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Der Kommissar hieß Marl, war lang und spindeldürr und hatte gelbe Zähne.

»Sie haben Frau Beininger also bei diesem Gespräch zum erstenmal gesehen?«

»Ja«, sagte ich.

»Wir werden alles überprüfen.«

»Bitte«, sagte ich.

Er ging quer durch den Raum, hin zu dem Tisch, an dem wir gesessen hatten. Er wechselte ein paar Worte mit den Beamten, die dort anscheinend die Spuren sicherten, zeigte auf etwas, bückte sich, kam wieder hoch, wies auf die anderen Tischchen, streifte mich mit einem zweifelnden Blick und winkte schließlich den Geschäftsführer heran, der mit seinen Mitarbeiterinnen am Buffet stand.

Das Café hatten sie gleich geschlossen, als sie kamen. Natürlich hatten die vielen Funkwagen mit ihrem rotierenden Blaulicht eine Menge Schaulustige angezogen. Nicht zu vergessen der Rettungswagen, der mit angefordert worden war, obwohl es nichts mehr zu retten gab. Kurze Zeit darauf war ein mausgrauer Ford Transit eingetroffen, und zwei Männer in mausgrauen Kitteln bahnten sich einen Weg durch die Gaffer und betraten das Café. Sie trugen einen Zinksarg. Als der Polizeiarzt die Leiche Vera Beiningers freigab, machten sich die Herren in den mausgrauen Kitteln an die Arbeit, um die sie niemand beneidete. Währenddessen nahmen die Polizisten die Personalien der Gäste auf. Danach wurden sie befragt, ob sie irgend etwas beobachtet hätten. Aber die meisten hatten nichts gesehen. Selbst diejenigen, die vorn am Eingang gesessen hatten, hatten nur wenig bemerkt. Und das wenige, das bemerkt worden war, wurde auch noch in sich widersprechenden Beobachtungen zu Protokoll gegeben. Einig waren sich die Gäste nur, daß der Mann, der geschossen hatte, schwarz im Gesicht gewesen war.

»Ein Neger also?« fragte Kommissar Marl.

»Nein, nein. Irgendwie anders. Er hatte sich etwas über das Gesicht gezogen. Eine Strumpfmaske vielleicht. Oder einen Schal. Vielleicht hat er sich auch nur etwas ins Gesicht geschmiert. Es ging ja alles so schnell.«

Aber darüber, ob der Mann sehr groß oder nur groß war, einen Mantel trug oder nur eine Jacke, über diese Fragen und ähnliche Details konnte keine Einigung herbeigeführt werden.

Wir standen alle unschlüssig herum und blickten auf den Kommissar, als sich eine kleine, ältere Dame durch den Kreis drängte und vor dem Kommissar stehenblieb.

Der Polizist bleckte seine gelben Zähne und sagte: »Ja bitte.«

»Also bei mir am Tisch saß noch ein Mann, aber ich kann ihn jetzt hier nicht mehr sehen.«

»So, so. Das ist ja interessant. Wie sah er denn aus?«

»Woher soll ich denn das wissen?«

Die Frau war empört. Irgend jemand lachte. Der Kommissar ließ einen strafenden Blick los.

»Ich meine, man starrt sein Gegenüber doch nicht an. Das gehört sich doch nicht.«

»Schon gut. Wie alt war er denn ungefähr?«

»Jung.«

»Wie jung?«

»Na eben jung.«

»Von Ihnen aus gesehen oder von mir aus?«

»Von uns beiden aus.«

»So, na ja. Wechsler«, er nickte einen Polizisten zu sich heran, »sprechen Sie doch noch mal mit der Dame.«

Er räusperte sich.

»Herr Geschäftsführer, können Sie bitte mal die Bedienung zu mir schicken, die für diesen Tisch zuständig ist?«

Ein verhuschtes junges Mädchen erschien. Sie war kreidebleich, ihre Wimperntusche war im ganzen Gesicht verlaufen. Sie hatte geweint.

»Können Sie sich daran erinnern, daß an diesem Tisch zwei Personen saßen? Die Dame hier und noch eine Person?«

»Ein Mann oder eine Frau?« fragte das Mädchen mit kläglicher Stimme.

»Das müssen Sie doch wissen. Sie haben doch hier bedient.«

»Es war ein Mann«, schnarrte die Frau, »das sagte ich doch bereits.«

»Sie sind bitte still.«

Der Kommissar war ungehalten.

