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Erwachen

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»Eine an­ge­neh­me Wär­me durch­ström­te mich und un­be­kann­te Vo­gel­stim­men dran­gen in mein Be­wusst­sein. Ich sog die rei­ne kla­re Luft in mei­ne Lun­ge und mein Herz­schlag be­ru­hig­te sich wie­der. Was war ge­sche­hen? Wo war ich? Vor­sich­tig öff­ne­te ich die Au­gen ein we­nig und schloss sie im sel­ben Mo­ment, ge­blen­det vom glei­ßen­den Son­nen­licht, wie­der. Ich hat­te ge­nau in die auf­ge­hen­de Son­ne ge­schaut.

War ich schon tot? War ich im Him­mel? Nach ei­nem Selbst­mord? Dar­über hat­te ich in mei­ner Ver­zweif­lung gar nicht mehr nach­ge­dacht. Da ich den Glau­ben so­wie­so schon ver­nach­läs­sigt hat­te, hat­te ich sol­che Ge­dan­ken in den letz­ten Stun­den im­mer wie­der ver­drängt. Ein Le­ben nach dem Tod stand für mich ein­fach nicht mehr zur De­bat­te. Aber jetzt? Ich hat­te kei­ne Er­klä­rung für das, was ge­sche­hen war. War ich wirk­lich ge­sprun­gen? Es war mir zwar noch be­wusst, wie sich mein Kör­per an­ge­spannt hat­te, um sich vom Ast ab­zu­sto­ßen, doch dann? Was war denn in die­sem Au­gen­blick nur ge­sche­hen?

Mei­ne Hän­de fühl­ten den war­men Bo­den und die klei­nen Stei­ne des Weges, auf dem ich in ähn­li­cher Hal­tung wie auf dem Ast saß. Lang­sam dreh­te ich mich in die­ser Stel­lung um, so­dass ich die Son­ne im Rücken hat­te. Dann öff­ne­te ich vor­sich­tig die Au­gen und riss sie er­staunt ganz weit auf. Ich hat­te al­les an­de­re er­war­tet, nur nicht den An­blick, der sich mir jetzt bot. Die Son­ne be­schi­en vor ei­nem strah­lend blau­en Him­mel eine Land­schaft, wie ich sie höchs­tens ein­mal im Fern­se­hen ge­se­hen hat­te. Ich be­fand mich auf ei­nem Weg, der in ei­nem sanf­ten Bo­gen in ein schö­nes, licht­durch­flu­te­tes Flus­stal führ­te. An der Stel­le, wo der Weg das Tal er­reich­te, war es si­cher­lich vier bis fünf Ki­lo­me­ter breit. Fluss­ab­wärts wa­ren rechts und links des Flus­ses sau­ber ab­ge­trenn­te Flä­chen zu se­hen. Die­se leuch­te­ten in ei­nem üp­pi­gen und gleich­mä­ßi­gen Grün und ihre geo­me­tri­schen For­men wa­ren auf kei­nen Fall na­tür­li­chen Ur­sprungs.

Auf dem Was­ser be­weg­ten sich klei­ne Boo­te mit höchs­tens ein oder zwei Ru­de­rern be­setzt. Wenn man dem Fluss mit den Au­gen in die an­de­re Rich­tung folg­te, konn­te man se­hen, dass fluss­auf­wärts die Ber­ge das Tal wei­ter eineng­ten. Es wur­de en­ger und nur eine kur­ze Stre­cke wei­ter wa­ren kei­ne Fel­der mehr zu se­hen. Die ho­hen, teil­wei­se sehr stei­len Ber­ge schie­nen sich fluss­auf­wärts fort­zu­set­zen. Nur in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tung, wo die Land­schaft ebe­ner wur­de und in wei­ter Fer­ne die Ber­ge ganz ver­schwan­den, schi­en es aus­rei­chend Flä­che zu ge­ben, die ur­bar ge­macht wer­den konn­te.

Ei­ni­ge der Bäu­me und Pflan­zen die am Weg­rand stan­den wa­ren mir un­be­kannt. Bei an­de­ren dach­te ich, dass ich sie schon ein­mal ge­se­hen hät­te. Viel­leicht durch Fil­me, Ab­bil­dun­gen in Bü­chern oder durch Be­schrei­bun­gen ka­men mir die­se be­kannt vor. So er­kann­te ich et­was wei­ter un­ten am Weg­rand einen klei­nen Bam­bus­wald, und das mach­te al­les nur noch un­ver­ständ­li­cher, denn wenn es wirk­lich ei­ner wäre, dann müss­te ich ja in Asi­en sein, dach­te ich. Aber wie soll­te das mög­lich sein? Was war denn nur ge­sche­hen?

Ohne mir einen Reim auf all das ma­chen zu kön­nen, schau­te ich mich auf der Su­che nach et­was Be­kann­tem wei­ter um. Ich hielt Aus­schau nach ei­ner As­phalt­stra­ße, mo­der­nen Ge­bäu­den oder an­de­ren tech­ni­schen Bau­wer­ken. Doch die ein­zi­gen Ge­bäu­de, die ich sah, wa­ren ei­ni­ge klei­ne Häu­ser, eher Hüt­ten, am Ran­de der Fel­der. Viel wei­ter fluss­ab­wärts war am Tal­rand eine grö­ße­re Ort­schaft zu se­hen. Ob­wohl es weit weg war, hat­te ich doch den Ein­druck, dass es auch dort recht ein­fach aus­sah.

Ich konn­te nichts er­ken­nen, was nach fort­schritt­li­cher Zi­vi­li­sa­ti­on aus­sah. Der Weg, auf dem ich mich be­fand, führ­te an den Fel­dern ent­lang bis zu dem grö­ße­ren Ort. Dort ver­zweig­te er sich in ver­schie­de­nen Rich­tun­gen. Ei­ner schlän­gel­te sich in vie­len Win­dun­gen den Hang hi­n­auf in die Ber­ge hi­n­ein. Ein wei­te­rer folg­te dem Tal wei­ter fluss­ab­wärts, bis man ihn in wei­ter Fer­ne aus den Au­gen ver­lor. Und dann gab es da noch einen, der zu ei­ner klei­nen An­le­ge­stel­le führ­te. Von dort aus schi­en es eine Art Fähr­be­trieb zu ge­ben. Der Fluss war an die­ser Stel­le brei­ter und floss ru­hig und gleich­mä­ßig da­hin. Auch die Fäh­re, eher ein grö­ße­res Floß, konn­te man se­hen. Sie hat­te eben das an­de­re Ufer er­reicht und man sah ei­ni­ge klei­ne Punk­te, die sich in ver­schie­de­ne Rich­tun­gen von der Fäh­re ent­fern­ten.

Die Son­ne wärm­te nun mit ei­ner Kraft, die mich lang­sam ins Schwit­zen brach­te. Ich zog die Ja­cke aus und woll­te mich ge­ra­de auf den Weg ins Tal ma­chen, als ich hin­ter mir lei­se Män­ner­stim­men hör­te. Dar­auf­hin dreh­te ich mich um und be­merk­te nun erst, wie an­ders die Ge­birgs­land­schaft hin­ter mir ei­gent­lich war. In der Nähe des Flus­ses wa­ren die Ber­ge noch bis zu den Gip­feln be­wal­det, doch dann wur­den sie hö­her und schrof­fer. Ab ei­ner ge­wis­sen Höhe wa­ren sie nur noch mit Sträu­chern und an­de­ren nied­ri­gen Pflan­zen be­wach­sen und der grau­brau­ne Fels do­mi­nier­te.

