnarren: »Aus dem Weg da.«

Ich stolperte nach vorn und landete in den Armen der jungen Frau. Sie hatte feste Hände. Irgend jemand im Lokal lachte. Mir war das gleich, mir gefiel meine Lage, und ich verspürte wenig Lust, wieder auf die Beine zu kommen.

»Nun stellen Sie sich mal wieder hin«, hörte ich eine Stimme in meinem Ohr.

»Aber nur, wenn Sie mir Ihren Namen verraten«, murmelte ich zurück.

»Karin Hagen.«

»Sehr angenehm«, sagte ich, »mein Name ist Philipp Freyberg.« Und dann nahm ich meinen festen Standpunkt wieder ein.

Wir ließen die Schildkröte vorbei, die sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, aus dem Lokal drängelte. Als ich endlich wieder an meinem Tischchen saß und Karin Hagen weiterarbeitete, nahmen auch die anderen Gäste von dem Zwischenfall weiter keine Notiz mehr, und schon nach wenigen Momenten war es so, als wäre nie etwas gewesen.

Der Kaffee war merklich abgekühlt, aber er schmeckte trotzdem. Den Kuchen ließ ich erst einmal stehen, statt dessen zündete ich mir eine Zigarette an.

Das Café war angenehm. Die Wände, in dunklem Holz getäfelt, gaben dem Raum eine anheimelnde Atmosphäre. Die in die Decke eingelassenen Punktstrahler leuchteten ihn geschickt aus und nahmen nichts von der Wärme, die das Holz ausstrahlte. Die kleinen Tischchen mit ihrer weißen Marmorplatte gaben dem Ganzen Charakter. Ich drückte meine Zigarette aus und aß von dem Kuchen. Langsam begann ich, mich wohlzufühlen. Wäre ich allein gewesen, dann hätte ich vor Zufriedenheit aufgeseufzt, mich zurückgelehnt und die Augen zu einem kleinen Schläfchen geschlossen.

Denn ein solches Wohlgefühl stellte sich bei mir nicht allzu häufig ein, ich bin eher ein unausgeglichener Typ. Ganz selten fühle ich mich eins mit der Welt, dann allerdings gibt es kein Halten mehr, und ich koste das aus. Ich nenne das die seltenen Momente des Glücks, denn im Gegensatz zu vielen meiner Mitmenschen bin ich der Meinung, daß das Unglücklichsein der alltägliche Zustand des Menschen ist und nicht das Glücklichsein. Mithin lohnt es sich nicht, dem vermeintlichen Glück jeden Tag aufs neue nachzurennen, weil man das Glück sowieso nicht einfangen kann, schon gar nicht auf Dauer. Alltag und Glück sind ein stetig wirkender Widerspruch, der nur für Momente aufgehoben werden kann. Durch die seltenen Momente des Glücks. Und erst wer diesen Mechanismus kapiert hat, hat überhaupt eine Chance, das Glück zu genießen. Denn wer das nicht begreift, wird sich darin verzehren, das Unmögliche möglich zu machen, wird über der Suche nach dem permanenten Glück, die Fähigkeit, Glück zu erleben, verlieren. Wer die Sterne unbedingt besitzen muß, kann sich über ihren Glanz nicht freuen.

Und ich fühlte mich wohl. Der Tag hatte in aller Ruhe für mich begonnen, obgleich mich das Läuten des Telefons aus dem Schlaf holte. Aber bis ich endlich den Hörer erwischt und aufgenommen hatte, hatte es der Anrufer aufgegeben und aufgelegt. Ich fühlte mich nicht gestört, sondern drehte mich wohlig im Bett und genoß die Wärme. Der Spalt zwischen Rollo und Wand zeigte mir das verwaschene Grau des Tages, und ich entschloß mich, in die Küche zu tappen und mir einen Kaffee zu kochen. Ich stellte das Tablett in mein Bett und kroch wieder unter die warme Decke. Der Radiowecker schaltete sich ein, und ein trauriges Lied von der Liebe erklang. Ich hatte am Abend zuvor vergessen, die Aus-Taste zu drücken. Die Morgenzigarette rundete das sich in mir ausbreitende Wohlbehagen ab, und ich verlor mich darüber, wie ich den Tag gestalten sollte. Bis in den Januar hinein hatte ich nun frei. Ich hatte alle Aufträge erledigt, selbst der größte Brocken, eine Serie über Versicherungsbetrügereien, war erledigt worden. Termingerecht.

