Читать книгу Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten - Joachim Kath - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеDer König kommt, der König ist schon da, der König kommt nicht. In der mit roten und grünen Fahnen üppig geschmückten marokkanischen Hafen- und Badestadt brodelten die Gerüchte. Wird Mohammed VI. die Gegend, in der er einen Sommerpalast besitzt, bald besuchen? Sein Farbporträt prangte an den Fassaden vieler öffentlicher Gebäude. Jeder von Rang und Namen aus dem gesamten Königreich beeilte sich, an jenem Ort zu sein, der den Glanz der Herrscherfamilie versprach und vielleicht einen Zipfel ihrer Gunst. Auch die im fruchtbaren Dreieck zwischen dem schneebedeckten Hohen Atlas-Gebirge und dem Anti-Atlas lebenden Berber strömten in die Stadt.
Hunderte von klimatisierten, schwarzen Nobelkarossen deutscher Herkunft, parkten an den Straßenrändern oder glitten wie Raubfische, besetzt mit europäisch gekleideten Marokkanern, durch die Massen in Landestracht, die sich zu Fuß und auf klapprigen Eseln und Mopeds dem Festplatz aus allen Himmelsrichtungen näherten. Fantasien, die traditionellen Reiterspiele auf schwankenden Kamelen und feurigen Rössern zogen die Menschen ebenso an wie die Militärparaden mit modernsten Waffen französischer und amerikanischer Produktion. Der genaue Beobachter bemerkte die angestrengt um ihre Unauffälligkeit bemühten Männer in Zivil zwischen den Uniformierten von Khaki über Tiefblau bis Signalrot an allen Ecken und Bordsteinkanten. Ein farbenprächtiges, wegen der Mischung von höchstem Luxus und sichtbarer Armut für westliche Augen ungewohntes Bild.
Jonathan Seyberg, den ich auf diesen augenfälligen Kontrast ansprach – wir saßen in einem Straßencafé – sagte nachdenklich: „Ich glaube, wir können uns nicht wirklich ein Urteil bilden. Sehen Sie dort am Ende dieser Avenue, das ist der Burgberg, der letzte Ausläufer des Atlas-Gebirges. Dessen ganzen Südhang nehmen drei gewaltige Schriftzeichen in arabischer Sprache ein, die nachts beleuchtet sind und sie bedeuten: Gott, König, Vaterland. Für uns ist diese Verquickung von Religion, Herrschaft und Nation unvorstellbar. Doch hier gilt der König als direkter Nachfahre des Propheten. Eine Kritik an seiner Person ist gesetzlich verboten.“
„Wir sind eben in keinem demokratischen Land“, stellte ich ernüchtert fest.
„So einfach ist das nicht! Die gesamte Lage auf dem afrikanischen Kontinent ist, vorsichtig ausgedrückt, unübersichtlich. Es gibt, wenn überhaupt, nur ganz wenige lupenreine Demokratien außer Israel. Das Königreich Marokko ist eine konstitutionelle Monarchie, mit dem König als Staatsoberhaupt. Wenn ich irgendwo hinreise, beschäftige ich mich vorher mit der Geschichte. Das Land war lange Zankapfel zwischen den europäischen Mächten und wurde dann schließlich 1956 unabhängig, als Frankreich und Spanien sich wegen der wachsenden Spannungen durch die Unabhängigkeitsbestrebungen zurückzogen. Ein Jahr später gab es dann überhaupt erst einen König, vorher waren das Sultane. Dann 1976 wurde auch die ehemalige spanische Provinz Westsahara unabhängig, worauf Mauretanien und Marokko die Situation nutzten und das riesige Gebiet kurzerhand unter sich aufteilten. So ganz ist die Lage dort nach wie vor nicht geklärt, weil es Aufständische gibt und Flüchtlingslager in Algerien. Doch Marokko ist militärisch stark, mit Unterstützung der USA, und betreibt in der Westsahara eine ausgedehnte Besiedlungspolitik.“
„Was halten Sie von der Monarchie generell?“