Aber was mei­nen Blick nun fes­sel­te, wa­ren die bei­den Män­ner, die in die­sem Mo­ment hin­ter der Baum­grup­pe, die den Blick auf den wei­te­ren Weg ver­sperr­te, her­vor ka­men. Sie un­ter­hiel­ten sich halb­laut und ihr Schritt stock­te kurz, als sie mich sa­hen, doch ich hat­te nicht den Ein­druck, dass sie mei­ne An­we­sen­heit son­der­lich über­rasch­te. Ihre Un­ter­hal­tung un­ter­bre­chend ka­men sie dann mit ziel­si­che­ren Schrit­ten auf mich zu.

Die bei­den hat­ten asia­ti­sche Ge­sichts­zü­ge und ihr Kopf war kahl­ge­scho­ren. Ein wei­tes, lo­cker sit­zen­des Ober­ge­wand reich­te fast bis zu den Kni­en. Es war aus gro­bem Lei­nen, an den Sei­ten bis in Schritt­hö­he auf­ge­schlitzt und wur­de von ei­nem Stoff­gür­tel zu­sam­men­ge­hal­ten. Die eben­falls lo­cke­re Bein­be­klei­dung steck­te bis zu den Kni­en in Strümp­fen, die mit kreuz­wei­se um­wi­ckel­ten Bän­dern ge­hal­ten wur­den. Die Ho­sen wa­ren aus dem glei­chen Stoff wie das Ober­ge­wand und nichts be­hin­der­te ihre Trä­ger in ih­ren Be­we­gun­gen. Das leich­te, ge­schmei­di­ge Schuh­werk ver­lieh ih­nen einen fast ge­räusch­lo­sen Gang und ihre Be­we­gun­gen wa­ren weich und gleich­mä­ßig. Man sah so­fort: sie wa­ren eins mit der Na­tur.

Der Jün­ge­re der bei­den schi­en etwa Mit­te zwan­zig zu sein, war be­stimmt nicht grö­ßer als einen Me­ter sieb­zig und hat­te ein rund­li­ches Ge­sicht. Die fla­che Nase und die leicht ab­ste­hen­den Oh­ren ver­stärk­ten die ju­gend­li­che Wir­kung noch. Kräf­ti­ge, dunkle Au­gen­brau­en über­schat­te­ten die schma­len, aber kaum schräg­ge­stell­ten Au­gen. In den Mund­win­keln hat­te er vie­le, klei­ne Fal­ten, die dem Ge­sicht einen schalk­haf­ten Aus­druck ver­lie­hen.

Den zwei­ten schätz­te ich auf etwa fünf­zig Jah­re, und er wirk­te wür­de­voll, be­däch­tig, aber den­noch auf­ge­schlos­sen an­de­ren ge­gen­über. Er war nur we­nig klei­ner als sein jün­ge­rer Be­glei­ter, doch das wur­de durch sein ha­ge­res Er­schei­nungs­bild wie­der auf­ge­ho­ben. Sein Mund war schmal und die schräg­ge­stell­ten Au­gen nur schma­le Schlit­ze.

Tritt­si­cher, ohne auf dem un­ebe­nen und stei­ni­gen Weg einen Stein an­zu­sto­ßen oder zu strau­cheln, leg­ten sie die kur­ze Stre­cke bis zu mir zu­rück. Sie stopp­ten vor mir, ver­beug­ten sich, die rech­te Hand im rech­ten Win­kel vor die Brust hal­tend, und spra­chen mich an. Die gan­zen Um­stän­de wur­den im­mer un­ver­ständ­li­cher für mich, denn dem Klang der Spra­che nach konn­te es wirk­lich nur chi­ne­sisch, vi­et­na­me­sisch oder et­was ähn­li­ches sein.

Ich deu­te­te eben­falls eine leich­te Ver­beu­gung an und schau­te un­si­cher zu ih­nen auf. Der äl­te­re der bei­den stell­te, von Ges­ten be­glei­tet, of­fen­bar eine Fra­ge an mich. Ich hat­te den Ein­druck, dass es nur we­nig an­ders klang als ihre ers­ten Wor­te, viel­leicht ein an­de­rer Dia­lekt war, doch auch das konn­te ich nicht ver­ste­hen.

Lang­sam fass­te ich mich.

›Ent­schul­di­gung, ich habe Sie lei­der nicht ver­stan­den. Spre­chen Sie auch Deutsch oder Eng­lisch?‹

Nach ei­ner kur­zen Pau­se:

›Do you speak Eng­lish?‹

Kei­ne Ant­wort, nur rat­lo­se Bli­cke.

›Wer sind Sie? Wo bin ich hier? Wie bin ich hier­her­ge­kom­men?‹

Wie­der kei­ne Ant­wort.

›Das gibt’s doch gar nicht, bin ich denn hier im falschen Film? Wie­so ver­steht mich denn kei­ner? Was ist denn bloß los hier?‹

Wie so oft in letz­ter Zeit war ich rat­los, un­si­cher und zu kei­ner ver­nünf­ti­gen Hand­lung fä­hig, doch die bei­den schie­nen das zu spü­ren. Sie ver­stän­dig­ten sich kurz mit ei­nem Blick und for­der­ten mich dann mit Ges­ten und be­ru­hi­gen­den Wor­ten auf, ih­nen zu fol­gen. Sie zeig­ten im­mer wie­der auf den Weg, der in die Ber­ge führ­te, und der äl­te­re der bei­den leg­te sanft sei­ne Hand auf mei­ne Schul­ter und drück­te mich vor­sich­tig in die­se Rich­tung.

Was woll­ten sie bloß von mir? Hat­ten sie mich etwa ge­sucht? Was war denn nur ge­sche­hen, seit ich mir die Schlin­ge um den Hals ge­legt hat­te? Die Schlin­ge, ja, na­tür­lich! Ich fuhr mir mit der Hand an den Hals und tas­te­te nach Spu­ren des Sei­les, doch ich fühl­te nichts als glat­te Haut.

Mein Han­deln muss für sie völ­lig un­ver­ständ­lich ge­we­sen sein. Aber was soll­te es, sie ver­stan­den mich ja an­schei­nend so­wie­so nicht und ei­gent­lich war es auch egal, ob ich ins Tal ge­hen oder ih­nen fol­gen wür­de. Viel­leicht wür­de sich ja auch al­les auf­klä­ren, wenn ich ih­nen folg­te, denn ir­gend­wie schi­en mei­ne An­we­sen­heit ja nicht ganz un­ver­mu­tet für sie zu sein. Also setz­te ich mich zö­gernd in Be­we­gung. Er­freut lä­chelnd lie­fen sie ne­ben mir her. Bald hat­ten sie wie­der die­sen gleich­mä­ßi­gen, weit aus­grei­fen­den Schritt er­reicht, den ich vor­her schon bei ih­nen be­wun­dert hat­te. Am An­fang konn­te ich ih­nen noch fol­gen, ob­wohl ich schon fast in einen Lauf­schritt ver­fal­len muss­te, um mit­zu­hal­ten, doch spä­ter muss­ten sie ih­ren Schritt ver­lang­sa­men, da ich auf die Dau­er die­ses Tem­po nicht hal­ten konn­te.

Der Weg führ­te in vie­len Win­dun­gen ste­tig berg­auf bis er einen Berg­sat­tel er­reich­te. Von da an ging es wie­der ab­wärts und ich konn­te Atem schöp­fen. Nun hat­te ich auch wie­der die Kraft, um mich um­zu­schau­en.