Schuhe. Natürlich. Ich hatte doch Schuhe nötig. Warum sollte ich nicht heute einkaufen gehen? Ein neues Jackett konnte ich auch gebrauchen, und schon lange hatte ich nicht mehr in einem Buchladen gestöbert. Der noch junge Tag nahm in meinem Kopf Gestalt an. Da klingelte das Telefon, und ich hatte den Hörer schon vor dem zweiten Läuten aufgenommen.

»Philipp Freyberg.«

»Good morning, Sir.«

»Morgen, Klaus.«

»Tag, mein Lieber. Stör ich dich?«

»Nein.«

»Ich hab vorhin schon mal angerufen, aber da hast du nicht abgenommen.«

»Aber auch da hast du nicht gestört.«

»Okay.«

»Was gibt’s?«

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

»Nur zu, solange es nicht mit der Serie zu tun hat.«

»Nein.«

»Dann ist es in Ordnung.«

»Es geht um eine alte Freundin, sie braucht einen Rat von dir.«

»Wann?«

»Heute.«

»Ich bin aber seelisch auf einen Stadtbummel eingestellt und würde nur ungern alles über den Haufen werfen.«

»Das trifft sich gut. Vera Beininger wird um vier Uhr im Café Meißner sein. Da könnt ihr euch treffen, wenn du einverstanden bist.«

»Und du willst mir nicht sagen, um was es bei diesem Gespräch geht, Klaus?«

Augenblick Pause. Dann: »Es wäre mir lieber, Philipp, wenn du dir die Sache unvoreingenommen anhörst. Ich glaube, das bringt mehr. Ja, ich bin mir sogar sicher. Du kannst mich anrufen, wenn du wieder bei dir zu Hause angekommen bist. Vielleicht können wir abends zusammen einen Happen essen gehen, und ich versorge dich dann mit Hintergrundmaterial. Ich hab zwar um 17 Uhr noch ein Gespräch mit meinem Verleger. Aber vielleicht faßt er sich kurz.«

»Glaubst du daran.«

»Nein.«

»Auch gut. Also ich melde mich bei dir.«

Und damit war das Gespräch zwischen Klaus Lutzenberger, Chefredakteur der Zeitschrift, für die ich hauptsächlich schrieb, und mir beendet.

Ich fuhr fort, mich wohlzufühlen.

»Haben Sie noch einen Wunsch?«

Von mir unbemerkt hatte sich Karin Hagen meinem Tisch genähert und lächelte mich an.

»Oh, ja. Noch ein Kännchen Kaffee.«

»Und auch noch einen Hauch von Sahne?«

»Nein, danke.«

Wir lächelten uns an.

»Übrigens«, sagte ich, »vielleicht wird gleich eine Dame nach mir fragen. Würden Sie ihr meinen Tisch zeigen?«

»Alt oder jung?« Ihre Augen funkelten.

»Weiß ich doch nicht. Ich kenne die Dame nicht.«

»Heiratsannonce?«

»Oh, nein. Nein.« Ich lachte. »Ich bin weiterhin frei. Sie haben noch alle Chancen.«

»Päh«, sagte Karin Hagen und ging.

Ich holte mir das Buch, das ich gekauft hatte, aus der Tüte und blätterte es durch. Doch mir fehlte die Konzentration. Jetzt war nicht der richtige Moment, um mit der Lektüre zu beginnen. Also packte ich das Buch zurück in die Verpackung. Und genau in diesem Moment sah ich zwei hochhackige, rote Pumps auf mich zukommen und eine Stimme fragte: »Herr Freyberg?«

Zwei schmale, mit Naht-Strümpfen bekleidete Füße staken in den Schuhen. Am linken Fuß, unter dem Strumpf, saß ein Goldkettchen. Darüber begann schon die verwaschene Jeans. Endlich hatte ich das Buch in die Verpackung gefummelt und kam langsam wieder hoch. Die Situation hatte etwas Lächerliches an sich. Ich, noch halb über dem Boden gebeugt, wurde von einer etwa einen Meter und fünfundsiebzig Zentimeter großen Frau beobachtet, die, so mußte es zumindest erscheinen, über mir stand. Vorsichtig führte ich meinen Kopf an ihrem Becken vorbei, und dann saß ich wenigstens wieder gerade auf meinem Stuhl.

Nun kam der zweite Akt. Ich stand langsam auf.

»Herr Freyberg?«

Ich wußte doch, daß ich etwas vergessen hatte und nickte.

»Frau Beininger?«

»Ja.«

»Guten Tag.«

»Guten Tag.«

Als ich ihr den schweren Nerzmantel abnahm, sah ich Karin Hagen, die uns mit einem amüsierten Blick beobachtete. Ich schnitt ihr eine Grimasse. Sie drehte sich um.