„Als analytisch denkender Wissenschaftler halte ich die Monarchie als Staatsform für überholt und verstaubt. In Verbindung mit absoluter Macht halte ich sie sogar für inakzeptabel. In Verknüpfung mit einer Staatsreligion sowieso. Doch die Verhältnisse hier in diesem recht jungen Staat mit sehr alter Tradition sind viel komplizierter als in Europa, wo die Monarchien nur Teil der nationalen Folklore sind. Wenn sich die Briten, Holländer, Dänen, Schweden, Norweger und noch so ein paar Zwergstaaten diese machtlosen Figuren, denen sie gerne zujubeln und deren Leben die Seiten der Klatschpresse weltweit füllen, finanziell leisten wollen, ist das wahrscheinlich bestens investiertes Geld für die Imagepflege und den Tourismus. In Marokko hat der König sehr umfangreiche politische Kompetenzen und ist nicht nur Staatsoberhaupt, sondern auch geistliches Oberhaupt und Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er kommt aus der Dynastie der Alawiden, die ihre Abstammung auf Hasan ibn Ali zurückführen, den Enkel des Propheten Muhammad. Staatsreligion ist folglich der Islam, über 98 Prozent der Bevölkerung sind Muslime, vorwiegend Sunniten malikitischer Richtung.“
„Das sagt mir gar nichts!“
„Die Sunniten bilden die größte Glaubensrichtung im Islam und eine der sunnitischen Rechtsschulen sind die Malikiten. Ich bin auf diesem Gebiet auch kein Experte und weiß nicht, worin sich die einzelnen Rechtsschulen inhaltlich unterscheiden. Jedenfalls sollen die Grundlagen in Medina entstanden sein, der zweitheiligsten Stadt des Islam, die genauso wie Mekka, für Nichtmuslime gesperrt ist.“
„Wenn wir unsere Maßstäbe anlegten, was Politik, Religion und Menschenrechte angeht, würden wir zu einer anderen Einschätzung kommen!“ sagte ich.
„Ja, aber das ist doch völlig klar! So naiv sollten wir die Geschehnisse des arabischen Frühlings nicht beurteilen. Wenn ich mir vor Augen führe, wie mit den Paraden nach dem Golfkrieg das Vietnam-Trauma in den USA aufgearbeitet wurde, dieser nicht enden wollende Werbefeldzug für die Rüstungsindustrie, der das Kurdenelend und die Naturzerstörung in Kuwait überdeckte – alles nicht gar nicht lange her! In Nordafrika ist seitdem eine Menge in Bewegung geraten und doch sind manche der alten Potentaten trotz allem aus taktischen Erwägungen weiter an der Macht. Ich bin mir nicht sicher und habe große Zweifel, ob unsere Politiker und wir die Dinge, vor allem die katastrophalen Folgen, richtig einschätzen.“
Agadir, bei dem verheerenden Erdbeben 1960 vollkommen zerstört, ist nach dem Wiederaufbau die modernste Stadt Marokkos, mit breiten Prachtstraßen, mehrstöckigen Hotels in internationaler Betonarchitektur und einem mehrere Kilometer langen Sandstrand, auf dem sich die schaumgekrönten Wellen des Atlantiks im ewigen Rhythmus brechen. Das diese Stadt inzwischen über 600.000 Einwohner hat, war für mich überraschend. Sie wirkte gar nicht wie eine Großstadt, weil sie keine Hochhäuser hat und keinen alten Stadtkern.
„Ich wüsste wirklich nicht, weshalb ein Mensch von irgendeinem Ort der Welt hierher reisen sollte, außer er ist Strandläufer im Rentenalter oder passionierter Tennisspieler. König Hassan der II. jedenfalls, der Vater des jetzigen Herrschers, war ein Freund des weißen Sports. Deshalb gibt es hier den königlichen Tennisclub und zahlreiche, gut gepflegte Anlagen mit vielen Plätzen. Er war auch Mitglied im Rotary-Club und getreu deren Wahlspruch zu selbstlosem Dienen und ethischen wie moralischen Handeln verpflichtet. Dazu stand seine Regierungszeit allerdings in krassem Widerspruch, denn sie war offenbar so stark mit Menschenrechtsverletzungen belastet, dass sein Sohn 2004 eine Wahrheitskommission einsetzen ließ, die eine Wiedergutmachung bei den Hinterbliebenen der Opfer bewirken sollte.“
„Das klingt alles sehr vorsichtig und nicht besonders kritisch für einen Intellektuellen“, versuchte ich den Professor aufzustacheln.