Das Ge­bir­ge setz­te sich in alle Rich­tun­gen, nur un­ter­bro­chen von Tä­lern, Bach- und Fluss­läu­fen, fort. In hö­he­ren La­gen, wei­ter weg vom Was­ser, wur­de die Land­schaft kar­ger, die Ve­ge­ta­ti­on we­ni­ger üp­pig als in dem Flus­stal, aus dem wir ka­men. Der Weg schlän­gel­te sich ins nächs­te Tal hin­ab und nach­dem wir ihm ein Stück ge­folgt wa­ren, wur­de der Blick auf ein hö­her ge­le­ge­nes Sei­ten­tal frei. Mei­ne bei­den Be­glei­ter blie­ben ste­hen und deu­te­ten, be­glei­tet von ei­ni­gen Wor­ten, auf einen be­bau­ten Be­reich, der aber lei­der noch zu weit weg war, um ge­nau­e­res zu er­ken­nen.

Wir setz­ten un­se­ren Weg, der nun in das Sei­ten­tal hi­n­ein führ­te, fort. Nach ei­ni­ger Zeit er­kann­te ich, dass es eine Tem­pel- oder Klos­ter­an­la­ge sein muss­te, der wir uns nun nä­her­ten.

Un­ser Weg führ­te an ei­nem Ge­län­de vor­bei, das nur mit Pa­go­den in un­ter­schied­li­cher Grö­ße be­stan­den war. Teil­wei­se nah­men die­se nicht ein­mal zwei Qua­drat­me­ter Grund­flä­che ein, wa­ren aber meh­re­re Me­ter hoch. Es gab aber auch wel­che, die schon fast wie ein mehr­stö­cki­ges Haus wirk­ten. Vom Weg aus ge­lang­te man über eine klei­ne Trep­pe auf das hö­her ge­le­ge­ne Ter­rain. Gleich am An­fang stan­den klei­ne, eher säu­len­ähn­li­che Ge­bil­de, doch ein paar Schrit­te wei­ter folg­ten ei­ni­ge, die si­cher­lich fünf oder sechs Me­ter hoch wa­ren. Die­se Pa­go­den wa­ren aus fla­chen Zie­geln er­baut und hat­ten im­mer wie­der rund­um lau­fen­de Sim­se. Die­se wirk­ten wie klei­ne Vor­dä­cher die nach oben hin in im­mer kür­ze­ren Ab­stän­den ein­ge­fügt wa­ren. Doch kei­ne Pa­go­de glich der an­de­ren, die eine hat­te nur zwei sol­che Vor­dä­cher und die nächs­te schon fünf. Bei der einen wur­de der Um­fang nach je­der die­ser Un­ter­bre­chun­gen ge­rin­ger, bei der nächs­ten blieb der Um­fang bis zum Ab­schluss gleich. Ei­ni­ge wa­ren qua­dra­tisch, an­de­re sechs­eckig oder rund. Die größ­ten hat­ten meist klei­ne Türm­chen oben­drauf und die klei­ne­ren, etwa drei Me­ter ho­hen, nur eine klei­ne Plat­te als Ab­schluss der Dach­spit­ze. Es gab Be­rei­che, in de­nen nur ein bis zwei Me­ter Ab­stand zwi­schen die­sen Pa­go­den war, aber auch im­mer wie­der freie­re Flä­chen, die mit klei­nen Bäu­men be­stan­den wa­ren. Es war ein rich­ti­ger Wald aus Pa­go­den.

Ich war im­mer lang­sa­mer ge­wor­den, um das al­les in mich auf­neh­men zu kön­nen, doch mei­ne bei­den Füh­rer dräng­ten mich wei­ter. Nach ei­ner kur­zen Stre­cke er­reich­ten wir das Klos­ter­ge­län­de.

Wir be­tra­ten den in­ne­ren Be­reich durch ein mit Schnit­ze­rei­en und ver­gol­de­ten Or­na­men­ten ver­zier­tes Tor. Über­all wa­ren mir un­ver­ständ­li­che Sym­bo­le, Schrift­zei­chen und für ein eu­ro­päi­sches Auge selt­sam an­mu­ten­de Fi­gu­ren an­ge­bracht. Die vor­herr­schen­den Far­ben wa­ren rot und blau, und bei ei­ni­gen Fi­gu­ren ent­stand der Ein­druck, dass sie je­den Ein­tre­ten­den stän­dig im Blick be­hiel­ten.

Auf dem Klos­ter­hof, den wir jetzt be­tra­ten, wa­ren ei­ni­ge Mön­che mit Fe­gen be­schäf­tigt. Sie schau­ten auf, be­ka­men bei mei­nem An­blick große Au­gen und be­gan­nen mit­ein­an­der zu tu­scheln. So, wie sie sich ver­hiel­ten, hat­ten sie si­cher­lich noch kei­nen Eu­ro­pä­er ge­se­hen.

Wir gin­gen auf ein großes Ge­bäu­de zu, das die Front die­ses Plat­zes do­mi­nier­te. Eine brei­te Trep­pe, die von ei­nem mit Or­na­men­ten ver­zier­ten stei­ner­nen Ge­län­der be­grenzt war, führ­te auf eine rund um das Ge­bäu­de lau­fen­de Ter­ras­se. Die­se wur­de eben­falls von ei­nem hüft­ho­hen, stei­ner­nen Ge­län­der be­grenzt. Am Ende der Trep­pe be­fand sich ein über­dach­ter Durch­gang. Von zwei qua­dra­ti­schen, ro­ten Säu­len ge­tra­gen, über­spann­te ein mit blau­en Dach­zie­geln ge­deck­tes, schön ge­schwun­ge­nes Dach den Durch­gang.

Auf den Ecken thron­ten, wie am Ein­gang­stor, Wäch­ter­fi­gu­ren. Rechts vorn war ein grim­mig aus­se­hen­der Krie­ger mit ei­nem er­ho­be­nen Schwert in je­der Hand zu se­hen. Auf der da­hin­ter­lie­gen­den Ecke war ein Dra­che mit aus­ge­brei­te­ten Flü­geln und weit vor­ge­streck­tem Kopf an­ge­bracht. Die ge­gen­über­lie­gen­de Ecke wur­de von ei­ner Lö­wen­fi­gur be­herrscht und die lin­ke, vor­de­re Ecke zier­te ein wei­te­rer Krie­ger. Die in ei­nem sat­ten Rot ge­hal­te­nen Wän­de des Tem­pels wur­den di­rekt hin­ter dem über­dach­ten Durch­gang von ei­nem etwa zwei Me­ter brei­ten Ein­gangs­por­tal un­ter­bro­chen. Auf bei­den Sei­ten des Ein­gangs wa­ren auf klei­nen Po­des­ten stei­ner­ne Lö­wen pos­tiert.

In ei­ner Höhe von etwa drei Me­tern be­gann das an den Ecken nach oben ge­schwun­ge­ne, wie­der­um mit blau­en Dach­zie­geln ge­deck­te Un­ter­dach. Auch hier wur­den wie­der die Ecken von ver­schie­de­nen Fi­gu­ren be­herrscht. Nach un­ge­fähr zwei­ein­halb Me­tern wur­de das Dach wie­der von ei­ner etwa ein­ein­halb Me­ter ho­hen Wand un­ter­bro­chen. So­weit man das von hier un­ten be­ur­tei­len konn­te, wa­ren dort reich ver­zier­te Licht­durch­läs­se ein­ge­baut. Ver­mut­lich ver­sorg­ten sie den großen In­nen­raum mit ei­nem dif­fu­sen Licht. Nun folg­te das ei­gent­li­che Dach. Auch die­ses war wie­der mit blau­en Zie­geln ge­deckt und auch hier fehl­ten die Wäch­ter nicht.

