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Verzweiflung

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Ein stei­ler, durch den an­hal­ten­den Nie­sel­re­gen schlüpf­ri­ger Weg führ­te in vie­len Win­dun­gen den Berg hi­n­auf. Mit zü­gi­gen und den­noch si­che­ren Schrit­ten streb­te ein etwa drei­ßig­jäh­ri­ger Mann auf die­sem dem Gip­fel ent­ge­gen. Nur noch we­ni­ge Me­ter trenn­ten ihn vom höchs­ten Punkt, als der schma­le Pfad um einen leicht vor­sprin­gen­den Fels­grat bog. Nach­dem er die­se nicht ganz un­ge­fähr­li­che Stel­le pas­siert hat­te, wur­de der Blick frei auf eine klei­ne Ter­ras­se. Bei schö­nem Wet­ter konn­te man von die­ser Stel­le aus weit ins Land schau­en, doch an die­sem Tag war durch das neb­li­ge und reg­ne­ri­sche Wet­ter die Sicht bis auf we­ni­ge Me­ter ein­ge­schränkt. Am Rand die­ses über­hän­gen­den Fels­stückes, nur eine Hand­breit vom Ab­grund, stand eine jun­ge Frau. Die nas­sen, ver­kleb­ten Haa­re hin­gen ihr ins Ge­sicht und an ih­rer durch­näss­ten Klei­dung konn­te man er­ken­nen, dass sie schon län­ger hier stand.

Un­ge­hört von der Frau ging der Mann zu der et­was über­hän­gen­den Fels­wand, die in ei­nem leich­ten Halb­kreis den hin­te­ren Teil die­ses Or­tes um­rahm­te. Nach­dem er sie eine Wei­le be­ob­ach­tet hat­te, durch­brach er die Stil­le.

»Warum wol­len Sie Ihr Le­ben weg­wer­fen, es hat doch ge­ra­de erst be­gon­nen?«

Er­schro­cken fuhr die Frau he­r­um und wäre da­bei bei­na­he ab­ge­rutscht. Das Gleich­ge­wicht wie­der er­lan­gend und einen Schritt vom Ab­grund zu­rück­wei­chend, schau­te sie den Mann mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an.

Sein schon fast ganz er­grau­tes Haar schi­en selt­sa­mer­wei­se noch voll­kom­men tro­cken zu sein. Groß und schlank ge­wach­sen, strahl­te er eine Ruhe aus, wie sie es noch nie ge­spürt hat­te. Auf ei­nem Bein ste­hend, das an­de­re an­ge­win­kelt an der Fels­wand, schau­te er ihr freund­lich lä­chelnd in die Au­gen. Die­ser Blick hielt sie für kur­ze Zeit ge­fan­gen.

»Wer sind Sie? Wo kom­men Sie her? Wie lan­ge ste­hen Sie schon hier?«

Er lach­te fast un­hör­bar.

»Mein Name tut hier nichts zur Sa­che. Sie ken­nen mich ja doch nicht.«

»Noch nicht!«, füg­te er lä­chelnd hin­zu. Tief sog er die fri­sche, feuch­te Luft ein und sie hat­te den Ein­druck, dass er bis in ihr In­ners­tes se­hen konn­te.

»Ich ste­he schon lan­ge ge­nug hier, um Ihre Ab­sicht zu ken­nen. Ehr­lich ge­sagt ist es ge­nau das, was mich hier­her ge­führt hat.«

»Was wis­sen Sie schon von mei­nen Ab­sich­ten und was geht Sie das an?!«

Wü­tend dreh­te sie sich zum Ab­grund um, und ein we­nig lei­ser füg­te sie hin­zu: »Sie ha­ben doch kei­ne Ah­nung! Für Sie scheint das Le­ben in Ord­nung zu sein.«

Ihre Ge­dan­ken ras­ten und setz­ten fort, was sie laut aus­ge­spro­chen hat­te.

»Aber für mich ist es nicht mehr le­bens­wert. Ich habe al­les ver­lo­ren, selbst zer­stört! Ich habe ja selbst kei­ne Ach­tung mehr vor mir, wer soll­te mich denn noch mö­gen nach dem, was ich ge­tan habe!?«

Trä­nen misch­ten sich ins Re­gen­was­ser, das ihr im Ge­sicht he­r­un­ter­lief. Trau­rig und tief ver­letzt stand sie da und wag­te doch nicht, die­sen einen Schritt zu tun. Der Zwie­spalt in ih­rem In­ne­ren war rie­sig, sie schäm­te sich, fühl­te sich aus­ge­nutzt, ekel­te sich vor sich selbst. Und doch wehr­te sich ihr Ver­stand, ihre See­le ge­gen die Selbst­ver­nich­tung.

»Si­cher­lich sieht es so aus, als ob das Le­ben für mich in Ord­nung wäre, aber das war nicht im­mer so. Auch ich woll­te mei­nem Le­ben am liebs­ten ein Ende set­zen, und glau­ben Sie mir, es war zwar aus ei­nem an­de­ren Grund, aber für mich war in die­sem Mo­ment das Le­ben auch nicht mehr le­bens­wert. Doch nichts auf die­ser Welt kann recht­fer­ti­gen, dass je­mand sein Le­ben weg­wirft. Ich den­ke, ich weiß wo­von ich spre­che, denn ich habe ge­nug er­lebt. Und das, wes­we­gen Sie Ihr Le­ben weg­wer­fen wol­len, ist es nicht wert, die­sen Schritt zu tun! Nicht Sie müs­sen sich schä­men für das, was Sie ge­tan ha­ben, son­dern die, die Sie aus­ge­nutzt und be­nutzt ha­ben! Ei­gent­lich sind Sie doch ein Op­fer, das Op­fer des Be­darfs, der Wün­sche und Fan­tasi­en an­de­rer.«

Lang­sam, wie die Trop­fen des Re­gens, dran­gen die Wor­te in sie ein und nur zö­gernd wur­de ihr be­wusst, dass er sprach, als ob er all ihre Ge­dan­ken ken­nen wür­de. Sie dreh­te sich wie­der um, sah ihn mit ih­ren ver­wein­ten, tief­trau­ri­gen Au­gen an und ver­such­te zu er­grün­den was, wie viel und wo­her er es wuss­te.

»Ich ken­ne Sie nicht und doch spre­chen Sie so, als ob Sie alle mei­ne Ge­dan­ken ken­nen wür­den. Wo­her wol­len Sie wis­sen, warum ich hier ste­he, wes­halb ...«

Plötz­lich durch­zuck­te ein Ge­dan­ke ihr Ge­sicht, ihre Au­gen blitz­ten auf und zor­nig, ag­gres­siv, ja feind­se­lig fuhr sie ihn an.

»Au­ßer«, sie dehn­te die Wor­te und wirk­te wie ein Pan­ther vor dem Sprung, »au­ßer, Sie sind auch ei­ner von de­nen, die sich die­sen Dreck an­schau­en und sich dran auf­gei­len!«

Lau­ernd sah sie ihn an und war­te­te auf sei­ne Re­ak­ti­on. Doch die­se fiel ganz an­ders aus, als sie er­war­tet hat­te. »Eine lo­gi­sche Schluss­fol­ge­rung, doch weit da­ne­ben. So ohne Wei­te­res kön­nen Sie es doch nicht ver­ste­hen. Aber viel­leicht soll­te ich Ih­nen eine Ge­schich­te er­zäh­len, da­mit Sie das Le­ben, auch Ihr Le­ben, bes­ser ver­ste­hen. Ihr Zorn ist ver­ständ­lich, da Sie sich aus­ge­nutzt und miss­braucht füh­len und doch ha­ben Sie es frei­wil­lig und bei vol­lem Be­wusst­sein der Fol­gen ge­tan. Eine Zeit­lang hat es Ih­nen ja auch Freu­de be­rei­tet. In mei­nen Au­gen ist auch nichts Ver­werf­li­ches da­bei, so­lan­ge man sei­ner See­le kei­nen Scha­den da­mit zu­fügt. Viel schö­ner und er­fül­len­der ist es aber, wenn es aus Lie­be ge­schieht.«

»Wo­her …«, zö­gernd und im­mer noch ab­leh­nend ka­men die Wor­te über ihre Lip­pen, »wo­her wis­sen Sie das al­les, mit wem ha­ben Sie ge­spro­chen, wer hat Ih­nen das al­les über mich er­zählt?«

Halb­laut, mehr zu sich ge­spro­chen, füg­te sie noch hin­zu: »Aber ei­gent­lich, ei­gent­lich habe ich doch mit kei­nem dar­über ge­spro­chen?! Kei­ner weiß, wie ich mich füh­le, was mich be­wegt, wo­nach ich mich seh­ne.«

Ihre Au­gen wur­den wie­der feucht.

»Nein! Sie ha­ben mit kei­nem dar­über ge­spro­chen, ha­ben al­les in Ih­rer See­le ein­ge­schlos­sen! Sie schä­men sich. Se­hen in je­dem Blick Ab­leh­nung. Ha­ben das Ge­fühl, dass an­de­re Sie ver­ach­ten und sind ver­bit­tert, weil Sie den­ken, alle re­den schlecht von Ih­nen. Doch die, die am meis­ten mit dem Fin­ger auf Sie zei­gen und läs­tern sind viel­leicht die Schlimms­ten, und schau­en vol­ler Wol­lust, zwi­schen den Fin­gern, ge­nau hin. Ei­gent­lich soll­ten die Men­schen nur über an­de­re rich­ten, wenn sie es selbst bes­ser ma­chen, eine Lö­sung für einen Kon­flikt ha­ben oder ein leuch­ten­des Vor­bild sind. Doch lei­der ist das nicht so!«

Eine kur­ze Pau­se ent­stand, in der er sich an sol­che Ge­ge­ben­hei­ten er­in­ner­te.

»Sie quä­len sich und fin­den doch kei­nen Aus­weg. Doch so­lan­ge Sie sich so vor al­len an­de­ren ver­schlie­ßen, spü­ren die­se Ihre Ab­leh­nung, Ihre Di­stanz und die, die Sie mö­gen und Ih­nen hel­fen könn­ten, fin­den kei­nen Weg zu Ih­nen.«

Lang­sam lös­te er sich von der Fels­wand, ging zwei Schrit­te zur Sei­te und setz­te sich dort auf einen Fels­block.

»Kom­men Sie, set­zen Sie sich mit hier­her. Ich möch­te Ih­nen eine Ge­schich­te er­zäh­len. Ob die­se Ge­schich­te wahr ist und von ei­nem ge­leb­ten Le­ben han­delt oder ein Traum, spielt kei­ne Rol­le. Hö­ren Sie ein­fach nur zu und wenn Sie dann im­mer noch in Selbst­mit­leid ver­sin­ken möch­ten, wer­de ich Sie nicht mehr stö­ren. Dann kön­nen Sie sprin­gen oder auch ewig hier ste­hen blei­ben.« Sie zö­ger­te. »Bit­te, bit­te kom­men Sie.«

Im­mer noch ver­blüfft über das nach­den­kend, was sie so­eben ge­hört hat­te, ging sie lang­sam auf ihn zu. Sie konn­te es sich nicht er­klä­ren, wo­her wuss­te er das al­les, wie konn­te er so über sie und mit ihr spre­chen, ob­wohl sie sich nicht kann­ten. Und doch flöß­te er ihr fast un­ein­ge­schränk­tes Ver­trau­en ein. Sie fühl­te sich viel ru­hi­ger und ent­spann­ter. In sei­nen Wor­ten hat­te sie all ihr Leid und ihre Ver­zweif­lung wie­der­ge­fun­den, und wie von ei­ner un­sicht­ba­ren Macht ge­zo­gen setz­te sie sich ne­ben ihn auf den Fels­block.