Er nahm einen Schluck von dem ausgezeichneten marokkanischen Wein und ließ ihn genießerisch durch die Kehle rinnen. Erst dann begann er mit Bedacht: „Ich kenne dieses Land seit Jahrzehnten und war immer mal wieder hier. Es ist für mich nicht möglich, zu verifizieren, was die Opposition im Exil berichtet. Wie gravierend die Repressionen waren, ob es Folter gab, wie viele Menschen spurlos verschwanden. Selbstverständlich bin ich grundsätzlich gegen jede Art von Unterdrückung und Gewalt, nur als Tourist liest man höchstens darüber und bekommt im Land selbst davon nichts mit. Es ist nicht möglich, sich sein eigenes Bild zu machen. Schon gar nicht, wenn man nicht arabisch spricht.
Die Landschaft und die Menschen finde ich großartig. Marokko ist als Reiseland sehr sehenswert. Es gibt einen vorzüglichen Wein, die Weinberge haben noch die Franzosen angelegt und die verstehen bekanntlich das Winzerhandwerk. Die Königsstädte Rabat, Fès und Marrakesch oder eine Fahrt durch das wildromantische Atlasgebirge bis hinein in die Sahara gehören zu meinen beeindruckensten optischen Erlebnissen. Es ist, den Tourismus weggedacht, fast noch eine Reise in 1001 Nacht mit Märchenerzählern und Schriftgelehrten, die anderer Leute Post auf der Straße erledigen und mit Schlangenbeschwörern sowie Heilkundigen, die vor der gaffenden Meute Zähne reißen.
Ich war vor mehreren Jahrzehnten zum ersten Mal in diesem Land. Damals bin ich von Marrakesch aus mit dem Bus bis nach Quazazarte gefahren. Ich hatte mir extra ein Ticket 1. Klasse geleistet, wie sich herausstellte, war es der Sitz hinter dem Fahrer. Im Heck wurde das Publikum immer bunter, am Ende bestand es aus Ziegen und Hühnern. Der alte Bus schnaufte die Serpentinen hoch und runter ging es dann in einer lebensgefährlichen Schussfahrt unter ständigem Hupen. Die Bremsen wurden dagegen nie betätigt. Jedenfalls kam es mir bei dieser Höllenfahrt so vor. In jedem Dorf wurde angehalten. Wer einkaufen wollte, stieg aus um das an Haken hängende Fleisch zu befühlen und die Fliegen zu verscheuchen, während im Gegenzug einige blinde Bettler den Bus erklommen und sich tastend durch den Mittelgang bewegten. So ging die Fahrt stundenlang, bis endlich nach ungezählten Stopps unter dem Gejohle der gesamten Passagiere der erfolgreiche Kauf eines Huhnes gefeiert werden konnte.
Diese unmittelbaren Eindrücke ursprünglichen Lebens haben Sie natürlich nicht in Agadir, der ganz auf europäische Touristen eingerichteten, neuen Stadt. Hier sind tatsächlich ganzjährig das Meer mit dem breiten Sandstrand und praktisch das gesamte Jahr über, bis auf Juli und August, wo es zu heiß ist, Tennis und Golf die drei Attraktionen“, sagte Jonathan Seyberg.
Ich wunderte mich, dass er überhaupt nicht von seinen sportlichen Aktivitäten sprach und brachte deshalb das Thema selbst darauf, denn ich wollte ihn endlich spielen sehen. „Morgen soll im Kasbah Club das Gästeturnier losgehen“, sagte ich, weil ich ein Plakat mit der Ankündigung gesehen hatte. Seit Kindesbeinen an war ich ein Sportfan. Keiner von der ausübenden Sorte, sondern eher Zuschauer und Statistiker. Genaugenommen konnte ich die Wimbledon-Sieger seit 1892 aufzählen, aber auch die Fußball-Weltmeister und Olympiasieger. Natürlich hatte das keinen praktischen Nutzen außer den, dass ich gelegentlich Sportglossen schrieb, unter mehreren Pseudonymen, schon weil niemand den Redaktionen im Mutterland des Sports glaubwürdig erschien, der vorgab, in der großen weiten Welt des Sports so gut wie alles zu wissen. Da waren sie sehr speziell.
Manche sehen so unsportlich wie Sofakissen aus, werden aber zu Kugelblitzen, sobald ein Ball in Sichtweite kommt. Mir hätten alle in jungen Jahren eine steile Laufbahn als Profi zugetraut, solange ich auf einem Stuhl saß. Ich sah wirklich extrem sportlich aus. Doch das Antizipationsvermögen war in unserer Familie ungefähr so ausgeprägt wie bei griechischen Statuen. Niemand konnte sich das medizinisch erklären, aber unsere Nervenbahnen schienen überall außerhalb des Gehirns unterbrochen zu sein, besonders in den Armen und Beinen.