»Ein Mann also ...« Das junge Mädchen machte eine fahrige Handbewegung.

Der Kommissar versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Ton zu geben: »Es ist mir gleich, ob Mann oder Frau. Ich will von Ihnen zuerst einmal wissen, ob an dem Tisch überhaupt zwei Personen gesessen haben. Und ...«

»Sie glauben mir also nicht«, schaltete sich die ältere Frau in das Gespräch ein.

»Wechsler, bitte.«

Der Polizist führte die Frau aus dem Kreis heraus, in den hinteren Teil des Cafés. Ich fing einen Blick von Karin Hagen ein, die mich nachdenklich betrachtete. Ich versuchte meinen Augen einen weichen Ausdruck zu geben. Aber es mißlang wohl, sie reagierte nicht darauf.

»Also was ist?« fragte Herr Marl die junge Bedienung.

»Ich ... Ich kann mich nicht erinnern.« Sie fingerte in ihrer Schürzentasche herum und zog einen zerknautschten Block hervor. Hektisch blätterte sie die Seiten durch. Endlich hatte sie gefunden, was sie suchte. Sie bewegte die Lippen, als sie versuchte, ihre Notizen zu entziffern.

»Auf meinem Block habe ich nur eine Bestellung für diesen Tisch notiert. Also saß da auch nur eine Person.«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ja, ich ...« Ihr Blick glitt hilfesuchend zum Geschäftsführer. Der reagierte prompt, schob sich vor und sagte: »Also, Herr Kommissar, das verhält sich folgendermaßen. Das Personal ist angehalten, sich zu notieren, wie viele Gäste an einem Tisch sitzen.«

»Und wie?«

»Durch Striche auf dem Block. Für jeden Tisch wird ein Zettel angelegt.«

»Ah, ja.«

»So können wir natürlich jederzeit belegen, wie viele Gäste an irgendeinem Tisch gesessen haben.«

Der Kommissar musterte ihn. »Es ist doch aber durchaus denkbar, daß ein Gast hereinkommt, an einem Tisch Platz nimmt, ohne daß die Bedienung es sogleich bemerkt.«

»Ja, schon, aber ...«

»Aber?«

»Nur für einen kurzen Moment, vielleicht. Wenn überhaupt. Denn meine Damen haben ihr Revier im Auge.«

»Revier«, echote Herr Marl.

Der Geschäftsführer wußte nicht, ob er nicken sollte.

»Na, wir werden das alles sorgsam überprüfen.«

Wieder zeigte der Polizist seine gelben Zähne. Dann wies er auf die wartenden Frauen und Männer. »Sie können jetzt gehen, meine Herrschaften. Allerdings werden wir Ihre Hilfe in den nächsten Tagen noch in Anspruch nehmen müssen. Wir werden Sie benachrichtigen. Ihre Adressen haben wir notiert. Falls Sie noch Fragen haben oder Ihnen noch etwas einfällt – und scheint es Ihnen auch noch so nebensächlich –, dann rufen Sie mich bitte an. Meinen Namen wissen Sie ja: Marl.«

Er deutete eine Verbeugung an. Nur leicht. Aber immerhin. Schweigsam verließen die Menschen das Lokal, draußen wurden sie allerdings gleich von den Schaulustigen mit Beschlag belegt. Kommissar Marl stand neben mir und stellte zum drittenmal die Frage, die für ihn scheinbar von so außerordentlicher Wichtigkeit war.

Ich beobachtete ihn, wie er mit dem Geschäftsführer sprach, als sich Karin Hagen neben mich stellte. »Sind Sie in Ordnung?«

Ihre Stimme war weich und tat mir gut.

»Ja, danke. Es geht schon wieder.«

»Möchten Sie einen Cognac?«

Ich nickte. Sie verschwand und kam nach einem kurzen Augenblick mit einem einfachen Wasserglas zurück. Mindestens ein dreistöckiger. »Danke«, sagte ich und trank einen Schluck. Die Wärme breitete sich langsam aber wohltuend in meinem Körper aus.

»Haben Sie etwas damit zu tun?«

»Nein«, sagte ich, »absolut nichts.«

»Das ist gut.«

In ihren Augen sah ich Sympathie.