Er­schro­cken sprang sie im nächs­ten Au­gen­blick wie­der auf. Der Stein hät­te nass und kalt sein müs­sen und doch war er tro­cken und an­ge­nehm warm, so, als hät­te die war­me Som­mer­son­ne ihn wun­der­schön auf­ge­heizt. Ver­blüfft schau­te sie zum Him­mel. Die Wol­ken­de­cke war auf­ge­ris­sen und aus ei­nem klei­nen Loch, nicht viel grö­ßer als die Son­nen­schei­be, lach­te sie die­se an. In ih­ren Kopf wir­bel­te al­les durch­ein­an­der. Es war doch ei­gent­lich gar nicht mög­lich, eben hat­te es noch ge­reg­net und al­les um sie he­r­um und an ihr trief­te nur so vor Näs­se, wie konn­te da die­ser Fels­block tro­cken und warm sein?! Ihr wur­de lang­sam un­heim­lich, und noch einen Schritt zu­rück­wei­chend, sah sie zu die­sem selt­sa­men Mann hi­n­un­ter. Doch er streck­te nur sei­ne Hand nach ihr aus und for­der­te sie noch­mals auf, sich zu set­zen. Sie konn­te nicht wi­der­ste­hen, nahm sei­ne Hand und ließ sich auf dem Stein nie­der. Eine an­ge­neh­me Wär­me durch­ström­te sie, ihr wur­de leicht ums Herz und sie spür­te, dass sie kei­ne Furcht vor ihm ha­ben muss­te.«

Lang­sam, in sei­nem Ge­dächt­nis al­les ord­nend, be­gann der Mann zu spre­chen.

»Es be­gann vor über ei­nem Jahr mit ei­nem rich­tig großen Fa­mi­li­en­krach. Ich hat­te ein gut­ge­hen­des Han­dels­ge­schäft mit über vier­zig An­ge­stell­ten auf­ge­baut und kurz zu­vor das große Po­ten­zi­al ent­deckt, das im Han­del mit den ehe­ma­li­gen Ost­block­län­dern, Po­len, Russ­land und der Ukrai­ne, steckt. Lei­der hat­te ich da­bei nicht be­dacht, dass es dort ei­ni­ge Or­ga­ni­sa­tio­nen gibt, die an je­dem Ge­schäft mit­ver­die­nen oder auch al­lein ver­die­nen wol­len. Kurz und gut, es dau­er­te nicht lan­ge und ich be­kam Be­such von ei­ni­gen un­sym­pa­thi­schen Män­nern. Die­se droh­ten mir und stell­ten mas­si­ve For­de­run­gen. Ich fühl­te mich im Recht, ließ mich nicht so leicht ein­schüch­tern und wies ih­nen, die Ge­fahr un­ter­schät­zend, die Tür. Als sie den Raum ver­lie­ßen, dreh­te sich ihr An­füh­rer um und sag­te zu mir, dass ich die­sen Feh­ler bald be­reu­en wür­de. Ich lach­te ihn aus und wies ihm zor­nig die Tür.«

Nach­denk­lich und kaum hör­bar füg­te er hin­zu: »Wie oft habe ich das be­reut, wie oft habe ich mich ge­fragt, was wäre, wenn ich da­mals nach­ge­ge­ben hät­te. Ja, was wäre, wenn?, wie oft habe ich mich das seit­dem ge­fragt.«

Er schüt­tel­te sich kurz und fuhr dann, die­sen Ge­dan­ken un­ter­drückend, mit sei­ner Ge­schich­te fort.

»Am sel­ben Abend habe ich mei­ner Frau da­von er­zählt. Er­schro­cken, ja pa­nisch vor Angst, hat sie mir Vor­wür­fe ge­macht, hat mich ein­dring­lich ge­be­ten nach­zu­ge­ben, das Ge­schäft mit die­sen Län­dern sein zu las­sen. Im­mer wie­der sag­te sie zu mir: ›Es reicht doch, was wir mit dem Han­del hier ver­die­nen, wir sind ver­mö­gend, ha­ben al­les was wir brau­chen, und es geht uns bes­ser als all un­se­ren Be­kann­ten, warum kannst du es nicht da­bei be­las­sen?‹ Ich habe all ihre Be­den­ken bei­sei­te­ge­scho­ben, hab sie aus­ge­lacht und auf mei­nem Stand­punkt be­harrt. An die­sem Abend ha­ben wir uns to­tal ver­strit­ten und sind ohne Ver­söh­nung schla­fen ge­gan­gen. Ich fühl­te mich im Recht und bin so­fort ru­hig und fest ein­ge­schla­fen, doch sie ...«

»Was ist? Was ha­ben Sie? Wes­halb schau­en Sie mich so an?«

Wie­der war die jun­ge Frau hoch­ge­sprun­gen, hat­te sich los­ge­ris­sen und schau­te sich er­schro­cken um. Die Wol­ken­de­cke über ih­nen war noch wei­ter auf­ge­ris­sen. Über dem Berg war ein großes Stück blau­er Him­mel zu se­hen und al­les um sie he­r­um mach­te einen freund­li­chen und fried­li­chen Ein­druck. Rund­he­r­um konn­te man in ei­ni­ger Ent­fer­nung se­hen, dass es dort im­mer noch neb­lig und reg­ne­risch war. Nur hier in ih­rer nä­he­ren Um­ge­bung schi­en ein wun­der­schö­ner Som­mer­tag zu sein. Zit­ternd vor Schreck sah sie den Mann wie­der an und sag­te: »Es ist al­les so selt­sam, die­ser Wet­ter­wech­sel um uns he­r­um, Ihr Auf­tre­ten, und dann, als ich die Au­gen ge­schlos­sen habe, ich ...«, sie stock­te kurz, »ich hab Ihre Frau ge­se­hen, ich war da­bei, als Sie sich ge­strit­ten ha­ben. Ich habe al­les ge­se­hen, den Zorn ge­spürt, Ihre Woh­nung ge­se­hen, alle De­tails. Es war … war, als ob ich ne­ben Ih­nen ge­stan­den hät­te. Es … es macht mir Angst, es war al­les so rea­lis­tisch!«

Wie­der lä­chel­te er sie an, streck­te sei­ne Hand nach ihr aus und sag­te: »Sie brau­chen kei­ne Angst zu ha­ben, es ge­schieht Ih­nen nichts. Wenn ich Ihre Hand hal­te, kön­nen Sie nur mei­ne Ge­dan­ken füh­len und da­durch al­les rich­tig mit­er­le­ben. Es hilft Ih­nen, das Ge­sche­hen bes­ser zu ver­ste­hen und Sie wer­den im Lau­fe der Ge­schich­te auch noch be­grei­fen, warum das so ist.«

Er mach­te wie­der eine ein­la­den­de Be­we­gung und zö­gernd, ihn ge­nau be­ob­ach­tend, griff sie zu. So­fort spür­te sie die Wär­me und Ruhe in sich ein­drin­gen und gab je­den Wi­der­stand auf. Er fuhr fort, sei­ne Ge­schich­te zu er­zäh­len, und aber­mals hat­te sie den Drang, ihre Au­gen zu schlie­ßen. Sie gab nach und au­gen­blick­lich war sie wie­der mit­ten im Ge­sche­hen. Sie hat­te das Ge­fühl, über ihm zu schwe­ben und gleich­zei­tig in ihm zu sein und all sei­ne Ge­füh­le zu tei­len.

»Der We­cker klin­gel­te, ich tas­te­te im Dunklen nach ihm und schal­te­te ihn aus. Zu­rück ins Bett sin­kend und lang­sam mun­ter wer­dend, wan­der­ten mei­ne Ge­dan­ken zu­rück zum Vor­abend. Der häss­li­che Streit und all die an­de­ren Er­leb­nis­se des Vor­ta­ges kehr­ten in mein Ge­dächt­nis zu­rück. Ich schau­te zu mei­ner Frau und lausch­te ih­ren Atem­zü­gen. Ihr Atem war ru­hig und gleich­mä­ßig, als ob sie noch tief schla­fen wür­de und doch hat­te ich das Ge­fühl, dass das nicht so war. Das schwa­che Licht der Stra­ßen­lam­pe, die noch durch ei­ni­ge Bäu­me ver­deckt wur­de, reich­te nicht aus, um mehr als ihre Um­ris­se zu er­ken­nen. Ich hob mei­nen Kopf, um ihr Ge­sicht bes­ser se­hen zu kön­nen, doch da­durch konn­te ich sie, da ich zwi­schen ihr und dem Fens­ter lag, nur noch schlech­ter er­ken­nen.

Frus­triert stand ich auf und ging ins Bad. Ich woll­te sie nicht we­cken und falls sie mun­ter war, woll­te sie an­schei­nend nicht ge­stört wer­den. Beim Zäh­ne­put­zen ging mir der Vor­tag noch ein­mal durch den Kopf. Der Streit mit mei­ner Frau lag mir schwer auf der See­le. Ich hät­te mich ger­ne mit ihr aus­ge­spro­chen, denn ich wuss­te, dass sie in vie­lem recht hat­te. Aber ich war auch nicht be­reit nach­zu­ge­ben, denn es war für mich eine Sa­che der Ehre und des Prin­zips, mich sol­chen Leu­ten nicht zu beu­gen. Wenn ich mich im Recht fühl­te, konn­te ich stur wie ein al­ter Esel sein, und ich wich um nichts von mei­nem Stand­punkt ab. Wir wa­ren lan­ge ge­nug zu­sam­men, so­dass sie das auch wuss­te und ihr war klar, dass sie mei­ne Mei­nung nicht ohne Wei­te­res än­dern konn­te.

Un­se­re Be­zie­hung war schon seit ei­ni­ger Zeit nicht mehr so har­mo­nisch wie frü­her. Sie warf mir vor, zu viel Zeit und zu vie­le Ge­dan­ken ans Ge­schäft zu ver­schwen­den und zu we­nig Zeit für sie zu ha­ben. Jetzt ist mir be­wusst, wie recht sie da­mit hat­te, denn al­les ist ver­gäng­lich, nur die Er­in­ne­run­gen blei­ben und so war es nur der Trop­fen, der das Fass zum Über­lau­fen brach­te.