Durch die of­fe­ne Ein­gangs­tür des Tem­pels konn­te man den gol­de­nen Schim­mer ei­ni­ger Fi­gu­ren wahr­neh­men. Ge­ra­de als ich die­se bes­ser zu er­ken­nen ver­such­te, wur­den sie von ei­ni­gen Mön­chen, die aus dem Tem­pel tra­ten, ver­deckt.

Alle tru­gen gel­be, bis auf den Bo­den fal­len­de Kut­ten und bis auf den Mönch in der Mit­te wa­ren über die­se noch rote Über­hän­ge ge­schlun­gen. Die­ser Mönch in der Mit­te strahl­te et­was aus, das mich so­fort in sei­nen Bann zog. Auch auf alle an­de­ren schi­en das so zu wir­ken, denn man ließ einen ge­wis­sen frei­en Raum um ihn he­r­um.

Er schi­en schon ein recht ho­hes Al­ter er­reicht zu ha­ben, doch sei­ne Be­we­gun­gen wa­ren frisch und kraft­voll. In sei­ner rech­ten Hand hielt er eine Per­len­ket­te und wäh­rend er mich freund­lich mus­ter­te, glit­ten die Per­len un­ab­läs­sig durch sei­ne Fin­ger.

Mei­ne bei­den Be­glei­ter ver­neig­ten sich ehr­er­bie­tig vor ihm und auch ich senk­te grü­ßend den Kopf. Es war, wie ich da­mals schon rich­tig ver­mu­te­te, der Abt des Klos­ters. Mit ru­hi­gen, be­däch­ti­gen Schrit­ten ka­men er und sei­ne Be­glei­ter die Trep­pe he­r­un­ter auf uns zu. Mit sei­ner war­men und be­ru­hi­gen­den Stim­me sprach er mich an, doch lei­der konn­te ich, wie bei mei­nen bei­den Füh­rern, kein Wort ver­ste­hen.

›Tut mir leid, aber ich spre­che die­se Spra­che lei­der nicht.‹

Er sah mich kurz prü­fend an und stell­te dann mei­nen bei­den Füh­rern ei­ni­ge Fra­gen, die die­se, im­mer wie­der auf mich deu­tend, be­ant­wor­te­ten. Ver­ste­hend ni­ckend schi­en er kurz zu über­le­gen, dann sprach er den Mönch zu sei­ner Rech­ten an. Die­ser schi­en mit dem, was der Abt sag­te, nicht ein­ver­stan­den zu sein, denn es folg­te ein kur­zer Wort­wech­sel, an des­sen Ende sich der kräf­tig aus­se­hen­de, jün­ge­re Mönch zwar vor dem Abt ver­neig­te, aber man konn­te sei­ner Hal­tung und dem Ge­sichts­aus­druck an­se­hen, dass er dem, was der Abt ge­sagt hat­te, nicht zu­stimm­te.

Der Abt nick­te mir auf­mun­ternd zu und ging, ge­folgt von sei­nen Be­glei­tern, zu­rück in den Tem­pel. Nur der Mönch, mit dem der Abt ge­spro­chen hat­te, blieb zu­rück. Miss­mu­tig sah er mich an und gab dann mei­nen bei­den Be­glei­tern ei­ni­ge An­wei­sun­gen. Die­se ver­neig­ten sich ehr­er­bie­tig vor ihm und for­der­ten mich mit Ges­ten dazu auf, ih­nen zu fol­gen.

Mei­ne Un­si­cher­heit stei­ger­te sich. Ich sah hi­n­auf zu dem Tem­pel, denn der Abt hat­te mir Ver­trau­en ein­ge­flö­ßt, doch es war nichts mehr von ihm und sei­nen Be­glei­tern zu se­hen. Als der jün­ge­re mei­ner bei­den Füh­rer mich schließ­lich am Hand­ge­lenk fass­te und vor­sich­tig in die ge­wünsch­te Rich­tung zog, folg­te ich ih­nen im­mer noch hof­fend, dass sich bald al­les auf­klä­ren wür­de.

Wir ver­lie­ßen die­sen Teil des Klos­ters und er­reich­ten kurz dar­auf einen Be­reich, der Ähn­lich­keit mit ei­ner Ka­ser­ne hat­te.

Auf dem großen Hof, an des­sen Rand wir ent­lang­gin­gen, führ­te eine Grup­pe von etwa ein­hun­dert Män­nern, in höchs­ter Kon­zen­tra­ti­on, mit syn­chro­nen Be­we­gun­gen kraft­vol­le Schlag- und Tritt­kom­bi­na­tio­nen aus. Es er­in­ner­te mich sehr an ein Kung Fu-Trai­ning, über das ich ein­mal einen Be­richt im Fern­se­hen ge­se­hen hat­te. Ich wäre ger­ne ste­hen ge­blie­ben, um zu­zu­schau­en, doch mei­ne bei­den Be­glei­ter dräng­ten mich wei­ter. Wir gin­gen bis zu ei­ni­gen ein­stö­cki­gen Ge­bäu­den im hin­te­ren Teil der Klos­ter­an­la­ge. Sie wa­ren in ei­ner ba­ra­cken­ähn­li­chen Bau­wei­se er­stellt, und in ih­nen be­fan­den sich an­schei­nend die Un­ter­künf­te der Mön­che.

Mei­ne bei­den Füh­rer ge­lei­te­ten mich in ei­nes von ih­nen und führ­ten mich einen lan­gen Gang ent­lang bis zu ei­ner ein­fa­chen Zel­le. Schon auf dem Weg den Gang ent­lang, hat­te ich durch die of­fe­nen Tü­ren in ei­ni­ge Räu­me se­hen kön­nen. Die ers­ten wa­ren grö­ßer ge­we­sen und es stan­den im­mer meh­re­re Prit­schen in die­sen Un­ter­künf­ten. Am Ende des Gan­ges wa­ren dann ei­ni­ge klei­ne­re Zel­len, in de­nen nur eine oder zwei Prit­schen stan­den.

In die äu­ßers­te die­ser Un­ter­künf­te wur­de ich ge­führt. Dort lag auf der ein­zi­gen Lie­ge, die sich in die­sem Raum be­fand, or­dent­lich zu­sam­men­ge­legt, Klei­dung wie sie mei­ne Füh­rer tru­gen. Der äl­te­re der bei­den sprach mich wie­der an und deu­te­te da­bei auf die Klei­dung, den Raum, die Prit­sche und mich. Sei­nen Ges­ten ent­nahm ich, dass die­ser Raum so­wie die Klei­dung für mich be­stimmt war und dass ich mich um­zie­hen soll­te. Ich schüt­tel­te den Kopf.

›Ent­schul­di­gung, ich möch­te nicht hier­blei­ben! Ich weiß ja nicht ein­mal ge­nau wo ich bin! Füh­ren Sie mich doch bit­te ein­fach zu ei­nem Te­le­fon, dann kann ich ver­su­chen, das al­les auf­zu­klä­ren.‹

Ver­ständ­nis­los sa­hen die bei­den mich an und zuck­ten nur be­dau­ernd mit den Schul­tern. Frust stieg in mir auf.

Warum ver­steht mich denn bloß kei­ner? Wie soll ich’s ih­nen denn nur er­klä­ren?