Endlich saßen wir an dem kleinen Marmortisch.

»Darf es etwas sein?«

Ich blickte hoch und sah, daß mich Karin anschielte.

»Einen Tee, bitte.«

Vera Beininger öffnete ihre Handtasche und entnahm ihr eine Packung Zigaretten und ein Feuerzeug.

»Einen Tee, sehr wohl«, murmelte die Bedienung. »Und der Herr«, sie ließ die Worte in einer seltsamen Art und Weise in der Luft hängen. Ich drehte mich ein wenig um und spitzte die Lippen zu einem Kuß.

»Nein«, sagte ich.

»Sie kennen sich?« fragte Frau Beininger.

»Nein«, sagte ich und blickte der entschwindenden jungen Frau nach.

»Ach, es hatte den Anschein.«

Sie zündete sich eine Zigarette an. Ich fand, sie sah atemberaubend aus. Vielleicht .45 Jahre alt, mit einem Gesicht, das schon manches erlebt hatte. In ihre Jeans, die von einem mit viel Silber beschlagenen Gürtel gehalten wurde, hatte sie mit lässiger Eleganz eine weit geschnittene Seidenbluse gesteckt. Alles, was sie trug, war teuer. Aber eben nicht nur. Die Frau hatte Geschmack.

Ihre Nase war sicherlich einen Tick zu lang, aber was machte das schon aus, wenn man solche Lippen hatte? Sie sah mich belustigt an und fragte: »Zufrieden?«

Statt zu antworten, zündete ich mir eine Zigarette an. Sie lächelte.

»Unser gemeinsamer Freund tat sehr geheimnisvoll, als er mich um dieses Treffen bat«, sagte ich.

»Ach, der gute Klaus«, sagte sie, aber ihr Lächeln erstarb.

Ihre grauen Augen musterten mich, und ich spürte, daß diese Frau vor innerer Anspannung fast zitterte. Ihr Gesicht näherte sich meinem, und ein angenehmer Duft kitzelte mich in meiner Nase. »Ich habe Angst«, sagte sie und blickte auf ihre Uhr.

»Warum?«

»Ich soll ermordet werden.«

Sie senkte den Blick, legte ihre Zigarette in den Aschenbecher und begann, in ihrer Tasche zu wühlen. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie reichte mir einen Briefumschlag. Er war unbeschrieben. Keine Adresse und kein Absender. Ich drehte den Umschlag in meiner Hand: »Ist der Brief per Bote gekommen?«

Mein Lächeln mißglückte.

»Nein, er klemmte vor einigen Tagen hinter dem Scheibenwischer meines Wagens.« Wieder sah sie auf ihre Uhr. Die Frau war nervös.

Der Briefumschlag war so gewöhnlich, daß es schon gleich war, ob er in Tsien Fu oder Oberammergau gekauft worden war. Überall auf der Welt konnte man einen solchen Briefumschlag kaufen. In gewisser Weise war auch der Inhalt des Briefes gewöhnlich, aber eben doch ein wenig anders.

»Liebe Vera«, hatte da nämlich einer akribisch aus Zeitungsschnipseln zusammengesetzt, »ich glaube, du mußt bald sterben!«

Ich reichte ihr den Brief zurück. Stumm wie ein toter Fisch. Der Rauch ihrer Zigarette kräuselte aus ihrem Mund.

»Was sagen Sie dazu, Herr Freyberg?«

»Nur das Wörtchen bald hebt die Aussage über einen Gemeinplatz hinweg.«

Sie verzog keine Miene, sondern musterte mich nur mit ihren grauen Augen.

Ich beeilte mich zu sagen: »Ich mag solche Briefe nicht, aber nehmen Sie die Zeilen wirklich ernst?«

»Sie nicht?«

»Nein, eigentlich nicht. Es ist absolut untypisch, daß ein Mord – ohne Verbindung zu einer Erpressung – angekündigt wird. Absolut untypisch, jedenfalls in dieser Art. Oder meinen Sie, daß Sie erpreßt werden sollen?«

»Nein.«

»Es steht auch nichts davon in diesem Brief«, sagte ich und drückte meine Zigarette aus. »Ist das der erste Brief dieser Art, oder gab es da schon andere?«

»Nein.«

»Oder anderes? Geheimnisvolle Anrufe? Oder Steine, die durchs Fenster geflogen kamen? Mit einem Zettel dran?«

»Nein. Nichts dergleichen.« Ihre Stimme bebte.

»Na, sehen Sie«, sagte ich und lehnte mich zurück.