Ich mach­te Früh­stück, las die Zei­tung und war in Ge­dan­ken schon wie­der im Ge­schäft, als mei­ne Frau die Kü­che be­trat. Man sah ihr an, dass sie nicht erst auf­ge­wacht und dass ihr Zorn noch nicht ver­raucht war. Schwei­gend setz­te sie sich an den Früh­stücks­tisch. Ich be­ob­ach­te­te sie und wuss­te im sel­ben Mo­ment, dass sie von al­lein be­gin­nen muss­te, dass ich es nur noch schlim­mer ma­chen wür­de, wenn ich sie be­drän­gen wür­de. Schwei­gend sa­ßen wir uns eine gan­ze Wei­le ge­gen­über und ich wur­de lang­sam un­ge­dul­dig, schau­te im­mer wie­der ver­stoh­len auf die Uhr, denn wenn ich pünkt­lich sein woll­te, muss­te ich nun bald ge­hen. Es ar­bei­te­te in ihr und sie war wahr­schein­lich kurz da­vor ih­rem Her­zen Luft zu ma­chen, als ich es nicht mehr aus­hielt und sie un­ge­dul­dig an­sprach: ›Gabi, ent­schul­di­ge bit­te, ich woll­te dich ges­tern Abend nicht ver­let­zen! Ich will auch kei­nen in Ge­fahr brin­gen und mir geht es im Prin­zip auch nicht so sehr um die Ge­win­ne aus die­sen Ge­schäf­ten. Aber wo kom­men wir denn hin, wenn man sich von je­dem er­pres­sen las­sen muss und ir­gend­wel­che Da­her­ge­lau­fe­ne ein­fach an un­se­rer Hän­de Ar­beit mit­ver­die­nen kön­nen, ohne einen Fin­ger krumm zu ma­chen! Ich sehe das nicht ein, und wer­de sol­chen Leu­ten auch nie­mals nach­ge­ben!‹

Ich hat­te mich wie­der in Zorn ge­re­det, hol­te tief Luft und füg­te dann et­was ru­hi­ger hin­zu: ›Na­tür­lich wer­de ich mich heu­te gleich noch mit der Po­li­zei in Ver­bin­dung set­zen, aber ich den­ke, dass die nur ge­blufft ha­ben und auf Dum­men­fang sind.‹

Ich ahn­te ja da­mals nicht, wie sehr ich mich ge­irrt hat­te. Und in der Hoff­nung, dass mit die­sen Wor­ten al­les wie­der in Ord­nung wäre, füg­te ich hin­zu: ›Bist du mir wie­der gut? Es macht mich krank, wenn ich nicht mit dir re­den kann! Ich möch­te doch nur, dass du mich ver­stehst. Ach Gabi, ich brauch dich und dein Ver­ständ­nis doch!‹

›Ach ja, du brauchst mein Ver­ständ­nis? Seit wann denn das? Du willst doch nur, dass ich zu al­lem schön Ja und Amen sage! Seit wann in­ter­es­siert es dich denn, was ich den­ke und füh­le? Du kommst nach Hau­se, er­zählst mir von dei­nem Stress­tag, was je­ner ge­sagt, der ge­tan hat, wel­che Pro­ble­me du hat­test und wie du sie ge­löst hast. Dann teilst du mir noch so ganz ne­ben­bei mit, dass du er­presst wirst und zwar mit mas­si­ven Dro­hun­gen auch ge­gen dei­ne Fa­mi­lie. Und dann, dann willst du das mit sol­chen Be­mer­kun­gen wie ‚Ich wer­de es der Po­li­zei mel­den.‘ oder ‚Ich wer­de mich sol­chen Leu­ten nicht beu­gen.‘ ab­tun!? Ein­fach weg­wi­schen und zur Ta­ges­ord­nung über­ge­hen?! Was glaubst du ei­gent­lich, wer oder was du bist, dass du ein­fach so über die­sen Din­gen ste­hen kannst? Ich je­den­falls füh­le mich be­droht und habe Angst!‹

Sie hol­te tief Luft.

›Ich möch­te, dass du mir jetzt ge­nau zu­hörst! Also, ent­we­der gibst du de­nen nach und be­zahlst, lässt die­se Ge­schäf­te sau­sen und gehst dem Gan­zen da­mit aus dem Weg, oder‹, sie hol­te tief Luft und fuhr mit be­drück­ter Stim­me fort, ›oder ich wer­de dich ver­las­sen!‹

Sie sah mir in die Au­gen, und an ih­rem Blick konn­te ich er­ken­nen, dass es ihr bit­ter ernst war mit die­sen Wor­ten. To­tal über­for­dert fing ich an nach Aus­flüch­ten zu su­chen.

›Gabi, bit­te, ich will euch, will uns nicht in Ge­fahr brin­gen! Ich den­ke ganz ein­fach nur, dass die­se Leu­te nur bluf­fen und ver­su­chen, auf eine ein­fa­che und leich­te Art und Wei­se ans Geld zu kom­men. Ich wer­de ...‹

Zor­nig un­ter­brach sie mich.

›Siehst du, du fängst schon wie­der an, das Gan­ze zu ver­harm­lo­sen! Aber so ein­fach kommst du mir dies­mal nicht da­von! Ich hab dir drei Mög­lich­kei­ten ge­nannt. Und glaub mir, ich habe die gan­ze Nacht lang gründ­lich dar­über nach­ge­dacht und ich möch­te jetzt eine Ant­wort und nicht erst, wenn es zu spät ist! Ich hof­fe, du hast das jetzt ver­stan­den!‹

Sie wur­de im­mer wü­ten­der, stand auf und lief, ohne mich da­bei aus den Au­gen zu las­sen, wie ein ge­fan­ge­ner Ti­ger am Tisch hin und her. Nach ein paar wei­te­ren, sinn­lo­sen Ver­su­chen sie zu be­ru­hi­gen und eine Ent­schei­dung zu ver­schie­ben trat ich, um Zeit zu ge­win­nen, die Flucht an.

›Bit­te, Gabi, kön­nen wir uns heu­te Abend noch mal in Ruhe dar­über un­ter­hal­ten? Ich muss jetzt weg, ich kom­me so­wie­so schon zu spät zur Ar­beit. Ich möch­te jetzt nicht so un­ter Zeit­druck dar­über re­den. Viel­leicht ist es auch bes­ser, wenn wir bei­de noch mal al­les in Ruhe über­den­ken. Ich wer­de noch mal ...‹

Sie war ste­hen ge­blie­ben und un­ter­brach mich mit ei­nem trau­ri­gen Un­ter­ton in der Stim­me: ›Heu­te Abend wer­de ich nicht mehr da sein! Ent­we­der du ent­schei­dest dich jetzt oder ich fah­re dann mit Ma­ria und Tors­ten zu mei­nen El­tern.‹

Fra­gend sah sie mich an und als ich nicht gleich ant­wor­te­te fuhr sie fort: ›Gut, du willst nicht nach­ge­ben. Aber ich gebe dies­mal auch nicht nach!‹

Ihre Au­gen be­ka­men einen feuch­ten Schim­mer.

›Okay, ich hab das Han­dy ja im­mer da­bei, soll­test du dir’s doch noch an­ders über­le­gen, kannst du mich ja an­ru­fen. An­sons­ten ist jetzt erst mal al­les ge­sagt.‹

Mit schnel­len, ener­gi­schen Schrit­ten ver­ließ sie den Raum. Ver­blüfft schau­te ich ihr nach. So hat­te ich sie ja noch nie er­lebt, aber ich nahm ihre Dro­hung, mich zu ver­las­sen, im­mer noch nicht ernst und so mach­te ich mich auf den Weg zur Ar­beit.

Dort an­ge­kom­men, emp­fing mich mei­ne Se­kre­tä­rin gleich mit den Wor­ten:

›Ein Herr Igor hat schon mehr­fach an­ge­ru­fen und nach Ih­nen ver­langt. Er hat sei­nen Nach­na­men trotz Nach­fra­ge nicht ge­nannt, aber ich ver­mu­te, dass es ei­ner der Her­ren war, mit de­nen Sie ges­tern ge­spro­chen ha­ben.‹

›Was woll­te er denn?‹

›Das hat er mir nicht ge­sagt. Er woll­te un­be­dingt mit Ih­nen selbst spre­chen. Er wird nach­her noch mal an­ru­fen.‹

›Dan­ke.‹

Ich be­trat mein Büro, ließ mich in mei­nen Ses­sel fal­len, und nach­denk­lich strich ich mir über die Stirn. Warum war bloß al­les so kom­pli­ziert? Ich war im­mer ehr­lich und zum bei­der­sei­ti­gen Vor­teil mit mei­nen Kun­den um­ge­gan­gen. Wes­halb ich mir auch einen sehr gu­ten Na­men in der Bran­che ge­macht hat­te. Vie­le mei­ner Kon­tak­te hat­te ich Emp­feh­lun­gen an­de­rer Kun­den zu ver­dan­ken, wor­auf ich auch sehr stolz war, und nun war ich plötz­lich mit ei­nem Pro­blem kon­fron­tiert, auf das ich über­haupt nicht vor­be­rei­tet war. Ich hat­te den Kopf im­mer noch in mei­nen Hän­den ver­gra­ben und grü­bel­te dar­über nach, wie ich mich aus der Af­fä­re zie­hen könn­te, als das Te­le­fon klin­gel­te. Ich rich­te­te mich auf, strich die zer­wühl­ten Haa­re glatt und mel­de­te mich be­tont forsch:

›Ja!‹

›Herr Kauf­mann, hier ist wie­der die­ser Herr Igor. Soll ich ihn durch­stel­len?‹

›Ja.‹

›In Ord­nung, hier ist er.‹

›Ja, Kauf­mann, was kann ich für Sie tun?‹

›Ooh, das wis­sen Sie ganz ge­nau, Herr Kauf­mann‹, sprach er mich in sei­nem har­ten, aber gu­ten Deutsch an.

›Ha­ben Sie noch ein­mal nach­ge­dacht über un­ser Ge­spräch von ges­tern? Ich hof­fe, Sie ha­ben Ihre Mei­nung ge­än­dert und wir kön­nen nun, wie sa­gen Sie hier so schön, ‚Nä­gel mit Köp­fen ma­chen‘!‹

›Ja, ich habe noch ein­mal dar­über nach­ge­dacht!‹

Ich spür­te wie der Zorn in mir auf­stieg und muss­te mich sehr zu­sam­men­neh­men, um ru­hig und über­legt zu ant­wor­ten.

