Читать книгу Der Intellektuelle, der klug genug war, sich nicht dafür zu halten - Joachim Kath - Страница 5
3. Kapitel
ОглавлениеAls ich drei Monate später den air-conditioned Miami Airport verließ, um ein Taxi herbei zu winken, schlug mir die extrem feucht-heiße Luft Süd-Floridas wie eine Wand entgegen. Mein Hemd war augenblicklich klatschnass, was man nicht sehen konnte, weil es weiß war. Wie man unter diesen klimatischen Bedingungen den Laufsport Tennis ausüben konnte, war für mich unvorstellbar. Aber der Mensch gewöhnt sich offenbar an vieles und rennt fast 130 Kilometer durch die Wüste, was einem dreifachen Marathon entspricht.
Wir wollten uns im Sonesta Beach Hotel in Key Biscayne treffen. Als der Wagen endlich die futuristischen Wolkenkratzer-Schluchten von Miami City verließ und auf den Rickenbacker Causway einbog, bot sich jenseits des Gipfels der riesigen, katzbuckligen Brücke ein gigantischer Ausblick auf die vorgelagerte Insel Virginia Key und über die Biscayne Bay hinweg auf Crandon Park, mit Charter Fishing, Golf Course und dem berühmten International Tennis Center. Jonathan Seyberg hatte darauf bestanden, dass wir Zimmer mit Meerblick nahmen und sie sogar zu irgendeinem günstigen Businesstarif bekommen.
„Alte Verbindungen!“ nannte er das und fügte erklärend hinzu: „Wenn ein Hotel schon am Ocean Drive liegt, dann will ich den Ozean nicht nur riechen. Der Mensch ist ein Augentier. Unsere Distanzinformationen nehmen wir sogar fast zu 100 Prozent mit unserem Sehorgan auf. Wir sehen in einem Winkel von 175 Grad, was natürlich im Vergleich zur Fliege mit ihren Facettenaugen gar nichts ist, die fast 360 Grad sehen kann, weswegen sie sich auch nicht so leicht erwischen lässt. Aber ich wollte etwas anderes sagen: Die Bildverarbeitung findet im Gehirn statt und deshalb könne wir nur das wahrnehmen, was wir kennen. Die visuellen Reize werden interpretiert, was bestehende Informationen voraussetzt. Wenn man beispielsweise die Buchstaben nicht kennt, kann man nicht lesen und wenn man die Bedeutung von Wörtern nicht kennt, kann man den Text nicht verstehen.“
Wir saßen auf der Rib Room Terrace vom Sonesta bei Meeresfrüchten und Weißwein. Umgeben von tropischem Ambiente, Lichtern in Palmenform und Deckenventilatoren. Eine Gruppe von drei Gitarristen, kubanische Migranten, wanderten von Tisch zu Tisch. Südamerikanische Rhythmen streiften dezent das Ohr und wir genossen den weiten Blick über das in der Abenddämmerung dunkelgrau gefärbte Wasser bis zum noch hellen Himmel am Horizont, dessen Linie die schwarzen Silhouetten einiger Segelboote unterbrachen.
„Können Sie noch gut sehen, ich meine ohne Brille, beim Tennis?“ fragte ich, weil ich ihn vorhin die Speisekarte weit von sich halten sah.
„Meine Arme sind nicht mehr lang genug. Für das Dessert reicht es noch, aber für das Hauptgericht wird es wegen der Gräten manchmal problematisch. Nein, im Ernst, meine Augen haben eine unterschiedliche Sehschärfe wie bei den meisten Menschen. Gott sei Dank bin ich weitsichtig, hoffentlich nicht nur beim Sehen, aber wenn man erst einmal mehr als zwei Dioptrien für die Lesebrille auf dem einen Auge braucht, ist die Sehschärfe auch auf die Distanz etwas beeinträchtigt. Mein Gehirn hat wegen der unterschiedlichen Sehkraft meiner beiden Augen eine ganz schöne Rechenleistung beim Tennis zu vollbringen. Übrigens bilden sich nach allerneuester Forschung auch bei Erwachsenen neue Gehirnzellen, wenn auch bisher nur in relativ geringem Umfang zur Gehirnmasse, aber immerhin.“
„Martina Navratilova trug eine Brille!“
„Klar, viele Spielerinnen und Spieler in der Weltspitze tragen Kontaktlinsen. Ich habe anfangs nur eine Schirmmütze getragen, selbst bei gleißender Sonne. Aber inzwischen trage ich eigens für meine Bedürfnisse vom Optiker eingeschliffene Gläser in meiner Sportbrille. Damit kann ich mit der Sonne und auch gegen die Sonne sehr gut sehen und die Brille soll auch angeblich dann nicht zerbrechen, wenn ich einen Ball am Netz mit voller Wucht ins Gesicht bekomme. Das ist die einzige wirkliche Gefahr in diesem Sport, wenn man ihn nicht übertreibt.“