Ich deu­te­te mit Ges­ten das Te­le­fo­nie­ren an, doch die bei­den zuck­ten wie­der nur mit den Schul­tern.

In­stink­tiv griff ich in mei­ne Ja­cken­ta­sche und be­rühr­te mei­ne Brief­ta­sche. Im ers­ten Mo­ment at­me­te ich auf, doch die Freu­de über die­sen Fund ebb­te so­fort wie­der ab. Was soll­ten mir die­se Din­ge hier auch nüt­zen, da wir uns ja nicht so recht ver­stän­di­gen konn­ten, wür­den sie si­cher­lich auch nichts mit ei­nem Aus­weis oder et­was ähn­li­chem an­fan­gen kön­nen.

Da fiel mir mein Han­dy ein, ich zog es he­r­aus und woll­te wäh­len, doch es war kein Netz vor­han­den. Fie­ber­haft über­leg­te ich. Gab es bloß hier keins, in die­sem Ge­birg­stal, oder war ge­ne­rell keins vor­han­den? Ich muss­te in ei­nem frem­den Land sein, so­viel stand fest. Aber war ich über­haupt noch auf der Erde, in mei­ner Zeit? Oder war ich viel­leicht tot? Aber ein Le­ben nach dem Tod, soll­te das so aus­se­hen? Trä­um­te ich viel­leicht nur? Aber dann müss­te ich ja lang­sam mal auf­wa­chen. Al­les war so pri­mi­tiv, so ein­fach. Auf dem gan­zen Weg bis hier­her hat­te ich kei­ner­lei Spu­ren von ir­gend­wel­cher mo­der­nen Tech­nik ge­se­hen.

Ir­gend­wie war al­les wie im Mit­tel­al­ter und als ich wie­der zu den bei­den hin­sah, be­merk­te ich, wie sie das Han­dy in mei­ner Hand fi­xier­ten. So ein Ge­rät hat­ten sie mit Si­cher­heit noch nicht ge­se­hen und als das Licht im Dis­play wie­der aus­ging, fuh­ren sie er­schro­cken zu­rück.

Nach­denk­lich steck­te ich es wie­der weg. Ich hat­te kei­ne Vor­stel­lung, wie ich mich wei­ter ver­hal­ten soll­te. Aus ir­gend­ei­nem Grund schie­nen sie mich, nach ih­rem Ver­hal­ten zu ur­tei­len, er­war­tet zu ha­ben, aber wes­halb? Rat­los sah ich sie an, doch der äl­te­re der bei­den be­deu­te­te mir nur wie­der, dass ich die Klei­dung, die auf der Prit­sche lag, an­zie­hen soll­te.

Ver­ständ­nis­los schüt­tel­te ich den Kopf und zeig­te auf mei­ne Klei­dung, um ih­nen zu zei­gen, dass ich ja nicht un­be­klei­det war. Sie zuck­ten nur re­si­gnie­rend mit den Schul­tern, dreh­ten sich um und lie­ßen mich al­lein in der Mönchs­zel­le zu­rück.

Zu kei­ner ver­nünf­ti­gen Hand­lung fä­hig, setz­te ich mich auf die Prit­sche und be­gann zu grü­beln. War das die Stra­fe da­für, dass ich Selbst­mord be­gan­gen hat­te? War ich über­haupt tot, oder war das al­les nur ein Traum?

Nach ei­ner Wei­le stand plötz­lich der Mönch, mit dem der Abt dis­ku­tiert hat­te, im Raum. Im­mer noch oder schon wie­der wü­tend sah er mich an. Er kam auf mich zu und ich sprang er­schro­cken hoch, denn ich hat­te das Ge­fühl, dass er mich je­den Au­gen­blick pa­cken und durch­schüt­teln wür­de. Doch er griff nur nach der Klei­dung auf der Prit­sche und drück­te sie mir ener­gisch in die Arme. Da­bei schimpf­te er die gan­ze Zeit vor sich hin. Er be­sah sich mei­ne Hän­de, be­tas­te­te mei­ne Ober­ar­me, sah mir ins Ge­sicht, schüt­tel­te den Kopf und be­deu­te­te mir wie­der, dass ich mich um­zie­hen sol­le. Ich konn­te kei­nen Grund er­ken­nen, warum ich das tun soll­te, woll­te ihn an­de­rer­seits aber auch nicht noch mehr ver­är­gern. Mit dan­ken­den Wor­ten leg­te ich die Klei­dung wie­der auf die Prit­sche, doch er ver­stand mich ja nicht. Ener­gisch und mit wü­ten­dem Ge­sichts­aus­druck drück­te er sie mir zum wie­der­hol­ten Male in die Arme und als ich dar­auf­hin er­neut ab­wehr­te, sah er mir kurz in die Au­gen und ver­ließ mich dann mit ei­ner weg­wer­fen­den Ges­te.

Ich hat­te ge­hofft, Auf­klä­rung über mei­ne An­we­sen­heit an die­sem Ort zu er­hal­ten, doch ir­gend­wie wur­de hier al­les nur noch ver­wor­re­ner. Auch die Ab­nei­gung, die ich bei die­sem Mönch ge­spürt hat­te, mach­te es noch schwe­rer, et­was Po­si­ti­ves hier zu se­hen.

Aus die­sen Grün­den ent­schloss ich mich, das Klos­ter gleich wie­der zu ver­las­sen. Der grö­ße­re Ort am Fluss schi­en im Au­gen­blick das sinn­volls­te Ziel zu sein. Viel­leicht konn­te ich dort Auf­klä­rung er­hal­ten, oder ich fän­de einen Weg zu­rück in mei­ne Welt.

Nach­denk­lich ging ich über den Hof, auf dem die Män­ner im­mer noch die­se Übun­gen durch­führ­ten. Kon­zen­triert, ru­hig und gleich­mä­ßig be­weg­ten sie sich wie ein ein­zi­ger Mann. Auch mei­ne bei­den Füh­rer hat­ten sich ein­ge­reiht und nichts deu­te­te dar­auf hin, dass sie oder die an­de­ren mich be­merk­ten.

Ohne auf­ge­hal­ten zu wer­den er­reich­te ich das Ein­gang­stor. Die we­ni­gen, die mich ge­se­hen hat­ten, schau­ten mir ver­wun­dert nach, doch es schi­en kei­nen wei­ter zu in­ter­es­sie­ren, was ich tat. Lang­sam ging ich un­ter der bren­nen­den Son­ne den Weg hi­n­auf zum Berg­kamm. Dort dreh­te ich mich um und schau­te zu­rück.

Weit hin­ter mir, so­dass man ge­ra­de noch er­ken­nen konn­te was es war, sah ich drei Ge­stal­ten auf dem Weg hin­ter mir her­kom­men. Ich hat­te nicht den Ein­druck, dass sie sich be­son­ders be­ei­len wür­den um mich noch ein­zu­ho­len, und im glei­chen, ru­hi­gen Tem­po wie bis­her setz­te ich mei­nen Weg fort. Bald hat­te ich auch die Stel­le er­reicht, an der ich wie­der zu mir ge­kom­men war. Nach­dem ich mich einen Au­gen­blick um­ge­schaut hat­te, ging ich wei­ter in Rich­tung Fluss.

Die Son­ne hat­te nun schon fast ih­ren höchs­ten Punkt er­reicht und die feucht­war­me Luft mach­te mir lang­sam zu schaf­fen. Ich schätz­te, dass es be­stimmt schon um die drei­ßig Grad warm war und es herrsch­te eine hohe Luft­feuch­tig­keit, als wenn es eben stark ge­reg­net hät­te und die Son­ne nun das Was­ser wie­der auf­saug­te.