›Aber an mei­ner Mei­nung hat sich nichts ge­än­dert. Ich las­se mich nicht er­pres­sen, we­der von Ih­nen noch von an­de­ren. Wenn Sie Geld ver­die­nen wol­len, su­chen Sie sich einen Job oder bau­en Sie sich selbst et­was auf, so wie ich, aber ver­su­chen Sie nicht, auf Kos­ten an­de­rer zu le­ben. Sie wer­den von mir nichts be­kom­men!! Und da­mit ist das Ge­spräch be­en­det!‹

Ich hat­te den Hö­rer schon vom Ohr weg­ge­nom­men, doch dann zog ich ihn zu­rück und füg­te noch hin­zu:

›Und be­läs­ti­gen Sie mich nicht wie­der, es wird sich nichts an mei­nem Stand­punkt än­dern.‹

Be­vor ich den Hö­rer wie­der weg­neh­men konn­te, hör­te ich ihn sa­gen: ›Gut, gut, ich habe es fast be­fürch­tet. Aber wir wer­den ja se­hen. Ich wer­de mich wie­der mel­den, mor­gen, oder – ich den­ke – spä­tes­tens über­mor­gen. Bis bald!‹

Und mit die­sen Wor­ten leg­te er auf. Wü­tend schlug ich mit der Faust auf den Schreib­tisch, knurr­te ei­ni­ge halb­lau­te Flü­che vor mich hin und be­gann dar­über nach­zu­grü­beln, auf wel­che Wei­se mich die­ser Igor dazu brin­gen woll­te, sei­ne Be­din­gun­gen zu er­fül­len. Doch ich soll­te nicht dazu kom­men, mei­ne Ge­dan­ken zu Ende zu brin­gen. Die täg­li­chen Ar­bei­ten stan­den an. Es kam ein An­ruf nach dem an­de­ren, der Ver­tre­ter ei­nes un­se­rer wich­tigs­ten Lie­fe­ran­ten hat­te einen Ter­min bei mir und mei­ne Se­kre­tä­rin er­in­ner­te mich an den Mit­tags­ter­min in der Bank. Über all die­sen Din­gen hat­te ich die­sen Igor und mein Ver­spre­chen, mich mit der Po­li­zei in Ver­bin­dung zu set­zen, schon fast ver­ges­sen. Wes­we­gen ich auch sehr er­staunt war, als ich beim Ver­las­sen des Bü­ros von mei­ner Se­kre­tä­rin mit den Wor­ten auf­ge­hal­ten wur­de: ›Herr Kauf­mann, die Po­li­zei ist am Ap­pa­rat und möch­te Sie drin­gend spre­chen.‹

Ich schau­te auf die Uhr und sag­te: ›Das passt mir jetzt ei­gent­lich über­haupt nicht! Las­sen Sie sich die Num­mer ge­ben und wenn ich wie­der da bin, rufe ich zu­rück.‹

›Hab ich schon vor­ge­schla­gen, doch sie be­haup­ten, es sei drin­gend und sie müss­ten so­fort mit Ih­nen spre­chen.‹

Wi­der­wil­lig vor mich hin knur­rend ging ich wie­der in mein Büro, nahm das Ge­spräch aus der Mu­sik und mel­de­te mich mit den knap­pen Wor­ten: ›Ja, Kauf­mann, was kann ich für Sie tun?‹

Eine leicht ver­un­si­cher­te Stim­me ant­wor­te­te: ›Ja, äh, Herr Kauf­mann, hier spricht Haupt­wacht­meis­ter Schlich­ter, äh, ich ...‹

Un­ge­dul­dig un­ter­brach ich ihn: ›Herr Schlich­ter, wenn es nicht sehr drin­gend ist, möch­te ich Sie bit­ten, das Ge­spräch viel­leicht auf vier­zehn Uhr zu ver­schie­ben, da­mit ich jetzt mei­nen Bank­ter­min wahr­neh­men kann.‹

Mei­ne bar­sche, un­ge­dul­di­ge Art nahm ihm jede Hem­mung und be­tont sach­lich er­wi­der­te er: ›Herr Kauf­mann, ich den­ke es wäre bes­ser, wenn Sie die­sen Ter­min ver­schie­ben und erst ein­mal das Son­ne­ber­ger Kran­ken­haus auf­su­chen wür­den¸ denn ich muss Ih­nen lei­der mit­tei­len, dass Ihre Frau und Ihre Kin­der einen schwe­ren Ver­kehrs­un­fall hat­ten. Der Ret­tungs­dienst müss­te mitt­ler­wei­le dort an­ge­kom­men sein und ich wer­de, wenn die Er­mitt­lun­gen hier vor Ort ab­ge­schlos­sen sind, auch hin­fah­ren.‹

Ich sank in mei­nen Bü­ro­ses­sel und frag­te ver­ständ­nis­los: ›Un­fall? Aber sie fährt doch im­mer so vor­sich­tig, bes­ser als ich! Wie konn­te das denn pas­sie­ren, und wie geht es ih­nen?‹

Ich schau­te mit lee­ren Au­gen durch die of­fe­ne Bü­ro­tür auf mei­ne Se­kre­tä­rin und nahm nur im Un­ter­be­wusst­sein wahr, dass die­se das Ge­spräch mit­ge­hört hat­te, denn erst in die­sem Mo­ment hat­te ich den Hö­rer ab­ge­nom­men und die Laut­spre­cher­funk­ti­on de­ak­ti­viert. Sie tat ge­nau das, wes­we­gen ich ihre Mit­ar­beit so schätz­te, denn sie rief so­fort die Bank an und ver­schob den Ter­min auf un­be­stimm­te Zeit.

Wäh­rend­des­sen hat­te mir der Po­li­zist be­greif­lich ge­macht, dass er am Te­le­fon kei­ne wei­te­ren Aus­künf­te ge­ben wür­de. Wie ge­lähmt be­merk­te ich erst nach ei­ner gan­zen Wei­le, dass das Ge­spräch schon be­en­det war. Ge­dan­ken­ver­lo­ren leg­te ich den Hö­rer auf und such­te nach dem Au­to­schlüs­sel. Ich zog die Ja­cke an, klopf­te die Ta­schen ab, sah dann den Schlüs­sel ne­ben dem Te­le­fon lie­gen, zog die Ja­cke wie­der aus, nahm den Schlüs­sel, mach­te ei­ni­ge Schrit­te in Rich­tung Tür, be­merk­te, dass ich nur im Hemd war und dreh­te brum­mend wie­der um. Als ich in den zwei­ten Är­mel fuhr, ver­hed­der­te ich mich im Fut­ter. Mei­ne Se­kre­tä­rin half mir und sag­te:

›Wäre es nicht bes­ser, wenn ich Sie fah­re oder einen an­de­ren Mit­ar­bei­ter da­mit be­auf­tra­ge?‹

Wi­der bes­se­res Wis­sen lehn­te ich ab.

›Geht schon wie­der. Dan­ke für das An­ge­bot, aber Sie wer­den hier ge­braucht. Bit­te sa­gen Sie alle wei­te­ren Ter­mi­ne für heu­te ab‹, ich stock­te kurz, ›und, viel­leicht auch für mor­gen. Sa­gen Sie ein­fach ... ach, Sie ma­chen das schon, Frau Wag­ner. Dan­ke!‹

Ihr zu­ni­ckend ver­ließ ich das Büro.

Die Fahrt nach Son­ne­berg ver­lief wie im Traum. Nur ein­mal fuhr ich zu­sam­men und kehr­te für ei­ni­ge Au­gen­bli­cke in mei­ne Um­welt zu­rück. Lau­tes Hu­pen und das Quiet­schen blo­ckie­ren­der Rei­fen auf dem As­phalt ris­sen mich aus mei­nen Ge­dan­ken. Ich hat­te ei­nem an­de­ren PKW die Vor­fahrt ge­nom­men. Schimp­fend und ges­ti­ku­lie­rend kam der Fah­rer die­ses Au­tos zum Ste­hen. Ich konn­te noch se­hen, wie sei­ne Bei­fah­re­rin mit schre­ckens­star­rem Blick die Hän­de vors Ge­sicht schlug. Als mir klar wur­de, dass ich ein Stop­schild über­fah­ren hat­te, trat ich kurz auf die Brem­se, doch da kein Scha­den ent­stan­den war, gab ich gleich wie­der Gas. Durch die­se Schreck­se­kun­den fuhr ich eine Wei­le auf­merk­sa­mer wei­ter, doch lan­ge hielt das nicht an. Als ich dann end­lich vor dem Kran­ken­haus einen frei­en Park­platz ge­fun­den hat­te, sprang ich aus dem Auto und lief has­tig zum Emp­fang.

›Hal­lo, mei­ne Frau und mei­ne Kin­der hat­te einen Un­fall und sol­len ge­ra­de hier ein­ge­lie­fert wor­den sein, kön­nen Sie mir sa­gen, wo ich sie fin­de?‹

Der Mann am Schal­ter lä­chel­te und sag­te: ›Gu­ten Tag. Wenn Sie mir Ih­ren Na­men oder den Ih­rer Frau ver­ra­ten, kann ich Ih­nen viel­leicht hel­fen.‹

›Ent­schul­di­gung. Ich hei­ße Kauf­mann und die Po­li­zei hat mich vor Kur­zem an­ge­ru­fen und mir ge­sagt, dass mei­ne Frau einen schwe­ren Ver­kehrs­un­fall hat­te und hier­her ge­bracht wor­den ist.‹

Er tipp­te den Na­men in sei­nen Com­pu­ter ein und schüt­tel­te dann be­dau­ernd den Kopf.

›Ich habe hier noch kei­ne In­for­ma­ti­on über eine Frau Kauf­mann! Im Mo­ment ha­ben wir gar kei­ne Pa­ti­en­ten mit dem Na­men Kauf­mann in Be­hand­lung. Aber wenn sie eben erst ein­ge­lie­fert wor­den sind, könn­te es sein, dass ihre Da­ten noch gar nicht auf­ge­nom­men sind. Ge­hen Sie doch bit­te in die Not­auf­nah­me und fra­gen Sie dort nach.‹

Ich ließ mir den Weg be­schrei­ben und er­kun­dig­te ich mich dann dort noch ein­mal nach mei­ner Fa­mi­lie.

Es war nicht das, was die Schwes­ter sag­te, son­dern wie sie es sag­te und mich da­bei an­schau­te, was mich so un­ru­hig mach­te. Sie bat mich, kurz Platz zu neh­men und ging, um je­man­den zu ho­len, der mir Aus­kunft ge­ben konn­te.

We­nig spä­ter be­trat ein äl­te­rer, Ver­trau­en ein­flö­ßen­der Arzt den Raum und for­der­te mich auf, ihm in sein Büro zu fol­gen. Als ich dort Platz ge­nom­men hat­te, setz­te er sich mir ge­gen­über, stütz­te sei­ne El­len­bo­gen auf den Schreib­tisch vor sich und fal­te­te die Hän­de vorm Ge­sicht.

Ich wer­de die­se Au­gen­bli­cke nie ver­ges­sen und es hat sich jede Ein­zel­heit tief in mein Ge­dächt­nis ein­ge­brannt, aber noch wuss­te ich nicht, dass sich da­durch mein gan­zes Le­ben än­dern wür­de.

Es wa­ren nur Se­kun­den bis er an­fing zu spre­chen und doch nahm ich in die­ser kur­zen Zeit jede Ein­zel­heit an und um ihn he­r­um wahr.

Wir sa­ßen in ei­nem klei­nen, hel­len, freund­li­chen Büro. Ei­ni­ge gut ge­pfleg­te Pflan­zen auf dem Fens­ter­stock ver­lie­hen dem Raum ein an­ge­neh­mes Kli­ma. Der Schreib­tisch war or­dent­lich auf­ge­räumt und es lag nur das Not­wen­digs­te dar­auf. Die An­ord­nung des Com­pu­ter­bild­schirms, der Tas­ta­tur und der Maus wa­ren sinn­voll ge­wählt, so­dass auch bei ei­nem Ge­spräch wie die­sem nichts stör­te. Es dran­gen kaum Ge­räusche von au­ßen he­r­ein und man hät­te in den Au­gen­bli­cken, be­vor er an­fing zu spre­chen, eine Steck­na­del fal­len hö­ren kön­nen. Der Arzt saß leicht nach vorn ge­beugt an sei­nem Schreib­tisch, hat­te den Kopf ein we­nig ge­senkt und schau­te über sei­ne Bril­le hin­weg in mei­ne Au­gen. Nach­denk­lich oder ner­vös rieb er, mit den ge­fal­te­ten Hän­den, die Hand­bal­len und Dau­men an­ein­an­der. Lang­sam rich­te­te er sich auf und fing an zu spre­chen: ›Herr Kauf­mann, als Ihre Frau hier ein­traf ...‹

Die­ses Ge­spräch fiel ihm sicht­lich schwer und das flaue Ge­fühl in mei­ner Ma­gen­ge­gend ver­stärk­te sich. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen und schwer at­mend hing ich an sei­nen Lip­pen.