»Ich würde Sie gern wiedersehen«, sagte ich, »wenn das hier vorbei ist.«

Ihre Augen musterten mich, und ich sah, daß sie verschiedenfarbige Augen hatte. Ein blaues und ein grünes. Sie lächelte und berührte leicht meinen Arm: »Darüber sprechen wir noch, nachher.«

»Und nun zu Ihnen, Herr Freyberg.« Unbemerkt war Kommissar Marl an uns herangetreten. »Am besten ist es wohl, wenn wir uns ein bißchen zurückziehen. Vielleicht da.«

Er wies auf ein Tischchen und setzte sich, ohne eine mögliche Antwort von mir abzuwarten, in Bewegung. Ich folgte ihm brav.

»Rauchen Sie ruhig, wenn Ihnen danach ist«, sagte er zu mir. Ich hielt ihm die Packung hin, aber er schüttelte den Kopf: »Danke nein. Bin überzeugter Nichtraucher.«

Also davon hatte er die gelben Zähne nicht.

»Na, dann legen Sie man los.«

»Viel gibt es nicht zu berichten ...«, begann ich und erzählte ihm alles, was ich wußte. Ich berichtete ihm von dem Gespräch mit Klaus Lutzenberger und dem sich daraus ergebenen Treff mit Vera Beininger, von unserem Gespräch und dann natürlich von dem Mord, so wie ich ihn erlebt hatte.

»Wo haben Sie das her?«

»Wie bitte?«

»Den Whisky. Wo haben Sie ihn her?«

»Es ist Cognac ...«

»Von mir aus auch das.«

Ich winkte Karin Hagen heran und bat sie, uns noch zwei zu bringen.

»Wenn es keine Umstände bereitet«, fügte der Kommissar an.

»Das ist also alles, was Sie wissen«, sagte der Mann, nachdem wir beide von unserem Cognac getrunken hatten.

»Nicht viel. Wirklich nicht viel«, murmelte er und sah mich an. »Und wie kam es, daß man Sie um Hilfe bat?«

»Ich bin Polizei-Reporter und war außerdem in grauer Vorzeit mal Kollege von Ihnen. Von daher glauben einige Leute, ich könnte ihnen in gewissen prekären Situationen hilfreich sein.«

»Ah, ja.«

»Also sind Sie so eine Art Privatdetektiv?«

»Nein, um Himmels willen, nein.«

»Was denn?«

»Eben Journalist. Damit verdiene ich mein Geld. Das andere ist eher die Ausnahme, die die Regel bestätigt.«

»Ah, ja.«

»Und was sollten Sie Ihrer Meinung nach für Frau Beininger tun?«

»Ich weiß es nicht, sie konnte es mir ja nicht mehr sagen.«

»Sie beschützen?«

»Wohl nicht.«

»Herausbekommen, wer den freundlichen Brief geschrieben hat?«

»Das schon eher.«

»Warum, glauben Sie, hat sie sich nicht mit dem Brief an die Polizei gewandt?«

»Keine Ahnung.«

»Ah, ja. Hatten Sie den Eindruck, daß sie voller Angst war?«

»Das Resultat spricht dafür.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Herr Freyberg.«

»Ich weiß es nicht. Wie soll ich das beurteilen? Sie wollte mit mir sprechen, sie bat mich um Hilfe, und sie wurde vor meinen Augen umgelegt. Alles spricht dafür.«

»Ich möchte Ihre persönliche Meinung dazu hören.«

»Da muß ich passen, Herr Marl.«

Ich hatte keine Lust, ihm von dem grenzenlosen Erstaunen auf Vera Beiningers Gesicht zu erzählen. Vielleicht war das auch nur eine Spinnerei von mir. Denn was wußte ich, wie man aussah, wenn einem eine .45 Kugel den Leib zerriß.

»Sagen Sie mal, Freyberg, Freyberg – der Name kommt mir so bekannt vor. Es gibt doch die Vereinigten Zigarettenfabriken Freyberg, haben Sie mit denen was zu tun?«

»Sie gehörten mir einmal. Allerdings nur für kurze Zeit. Ich habe sie nach dem Tode meines Vaters verkauft und den anderen Kladderadatsch auch.«

»Den was?«

»Er hatte noch einige andere Fabriken. Ich wollte das alles nicht haben.«

»Ah, ja. Und Sie waren tatsächlich bei der Polizei?«

»Ja, ich habe dort nach meinem Jurastudium eine Ausbildung absolviert. Eine echte, von der Pike auf an.«

»Sie scheinen ja schon eine bewegte berufliche Vergangenheit zu haben. In so jungen Jahren. Ganz erstaunlich.«

»So ist das eben mit reicher Leute Kinder.«

Er lächelte mich mit seinen gelben Zähnen an. »Da hab’ ich leider gar keine Erfahrung, bei mir war das anders. Aber das tut wohl nichts zur Sache, denke ich.«

Ich sagte nichts dazu, und er erwartete wohl auch keinen Kommentar von mir dazu.