„Im Fernsehen sagen die Reporter doch immer, der oder die hätte ein exzellentes Auge, scheint also sehr wichtig zu sein, Adleraugen zu haben, oder?“
„Ja, ganz enorm wichtig! Solange der Ball im Spiel ist, muss er scharf beobachtet werden. Das sind bei einer Stunde Spielzeit im Match nur höchstens fünfzehn Minuten, eher weniger. Starren Sie nur mal eine Minute oder auch nur 20 Sekunden auf einen gelben Punkt. Dann werden Sie merken, wie Ihre Konzentration nachlässt. Sobald sie an etwas anderes denken, verschwimmen die Konturen des Balles. Wenn Sie ihn unscharf sehen, treffen sie ihn häufiger unsauber. Eine Ball mit dem Rahmen zu treffen statt mit dem Sweetspot, ist nicht ganz so „süß“ für den Ellbogen. Dann kann es sein, dass es Ihr Arm schwer hat und Ihr Gegner leicht.“
„Wann geht es los mit dem ersten Wahnsinns-Wettkampf?“
„Heute Abend, unter Flutlicht! Die haben hier am Hotel einen Match-Service für Leute, die keinen Partner haben. Ziemlich praktische Sache. Man muss seine Spielstärke angeben – von Anfänger bis Vollprofi – und dann besorgen die einen Gegner aus der Kategorie, der man angehört.“ „Es gibt nur zwei Stufen?“ fragte ich erstaunt. „Nein, sechs. Ich fühle mich als fortgeschrittener Anfänger, das wäre Gruppe 2, habe mich aber als fortgeschrittener Spieler, also Gruppe 3, eingeschrieben, weil ich etwas lernen will.“ „Ist dass nicht ein bisschen sehr mutig?“ wollte ich wissen. „Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?“ antwortete Jonathan. „Und was ist morgen geplant?“ „Morgen veranstalten die vom Hotel aus ein Gästeturnier um so begehrenswerte Preise wie eine Flasche Champagner oder einen Sonntagsbrunch für Zwei.“ „Große Sache!“ bemerkte ich ironisch. „Erst will ich mal gegen den Dreier gut aussehen!“ steckte sich Jonathan sein Ziel für heute.
Nun, über das Flutlichtspiel ist zu berichten, dass die Temperatur am Abend angenehm war, aber dass man schon Augen wie ein Luchs haben musste, wenn man die doch viel schwächere Lichtstärke als sie unsere Sonne spendete, kompensieren wollte. „Nicht ohne Grund wird Licht in Lux gemessen“, verkündete Jonathan, der natürlich wusste, dass es nichts mit dem Tier aus der Familie der Katzen zutun hatte, sondern Licht eben auf Lateinisch „lux“ heißt. Der angebliche Dreier entpuppte sich als echter Vierer, also als ein ausgewachsener Fortgeschrittener. Wenn er nicht im zweiten Satz Probleme mit seinem Kreuz, er meinte es seien die Nieren, bekommen hätte, würde Jonathan wohl das Nachsehen gehabt haben. So aber wurde die Partie nach Sätzen unentschieden abgebrochen. Schweißtriefend wankten beide Kämpfer unter die Dusche.
Übrigens das Gästeturnier am nächsten Tag fiel mangels Teilnehmer buchstäblich ins Wasser, aber nicht weil es regnete, sondern weil die feucht-schwüle Hitze die Touristen an den Strand und ins lauwarme Meer getrieben hatte. Jonathan und ich fuhren stattdessen mit unserem geliehenen Cabrio, Chrylser Le Baron stand am Heck, aufs Festland und dann rechts über die Autobahn 1-395 auf dem Mac Arthur Causeway nach Miami Beach. An den pastellfarbenen Gebäuden des weltberühmten Art Deco Viertels vorbei kamen wir zum Fisher Island Fährterminal.
„Grundstücksspekulanten wollten dieses ganze Gebiet, eines der größten historischen Kleinodien der USA, aus Geldgier niederreißen und nicht etwa durch ein Wunder, sondern durch den aktiven Kampf kunstsinniger Menschen wurde es schließlich gerettet. Die eigentümliche Atmosphäre hier lässt sich nicht beschreiben, die diese Bonbonfarben und Ornamente auf den Häusern ausstrahlen. Es sind immerhin 960 Bauten, die in den 30er und 40er Jahren so entstanden sind. Damit ist dieses Art Deco Distrikt das zweitgrößte der Welt nach Napier in Neuseeland und sicherlich auch das bekannteste. Dieses besondere Fluidum kann nur an Ort und Stelle erlebt werden. Ich bin immer high, als Ästhet von Kunst und Design jedes Mal tief berührt, wenn etwas außergewöhnlich gut ist, gerade weil es auf das Wesentliche reduziert ist“, kommentierte Jonathan begeistert die Umgebung.