„Das Turnier morgen organisiert ein steinalter Franzose, der hier vor dreißig Jahren hängen geblieben ist. Er sieht seit Jahren genauso aus wie immer. Der lässt einfach die Schläger der Teilnehmer auf einen Haufen werfen und zieht dann nach Gutdünken einen nach dem anderen hervor. Ich weiß nicht, ob er sich merkt, wem welcher Schläger gehört. Manchmal lässt er Prince gegen Price spielen, oft aber auch Head gegen Wilson. Ich denke, er hat da kein System. Nur wenn Babolat kommt, wird er schon mal hellwach, und wenn dann Lacoste dran ist, was selten genug vorkommt und viel seltener als bei den Hemden, dann ruft er immer: „Attention, s’il vous plait!“ Angeblich hat er noch selbst gegen Henri Lacoste persönlich gespielt, oder ihn spielen sehen, den sie das Krokodil nannten. So entstehen Weltmarken!“
„Es ist also reiner Zufall, gegen wen Sie antreten!“ stellte ich trocken fest.
„Grundsätzlich schon, aber zu rund 90 Prozent ist es hier in Agadir ein französisch sprechender männlicher Mensch unter siebzig Jahren.“
„Bon Chance!“ versuchte ich mich romanisch.
„Ich bin kein in seinem Selbstverständnis erschütterter moderner Mann. Es kommt mir gar nicht so sehr auf den Erfolg an. Erfolg ist so ziemlich das abgenutzteste Wort, das ich kenne. In dem vergangenen Vierteljahrhundert habe ich es täglich oft mehrmals als Programm vernommen. Alle meine Bratungsklienten wollten Erfolg haben und ich habe sie in diesem Bestreben tatkräftig unterstützt. Doch sie sahen den Erfolg meistens nur betriebswirtschaftlich, als Unterschied zwischen Erlös und Kosten, also Ertrag und Aufwand. Das ist mir heute eine viel zu enge Betrachtungsweise. Der zahlenmäßig ausgedrückte Erfolg oder Misserfolg, sagen wir mal, ob ich einen Satz 6:0 gewinne oder 0:6 verliere, beziffert nicht meine Freude an diesem Spiel. Die Herausforderung besteht in der ständigen Wahrscheinlichkeit des Scheiterns und dem Erleben des Momentums eines ganz speziellen Glücksgefühls, dass sich mit jedem gelungen Schlag wiederholt. Wenn ich gegen einen wahren Meister ungefähr eine Stunde durchhalte, bis er die zwei Sätze gewonnen hat, sind mein Erlebnis und das Ergebnis positiver als wenn ich gegen einen blutigen Anfänger leichtes Spiel habe.
Damit will ich ausdrücken: Erfolg ist relativ! Meistens sind die herausposaunten Erfolgsmeldungen reiner Zweckoptimismus. Der wirkliche Sieger gibt sich bescheiden. Ich weiß, das ist altmodisch, aber es gibt eine Erfolgsethik. So etwas wie die philosophische Beurteilung des menschlichen Handelns nach seiner Wirkung. Und wenn ich genau hinschaue, was ich gelegentlich tue, sind viele der von euch Schreiberlingen hochgejubelten Supererfolgreichen bedauernswerte Neurotiker, die als Neidobjekte am allerwenigsten taugen.“
„Wollen Sie denn nicht gewinnen?“ fragte ich scheinheilig.
„Natürlich gehe ich auf den Platz um zu gewinnen. Alles andere wäre grob unsportlich. Doch ich muss nicht um jeden Preis gewinnen. Mir ist vor allem wichtig, auch bei einem turmhoch überlegenen Gegner locker zu bleiben. Es ist leichter gesagt als getan. Doch es ist auf dem Tennisplatz deshalb leichter als im richtigen Leben, weil er überschaubarer ist und sich nicht verändert. Ich liebe Klarheit und Eindeutigkeit.