»Sie nehmen mich nicht ernst«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Doch, Sie schon. Nur den Brief nicht.«

Ich hatte mit einem Mal keine Lust mehr, in diesem Café zu sitzen. Ich wollte nach Hause. Draußen war die Dunkelheit hereingebrochen, und eine schier endlose Lichterkette zog an den Schaufenstern vorbei. Autolichter. Sie zerbröselte fahrig ihre Zigarette im Aschenbecher und sah auf die Uhr.

»Gibt es irgend etwas, mit dem man Sie unter Druck setzen könnte?« Ich lächelte sie an.

»Nein. Nein«, antwortete sie, »aber dennoch habe ich Angst. Und ich bin mit der Hoffnung hierhergekommen, Sie könnten mir helfen.«

»Und wie? Wenn ich fragen darf.«

Sie zuckte mit den Achseln.

»Hat Ihnen unser gemeinsamer Freund nicht erzählt, daß ich ein Schreiber von Beruf bin?«

»Er hat mir aber auch erzählt, daß Sie einmal Polizist waren und manchmal weiterwissen, wenn Menschen nicht mehr weiterwissen.«

»Das muß ich mir merken, das haben Sie schön gesagt.«

Ich blickte zu der Frau hin, die jetzt gedankenverloren auf den weißen Marmor starrte. Nur für einen Moment sprachen wir nicht, dann spürte sie wohl meinen Blick und brach das Schweigen: »Ich bin einen langen Weg gegangen. Mein Leben war nie leicht. Nein, wirklich nicht.«

Sie schüttelte den Kopf, als wundere sie sich, daß ein Mensch überhaupt einen so langen Weg zurücklegen kann. Mehr zu sich, als zu mir, sprach sie weiter: »So ein langer Weg, so ein verflucht langer Weg. Und durch wieviel Dreck man gehen muß.«

Ich schwieg. Aus den Augenwinkeln sah ich Karin Hagen, die an einem anderen Tisch servierte.

Vera Beininger sah mich an und lächelte: »Wann haben Sie das letzte Mal an Ihren Knien gerochen?«

»Wie bitte?«

»Erinnern Sie sich nicht? Alle Kinder riechen im Sommer gern an ihren Knien. Das ist ein eigentümlicher Geruch. Nach Sonne, nach Sand und nach erstem Schweiß. Ein unwiederbringlicher Geruch.«

Ich schwieg.

»Ich erinnere mich immer wieder daran. Und der Geruch ist noch in meiner Nase. Manchmal wenigstens. Es ist mir häufig so, als ob es erst gestern gewesen ist, daß ich ein Kind war, das an seinen Knien roch. Doch dann weiß ich, es ist vorbei.«

Aus ihrem rechten Auge löste sich eine Träne und zog eine Linie durch die Schminke.

»Oder glauben Sie, daß man irgend etwas aus seinem Leben zurückholen kann?«

Ich schüttelte den Kopf: »Nein, nichts.«

»Nein, nichts«, wiederholte sie und schniefte.

»Nur bewahren«, sagte ich. »Aber auch das schafft man nicht immer.«

»Bei dem Geruch der Knie habe ich es geschafft«, sagte sie und lächelte.

Viel zu spät nahm ich die Unruhe am Eingang des Cafés wahr. Viel zu spät.

Ich hörte einen Mann den Namen Beininger brüllen und weiß noch, daß ich mich darüber wunderte. Die Frau neben mir stand auf und wollte sich umdrehen. Aber dazu kam sie nicht mehr. Eine ungeheure Detonation rollte durch den Raum, dann noch eine und ich dachte: »Magnum .45.«

Ich hörte das Klirren von Porzellan und Schreie. Neben mir sagte eine ältere Frau: »Mein Gott«, und rutschte von ihrem Stuhl. Sie hatte wohl schon gesehen, was ich erst jetzt sah. Die gesamte Brust Vera Beiningers war eine blutige Masse. Dazwischen Fetzen ihrer Seidenbluse. Der weiße Marmortisch troff vor Blut. Und Vera Beininger stand, sah mich mit ihren grauen Augen an. Unverwandt. Sie bewegte die Lippen, aber ich konnte nichts hören. In ihrem Gesicht stand ein maßloses Erstaunen, so als hätte sie alles Mögliche erwartet, nur nicht das, was eben hier passiert war. Dann knickte ihr Oberkörper ein. Sie krachte auf den Marmortisch, riß ihn mit sich. Sie fiel zuerst auf den Boden, der Tisch landete neben ihr. Das Porzellan klirrte und zerbrach. Dann war Ruhe. Ich sah, daß mein weißes Oberhemd voll Blut war.

Der Flug des Vogels

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