Fisher Island, Floridas Luxusinsel in privater Hand, ist nur mit der Fähre zu erreichen und wenn man dort nicht Resident ist oder wenigstens ein Appartement oder eine Villa gebucht hat, kommt man gar nicht erst mit. Die Insel ist ein Paradies für Golf- und Tennisspieler, letztere finden dort gelenkschonende Plätze in drei Varianten: grüne Hart-Tru Asche, rote Kleinfeldplätze und als Clou drei Rasencourts. „Wenn die mich schon nicht auf dem heiligen Rasen von Wimbledon antreten lassen, will ich wenigstens mal das Feeling von Gras spüren“, sagte Jonathan mit blitzenden Augen. Weiß der Teufel, wie er die Einladung von einem der Inselbewohner ergattert hatte. Irgendwie hatten sie mal geschäftlich miteinander zutun gehabt und jetzt verlebte der bedauernswerte Mann aus New York seine Millionen vorzugsweise im Fisher Island Club. Das Gästehaus hatte 1925 der Eisenbahnkönig Vanderbilt bauen lassen, der vorher von dem Architekten Carl Fischer die gesamte Insel gegen eine Luxusyacht samt Besatzung eingetauscht hatte.
„Der Bekannte von mir spielt weder Tennis noch Golf und segelt auch nicht, aber er ist ein ausgewiesener Gourmet und angeblich soll es in dem Club das beste Essen von ganz Florida geben, zumindest aber das teuerste.“
„Und was macht er, wenn er satt ist?“ fragte ich sozialkritisch, wie es sich für einen Journalisten gehört.
„Dann“, erwiderte Jonathan, ohne eine Miene zu verziehen, „dann fährt er mit seinem batteriegetriebenen Golf Cart, solche Karren nutzen alle hier, mit der rasanten Höchstgeschwindigkeit von 19 Meilen pro Stunde zu seiner Villa und legt sich aufs Ohr, um wieder fit zu sein, für den 5 Uhr-Tee.“
„Wie entsetzlich!“ rief ich gespielt schockiert.
„Ich kenne Aaron Schlesinger seit über zwanzig Jahren. Er ist einer der einseitig begabtesten Leute, die ich bisher getroffen habe. Ein Technikfreak, aber ur in der Theorie. Der war keiner der Jungs, die damals in Steve Jobs Garage den Personalcomputer erfunden haben, überhaupt kein Tüftler und Bastler. Dennoch hat er wahrscheinlich für Silicon Valley mehr getan als alle, die später berühmt wurden, zusammen. Ich weiß nicht, wie viele Patente er besitzt, jedenfalls haben ihn die Computerfirmen immer gerufen, wenn es um kreative Engpässe ging.“
Aaron Schlesinger begrüßte uns am Eingang zum Club. Ein freundlicher Herr im schwarzen Blazer und weißer Hose, ein Seidentuch um den Hals. So wie man sich einen pensionierten Diplomaten vorzustellen hat, den wir von Aperitif-Reklamen kennen.
„Es gibt im Club einen phantastischen Sherry, lang in Eichenfässern gelagert“, sagte er.
Wir sprachen eine Weile über unsere bevorzugten alkoholischen Getränke, der übliche männliche Smalltalk seit Hemingway, bis Jonathan, den so etwas langweilte und ich muss zugeben, dass mich diese Weinkenner mit ihrem Getue auch nerven, die Frage stellte, die ihn interessierte: „Wie siehst du eigentlich die technische Entwicklung im Tennisschläger-Bau?“
Ich bin sicher, er hätte auch jede andere Frage zu irgendeinem Gebiet stellen können, solange es um Technik ging. Jedenfalls wurde Aaron augenblicklich wach. Visionen waren gefordert. „Was ist das wirkliche Problem?“ fragte er.
„Das Problem bei Tennisschlägern ist der konstruktive Widerspruch von Power und Gefühl. Die heutigen Wide-Body-Schläger mit ihren großen Köpfen haben viel Geschwindigkeit ins Spiel gebracht, aber sehr viel Ballbeschleunigung bedeutet auch weniger Touch. Selbst der Nichtkönner kann heute bis zur Grundlinie schlagen und darüber hinaus. Letzteres praktiziert er mit Vorliebe.“
„Was wir brauchen, ist der denkende Schläger!“ wurde ich utopisch.
„Es gibt noch nicht einmal den denkenden Computer“, wiegelte Aaron Schlesinger ab.