Am nächsten Tag lief alles so ab, wie Jonathan Seyberg es beschrieben hatte. Nur das der alte Franzose René einen Schwächeanfall erlitten hatte und sein marokkanischer Assistent die Ziehung vornahm, der es ihm aber nicht recht zu machen schien. Der Greis hockte auf den weißgetünchten Steinstufen der kleinen Tribüne unter einem schattenspendenden Baum und schrie und gestikulierte. Niemand verstand ihn, niemand hörte mehr auf ihn. Er trug einen grasgrünen Trainingsanzug. Über das erste Match von Jonathan gibt es wenig zu berichten. Er verlor sang- und klanglos gegen einen baumlangen Wallonen, französisch sprechend, stimmte immerhin wie vorausgesagt. Aber sonst verhielt sich sein Gegner ziemlich unorthodox. Er baute sich einfach, nachdem er spitz bekommen hatte, dass Jonathan seine Schläge nicht voll durchzog, etwa in Höhe der Aufschlaglinie auf und vollierte fast alles, was kam. Bis auf die Aufschläge, die bekanntlich im Feld aufspringen müssen. Der Professor versuchte es mit Passierschlägen und Lobs. Doch erstere waren nicht scharf genug und letztere zu kurz. Der Riese stand im Niemandsland, exakt auf der für den Rückschläger schlechtesten Position und retournierte, was er mit seinen windmühlenflügellangen Armen erreichen konnte. Er war sehr sicher über Kopf, legte sich beim Schmetterball mächtig ins Kreuz, bewegte sich ansonsten aber wenig, weil er es auch gar nicht musste.
„Ich hatte das Gefühl, gegen eine lebende Gummiwand zu spielen“, sagte Jonathan lächelnd, als alles vorbei war. Der andere hatte ihn von Ecke zu Ecke geschickt und die ganze Zeit rennen lassen. Eine wirksame Methode unter der heißen marokkanischen Sonne. Er wusste umgekehrt gegen den Hünen kein Mittel. Schweißperlen hatten sich auf seiner Stirn gebildet, doch man muss ihm attestieren, dass er eine sehr gute Kondition besaß. Schlapp machte er nicht.
Als wir später nebeneinander am Swimmingpool die Beine ins Wasser baumeln ließen, unter angepflanzten Palmen, einen Campari Orange neben uns, konnte ich mir, vermutlich von den Urlaubsklischees enthemmt, ein paar Ratschläge nicht verkneifen: „Der große Bär wäre nur durch gezielte Schüsse direkt auf den Körper zu erlegen gewesen, oder durch Topspin-Lobs auf die Rückhandseite, oder durch knallharte Schläge vor die Füße.“
„Klingt in der Theorie plausibel“, äußerte sich Jonathan gelassen, „besonders, wenn man auf ehemalige Basketballprofis trifft, once in a life-time. Der andere war einfach besser. Wer nicht verlieren kann, kann auch nicht gewinnen. Ich habe mich viel bewegen können, das hat meinem Kreislauf gut getan.“
Wir bewohnten jeder einen kleinen, spartanisch eingerichteten Bungalow im arabisch angelehnten Stil, von denen rund 200 auf dem Gelände standen. Das Meer war von dieser Stelle aus nicht zu sehen, weil sie neue Hotels direkt an den Strand gebaut hatte, von denen es hieß, die Königsfamilie wäre daran beteiligt. Aber das Rauschen des Meeres war zu hören und die Lage hatte den Vorteil, dass es kaum windig war. Fürs Tennisspielen ideal.
Abends nahmen wir an Achtertischen das mehrgängige Menü ein. Eine aus einheimischen und französischen Gerichten gemischte Speisefolge. Dazu gab es Wein soviel jeder wollte, während das Mineralwasser aus dem Atlasgebirge extra bezahlt werden musste. Mit jenem Plastikgeld, wie es in den Clubs üblich ist, damit mehr von den Gästen verbraucht und weniger vom Personal gestohlen werden kann. Denn die Perlen, die sich zu Ketten zusammenstecken ließen, durften nur die Touristen haben.
Es war eine fröhliche Gesellschaft, die von den flinken marokkanischen Kellnern schon so gruppiert wurde, dass die Leute sich verständigen konnten. Gute Laune steigerte das Trinkgeld, erwiesenermaßen haben wir, geschichtlich betrachtet, die Geschäftstüchtigkeit genauso wie die Zahlen eher von den Arabern übernommen als sie umgekehrt von uns. Dies war eine der Situationen, bei denen sich diese Tatsache bestätigte.