›… als sie hier ein­traf, konn­ten wir lei­der nichts mehr für sie tun. Sie hat bei dem Un­fall schwe­re, auch schwe­re in­ne­re Ver­let­zun­gen er­lit­ten. Der Not­arzt hat al­les Men­schen­mög­li­che ver­sucht, um sie am Le­ben zu er­hal­ten und auch wir ha­ben hier ver­sucht sie zu re­ani­mie­ren, aber es war lei­der nicht mehr mög­lich.‹

Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich hat­te das Ge­fühl, dass mein Kopf je­den Au­gen­blick plat­zen wür­de. Mein Atem ging schwer, mei­ne rech­te Hand fing an zu zu­cken und ein kal­ter Schau­er lief mir über den Rücken.

›Wie ... was ... ich ver­ste­he das nicht! Das … das ist doch nicht mög­lich!‹

Mei­ne Ge­dan­ken wir­bel­ten durch­ein­an­der. Sie woll­te doch mit den Kin­dern nur zu ih­ren El­tern fah­ren. Die­se Stre­cke kann­te sie wie ihre Wes­ten­ta­sche, denn sie war die­se Stra­ßen doch schon hun­dert Mal ge­fah­ren. Da konn­te doch gar nichts pas­sie­ren. Au­ßer­dem, wenn die Kin­der mit im Auto sa­ßen, fuhr sie im­mer be­son­ders vor­sich­tig. Die Kin­der, na klar, die wa­ren ja auch mit da­bei ge­we­sen.

›Und den Kin­dern, wie geht es de­nen? Wenn ich mich recht ent­sin­ne, dann hat der Po­li­zist vor­hin auch von ih­nen ge­spro­chen!‹

Er­war­tungs­voll und zu­gleich ängst­lich schau­te ich ihn an.

›Tjaaa, also, wenn ich recht in­for­miert bin, dann kam für die bei­den Kin­der schon vor Ort jede Hil­fe zu spät. Als die Ret­tungs­kräf­te ein­tra­fen und sie mü­he­voll aus dem Auto be­freit hat­ten, gab es lei­der kei­ne Mög­lich­keit mehr, ih­nen zu hel­fen.‹

Ich sank in mich zu­sam­men. Je­des Wort der letz­ten Sät­ze war wie der Schlag mit ei­nem Ham­mer ge­we­sen. Müh­sam ver­such­te ich, mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen und zu be­grei­fen, was der Arzt eben ge­sagt hat­te. Als ich früh ge­gan­gen war, hat­te ich doch noch in die Kin­der­zim­mer ge­schaut und sie fried­lich schla­fen ge­se­hen.

Oh Gott, mein Gott, was ist nur ge­sche­hen, was hab ich nur ge­tan, dass ich so ge­straft wer­de? Bis­her war im­mer al­les, mit ei­ni­gen we­ni­gen, ver­ges­sens­wer­ten Schwie­rig­kei­ten, nach mei­nen Wün­schen und Träu­men ver­lau­fen und nun das. Es konn­te gar nicht sein, das war über­haupt nicht mög­lich! Es muss­te ein­fach ein Miss­ver­ständ­nis sein! Bei die­sem Ge­dan­ken an­ge­kom­men, schau­te ich hoff­nungs­voll auf den Arzt. Doch im sel­ben Mo­ment wur­de mir klar, dass es nur ein dum­mer Ge­dan­ke ge­we­sen war. Der Arzt sprach im­mer noch und ich ver­such­te müh­sam, sei­ne Wor­te auf­zu­neh­men, doch es ge­lang mir nicht. Ich sah nur wie schwer es ihm fiel, mir die­se Mit­tei­lung zu ma­chen, dass er schon lan­ge nicht mehr in mein Ge­sicht sah, son­dern ge­bannt auf sei­ne im­mer noch ge­fal­te­ten Hän­de schau­te und auch wei­ter­hin ner­vös die Hand­bal­len und Dau­men an­ein­an­der rieb. Was war nur ge­sche­hen, die Kin­der hat­ten doch noch ihr gan­zes Le­ben vor sich und Gabi ...

›Ich … ich möch­te sie se­hen. Wo ist sie, und wo sind mei­ne Kin­der?‹

Ver­blüfft schau­te der Arzt hoch. Er hat­te im­mer noch ge­spro­chen und ich hat­te ihn mit­ten im Satz un­ter­bro­chen. ›Ich den­ke, es wäre bes­ser, wenn Sie Ihre An­ge­hö­ri­gen jetzt noch nicht wie­der­se­hen. Es ist kein schö­ner An­blick durch die schwe­ren Ver­let­zun­gen. Viel­leicht soll­ten Sie in Er­wä­gung zie­hen ...‹

In die­sem Mo­ment klopf­te es zag­haft an der Tür. Der Arzt, froh we­gen die­ser Un­ter­bre­chung, sag­te: ›Ja, bit­te!‹

Lang­sam ging die Tür auf und ein Po­li­zist schau­te he­r­ein.

›Ent­schul­di­gen Sie bit­te, ich su­che einen Herrn Kauf­mann. Mir wur­de ge­sagt, ich könn­te ihn hier fin­den.‹

›Ja, da sind Sie hier schon rich­tig. Ich neh­me an, Sie sind der Er­mitt­lungs­lei­ter vom Un­fall­ort?‹

›Ja, Schlich­ter, Haupt­wacht­meis­ter Schlich­ter, aber Sie wa­ren noch im Ge­spräch, und ich woll­te Sie nicht un­ter­bre­chen. Ich wer­de vor der Tür war­ten bis Sie fer­tig sind.‹

Er dreh­te sich um und woll­te den Raum ver­las­sen, doch der Arzt hielt ihn mit den Wor­ten auf: ›Einen Mo­ment bit­te, blei­ben Sie, ich habe dem Herrn Kauf­mann schon al­les er­zählt, was ich über den Un­fall sa­gen kann. Wei­te­re Fra­gen zum Un­fall­her­gang kön­nen höchs­tens Sie ihm be­ant­wor­ten. Ich wer­de dann, da­mit Sie un­ge­stört spre­chen kön­nen, so­lan­ge in die Not­auf­nah­me ge­hen.‹

Er er­hob sich und woll­te den Raum ver­las­sen, doch der Po­li­zist hielt ihn mit den Wor­ten auf: ›Bit­te war­ten Sie, ich den­ke, es wäre bes­ser, wenn Sie hier blei­ben wür­den.‹ Und mit ei­nem fle­hen­den Blick füg­te er hin­zu: ›Es gibt da viel­leicht das eine oder an­de­re, wo­bei ich Ihre Hil­fe be­nö­ti­gen könn­te.‹

Der Arzt mach­te eine re­si­gnie­ren­de Hand­be­we­gung und setz­te sich mit ei­nem ent­täusch­ten Blick wie­der hin. Ne­ben der Tür stand ein Stuhl, den sich der Haupt­wacht­meis­ter nun he­r­an­zog. Er schloss kurz die Au­gen und sam­mel­te sei­ne Ge­dan­ken.

›Ich kann Ih­nen nur das mit­tei­len, was wir aus den Un­fall­spu­ren und Zeu­gen­aus­sa­gen ab­lei­ten kön­nen, denn der Un­fall­ve­rur­sa­cher hat Fah­rer­flucht be­gan­gen. Zur­zeit läuft die Fahn­dung nach ei­nem Fahr­zeug, des­sen Be­schrei­bung wir durch vage Zeu­gen­aus­sa­gen ha­ben. Also, es muss sich un­ge­fähr so zu­ge­tra­gen ha­ben …‹

Teil­nahms­los schau­te ich auf sei­ne Lip­pen und ver­such­te den Aus­füh­run­gen zum Un­fall­ge­sche­hen zu fol­gen.

›… Ihre Frau war auf der Haupt­stra­ße zwi­schen Lau­scha und Stein­ach un­ter­wegs, als sie von ei­nem nach­fol­gen­den PKW, ver­mut­lich dem Un­fall­ve­rur­sa­cher, hart be­drängt wur­de. Dies wis­sen wir durch die Zeu­gen­aus­sa­ge ei­nes ent­ge­gen­kom­men­den Fahr­zeugs, des­sen Fah­rer spä­ter wie­der in Rich­tung Stein­ach zu­rück­fuhr. Der Un­fall­ve­rur­sa­cher muss dann bei wei­te­ren Über­hol­ver­su­chen Ihre Frau auf der Fah­rer­sei­te ge­rammt ha­ben. Ver­mut­lich hat sie da­durch die Ge­walt über das Fahr­zeug ver­lo­ren und ist auf der re­gen­nas­sen Fahr­bahn ins Schleu­dern ge­kom­men. Nach­dem sie mit dem Fahr­zeugheck einen Baum be­rührt hat­te, ist sie auf­grund der ho­hen Ge­schwin­dig­keit, die sie wahr­schein­lich durch den Un­fall­ve­rur­sa­cher hat­te, auf der ge­gen­über­lie­gen­den Sei­te in den Stra­ßen­gra­ben ge­fah­ren. Dort hat sich das Auto dann mehr­fach über­schla­gen. Zu­erst ist es über die Front hin­weg aufs Dach ge­schla­gen, und das Dach wur­de durch die große Wucht bis auf die Rücken­leh­nen der Sit­ze he­r­un­ter­ge­drückt. An­schlie­ßend hat sich das Auto noch mehr­fach seit­lich über­schla­gen, be­vor es auf der Fah­rer­sei­te lie­gend, zum Ste­hen kam. Der Fah­rer ei­nes nach­kom­men­den LKW hat noch ge­se­hen, wie sich ein PKW, schnell be­schleu­ni­gend, von der Un­fall­stel­le ent­fernt hat. Nach der Fahr­zeug­be­schrei­bung war dies das glei­che Fahr­zeug, das uns auch der an­de­re Zeu­ge be­schrie­ben hat. Fah­rer und Bei­fah­rer des LKW ha­ben dann so­fort die Ret­tungs­kräf­te in­for­miert und ver­sucht, selbst Hil­fe zu leis­ten. Lei­der wa­ren aber alle so im Fahr­zeug ein­ge­klemmt, dass sie nur die Mög­lich­keit hat­ten Ihre Frau durch die he­r­aus­ge­bro­che­ne Front­schei­be not­dürf­tig zu ver­sor­gen. Als die Ret­tungs­kräf­te ein­tra­fen und die Feu­er­wehr das Dach ent­fernt hat­te, konn­ten Ihre Kin­der lei­der nur noch tot ge­bor­gen wer­den. Ver­mut­lich hat­ten sie schon den ers­ten Über­schlag nicht über­lebt. Ihre Frau war be­sin­nungs­los und hat­te in der Zwi­schen­zeit so viel Blut ver­lo­ren, dass der Not­arzt sich wun­der­te, dass sie über­haupt noch am Le­ben war. Wahr­schein­lich konn­te sie nur durch die Not­ver­sor­gung der bei­den LKW-Fah­rer so lan­ge am Le­ben er­hal­ten wer­den.‹