Als ich das Flus­stal er­reich­te, folg­te ich dem Weg, der par­al­lel dazu fluss­ab­wärts ver­lief. Hier be­geg­ne­ten mir jetzt mehr Men­schen, aber kei­ner konn­te mich ver­ste­hen, wenn ich eine Fra­ge an sie rich­te­te. Sie wa­ren fast alle bar­fuß, im Höchst­fall tru­gen sie leich­te, dünn­soh­li­ge San­da­len. Die Ho­sen gin­gen nur we­nig über die Knie her­ab und ein leich­tes, weit­ge­schnit­te­nes Ober­ge­wand so­wie ein Hut aus Reiss­troh ver­voll­stän­dig­te bei den meis­ten die Klei­dung.

Ver­wun­dert sa­hen sie mich an, wenn ich sie an­sprach oder an ih­nen vor­bei­ging. Bald war ich mir ganz si­cher, dass sie noch nie einen Eu­ro­pä­er ge­se­hen hat­ten. Ich war dem grö­ße­ren Ort schon sehr nahe ge­kom­men, als mir ein Rei­ter in vol­lem Ga­lopp ent­ge­gen­kam.

Mit ei­nem Satz in die Bü­sche muss­te ich mich in Si­cher­heit brin­gen, da­mit er mich nicht um­ritt. Ich hat­te beim Sprung noch sein Ge­sicht ge­se­hen, war mir aber si­cher, dass ich we­nigs­tens ge­nau­so ver­blüfft drein­ge­schaut hat­te wie er.

Der An­blick die­ses Rei­ters be­stä­tig­te ein­mal mehr mei­ne Ver­mu­tung, dass ich mich in ei­ner an­de­ren Zeit be­fand. Er war ge­klei­det und ge­rüs­tet wie ei­ner die­ser Krie­ger, die ich ein­mal in ei­ner Ter­ra­kot­ta-Aus­stel­lung ge­se­hen hat­te.

Ich schau­te hoch und konn­te se­hen, dass der Rei­ter sein Pferd he­r­um­ge­ris­sen hat­te. Es tän­zel­te und bäum­te sich auf, wäh­rend er zu mir he­r­un­ter­schau­te. Doch bald dreh­te er sich um, schau­te in die Rich­tung, aus der ich ge­kom­men war und an­schei­nend war ihm wich­ti­ger, was er dort sah, denn er setz­te sei­nen ei­li­gen Ritt fort. Als ich sei­nem Blick folg­te sah ich, dass die drei Wan­de­rer, die ich schon vom Berg­kamm aus ge­se­hen hat­te, mir mitt­ler­wei­le sehr viel nä­her ge­kom­men wa­ren. Ich konn­te die Ge­sich­ter noch nicht er­ken­nen, aber ei­ner der drei hat­te die­se Mönchs­klei­dung an, die ich schon bei dem Abt im Klos­ter ge­se­hen hat­te.

Der Krie­ger un­ter­brach sei­nen Ritt bei den drei Wan­de­rern, stieg ab und ver­beug­te sich mehr­fach vor dem Mönch. Dann über­reich­te er ihm et­was und ver­such­te an­schlie­ßend sein Pferd zu be­ru­hi­gen. Es schi­en ein Schrift­stück zu sein, denn der Mönch be­gut­ach­te­te es aus­gie­big und gab es dem Krie­ger dann zu­rück. An­schlie­ßend sprach der Mönch kurz mit ei­nem sei­ner Be­glei­ter und die­ser schick­te sich dann an, ge­mein­sam mit dem Rei­ter aufs Pferd zu stei­gen und den Ritt fort­zu­set­zen. In mei­ne Rich­tung deu­tend, sag­te der Rei­ter noch et­was zu dem Mönch, doch die­ser mach­te nur eine ab­weh­ren­de Hand­be­we­gung und be­deu­te­te ihm, dass er sei­nen Ritt fort­set­zen sol­le. Dann setz­te auch er mit sei­nem ver­blie­be­nen Be­glei­ter sei­nen Weg fort.

Nun wur­de mir das Gan­ze doch un­heim­lich. Folg­ten mir die­se Leu­te etwa doch und wenn ja, was woll­ten sie dann von mir? Und wie­so ritt hier ei­gent­lich ei­ner he­r­um, der ge­ra­de ei­nem Film­set ent­stie­gen zu sein schi­en? Es wur­de im­mer du­bio­ser.

In der Zwi­schen­zeit hat­te ich mich aus der Um­klam­me­rung der Bü­sche be­freit und streb­te nach­denk­lich wei­ter mei­nem Ziel ent­ge­gen. Au­to­ma­tisch hat­te ich mei­nen Schritt be­schleu­nigt, um den Wan­de­rern hin­ter mir zu ent­ge­hen. Doch es hat­te kei­nen Zweck, denn die Ent­fer­nung zwi­schen mir und ih­nen wur­de trotz all mei­ner Be­mü­hun­gen im­mer klei­ner. Das Hemd kleb­te mir mitt­ler­wei­le klatschnass vor Schweiß am Kör­per und mein Schritt ver­lang­sam­te sich wie­der. Dem grö­ße­ren Ort war ich nun schon so nahe ge­kom­men, dass ich er­ken­nen konn­te, dass auch hier nichts von mo­der­ner Tech­nik, die mir ver­traut vor­kom­men wür­de, zu se­hen war. Re­si­gnie­rend hielt ich bei ei­nem Baum an, der mit sei­ner großen Kro­ne Schat­ten spen­de­te, und ließ mich an sei­nem Stamm nie­der.

Es dau­er­te nicht lan­ge bis der Mönch und sein Be­glei­ter mich er­reich­ten. Nun er­kann­te ich, dass es der Abt und der jün­ge­re mei­ner bei­den Füh­rer von heu­te Mor­gen wa­ren. Ich woll­te mich er­he­ben, um sie zu be­grü­ßen, denn in ih­rer Ge­gen­wart hat­te man das Ge­fühl will­kom­men und ge­ach­tet zu sein, doch der Abt be­deu­te­te mir, sit­zen zu blei­ben. Dann nahm er mir ge­gen­über Platz und schau­te mir tief in die Au­gen.

Die­ser Mann hat­te eine Aus­strah­lung, die sich schwer be­schrei­ben lässt. Al­les an ihm wirk­te be­ru­hi­gend und ver­ständ­nis­voll. Die­se Aura um­gab ihn und nahm je­den in sei­ner Nähe ge­fan­gen. Sei­ne schma­len, asia­ti­schen Au­gen schie­nen al­les zu durch­drin­gen, doch das ha­ge­re, von vie­len Fal­ten durch­zo­ge­ne Ge­sicht ließ kei­ne Re­gung er­ken­nen. Die klei­nen Fält­chen in sei­nen Au­gen- und Mund­win­keln ver­lie­hen dem Ge­sicht aber einen schalk­haf­ten Aus­druck. Der dün­ne Ober­lip­pen­bart und der graue, lang­fa­se­ri­ge Kinn­bart stan­den im Ge­gen­satz zu dem kahl­ge­scho­re­nen Kopf. Eben­so ver­hielt es sich mit dem rest­li­chen Kör­per. All sei­ne Be­we­gun­gen wirk­ten ju­gend­lich und vol­ler Ener­gie. Die Hän­de wa­ren er­staun­lich kräf­tig und ich hät­te sie ei­gent­lich ei­nem we­sent­lich jün­ge­ren Mann zu­ge­ord­net.