Jonathan Seyberg, der kühle Intellektuelle, taute nach ungefähr einer Stunde auf und unterhielt fortan den gesamten Tisch mit seinen urkomischen Geschichten, die mich an ein Schema erinnerten, das Woody Allen in seinen Filmen bevorzugt. Es handelte sich stets prinzipiell um Personen, denen absolute Nebensächlichkeiten zur Hauptsache gerieten. Und die darüber die eigentliche Ursache ihres Glücks oder Missgeschicks vergaßen. Meistens waren es eher melancholische Geschichten mit tragischem Ende, was aber niemand so recht wegen des fortschreitenden Alkoholkonsums bemerken wollte.
Eine dieser Stories habe ich noch sinngemäß in Erinnerung, weil sie mit meinem Fachgebiet, den Wirtschaftswissenschaften, am Rande zu tun hatte. Es ging um einen, wie Jonathan Seyberg es formulierte, „real existierenden, neureichen Unternehmer namens Dagobert Duck“. Einem Pionier der Handelsbranche mit dem richtigen Bauchgefühl für Geld, geizig bis zum Exzess und dann wieder wahnsinnig großzügig bei idiotischen Ideen, die er reihenweise selbst hatte. Unberechenbar, ungebildet, gierig – ständig jede Menge Geld in den Sand setzend und auf der anderen Seite wieder scheffelnd. Eine dieser Kreaturen, denen es scheißegal war, was über ihn in der Presse stand, Hauptsache er wurde erwähnt.
„Also dieser Onkel Dagobert jedenfalls“, erzählte der Professor, „kam eines Tages beim Geldzählen auf den Gedanken, sich und seine Lieben, die ihm geholfen hatten, reich zu werden, also seine Familien- und Management-Mitglieder, künstlerisch zu verewigen. So wie es die die Adligen und andere Geldfürsten seit alten Zeiten betreiben, auf einem ausladenden Ölgemälde. Und weil er nur Maler kannte, die seine Büros und Läden anpinselten, wandte er sich zunächst an diese, musste jedoch bald feststellen, dass sie der Aufgabe nicht gewachsen waren. Ein richtiger Künstler musste gefunden werden, kein zu teurer, weil Kunst für ihn keine Arbeit war, aber die abgebildeten Personen sollten auf dem Bild schon zu erkennen sein. Folglich gab man eine Suchanzeige in der örtlichen Zeitung auf und natürlich meldeten sich viele Hobby-Maler und darunter auch ausgebildete Künstler mit ihren Arbeiten.
Der schlankste von allen Bewerbern wurde ausgewählt, weil der Auftraggeber vermutete, er würde sich besonders viel Mühe geben. Denn schließlich weiß man von der Existenz der Hungerkünstler und von dem Aussprüchen, Kunst geht nach Brot und wessen Brot ich esse, dessen Lied ich singe. Der beauftragte Künstler allerdings war, wie es sich fügte, ein Schelm. Er schlug vor, die durchaus homogene Gruppe aus Ehefrauen, Kindern, leitenden Mitarbeitern und dem Hauptdarsteller in einem tempelartigen Gebäude auftreten zu lassen, einem Kulturpalast, und in der naheliegenden Form einer konzertierten Aktion, rundheraus als Orchester, in dem selbstverständlich der Chef die erste Geige spielte. So entstand zwangsläufig ein Kunstwerk von höchster Einmaligkeit und Geschmacklosigkeit, das nicht etwa in einem Keller verstaubte, sondern nun an prominenter Stelle in der Eingangshalle prangte.
Die Pointe kommt erst: Dieser arme, reiche Mann musste jahrelang, und wenn er nicht gestorben ist, noch heute, regelmäßig einen Psychiater konsultieren, weil er unerklärliche Ängste hatte, erstens sein Geld und zweitens, Menschen die ihm nahestanden, zu verlieren. Vermutliche Ursache dieser Ängste war jenes Gemälde, auf dem die meisten der dort abgebildeten Personen inzwischen die Firma verlassen hatten. Auch seine erste Frau, die der Maler sinnigerweise in ein knappes Leopardenfell gehüllt, auf einem Konzertflügel tanzen ließ, hatte ihn verlassen. So kommt also dieser Mann jeden Tag an der von ihm bestellten, schlimmer noch, auch von ihm bezahlten und für große Kunst gehaltenen Werk vorbei. Einer selbst von Wohlmeinenden als abartiger Humor eingestuften Verirrung.