Er at­me­te tief durch und be­en­de­te sei­ne Aus­füh­run­gen mit den Wor­ten: ›Das ist erst ein­mal al­les, was ich Ih­nen zum Un­fall­her­gang mit­tei­len kann. Ich wer­de Sie auf je­den Fall über den Stand der wei­te­ren Er­mitt­lun­gen auf dem Lau­fen­den hal­ten.‹

Der Haupt­wacht­meis­ter hat­te mich die gan­ze Zeit fi­xiert und schnell hin­ter­ein­an­der­weg ge­spro­chen und war nun sicht­lich froh, dass er die­se schwie­ri­ge Auf­ga­be hin­ter sich ge­bracht hat­te. Er war­te­te auf eine Re­ak­ti­on von mir, doch ich muss­te das Ge­hör­te erst ein­mal ver­ar­bei­ten. In mei­nem Kopf hat­ten sich wäh­rend der Aus­füh­run­gen des Po­li­zis­ten Bil­der ge­bil­det, mit de­nen ich das Ge­sche­hen nach­zu­voll­zie­hen such­te. Mir stock­te der Atem und es wur­de mir schlecht, als ich mir mei­ne blu­ten­den, im Fahr­zeug­wrack ein­ge­klemm­ten Fa­mi­li­en­an­ge­hö­ri­gen vor­stell­te. Mein An­blick muss be­ängs­ti­gend ge­we­sen sein, denn der Po­li­zist hat­te schon einen fra­gen­den und um Hil­fe fle­hen­den Blick auf den Arzt ge­wor­fen, als die­ser auch schon auf­stand, zu mir trat und mich frag­te: ›Ist Ih­nen schlecht? Soll ich das Fens­ter öff­nen?‹

›Ja, ich glau­be, das wäre nicht schlecht‹, keuch­te ich.

Der Arzt trat, ohne mich aus den Au­gen zu las­sen, ans Fens­ter, nahm die Pflan­zen weg und öff­ne­te es weit. Zit­ternd und tau­melnd stand ich auf und trat, ge­stützt vom Po­li­zis­ten, ans Fens­ter. Die fri­sche Luft tat gut und lang­sam konn­te ich wie­der klar se­hen. Doch in mei­nem Kopf wir­bel­te al­les durch­ein­an­der. Al­les war so düs­ter, so trost­los. Doch das Wet­ter und die Na­tur schie­nen dem al­len Hohn zu spot­ten. Die Son­ne war hin­ter den Ge­wit­ter­wol­ken her­vor­ge­kom­men und be­gann, die Näs­se vom Bo­den auf­zusau­gen. Die Vö­gel zwit­scher­ten fröh­lich, die Luft war klar und sau­ber, al­les sah so frisch, so er­holt aus. All dies pass­te über­haupt nicht zu mei­ner der­zei­ti­gen Ver­fas­sung. Lang­sam be­gann ich mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen.

›Dan­ke, es geht schon wie­der. Das ist bloß sehr viel auf ein­mal. Ich muss das erst ein­mal ver­ar­bei­ten.‹

Der Arzt nick­te.

›Das kann ich ver­ste­hen. Wenn Sie möch­ten, kön­nen Sie ger­ne eine Wei­le hier in die­sem Büro blei­ben. Hier stört Sie kei­ner und Sie kön­nen erst ein­mal zur Ruhe kom­men.‹ Er schau­te mich fra­gend an, und als ich nicht re­agier­te, gab er dem Po­li­zei­be­am­ten mit den Au­gen einen Wink und sie ver­lie­ßen ge­mein­sam den Raum.

Ich setz­te mich und hol­te tief Luft. Dann ver­such­te ich das Ge­hör­te zu ver­ar­bei­ten. In die­sem Mo­ment wur­de mir be­wusst, dass ich nun al­lein war. Die­se Er­kennt­nis er­schlug mich fast, denn ich hat­te nun nie­man­den mehr. Mei­ne El­tern leb­ten nicht mehr, mei­ne Schwes­ter war weit weg­ge­zo­gen und nun wa­ren mei­ne ein­zi­gen na­hen Ver­wand­ten mit ei­nem Schlag nicht mehr da. Plötz­lich spür­te ich, dass die Stil­le und Ein­sam­keit in die­sem klei­nen Raum mich er­drück­te. Schwer at­mend und am gan­zen Kör­per zit­ternd stand ich auf. Ich ver­ließ das Büro und be­gab mich in die Not­auf­nah­me. Die an die­sem Ort herr­schen­de Be­trieb­sam­keit tat mir gut und ich schau­te mich nach dem Arzt und dem Po­li­zis­ten um. Schließ­lich fand ich sie in ein Ge­spräch ver­tieft, Zi­ga­ret­te rau­chend vor der Tür ste­hen.

›Tut mir leid, aber al­lein in die­sem klei­nen Büro, das ist jetzt doch nicht das Rich­ti­ge für mich. Als ich kam, habe ich vorn beim Hauptein­gang eine Ca­fe­te­ria ge­se­hen, und ich den­ke bei ei­ner Tas­se Kaf­fee kann ich mei­ne Ge­dan­ken jetzt bes­ser ord­nen.‹

An­schei­nend hat­ten sich die bei­den ge­ra­de über mich un­ter­hal­ten und der Arzt schi­en nun sicht­lich er­leich­tert zu sein, dass ich die­se Ent­schei­dung ge­trof­fen hat­te. Er nick­te zu­stim­mend und bat mich nur, spä­ter noch ein­mal bei ihm vor­bei­zu­schau­en, um ei­ni­ge For­ma­li­tä­ten zu er­le­di­gen. Auch auf dem Po­li­zei­re­vier soll­te ich mich zu die­sem Zweck noch ein­mal mel­den.

Ich nick­te und be­gab mich in die Ca­fe­te­ria. Dort muss­te ich mich zwin­gen, nicht mei­ner Ver­zweif­lung nach­zu­ge­ben, son­dern über die wei­te­ren Schrit­te nach­zu­den­ken. Nach ei­ner Wei­le ge­lang mir das auch und ich fand zu der ra­tio­na­len Hand­lungs­wei­se zu­rück, für die ich bei mei­nen Ge­schäfts­part­nern be­kannt war. Ich zog das No­tiz­buch, das ich im­mer bei mir hat­te, her­vor und be­gann mir No­ti­zen über die nächs­ten Schrit­te zu ma­chen.

Der Rest die­ses Ta­ges war wie ein Lauf durch di­cken Ne­bel. Ich funk­tio­nier­te ra­tio­nell und von au­ßen drang nichts rich­tig bis zu mir vor.

Nach­dem ich Schritt für Schritt ab­ge­ar­bei­tet hat­te, was ich zu die­sem Zeit­punkt für not­wen­dig er­ach­te­te, fuhr ich nach Hau­se und ließ mei­nen Ge­füh­len frei­en Lauf. Nun be­gann ich zu be­reu­en, dass ich mir so we­nig Zeit für mei­ne Fa­mi­lie ge­nom­men hat­te. Bil­der aus der Ver­gan­gen­heit stürm­ten auf mich ein und ich sah so vie­les, was ich hät­te an­ders oder bes­ser ma­chen kön­nen.

Das Klin­geln des Te­le­fons riss mich aus mei­nen trüb­sin­ni­gen Ge­dan­ken. Mei­ne Schwes­ter er­kun­dig­te sich nach mei­nem Be­fin­den und bot mir an, mich in den kom­men­den Ta­gen zu un­ter­stüt­zen. Ich war dank­bar für die­ses An­ge­bot, denn die Ein­sam­keit in die­sem Haus war be­las­tend. Nach­dem ich ei­ni­ge Bier ge­trun­ken hat­te, kam ich so­weit zur Ruhe, dass ich mich ent­schloss, zu Bett zu ge­hen. Doch nach höchs­tens zwei Stun­den Schlaf schreck­te ich aus ei­nem Alb­traum hoch. Mei­ne De­cke war ein ein­zi­ger Kno­ten und der Schlaf­an­zug kleb­te schweiß­nass an mei­nem Kör­per. Nach­dem ich mich um­ge­zo­gen und das Bett wie­der in Ord­nung ge­bracht hat­te, leg­te ich mich wie­der hin, doch an Schlaf war nicht mehr zu den­ken.

Die fol­gen­den Tage und Näch­te bis zur Be­er­di­gung wa­ren nicht leicht für mich und ich weiß nicht, wie ich sie ohne die Hil­fe mei­ner Schwes­ter über­stan­den hät­te. Da mei­ne El­tern nicht mehr leb­ten, war sie mei­ne nächs­te le­ben­de Ver­wand­te und ihre Nähe half mir sehr. Am Tag der Be­er­di­gung wur­de al­les noch ein­mal so rich­tig auf­ge­wühlt und ich muss­te alle Kraft zu­sam­men­neh­men, um ihn zu über­ste­hen.

Seit die­sem Tag stel­le ich mir stän­dig die Fra­ge: Was wäre ge­sche­hen, wenn ich nach­ge­ge­ben hät­te? Was wäre, wenn ...

Das Schlimms­te kam aber noch, denn ich wuss­te ja noch nicht al­les über die­sen Un­fall. Aber es traf mich wie ein Schlag, als ich zwei Tage nach der Be­er­di­gung das ers­te Mal wie­der in der Fir­ma er­schi­en. Ich hat­te lan­ge über­legt, wie es nun wei­ter­ge­hen soll­te und war schließ­lich zu dem Er­geb­nis ge­kom­men, dass es das Bes­te wäre, wenn ich mich wie­der in mei­ne Ar­beit stür­zen wür­de. Die Ar­beit wür­de mich ab­len­ken, so­dass ich nicht stän­dig über das Warum und Wie­so nach­den­ken könn­te. Mei­ne Be­leg­schaft war wirk­lich sehr ver­ständ­nis­voll. Be­son­ders Frau Wag­ner, mei­ne Se­kre­tä­rin, hat­te wie­der be­wie­sen, dass sie die per­fek­te Be­set­zung für die­se Stel­le war. Al­les, was ich nicht un­be­dingt selbst ent­schei­den muss­te, hat­ten sie und an­de­re lei­ten­de An­ge­stell­te in der Zwi­schen­zeit zu mei­ner volls­ten Zu­frie­den­heit er­le­digt. Nur die Din­ge, die kein an­de­rer ent­schei­den konn­te, wa­ren, sau­ber nach Wich­tig­keit ge­ord­net, auf mei­nem Schreib­tisch be­reit­ge­legt. Ich ging mit ihr die­se An­ge­le­gen­hei­ten durch und wir hat­ten schon ei­ni­ges ab­ge­ar­bei­tet, als das Te­le­fon wie­der ein­mal klin­gel­te. Sie ging an ih­ren Schreib­tisch und nahm den Hö­rer ab. Im sel­ben Mo­ment konn­te ich an ih­rem Ge­sichts­aus­druck er­ken­nen, dass sie die­sen An­ruf zwar er­war­tet, aber ins­ge­heim ge­hofft hat­te, dass er nicht käme. Sie leg­te das Ge­spräch in die Mu­sik und sag­te zu mir: ›Es ist wie­der die­ser Herr Igor und er lässt sich ein­fach nicht ab­wim­meln. Er hat schon in den letz­ten zwei Ta­gen mehr­fach hier an­ge­ru­fen. Was soll ich ...?‹

›Ge­ben Sie das Ge­spräch her. Der er­wischt mich ge­ra­de auf dem rich­ti­gen Fuß! Dem werd ich jetzt ein für alle Mal die Mei­nung gei­gen!‹, sag­te ich zor­nig. Ich nahm das Ge­spräch an und mel­de­te mich be­tont forsch.