„Computer können zuverlässiger große Datenmengen speichern als wir, aber für das Denken ist Lernen eine Voraussetzung und auch Phantasie. Im Grunde werden Computer überschätzt“, sagte Jonathan Seyberg.
„Ich glaube“, sagte Aaron bedächtig, „Tennisschläger haben mit Computern insofern zutun, dass schon seit geraumer Zeit CAD, also Computer Aided Design, auch auf diesem Feld eingesetzt wird. Aber um nicht nur mehr Power, sondern auch mehr Ballkontrolle und Komfort zu erzielen, wird sich auf dem Materialsektor etwas bewegen. Bei den Saiten ist die Entwicklung auf dem Kunststoffsektor vorangekommen. Und auch bei den Rahmen wird die Flüssigkristall-Technologie, werden die sogenannten viskoelastischen Polymere wahrscheinlich dem Graphit den Rang ablaufen. Jeder kennt das Zeug von den Bildschirmen bei Smartphones oder Notebooks. Die Flüssigkristalle können bei Temperaturunterschieden, aber auch bei Druck, blitzschnell ihre Festigkeit verändern. Ein Racket kann also bei weichem Spiel elastisch sein und bei harten Schlägen fester. Es passt sich automatisch an die Spielweise an.“
„Aber spielen muss man schon noch selbst“, witzelte Jonathan.
Die Mahagoni-Täfelungen aus viktorianischer Zeit, das handgearbeitete Mobiliar und die zehn Zentimeter dicken Massivholztüren gaben dem Restaurant des Fisher Island Clubs eine unamerikanische Gediegenheit. Das Menü war superb. Vorspeise: Gemüsesülze mit Gänseleber. Zwischengericht: Spargel mit Entenleberklößchen. Hauptgericht: Zander auf Kohlrabi. Dessert: Kirschtörtchen mit Mandeleis. Ein Chablis zum Fisch und zum Schluss ein Espresso. Aaron Schlesinger kannte sich nicht nur technisch und kulinarisch aus, sondern hatte auch für Jonathan einen Gegner parat, der in seiner besten Zeit auf Rasen ein As war. 36-mal hatte der Mann auf dem Centre Court in Wimbledon gespielt und jetzt mit 80 Jahren wirkte Gardnar Mulloy immer noch ziemlich fit. Zu gut jedenfalls für Jonathan.
„Haben Sie gemerkt, dass der Alte überhaupt nicht gelaufen ist?“ stöhnte er hinterher auf der Rückfahrt. „Der stand einfach immer richtig, weil er schon ahnte, wo ich hinschlage. Überhaupt keine Hektik. Der hätte auch mit verbundenen Augen gewonnen. Und dann dieser flache Rückhandslice, bei dem der Ball praktisch nur noch auf dem Rasen entlang rutscht. Das war allererste Sahne!“
„Mann – und die Tricks, die der auf Lager hatte“, rief ich bewundernd aus.
„Jeden, aber auch wirklich jeden Schlag hat der angetäuscht und variiert, alles grundsätzlich angeschnittene Bälle, sogar mit Seitendrall, aus dem Handgelenk, ansatzlos“, äußerste sich Jonathan anerkennend.
„Das war kreatives Tennis“, stellte ich fest. „übrigens der andere Weißhaarige, den ich heute kennengelernt habe, der hat mich auch fasziniert. Eine tolle Persönlichkeit!“
„Ja, der Aaron, das ist auch ein Kreativer, deshalb kann der so bescheiden auftreten. Keine Show. Überhaupt nicht aggressiv. Bei dem spürt man auch diese professionelle Lockerheit, die man selbst gerne hätte. Der Aaron war mein Lehrer an der Uni, Gastprofessor für kreatives Denken. Der hat die Ums-Eck-Denkmethode erfunden und publiziert.“
„Die auf was basiert?“ nutzte ich sofort die Chance zur Frage.
„Die auf der einfachen Erkenntnis gründet, dass beim Denken Flexibilität ein viel wichtigeres Prinzip als Starrheit ist und folglich die Gerade, die in der Natur bekanntlich nicht vorkommt, für das Denken weniger taugt als die Kurve. Deshalb lehrte er, ums Eck zu denken sei die natürlichste Sache der Welt, weil nachweisbar natürliche Bewegungen und Entwicklungen Wellenbewegungen sind. Der Flügelschlag des Vogels läuft ebenso in Wellenbewegungen ab wie das Wachstum eines Kindes. Es gibt zahlreiche Beispiele: Das Wetter, die Jahreszeiten, die Gezeiten. Aber auch die Musik, die Schwingungen des Schalls, unser ganzes Leben. Weder wachsen wir kontinuierlich bis zu unserer vollen Größe, noch altern wir stetig. Selbst in der wohl epochalsten aller wissenschaftlichen Erkenntnisse, in Albert Einsteins Relativitätstheorie, finden wir Hinweise gegen die Geometrie Euklids, nämlich das Vorhandensein von Gravitationsfeldern bedingt eine Krümmung des physikalischen Raums. Sogar die Wirtschaft richtet sich nach dem uralten Berg-und-Tal-Prinzip. Auf die Auf die Konjunktur mit steigenden Wachstumsraten folgt stets die Rezession mit einer Abkühlung. Auf das Leben folgt das Sterben.“
„Zyklen sind nichts Neues!“ warf ich ein.