Davon wusste sein Psychiater leider nichts, denn er kam niemals an diesem Bild vorbei. Ja, was der eine nicht wusste, nämlich was visuelle Eindrücke auf der Seele hinterlassen können, denn nicht nur das Sein bestimmt unser Bewusstsein, sondern auch das Design, konnte der Fachmann für die Seele nicht ahnen. Deshalb musste der Patient noch viele Stunden auf der Couch opfern, ohne seine Angstneurose zu verlieren, aber stattdessen sein Allerliebstes, sein Geld.“
„Da behaupte noch einer, die Welt sei nicht gerecht“, hatte ich einen Scherz versucht, nicht ahnend, das Jonathan Seyberg bei allem, was mit Fairness und Gerechtigkeit auch nur im entfernten zutun hatte, äußerst sensibel reagierte.
„Aristoteles, der immerhin mehr als dreihundert Jahre vor Christi Geburt gelebt hat, verstand unter Gerechtigkeit, jedem zukommen zu lassen, was ihm gebührt und Gleiches gleich zu behandeln. Doch um die Eigeninitiative nicht zu bremsen, sollte wahrscheinlich von gleichen Vorteilen und gleichen Nachteilen für jeden gesprochen werden. Übrigens, in der abendländischen Rechtstradition gilt als einer der Kernsätze „Iustitia fundamentum regnorum“, nämlich Gerechtigkeit, das Fundament der Könige. Wehe den Herrscher, der sich nicht daran hält. Für das Morgenland, für dieses Land, dessen Gastfreundschaft wir unbedacht genießen, für alle Orte dieser Welt mit ungerechter Obrigkeit, und es sind sehr viele und mehr als wir denken, sollte Immanuel Kants Forderung, Gerechtigkeit als oberstes Prinzip der Staatsweisheit anzusehen, gelten. Doch wie meilenweit sind wir, selbstgerecht wie wir sind, davon selbst in unseren Staaten, in unseren Institutionen und Unternehmen entfernt? Nein, weise sind wir noch lange nicht und sollten deshalb vorsichtig mit unserer Kritik sein.“
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht? Ich jedenfalls hörte dem Mann gerne zu. Sicherlich, manchmal geriet er mir zu sehr ins Dozieren. Beispielsweise als ich ihn auf seine neuen Tennisschläger ansprach, die er wie seine Augäpfel hütete. Eigentlich sollte man annehmen, über so etwas Banales wie Rackets ließe sich, außer in der geschwätzigen Form der Werbung, rein überhaupt nichts sagen. Doch auch darin irrte ich. Für ihn waren Schläger nicht einfach nur Schläger, sondern eine Weltanschauung. Da steckte aus seiner Sicht weniger Material, aber mehr Technologie drin als in einem veralteten Notebook. Gegen einen Tennisschläger sei eine Videokamera so simpel wie ein Küchenmesser.
Er erklärte immer alles wissenschaftlich, was mir manchmal gehörig auf den Wecker ging. Spielen kann man deshalb auch nicht besser, wenn man es weiß. Jedenfalls muss do ein Schläger die reinste Physik sein und davon habe ich in der Schule nie mehr als die Hälfte verstanden. Alles wortgetreu wiederzugeben, was Jonathan über Tennisschläger wusste, überstiege einfach meinen Horizont und außerdem hatte ich nicht vor, in dieses Business einzusteigen, das sich vornehmlich in Singapur abspielt.
Gut, ich gebe zu, ein winziges Aufnahmegerät ist mitgelaufen und hier sind einige Originalpassagen: „Den idealen Schläger gibt es nicht. Das wäre nämlich – immer streng physikalisch gesehen – dann gegeben, wenn der Ball, die Bespannung und der Rahmen die gleiche Schwingungsfrequenz haben würden. Dies wäre dann die Quadratur des Kreises, weil wegen der verschiedenen Materialien unmöglich zu erreichen, aber für die Ballgeschwindigkeit wäre es ganz toll. Ungeachtet der Tatsache, dass es nicht gehen kann, versuchen uns die Hersteller trotzdem weis zu machen, sie wären auf dem Wege dorthin. Wie im Leben so oft stellen alle Schläger einen Kompromiss dar. Wenn ich mich auf das Wesentliche beschränken darf, dann sind es zwei Dinge: der Rahmen sollte möglichst steif sein, nicht zu leicht und aerodynamisch, der Griff sollte so stark wie möglich sein, damit er nicht so schnell bei unsauber getroffenen Bällen in der Hand verrutscht. Der Schlägerkopf sollte, mal von Profis und technisch sehr guten Spielern, relativ groß sein, weil dann auch der Sweetspot größer ist. Je größer dieser ominöse Fleck auf der Bespannung ist, desto eher wird er vom Ball getroffen, der nur dann wirklich Speed bekommt. Manche treffen natürlich den Sweetspot nie, schon gar nicht im Tennis. Dann ist es auch egal, was sie für einen Schläger haben!“
„Was ist besser, Kunststoff oder Darm?“ warf ich fachmännisch ein, denn ich hatte schon von dem Meinungsstreit gehört, der wegen der Saiten ausgebrochen ist.