›Ja! Kauf­mann am Ap­pa­rat!‹

›Ahhh, Herr Kauf­mann. Schön, dass Sie wie­der im Ge­schäft sind.‹

›Was wol­len Sie? Ich den­ke, ich habe Ih­nen mei­ne Po­si­ti­on klar und ver­ständ­lich mit­ge­teilt! Also, warum be­läs­ti­gen Sie mich trotz­dem noch?‹

›Also, also, Herr Kauf­mann. Nicht so ag­gres­siv! Ich be­dau­re das mit Ih­rer Fa­mi­lie sehr, aber es soll­te ei­gent­lich nur ein Warn­schuss wer­den. Dass es dann so schlimm aus­ge­gan­gen ist, war wirk­lich die Ver­ket­tung un­glück­li­cher Um­stän­de. Ich habe mei­ne Mit­ar­bei­ter schon be­straft für ihr über­trie­be­nes Vor­ge­hen. Ich hof­fe Sie wis­sen nun, dass wir es ernst mei­nen und auch die Mög­lich­keit ha­ben, un­se­re For­de­run­gen durch­zu­set­zen!‹

Mit ei­nem Schlag ging mir ein Licht auf. Ich ver­stand nun, wie es zu die­sem Un­fall hat­te kom­men kön­nen. Mir ver­schlug es die Spra­che und die Hand mit dem Te­le­fon­hö­rer sank mir auf die Brust. Ich rang nach Luft und Frau Wag­ner, die durch die of­fe­ne Tür he­r­ein­ge­schaut hat­te, war schon auf dem Sprung, um mir zu hel­fen, als ich mich auf­raff­te und den Hö­rer wie­der hoch­nahm.

›Hal­lo? Hal­lo, Herr Kauf­mann? Sind Sie noch da?‹

›Ja … Ja, ja‹, stot­ter­te ich, ›was ha­ben Sie da eben ge­sagt? Sie … Sie sind da­für ver­ant­wort­lich? Ich … ich kann das gar nicht glau­ben!‹

›Tja, dann fin­den Sie sich mal mit die­sem Ge­dan­ken ab! Ich hat­te Sie vor­her mehr­fach ge­warnt! Es soll­te nicht so hart aus­fal­len, soll­te nur ein Warn­schuss wer­den, aber viel­leicht war es auch gut so. Nun wis­sen Sie we­nigs­tens, dass wir es ernst mei­nen! Ich den­ke, Sie soll­ten nun eine Än­de­rung Ih­rer Mei­nung in Be­tracht zie­hen, denn wir ha­ben auch noch an­de­re Mög­lich­kei­ten, un­se­ren Wil­len durch­zu­set­zen. Also, ich las­se Sie das Gan­ze noch ein­mal in Ruhe über­den­ken. Äh, sa­gen wir ein, oder bes­ser zwei Tage, dann mel­de ich mich wie­der und wir han­deln die Ein­zel­hei­ten aus!‹ Es folg­te eine klei­ne Pau­se.

›Und den­ken Sie nicht mal im Traum dar­an, die Po­li­zei oder je­man­den an­ders zu in­for­mie­ren! Ich wür­de auf je­den Fall recht schnell da­von er­fah­ren und dann ist Ihre Fir­ma und Ihr Le­ben kei­nen Pfif­fer­ling mehr wert! Ich den­ke, dass ich mich da klar aus­ge­drückt habe.‹

Wut stieg in mir hoch und ohne ir­gend­wel­che Kon­se­quen­zen zu be­den­ken, schrie ich in den Hö­rer:

›Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Trost?! Nach­dem, was Sie mir jetzt er­zählt ha­ben, er­war­ten Sie auch noch eine Ko­ope­ra­ti­on von mei­ner Sei­te? Ich den­ke ja nicht mal im Traum dar­an, auch nur im Ge­rings­ten in ir­gend­ei­ner Form auf Ihre For­de­run­gen ein­zu­ge­hen! Sie kön­nen sich Ihre Dro­hun­gen sonst wo­hin ste­cken! Sie, Sie Stück Dreck, Sie! Sie ... Arrr!!‹

Mit die­sen Wor­ten knall­te ich den Hö­rer so wü­tend auf die Ba­sis­sta­ti­on, dass er aus­ein­an­der­brach. Noch wü­ten­der da­durch, wisch­te ich das Te­le­fon in­klu­si­ve ei­ni­ger an­de­rer Din­ge vom Schreib­tisch. Ohne Rück­sicht auf wei­te­re Schä­den ging ich durch die he­r­un­ter­ge­wor­fe­nen Ge­gen­stän­de, nahm mei­ne Ja­cke vom Gar­de­ro­ben­stän­der und ver­ließ ohne ein wei­te­res Wort das Fir­men­ge­bäu­de in Rich­tung Auto. Aus den Au­gen­win­keln konn­te ich noch das ent­setz­te Ge­sicht mei­ner Se­kre­tä­rin se­hen, doch ich war zu auf­ge­wühlt, um in die­sem Mo­ment dar­auf ein­zu­ge­hen.

Ag­gres­siv fuhr ich ohne Ziel drauf­los. Nach ei­ner gan­zen Wei­le bog ich in einen Wald­weg ein, stieg aus und lief lei­se vor mich hin­re­dend auf und ab.

Oh Gott, warum nur? Was hab ich denn ver­bro­chen, dass ich so ge­straft wer­de? Ich woll­te doch nie je­man­dem scha­den oder ihn über­vor­tei­len. Habe im­mer ver­sucht, es al­len recht zu ma­chen. Oft habe ich zu mei­nem ei­ge­nen Nach­teil an­de­ren nach­ge­ge­ben. Ich stock­te kurz und hol­te tief Luft.

Na ja, meis­tens war es ja nicht ganz un­be­rech­nend, denn im Nach­hi­n­ein hat sich oft ein Vor­teil für mich dar­aus er­ge­ben. Aber muss ich des­we­gen so ge­straft wer­den? Ich habe doch des­we­gen nie­man­dem Scha­den zu­ge­fügt! Warum habe ich nur dies­mal nicht nach­ge­ge­ben? Warum habe ich die­ses blö­de Ge­schäft nicht ein­fach sau­sen las­sen? Es lief doch auch so her­vor­ra­gend in der Fir­ma. Sie muss es ge­ahnt ha­ben, muss ge­wusst ha­ben, was ge­sche­hen wür­de. Sie war im­mer bes­ser in der Ein­schät­zung sol­cher Din­ge.

Die Ver­zweif­lung über­roll­te mich, ich leg­te die Arme aufs Au­to­dach, ver­grub mei­nen Kopf in den Arm­beu­gen und be­gann hem­mungs­los zu schluch­zen.

Bil­der stie­gen in mir auf.

Wie schön war es im­mer ge­we­sen, wenn Ma­ria mit ih­ren großen Kin­derau­gen fle­hend zu mir auf­ge­schaut hat­te, um et­was zu er­rei­chen, und wie schwer war es mir oft ge­fal­len, ihr nicht jede Bit­te zu er­fül­len. Ich habe im­mer ge­dacht: Das darfst du nicht, spä­ter be­kommt sie auch nicht je­den Wunsch er­füllt und dann kann sie nicht da­mit um­ge­hen. Hät­te ich ihr doch je­den Wunsch er­füllt! Ach, könn­te ich doch die Zeit zu­rück­dre­hen! Die schö­nen Stun­den mit Gabi noch ein­mal er­le­ben. Wie schön war es ge­we­sen, als un­se­re Lie­be noch jung war. Wir hat­ten uns nichts dar­aus ge­macht, im­mer und über­all zu zei­gen, wie sehr wir uns lieb­ten. Auch wenn an­de­re manch­mal ver­un­si­chert weg­schau­ten, wenn wir uns im Bei­sein Drit­ter küss­ten oder um­arm­ten, es war ja nichts da­bei, wenn wir je­dem zeig­ten, dass wir zu­sam­men­ge­hör­ten. Aber spä­ter kam dann die Rou­ti­ne ins täg­li­che Le­ben, und im Kampf mit den an­fal­len­den Auf­ga­ben ha­ben wir uns ver­nach­läs­sigt. Un­se­re Lie­be ver­nach­läs­sigt. Oder war nur ich das? Aber wie soll­te ich sonst mein Ta­ges­pen­sum be­wäl­ti­gen? Nur durch die har­te Ar­beit und die Rou­ti­ne im täg­li­chen Le­ben konn­te ich das auf­bau­en, was ich bis jetzt ge­schaf­fen hat­te. Ich woll­te doch nur eine ge­wis­se Si­cher­heit ha­ben! Si­cher­heit und noch ein Stück Si­cher­heit und noch ein Stück! Und, was nützt sie mir jetzt, die­se Si­cher­heit? Es ist nie­mand mehr da, dem sie nüt­zen könn­te. Auch Tors­ten nicht! Oh, wie stolz war ich auf mei­nen Sohn ge­we­sen! Der Glanz in sei­nen Au­gen, bei ge­mein­sa­men Un­ter­neh­mun­gen, war die schöns­te Be­loh­nung. Wann hat­te ich denn ei­gent­lich das letz­te Mal rich­tig Zeit für ihn ge­habt? Wie oft hab ich mit Gabi über das al­les dis­ku­tiert und mir vor­ge­nom­men, et­was zu än­dern. Aber dann. Eine Wei­le hat es meist an­ge­hal­ten, bis, ja bis mich die täg­li­che Rou­ti­ne wie­der im Griff hat­te. Und jetzt, jetzt ist es zu spät. Hät­te ich doch nur da­mals in die Zu­kunft schau­en kön­nen. Was hät­te ich nicht al­les an­ders ge­macht! Wie­der schos­sen mir Trä­nen in die Au­gen.

Ja, was, was hät­te ich denn an­ders ge­macht? Hät­te ich wirk­lich mein Le­ben ge­än­dert? Wäre ich in der Lage ge­we­sen, mich an­ders zu ver­hal­ten? Mei­nem We­sen, mei­nen Wün­schen und Träu­men ent­ge­gen an­ders zu le­ben? Mich an­de­ren un­ter­zu­ord­nen und so zu le­ben, wie die­se sich das wünsch­ten? Oder wäre ich dar­an zer­bro­chen? Hät­te ich viel­leicht nur den Weg des ge­rings­ten Wi­der­stan­des ge­sucht und nur be­stimm­te Din­ge ver­mie­den? Oh, warum ist das Le­ben nur so kom­pli­ziert?