Er streck­te mir sei­ne rech­te Hand ent­ge­gen und for­der­te mich mit ei­ner be­ru­hi­gen­den Ges­te auf, mei­ne Hand in die sei­ne zu le­gen. Sein Be­glei­ter hat­te sich seit­lich von uns nie­der­ge­las­sen und nick­te mir jetzt er­mun­ternd zu. Zö­gernd folg­te ich die­ser Auf­for­de­rung und wuss­te im sel­ben Mo­ment, dass mir nichts ge­sche­hen wür­de. Als ich die Hand des Ab­tes be­rühr­te, durch­ström­te mich eine große Ruhe und Kraft. Es war als ob er mir sag­te: ›Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben, wir möch­ten dir nur hel­fen.‹

Wie­der sah er mir tief in die Au­gen und wie­der hat­te ich das Ge­fühl, dass er al­les in mir se­hen konn­te. Ich ver­such­te mich da­ge­gen zu sper­ren, zu weh­ren, mein In­ners­tes zu ver­ber­gen. Doch so rich­tig woll­te mir das nicht ge­lin­gen. Nach ei­ner Wei­le brach er den Blick­kon­takt ab und schloss die Au­gen, aber nur um sie gleich wie­der zu öff­nen und mir zu be­deu­ten, es ihm gleich zu tun. Zö­gernd folg­te ich sei­nem Bei­spiel und schloss die Au­gen.

Eine große Ener­gie ström­te über un­se­re in­ein­an­der­ge­leg­ten Hän­de in mei­nen gan­zen Kör­per. Durch die ge­schlos­se­nen Au­gen stieg mei­ne Kon­zen­tra­ti­on. Mei­ne Ge­dan­ken be­ru­hig­ten und ord­ne­ten sich. Ich hat­te das Ge­fühl, dass er mich frag­te, was mit mir los sei, was ge­sche­hen sei, warum ich so auf­ge­wühlt und trau­rig wäre. Mei­ne letz­ten Er­leb­nis­se lie­fen vor mei­nem in­ne­ren Auge noch ein­mal ab. Der Streit mit Gabi, die Er­pres­sung, die Nach­richt vom Au­to­un­fall und mein Selbst­mord­ver­such. All dies spiel­te sich in mei­nen Ge­dan­ken noch ein­mal ab und ich wuss­te, dass der Abt dies auch sah, denn ich spür­te sei­ne Ver­wun­de­rung über all die tech­ni­schen Din­ge, mit de­nen er nichts an­fan­gen konn­te. Und ich merk­te auch, dass er mir hel­fen woll­te.

Zu die­sem Zeit­punkt konn­te ich noch nicht be­grei­fen, wie es mög­lich war auf die­se Wei­se mit ei­nem an­de­ren Men­schen zu kom­mu­ni­zie­ren, und doch war es in­ten­si­ver als ein Traum und ich be­griff, was er mir mit­tei­len woll­te, ob­wohl wir in ver­schie­de­nen Spra­chen dach­ten.

In mei­nen Ge­dan­ken tauch­ten wir­re Bil­der von Bud­dha, von Gott und an­de­ren Fi­gu­ren auf, die dem Abt einen Auf­trag ge­ge­ben hat­ten. Was der In­halt die­ser Auf­ga­be war, wur­de mir nicht klar und von wem er ihn letzt­end­lich er­hal­ten hat­te, dar­über schi­en sich der Abt selbst nicht im Kla­ren zu sein, doch dass es mit mir und mei­nem Er­schei­nen zu tun hat­te stand für ihn fest. Mir wur­de auch be­wusst, dass er es mit al­ler Kraft und ger­ne tun wür­de.

Doch was war die Kon­se­quenz die­ser Er­kennt­nis­se? Soll­te ich mit dem Abt zu­rück in die­ses Klos­ter ge­hen oder soll­te ich ver­su­chen, zu­rück nach Hau­se zu kom­men? Ir­gend­et­was in mir sag­te mir aber auch, dass es kein Zu­rück für mich gab, dass ich, warum auch im­mer, an die­sem Ort ge­stran­det war. Ich hat­te aus mei­nem al­ten Le­ben und vor mei­nen Pro­ble­men flie­hen wol­len und dies schi­en auch ge­lun­gen zu sein, wenn auch an­ders als ich es ge­plant hat­te.

Doch was soll­te ich in die­sem Klos­ter, wel­chen Auf­trag hat­te der Abt be­kom­men? Ich be­kam zwar eine vage Vor­stel­lung von dem, was ich dort ler­nen soll­te, doch wo­für das gut sein soll­te ver­stand ich nicht. Für den Mo­ment muss­te ich erst ein­mal be­grei­fen und ak­zep­tie­ren, dass mein Le­ben nun ganz an­ders ver­lau­fen wür­de, dass es nichts mehr mit dem zu tun ha­ben wür­de, was ich bis­her kann­te. Ich öff­ne­te die Au­gen und sah den Abt und sei­nen Be­glei­ter ver­un­si­chert an. Doch die­se lä­chel­ten nur und nick­ten mir freund­lich zu.

Warum auch nicht? dach­te ich. Viel­leicht fin­de ich ja mein in­ne­res Gleich­ge­wicht wie­der. Zu­rück kann ich an­schei­nend nicht und au­ßer­dem hat­te ich so­wie­so schon mit al­lem ab­ge­schlos­sen. So zu sein, die­se in­ne­re Kraft zu ha­ben wie sie der Abt aus­strahl­te, er­schi­en mir in die­sem Mo­ment er­stre­bens­wert und da ich kei­ne Al­ter­na­ti­ve sah, fand ich mich mit dem Ge­dan­ken, mit ih­nen zu ge­hen, ab.

Ich sah dem Abt in die Au­gen und da er mei­nen Ent­schluss schon ge­spürt hat­te, drück­te er freund­lich mei­ne Hand. In die­sem Au­gen­blick knurr­te mein Ma­gen recht laut. Mei­ne neu ge­won­ne­nen Freun­de schmun­zel­ten und ver­stän­dig­ten sich mit ei­nem kur­zen Blick. Dann stan­den sie auf, der Abt zeig­te auf die Ort­schaft, die ich hat­te er­rei­chen wol­len und deu­te­te mit Ges­ten das Es­sen an. Dank­bar nick­te ich ih­nen zu. Ich woll­te mich schon zum Ge­hen wen­den, als mir ein­fiel, dass das Geld, das ich in der Brief­ta­sche hat­te, hier si­cher­lich nicht zäh­len wür­de. Ih­nen das zu er­klä­ren, ge­stal­te­te sich nicht so ein­fach für mich, doch schließ­lich husch­te ein ver­ste­hen­des Lä­cheln über das Ge­sicht des Ab­tes. Er leg­te mir die Hand auf die Schul­ter, drück­te mich in Rich­tung des Or­tes und gab mir zu ver­ste­hen, dass ich mir dar­um kei­ne Ge­dan­ken zu ma­chen brauch­te.