„Also, das sollte man ausprobieren! Darmsaiten sind am teuersten, aber gut und armschonend, weil sie den besten Touch liefern. Doch sie vertragen nicht viel Feuchtigkeit und reißen schnell. Kunststoff-Saiten gibt es in zahlreichen Variationen, darunter wirklich sehr gute und empfehlenswerte. Und dann gibt es seit einigen Jahren noch die Hybrid-Sets, bestehend aus einer Kombination von beidem. Wie gesagt, wenn man das Tennisspielen ernsthaft betreiben will, kommt man nicht darum herum, verschiedene Saiten zu testen. Gerade bei der Bespannung kann viel falsch gemacht werden. Grundsätzlich lassen die Freizeitspieler ihre Schläger zu hart bespannen, weil sie meinen, dadurch würden die Bälle schneller. Es ist aber genau umgekehrt. Die Ballkontrolle wird besser, aber die Ballbeschleunigung sinkt. Um die 20 Kilo sind meistens genug. Ich würde nicht an das vom Hersteller empfohlene Limit gehen. Das ist wie mit den PS bei den Autos oder mit der Höchstgeschwindigkeit, da tobt auch ein unsinniger Konkurrenzkampf.
Viele meinen auch, wenn sie mehr Saiten haben, hätten sie mehr Wucht in ihren Schlägen. Es ist aber auch umgekehrt. Eine weitmaschige Bespannung mit dünnen Kunststoffsaiten bringt mehr Power und mehr Spin. Den Trampolin-Effekt zu nutzen, wenn man nicht über die Kraft und Schnelligkeit eines jungen Mannes verfügt, halte ich für intelligent.“
„Aus welchem Material sind eigentlich die Rackets für das moderne Powerspiel?“ heizte ich nach.
„Die Wahrheit ist, dass die Schläger innen alle schwarz sind und zum größten Teil aus derselben Fabrik in Asien kommen. Sie unterscheiden sich vor allem außen in der Form und in der Farbe. Die Verkäufer schwärmen vom Graphit, jenem Stoff aus dem die besten Schläger sind, als sei es Platin. Dabei ist Graphit ein sehr häufig vorkommendes Mineral und eine der natürlichen Erscheinungsformen des chemischen Elements Kohlenstoff. Es wird in China und anderen Ländern im Tagebau tonnenweise gewonnen, kann also nicht gar so wertvoll sein, wie gerne suggeriert wird. Ich denke, dass die Unterschiede bei Marken-Schlägern gering sind und es meistens nicht am Schläger liegt, wenn jemand keine vernünftigen Schläge zusammenbringt.“
„Ich habe gehört, die Profis tunen sogar ihre Schläger!“
„Ja, kein Profi spielt mit einem Racket von der Stange, sondern diese Schläger sind sorgfältig auf dessen Bedürfnisse angepasst. Die Laien glauben, wenn sie einen Dämpfer zwischen die Saiten und direkt über das offene Schlägerherz setzen, damit die Bespannung nicht zu sehr nachschwingt. sei das schon eine größere Operation und Tuning. Ich habe John McEnroes alten Schläger im Wimbledon-Museum gesehen, mit dem er dort im Einzel und Doppel insgesamt vier Mal gesiegt hat. Da war eine unglaublich präzise Feinabstimmung zu erkennen, mit Bleiband und allem drum und dran. Soweit muss man heute bei den modernen Schlägern sicherlich nicht mehr gehen, aber so ein bisschen Gewicht packe ich schon auch drauf, damit das Racket nicht zu leicht ist und der Ball etwas an Masse entgegengesetzt bekommt. Schließlich handelt es sich um ein Rückschlag-Spiel und der schnelle Ball prallt mit einem ganz schöner Kraft auf und soll total seine Richtung ändern.“