„Selbst an unserem Körper ist nichts gerade. Nicht umsonst sprechen wir von Gehirnwindungen, Darmschlingen, Augäpfeln, Schulterachseln, Ellbogen, Armbeugen, Mundwinkeln, Lungenflügeln. Von herzförmig, nierenförmig und auch Busen und Po sind eher rund als gerade.“
„Ausnahmen bestätigen die Regel“, konterte ich routiniert.
„Das Ums-Eck-Denken ist die zeitweilige Befreiung des Denkbaren von den engen Grenzen des Machbaren. Ganz im Gegensatz zum mathematisch-grammatikalischen Denken ist hier nichts unmöglich. Es gibt kein RICHTIG oder FALSCH, sondern nur ein Ergebnis oder kein Ergebnis. Aber auch die Ergebnisse sind nur vorläufig und nicht endgültig. Das sehr ordentliche, klinische Denken, das uns meistens in der Schule beigebracht wird, dieses antiseptische Denken, auch Kästchendenken genannt, führt in erster Linie zur Vervielfältigung von etwas Vorhandenem, also zur Verbreitung von Basiswissen. In den Schulen und Universitäten wird, jedenfalls nach Aarons These und ich schließe mich der an, überwiegend Gedächtnisleistung prämiert. Auf manchen Forschungsgebieten meint er, würde bei genauer Analyse erkennbar, dass eine Objektivierung nicht im Vordergrund stände.
Außerdem behauptet er, und verdammt noch mal, der Kerl hat irgendwie recht, wir würden generell zu linear von uns ausgehen. Ich erinnere mich noch genau, es muss so ungefähr dreißig Jahre her sein, an das plastische Beispiel, das er in einer Vorlesung brachte. Nach seiner Meinung stimmen unsere Vorstellungen von der Welt grundsätzlich mit der Welt nicht überein. Nehmen wir nur einmal eine Welt, die wir alle zu kennen meinen, beispielsweise die Hühnerwelt. Die stellen wir uns gerne als Omas lustig pickende Hühnerschar samt munter krähendem Hahn auf dem Mist vor, wie wir sie aus unserer Kindheit, wenn wir auf dem Lande aufgewachsen sind, oder sonst aus Bilderbüchern kennen. Und weil wir annehmen, dass für uns selbst Bodenhaltung besser erträglich wäre als Käfighaltung, kaufen wir lieber Eier von sogenannten freilaufenden Hühnern. In Wirklichkeit ist beides, Käfig und Boden, Intensivhaltung in fensterlosen Hallen und das eine so inhuman wie das andere.“
„Was war denn zuerst da, die Henne oder das Ei?“ wollte ich scherzhaft wissen.
Jonathan Seyberg ignorierte die kleine Boshaftigkeit, ihn aufs Glatteis zu führen und antwortete kühl: „Das Ei natürlich, biologisch und evolutionstheoretisch betrachtet, gibt es daran keinen Zweifel!“
Ich bewunderte seine Selbstsicherheit und hasste meine Albernheit. Das Niveau eines Gesprächs zu drücken, war mir peinlich. Ihn jedoch schien es nichts auszumachen. „Durch die direkte Übertragung der Kästchen aus dem Matheheft in die Landschaft ist es zu dieser unmenschlichen Architektur gekommen. Schade, dass sich die Landschaft nicht wie ein Heft zuklappen lässt“, sagte er sichtlich erregt. Wir fuhren auf dem Venetian Causeway, dessen Brücken die künstlichen Inseln Belle, Rivo Alto, Dilido, San Marino und San Marco verbinden, in Richtung City. Die Skyline von Miami und links die Ozeandampfer im größten Kreuzfahrerhafen der Welt, machten die Dominanz der Technik augenfällig.
„Wer sich für den Fortschritt begeistert, kann bei diesem Anblick nur jubeln, das ist das moderne Amerika, gleißend weiße Schiffe vor Spiegelglasfassaden. Doch wie es dahinter aussieht, hinter den Kulissen, nur ein paar Hundert Meter weiter, Sex, Drugs and Crime, bitterste Armut, keine Hoffnung, ein verrottetes Chaos, das nenne ich Kontrast. Die wichtigste Frage ist: Wer sieht die Probleme und findet die Lösungen?“
„Ist es nicht in allen Hafenstädten der Welt ähnlich?“ fragte ich vorsichtig.