»Kann ich morgen wieder öffnen?« Der Geschäftsführer stand an unserem Tisch.

»Ich glaube wohl«, sagte der Polizeibeamte. »Die Spurensicherung hat ihre Arbeit getan. Nein, dem steht nichts im Wege.«

»Meine Damen haben sich bereit erklärt, mir beim Aufräumen zu helfen. Nur ...« Fragend sah der Mann den Kommissar an.

»Ich versteh schon. Für dahinten haben wir eine Firma, die räumt da auf. Lassen Sie sich den Namen und die Telefonnummer von dem Polizisten da vorn geben.«

Er wies auf den jungen Beamten, den er Wechsler genannt hatte.

»Vielen Dank.« Der Geschäftsführer war erleichtert.

»Keine Ursache. Nun wieder zu uns beiden.« Er sah mich an. »Es sieht so aus, als treten wir auf der Stelle. Was halten Sie davon, wenn wir uns morgen um zehn Uhr im Polizeihauptgebäude sehen.«

»Soll mir recht sein.«

»Sie kennen es ja. Zimmer 707, siebter Stock.«

»Das sagt die Anfangssieben.«

»Ah, ja.«

Er stand auf und ließ mich allein an dem Tischchen sitzen. Einem kleinen Tischchen mit einer weißen Marmorplatte. Es schauderte mich bei der Erinnerung. Ich stürzte den Rest des Cognacs hinunter. Dann stand ich auf und ging zu Karin Hagen, die am Buffet lehnte.

»Hier, das ist für Sie.« Sie reichte mir einen Zettel. »Ich muß dem Chef helfen und weiß nicht, wann wir hier fertig sind. Telefonnummer und Adresse stehen drauf. Sie melden sich?«

»Ganz bestimmt. Vielleicht sogar noch heute abend.«

Sie nickte.

Ich schnappte mir meine Sachen und verschwand.

Zu Hause angekommen zog ich mich ganz aus. Die gesamte Kleidung schmiß ich in den Müllschlucker. Dann ließ ich mir heißes Wasser in die Badewanne und versuchte mich zu entspannen. Erst wollte es mir nicht gelingen, aber langsam spürte ich, wie mich die Wärme schläfrig machte.

»Nur nicht einschlafen«, dachte ich, irgendwann begann ich mit dem Waschen. Als ich aus der Wanne kam, fühlte ich mich besser. In der Küche setzte ich mir einen Kaffee auf und trottete ins Wohnzimmer. Klaus Lutzenberger meldete sich sofort, offenbar hatte die Besprechung doch nicht so lange gedauert.

»Na, alles klar?« fragte er.

»Nein, nichts ist klar. Sie ist tot.«

»Sie ist was

»Sie ist tot. Viehisch hingerichtet. In aller Öffentlichkeit. Vor den Augen der Gäste.«

Pause am Telefon.

Ich hörte Klaus Lutzenberger schwer atmen und dann sagen: »Das ist ja furchtbar. Können wir uns sehen, Philipp?«

»Unbedingt. Deshalb habe ich ja auch angerufen. Ich habe dir viele Fragen zu stellen.«

»Wann?«

»In einer Stunde?«

»Gut. Gut.«

»Wo?«

»Ich habe vorhin – wie sich jetzt herausstellt, unpassenderweise – einen Tisch im Chez Max vorsorglich reservieren lassen. Für acht Uhr. Natürlich ...«

»Essen müssen wir doch trotzdem etwas. Vera Beininger helfen wir mit Pietät auch nicht mehr.«

»Du hast recht. Also um acht?«

»Ja«, sagte ich und legte auf.

Der Kaffee schmeckte ausgezeichnet, aber er half nicht gegen mein Hungergefühl.

Der Flug des Vogels

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