Ich be­gann wie­der hin und her zu lau­fen und kam mit die­sen Ge­dan­ken nicht zur Ruhe. Nach ei­ner Wei­le lief ich ein­fach den Wald­weg ent­lang, bis er an ei­nem Wie­sen­hang die Rich­tung wech­sel­te. Er führ­te dann am Wald­rand ent­lang, bis er in ei­nem großen Bo­gen ins Tal hi­n­un­ter schwenk­te. Wenn man dem Weg mit den Au­gen wei­ter­folg­te, konn­te man am Ende des Ta­les, be­vor es durch einen Bo­gen nicht mehr ein­seh­bar war, die ers­ten Häu­ser ei­nes klei­nen Dor­fes se­hen. Ir­gend­je­mand hat­te am Wald­rand, zwi­schen zwei Bäu­men, eine klei­ne Bank ge­baut. Dort setz­te ich mich nie­der und schau­te den wild da­hin­trei­ben­den Wol­ken nach. Der stür­mi­sche Wind beug­te die Baum­wip­fel und im­mer wie­der hör­te man das Knacken von klei­ne­ren Äs­ten, die zu Bo­den fie­len. Ich war noch nie an die­sem Ort ge­we­sen. Da ich aufs Ge­ra­de­wohl los­ge­fah­ren war, wuss­te ich nicht ein­mal ge­nau, wo ich mich be­fand. Wäre ich zu ei­nem an­de­ren Zeit­punkt hier­her­ge­kom­men, hät­te ich mich an der Schön­heit der Land­schaft ge­freut und dem Trei­ben der Na­tur zu­ge­schaut. Doch so nahm ich das al­les nur ne­ben­bei wahr und mei­ne Ge­dan­ken jag­ten ge­nau­so wild da­hin, wie die Wol­ken im stür­mi­schen Wind.

Was hab ich nun noch vom Le­ben? Mein Halt, die Wär­me, die Zu­flucht in mei­nem Le­ben sind nicht mehr da. Das ein­sa­me, stil­le, für mich al­lein viel zu große Haus er­drückt mich fast. Je­der Ort, je­der Ge­gen­stand in die­sem Haus er­in­nert mich an mei­ne Fa­mi­lie. Was will ich al­lein mit all den Din­gen, die ich um mich he­r­um an­ge­häuft habe? Es macht kei­ne Freu­de, wenn man sie nicht mit je­man­dem tei­len kann. Oh Gott, was soll nur wer­den?

Ich ver­grub den Kopf in den Hän­den und schloss die Au­gen.

Wie soll es jetzt wei­ter­ge­hen mit mir? Ich weiß ja nicht ein­mal, wie ich das Pro­blem in der Fir­ma lö­sen soll. Wenn ich die­sem Igor jetzt nach­ge­be, ver­ra­te ich al­les und alle, die mir je­mals lieb wa­ren. Gebe ich ihm nicht nach, brin­ge ich auch noch an­de­re, von mir und der Fir­ma mal ab­ge­se­hen, in Ge­fahr. Viel­leicht wäre es ja gar nicht mal schlecht, wenn ich mit dran glau­ben müss­te. Dann wä­ren all mei­ne Pro­ble­me ein für alle Mal ge­löst. Ich müss­te mir kei­ne Ge­dan­ken mehr ma­chen, wie es wei­ter­geht und wäre alle Sor­gen los. Ja, das ist es. Ich leg mich wei­ter mit die­sem Gangs­ter an.

Mein Ge­sicht hell­te sich auf und ich woll­te auf­sprin­gen, doch fast im sel­ben Mo­ment sack­te ich wie­der in mich zu­sam­men.

Ich bin bloß der Letz­te, dem es an den Kra­gen geht. Er will ja was von mir. Also wird er erst alle an­de­ren Mög­lich­kei­ten aus­schöp­fen. Wie­der nichts! Wie­der kein Weg! Wie komm ich nur da raus? Man müss­te ein­fach aus­rei­ßen kön­nen. Ein­fach weg. Sich ein­fach da­v­on­steh­len. Es merkt ja doch kei­ner mehr, wenn ich nicht mehr da bin. Aber wo soll ich denn hin? Was soll ich denn dann tun mit mei­nem Le­ben? Au­ßer … au­ßer ich setz mei­nem Le­ben selbst ein Ende.

Ich er­schau­der­te bei dem Ge­dan­ken und doch ließ er mich nicht mehr los. Nach­denk­lich aber schon ru­hi­ger stand ich auf und lief den Wald­weg zu­rück. Der Selbst­mord­ge­dan­ke hat­te sich rich­tig in mir fest­ge­fres­sen. Ich über­leg­te nur noch, ob ich vor­her noch et­was klä­ren müss­te. Doch schließ­lich kam ich zu dem Schluss, dass es mir doch dann egal sein könn­te, was wei­ter wer­den wür­de. Der Ge­dan­ke an Gott kam kurz in mir auf, doch ich hat­te den Glau­ben in den letz­ten Jah­ren sehr ver­nach­läs­sigt, so­dass der Selbst­mord­ge­dan­ke schnell wie­der die Ober­hand ge­wann. Ziel­si­cher ging ich aufs Auto zu, such­te den Schlüs­sel in mei­nen Ta­schen und muss­te dann fest­stel­len, dass er noch im Zünd­schloss steck­te. Das war mir auch noch nicht pas­siert. Sonst hat­te ich meist noch ein, zwei Mal kon­trol­liert, ob das Auto auch rich­tig zu­ge­schlos­sen war und jetzt, da steck­te der Schlüs­sel, da la­gen alle Pa­pie­re auf dem Bei­fah­rer­sitz. Selbst die Brief­ta­sche hat­te ich dort lie­gen­ge­las­sen.

Kopf­schüt­telnd setz­te ich mich ans Steu­er und fuhr zu­rück auf die Land­stra­ße. Da ich zu dem Schluss ge­kom­men war, dass es am bes­ten wäre, wenn ich gleich jetzt mit dem Auto einen töd­li­chen Un­fall ver­ur­sach­te, schau­te ich mich nach ei­ner pas­sen­den Stel­le um. Schließ­lich kam ich auf eine lan­ge Ge­ra­de, die in ei­ner schar­fen Rechts­kur­ve en­de­te. Am lin­ken Stra­ßen­rand in die­ser Kur­ve stand ein recht star­ker Baum.

Das ist ide­al! dach­te ich und be­schleu­nig­te. Da ich ein PS-star­kes Auto hat­te, war es kein Pro­blem, es bis zum Ende der ge­ra­den Stre­cke auf 140 km/h zu brin­gen. Ich hielt ge­nau auf den Baum zu. Da schoss mir aber noch ein Ge­dan­ke durch den Kopf:

Was ist, wenn ich nicht ster­be? Was, wenn ich die­sen Un­fall über­le­be? Wenn ich nur zum Krüp­pel wer­de! Wenn ich ein Pfle­ge­fall wer­de! Nein das geht nicht! Das ist zu un­si­cher!

Im letz­ten Mo­ment nahm ich den Fuß vom Gas­pe­dal und riss das Lenk­rad he­r­um. Ich kann nicht mehr ge­nau sa­gen, wie ich es ge­schafft habe, das schleu­dern­de Auto wie­der in den Griff zu be­kom­men, aber glück­li­cher­wei­se kam mir kein Fahr­zeug ent­ge­gen, sonst wäre es wohl nicht so glimpf­lich aus­ge­gan­gen.

Nach­denk­lich fuhr ich nach Hau­se. Zwi­schen­zeit­lich kam mir die Fir­ma in den Sinn, und dass ich ja noch ei­ni­ges dort zu er­le­di­gen hät­te. Doch nach ei­nem Blick auf die Uhr ver­warf ich die­sen Ge­dan­ken schnell wie­der. Ers­tens war es schon ziem­lich spät und be­vor ich in der Fir­ma an­kom­men wür­de, wäre schon Fei­er­abend. Und zwei­tens, was soll­te ich noch dort, wenn ich mei­nen Plan wirk­lich durch­füh­ren woll­te. Durch die­se Ge­dan­ken wur­de mir erst ein­mal be­wusst, wie lan­ge und wie weit ich ei­gent­lich ziel­los in der Ge­gend he­r­um­ge­fah­ren war.

Als ich an ei­ner Bahn­li­nie vor­bei­fuhr, kam mir der Ge­dan­ke, mich vor einen Zug zu wer­fen. Doch auch das ver­warf ich recht schnell wie­der.

Egal, was ich in Er­wä­gung zog, kei­ne Mög­lich­keit woll­te mir so recht ge­fal­len. Viel­leicht war es auch Selbst­schutz oder die Angst vor der End­gül­tig­keit die­ser Ent­schei­dung, die mich im­mer wie­der zu­rück­schre­cken ließ.

Schließ­lich ent­schied ich mich fürs Er­hän­gen und zu Hau­se an­ge­kom­men, such­te ich gleich nach ei­nem pas­sen­den Strick. Mit die­sem ging ich dann in ein nahe ge­le­ge­nes Wald­stück. Es dau­er­te auch nicht lan­ge, und ich fand eine Ei­che mit ei­nem star­ken, fast waa­ge­recht ge­wach­se­nen Ast. Die­ser war der un­ters­te auf der mir zu­ge­wand­ten Sei­te des Bau­mes und doch etwa drei Me­ter über dem Bo­den. Auf der an­de­ren Sei­te des Bau­mes konn­te ich durch Sprin­gen einen dün­ne­ren, nicht so ho­hen Ast er­rei­chen, wo­durch ich recht gut hi­n­auf ge­lang­te. Ich setz­te mich auf den star­ken, waa­ge­rech­ten Ast und leg­te mir die Schlin­ge um den Hals. Das an­de­re Ende des Strickes be­fes­tig­te ich so am Baum, dass ich den Bo­den nicht mit den Fü­ßen er­rei­chen konn­te. Nun mach­te ich mich be­reit zu sprin­gen. Lan­ge saß ich dort und konn­te mich ein­fach nicht ent­schlie­ßen, die­sen Schritt zu tun. Der Zwie­spalt in mir war rie­sig. Ei­ner­seits woll­te ich mich da­v­on­steh­len, al­len wei­te­ren Pro­ble­men aus dem Weg ge­hen und dem al­len ein für alle Mal ein Ende set­zen. An­de­rer­seits wehr­te sich mein Ver­stand, der Selbs­t­er­hal­tungs­trieb in mir mas­siv da­ge­gen. Als ich end­lich so­weit war, sich die Mus­keln in mei­nen Ar­men spann­ten und ich mich vom Ast ab­stieß, ge­schah et­was Selt­sa­mes. Zu­erst hat­te ich das Ge­fühl, dass ich ei­nem Feu­er zu nahe ge­kom­men wäre, denn es wur­de un­heim­lich heiß um mich he­r­um. Dann wur­de mir kalt, und zwar so kalt, dass ich am Ende die Be­sin­nung ver­lor. Doch be­vor das ge­schah, hat­te ich das Ge­fühl, ich wäre ein­ge­fro­ren. Ich be­kam kei­ne Luft mehr und mein Herz schi­en still­zu­ste­hen. Die Um­ge­bung nahm ich nur noch ver­schwom­men war, selt­sa­me Farb­spie­le er­schie­nen plötz­lich vor mei­nen Au­gen und ich war nicht fä­hig mich zu be­we­gen. Das letz­te, was ich wie durch einen Schlei­er wahr­nahm, war mein Kör­per, der in ver­krampf­ter Hal­tung auf dem Ast saß. Ver­stört schloss ich die Au­gen.«

Traum oder wahres Leben

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