„Der gute alte Aaron Schlesinger hat damals schon gewusst, dass die Politiker immer nur Aufgaben angehen, deren Lösungen sie zu kennen meinen. Meistens irren sie sich auch darin, gewinnen aber Zeit und oft die nächste Wahl. Bei jedem Konflikt-Szenario gibt es grundsätzlich ein Problem, ein Hindernis, das einen Engpass darstellt, der erkannt und überwunden werden muss, um zu einer Lösung zu gelangen. Das war und ist typisch für Aaron, ich möchte fast vermuten, eine jüdische Denktradition, wie er gerne argumentiert. Er behauptet, ohne Hindernisse gäbe es keine Probleme, folglich wäre es gut, dass es Hindernisse gibt. Denn wenn wir keine Probleme hätten, brauchten wir keine Lösungen. Darin steckt eine Menge Ähnlichkeit mit dem berühmten Witz, in dem sich zwei Juden auf einem Bahnhof treffen und der eine den anderen nach seinem Reiseziel fragt. Und der antwortet, er führe nach Lodz. Denn es sind polnische Juden. Da beschimpft der andere ihn, diese Antwort sei eine Gemeinheit, weil er zufällig erfahren habe, dass er tatsächlich nach Lodz wolle, warum er ihn also belüge.“
„Die Analogie verstehe ich nicht!“ sagte ich.
„Ich auch nicht!“ lachte der Professor, um dann gleich wieder ernsthaft zu werden, „es hat natürlich schon etwas mit dem Ums-Eck-denken zutun. Doch was ich damit auch meine: Wenn es eine Ausweglosigkeit gibt, wird der Engpass zur Mauer, das Hindernis wächst und der Engpass wird immer enger. Schließlich bleibt nur Resignation oder Aggression. Beides hat dieselbe Ursache, denselben Auslöser. Der Mensch ist bequem. Er springt nicht über Hindernisse, wenn er nicht muss. Er sucht nicht den Konflikt, wenn er einen anderen Ausweg weiß. Gewalt ist immer ein Zeichen von Verzweiflung.“
„Ein Tennis-Match ist auch ein Konflikt!“ sagte ich.
„Genau“, stimmte Jonathan überraschend zu, „es gibt kein Unentschieden. Jedes Spiel endet mit einem Sieg oder einer Niederlage. Mit einer klaren, eindeutigen Lösung. Und das, obwohl sich die Parteien, die Gegner, nicht mutwillig verletzen können. Außer jemand dreht durch. Wo gibt es das sonst im Leben?“
„Interessanter Aspekt!“ gab ich zu.
„Um nochmals auf Aaron zu kommen“, fuhr er unbeirrt fort, „der hat entdeckt, dass es zwischen Problem und Lösung einen Lösungsradius gibt. Wenn der zwischen 180 und 360 Grad beträgt, sich also Problem und Lösung diametral entgegenstehen, wird die Lösung immer schwieriger. Im Extremfall gibt es eine Kette von Problemen mit unterschiedlichen Lösungsradien. Auch Radien, die über 360 Grad hinausgehen, also spiralförmig sind. Die Lösungswege hochkomplizierter Probleme sehen aus wie Turbulenzen, weil einzelne Stufen unsinnigerweise wiederholt auftreten, obwohl sie absolut identisch sind.“
„Ist für mich zu hoch, verstehe ich einfach nicht!“ gab ich zu.
„Nun, Tennis ist im Grunde ein ganz einfaches Spiel“, erklärte er genüsslich, „solange man es nicht kann. Sich den Ball irgendwie übers Netz langsam zuzuschaufeln, dass kann fast jeder ziemlich schnell lernen. Problem, Hindernis und Lösung sind praktisch auf einer Ebene. Das Ziel besteht nur darin, Spaß zu haben. Solange einer gut genug ist, dem anderen den Ball so zu servieren, dass er kein Problem hat, das Netz zu überwinden und ins Feld zu treffen, ist das erste Problem gelöst. Aber wie bei allen komplexen Problemen, und dazu gehört Tennis im Wettkampf, wird dem Anfänger eher als ihm lieb ist klar, das dieses Spiel körperliche und geistige Flexibilität erfordert. Mit Komplexität umzugehen, ist für jeden Menschen, auch für mich, wie Schwimmen mitten im Ozean. Plötzlich kippt das Wetter um und mit ihm die Situation. Auf solche relativ schnellen Veränderungen sich bei komplexen Systemen einzustellen ist schwierig.
Ich habe seit Jahrzehnten Großunternehmen beraten, in denen sich dynamische Veränderungen vollzogen oder auch mit meiner Hilfe geplant herbeigeführt wurden. Die Situation in einem Match ist sehr viel überschaubarer, aber es ist derselbe Ablauf. Ich muss auch agieren und reagieren.“
„Gibt es für diesen Mechanismus bestimmte Stufen? Sie sprachen von der Einteilung des Lösungsradius und wenn ich Sie recht verstanden habe, meinten Sie, ohne einzelne Phasen könnten komplizierte Probleme nicht gelöst werden, Herr Professor!“
„Ich lasse mich nicht unter meinem Niveau provozieren!“ gab er schmallippig zurück, ließ aber gleichzeitig erkennen, dass seine Replik augenzwinkernd gemeint war. „Wenn ich mir etwas vornehme, dann gehe ich dieses neue Vorhaben gründlich an. Einfach deshalb, weil ich Zeit sparen will, denn Zeit ist das Einzige, was wir nicht produzieren können, weswegen sie sehr viel wertvoller als Geld ist. In meinem Alter hat man nicht mehr viel Zeit, zwei Drittel meines Lebens sind statistisch vorbei. Die Leute, die wirklich etwas davon verstehen, behaupten unisono, man brauche um das Tennisspielen richtig zu erlernen mindestens zwölf Jahre. Das ist einer der Gründe, weshalb ich besonders gerne gegen überlegene Gegner antrete. Man spart eine Menge Zeit dabei, Matches zu spielen und sämtliche Sinne auf Empfang geschaltet zu lassen, egal wie der Spielstand ist.“
„Haben Sie denn ein Konzept, nach dem Sie vorgehen?“
„Natürlich, ich gehe immer schrittweise vor. Grundsätzlich ist es so, dass ich bei der Planung für größere Projekte vier Schritte bewusst berücksichtige: Die Philosophie kommt zuerst!“
„Die Philosophie?“ fragte ich ungläubig.
„Ganz genau! Wir können alle im Lexikon oder im Internet nachlesen, dass unter Philosophie das Streben nach Erkenntnis des Zusammenhangs der Dinge in der Welt verstanden wird. Doch das ist mir zu abstrakt. Für mich ist Philosophie der Zweck meines Tuns, über den ich mir bei wichtigen Entscheidungen vorher klar werden will. Das gilt für alle Bereiche der Lebensgestaltung. Auf Tennis bezogen wäre das beispielsweise: Weshalb reizt es mich, diese ganz bestimmte Sportart auszuüben? Was ist der tiefere Sinn für mich? Warum will ich mich darauf und nicht auf das, was ich schon kann, konzentrieren?“
„Und die anderen drei Schritte?“ fragte ich ungeduldig.
„Zweitens kommt die Strategie, die Zielsetzung, also das, was ich erreichen will. Wenn ich ein Haus bauen will, brauche ich ein Grundstück und einen architektonischen Entwurf und ein Fundament und Kapital. Es müssen immer sehr viele sinnvolle Entscheidungen getroffen werden, die sinnvoll ineinandergreifen. Wenn ich eine Firma gründen will auch, oder eine Familie. Um bei dem Tennis-Beispiel zu bleiben: Ich will im Prinzip so gut spielen können, dass es mir Spaß macht. Dazu muss ich die verschiedenen Schläge wie Vorhand, Rückhand, Aufschlag, Volley nicht perfekt, aber doch ziemlich sicher beherrschen. Das ist mein Ziel! Daran arbeite ich. Drittens an der Konzeption, oder Taktik, wie ich dieses mir selbst gesteckte Ziel am besten erreiche. Das kann man über Trainerstunden verwirklichen, aber ich bin im Grunde meines Herzens ein eingefleischter Autodidakt und setze eben eher auf Spiele gegen gleichwertige oder bessere Gegner. Anfangs habe ich bei Turnieren immer verloren, aber inzwischen gewinne ich auch manchmal. Ja, und viertens, geht es um die Art der Umsetzung des Geplanten und hier habe ich mir einen eigenen Stil ausgedacht. Ich versuche so variabel wie möglich zu spielen, weil die meisten Tennisspieler einen ganz bestimmten Rhythmus haben und den bemühe ich mich frühzeitig zu erkennen und zu durchbrechen.“
„Das klingt alles ungeheuer rational und total durchgeplant!“
Jonathan lächelte überlegen und sagte dann: „Ich habe das Spiel so verstanden, dass man den Ball dorthin spielen sollte, wo der Gegner die meisten Schwierigkeiten hat, ihn zu retournieren. Gelegentlich höre ich von Leuten, das wäre gemein, Stopps und Lobs zu spielen. Natürlich gelingt mir nicht alles, aber ich versuche, die dritte Dimension zu nutzen, wenn man mich lässt und nicht zu viel Druck durch schnelle Schüsse auf mich ausübt.“
„Und haben sich Ihre Ideen ausgezahlt?“
„Die Realität ist immer anders, als man vorher denkt. Damals vor zwei Jahren, als ich erstmals mit dem Gedanken spielte, mein Leben völlig zu ändern, habe ich nicht berücksichtigt, dass mich ein Journalist, ein hartnäckiger Engländer dazu, der auch noch zum Schriftsteller avancieren will, mit seinen neugierigen Fragen behelligen würde. Allein das hat einiges in mir bewirkt. Außerdem komme ich, was diese irrsinnig schwierige Schlagtechnik im Tennis angeht, viel langsamer voran als ich gedacht habe.“
„Warum nehmen Sie nicht jetzt doch einmal einen Trainer, um die letzten Feinheiten herauszukitzeln?“
„Die, von denen ich glaube, vielleicht etwas lernen zu können, sind zu teuer und auf der Profitour mit den Stars unterwegs. Außerdem sind sie gewiss nicht an einem über fünfzigjährigen Narren interessiert, der sich noch nicht zu alt für diesen Sport hält. Die würden doch nur lachen, wenn ich käme. Also soweit bin ich dann doch Realist und außerdem habe ich mich noch nie nach dem gerichtet, was Mode oder Lehrmeinung war.“
Am nächsten Morgen fuhren Jonathan und ich gleich nach dem Frühstück nach Coral Gables, eine 50.000-Einwohner-Gemeinde, die wie sicherlich einige hundert andere Städte von sich behauptete, die schönste der USA zu sein. Auf ihrem Gebiet befindet sich der Main Campus der Universität von Miami und unmittelbar nördlich davon, umrahmt von Luxusvillen, die beiden Golfplätze Riviera und Biltmore. Letzterer gehörte zum berühmten „The Biltmore Hotel“, einem schloßähnlichen Bau mit dem größten Swimmingpool der Welt. Dieses historische Gebäude ist das Wahrzeichen von Coral Gables, was es nicht davor bewahrte, immer einmal wieder aus finanziellen Gründen von der Spitzhacke bedroht zu sein.
In dieser sündteueren, extrem gepflegten Wohngegend, direkt neben dem Hotel, stand sie nun, das Objekt von Jonathans Begierde: die größte Tennisübungswand, die irgendein Mensch jemals gesehen hat. Der Professor hatte gehört oder gelesen, dass es üblich wäre, sich an dieser Knallwand einzufinden wenn man keinen Spielpartner hatte, ein paar Bälle zu schlagen und wenn man meinte, zusammen zu passen, ein Match zu vereinbaren. Natürlich musste er unbedingt dorthin. Mir wäre es peinlich gewesen, neben einem wildfremden Menschen an einer Wand Tennis zu spielen und ihn dann vielleicht auch noch anzusprechen. Aber das brauchte er gar nicht. Der andere, der sich bald darauf neben ihm aufbaute und wie wild abwechselnd Vor- und Rückhände gegen die glatte, grüne Betonwand donnerte, ein kräftiger junger Kerl, Typ Produktmanager, schien ganz heiß auf einen Gegner zu sein. Nach noch nicht einmal zehn Minuten packten sie ihre Tennistaschen, mieteten für ein paar Dollars einen Platz, es gab nur Hartplätze, und begannen sich sofort einzuschlagen. Ich war wortlos hinterher getrottet.
Der andere war, wie sich später herausstellte, kein Produktmanager, sondern Banker, einer von den Investment-Haien, die anderer Leute Geld verspekulieren, wozu Mut gehört. So spielte er auch, immer volles Risiko. Jonathan dagegen, analytisch wie er war, blieb stur bei seinem vorsichtigen Prozent-Tennis, setzte nur die Schläge ein, die er wirklich konnte und gewann deutlich. Der Netzstürmer hatte sich einfach totgerannt, war pausenlos und unvorbereitet in einen Lob nach dem anderen gelaufen, und hatte sonst auf alle Bälle eingeprügelt die in seine Nähe kamen. Ohne auf die Art des Spins zu achten, flogen die Dinger naturgemäß oft über die Grenzen des Platzes. Seine Rechnung mit Power zu gewinnen, konnte so nicht aufgehen.
Nach dem Matchball forderte er wütend, ich glaube, er hieß tatsächlich Randy, für den nächsten Tag Revanche. „Okay!“ sagte Jonathan, „aber nicht hier, sondern in Key Biscayne. Im International Tennis Center. Ich wollte schon immer mal dort gewinnen, wo es sich auch finanziell lohnt.“
„Fair genug!“ sagte der schneidige Finanzexperte und „wir sehen uns Morgen früh, nine o’clock sharp!“