Wäh­rend wir auf die ers­ten Häu­ser des grö­ße­ren Dor­fes zu­lie­fen, ver­such­te ich zu er­grün­den warum sie mir, ei­nem ih­nen völ­lig Un­be­kann­ten, ei­nem der nicht ihre Spra­che sprach, der nicht ein­mal ih­rer Ras­se an­ge­hör­te, schein­bar so selbst­los hal­fen. Für einen, der aus ei­ner Ge­sell­schaft kam, die von dem Stre­ben nach per­sön­li­chem Be­sitz, Ein­fluss, Macht und Reich­tum ge­prägt ist, war dies schwer zu ver­ste­hen. Dann war da auch noch die­se Ruhe, die­se in­ne­re Kraft, die­se Ener­gie die be­son­ders der Abt aus­strahl­te. Das konn­te nur von je­man­dem aus­ge­hen, den kei­ne Zwei­fel und Ängs­te plag­ten, von ei­nem, der mit sei­nem Le­ben zu­frie­den war.

Bald hat­ten wir die ers­ten Häu­ser er­reicht. Der Abt schi­en hier be­kannt und be­liebt zu sein, denn je­der, der ihn sah, grüß­te ihn freund­lich und wenn der eine oder an­de­re noch ei­ni­ge Wor­te mit ihm wech­seln konn­te, schi­en es das höchs­te Glück für den­je­ni­gen zu sein. Auch er hat­te für je­den ein freund­li­ches Lä­cheln und Kopf­nei­gen üb­rig und so war es nicht ver­wun­der­lich, dass wir, bes­ser ge­sagt er, in dem klei­nen Lo­kal, das wir be­tra­ten, mit ehr­fürch­ti­gem Re­spekt zu ei­nem frei­en Tisch ge­führt wur­den.

Der Be­griff Lo­kal war viel­leicht zu hoch­an­ge­setzt. Da, wo ich her­ge­kom­men war, hät­te kei­ner die­se Ka­schem­me be­tre­ten. Im Ge­gen­teil, die­se Bude wäre schon am ers­ten Tag aus den un­ter­schied­lichs­ten Grün­den, wie­der ge­schlos­sen wor­den. Doch hier stör­te sich kei­ner an die­sen Zu­stän­den.

Als wir Platz ge­nom­men hat­ten, wisch­te der Wirt oder Be­diens­te­te mit ei­nem nicht mehr ganz sau­be­ren Tuch die Es­sens­res­te un­se­rer Vor­gän­ger vom Tisch auf den Fuß­bo­den. Der Abt sprach kurz mit die­sem Mann, wor­auf­hin die­ser durch einen of­fe­nen Durch­gang in den In­nen­hof des Ge­bäu­des ging. Dort war un­ter ei­ner Über­da­chung eine of­fe­ne Feu­er­stel­le, die of­fen­bar die Kü­che dar­stell­te. Der Koch spül­te ge­ra­de eine Pfan­ne über ei­nem of­fe­nen Gra­ben ne­ben der Über­da­chung aus. Wo­hin die­ser Gra­ben führ­te, konn­te ich nicht se­hen, doch an­schei­nend gab es einen Durch­gang zwi­schen den Ge­bäu­den, über den man die­sen Be­reich auch be­tre­ten konn­te. Nach den Ge­räuschen zu ur­tei­len, gab es in ei­nem der Sei­ten­ge­bäu­de auch Stal­lun­gen, in de­nen Pfer­de un­ter­ge­bracht wa­ren. Doch viel­mehr in­ter­es­sier­te mich, was der Koch nun tat. Mit der so­eben aus­ge­spül­ten Pfan­ne in der Hand ging er zur Feu­er­stel­le und be­gann mit der Zu­be­rei­tung ei­ner Mahl­zeit. Wenn man sah, wie er mit sei­nen schmut­zi­gen Hän­den von ei­nem Be­hält­nis ins an­de­re griff, sich zwi­schen­durch höchs­tens mal die Hän­de an sei­ner Klei­dung ab­wisch­te, nur um gleich dar­auf die Kat­ze, die um sei­ne Bei­ne strich, mit der Hand weg­zu­schie­ben, dann konn­te ei­nem schon der Ap­pe­tit ver­ge­hen. Doch es schi­en kei­nen der an­de­ren Gäs­te zu stö­ren, im Ge­gen­teil sie ver­speis­ten ihre Mahl­zeit mit großem Ap­pe­tit und war­fen da­bei ver­stoh­le­ne Bli­cke in un­se­re Rich­tung.

Ich wur­de in mei­nen Be­trach­tun­gen un­ter­bro­chen, als der Wirt – mitt­ler­wei­le war ich mir si­cher, dass es der Wirt war – mit drei großen Scha­len Tee an un­se­ren Tisch kam. Sich im­mer wie­der ver­nei­gend, stell­te er die Scha­len vor uns auf den Tisch. Als er bei mir an­ge­kom­men war, nick­te ich ihm dank­bar zu. Er sprach mich an, doch ich konn­te ihn ja lei­der nicht ver­ste­hen, zuck­te be­dau­ernd mit den Schul­tern und sah hil­fe­su­chend zu mei­nen bei­den Be­glei­tern. Der Abt sprach kurz mit dem Wirt, die­ser nick­te ver­ste­hend und ver­ließ uns wie­der.

Nur kur­ze Zeit spä­ter kam er wie­der an un­se­ren Tisch. Dies­mal mit meh­re­ren Scha­len, die eine di­cke, süß­lich rie­chen­de Soße, Reis und ver­schie­de­ne Ge­mü­se­sor­ten ent­hiel­ten. Auch Ess­stäb­chen leg­te er mit dazu, schau­te mich auf­mun­ternd an und blieb ne­ben mir ste­hen. An­schei­nend er­war­te­te er, dass ich gleich mit dem Es­sen be­gin­nen wür­de, doch ich be­deu­te­te ihm, dass ich war­ten woll­te, bis die Mön­che ihr Es­sen hat­ten. Der Abt gab mir je­doch zu ver­ste­hen, dass sie nichts es­sen wür­den.

Da mich alle be­ob­ach­te­ten – selbst der Koch schau­te von drau­ßen he­r­ein – und ich auch kei­nen be­lei­di­gen woll­te, über­wand ich die Ab­scheu, die mir an­ge­sichts der Zu­be­rei­tung des Es­sens ge­kom­men war, und griff nach der Scha­le mit dem Reis. Nun hat­te ich aber noch nie mit Stäb­chen ge­ges­sen und als ich ver­zwei­felt ver­such­te, die­se in ei­ner Hand zum Es­sen zu nut­zen, konn­te sich der jün­ge­re Mönch ein La­chen nicht ver­knei­fen. Mit ei­nem stra­fen­den Blick sah ihn der Abt an und rich­te­te ei­ni­ge Wor­te an den Wirt, wor­auf­hin die­ser ging und gleich dar­auf mit ei­ner klei­nen Scha­le Reis und ei­nem Paar Stäb­chen zu­rück­kehr­te. Dann zeig­te mir der Abt wie ich die Ess­stäb­chen hal­ten soll­te und führ­te mir vor, wie man da­mit aß. Krampf­haft ver­such­te ich es ihm gleich­zu­tun, doch im­mer wie­der be­ka­men die Stäb­chen in mei­ner Hand ein Ei­gen­le­ben. Frus­triert setz­te ich die Scha­le ab, doch der Abt lä­chel­te mir nur auf­mun­ternd zu, griff nach mei­ner Hand, kor­ri­gier­te die Hal­tung mei­ner Fin­ger und mach­te es mir noch ein­mal vor. Nach ei­ni­gen Ver­su­chen ge­lang es mir schließ­lich, ei­ni­ge Reis­kör­ner in mei­nen Mund zu be­för­dern.

Wenn sich das so fort­set­zen wür­de, dann wäre ich noch Stun­den da­mit be­schäf­tigt, die Scha­len zu lee­ren. Aber et­was Gu­tes hät­te es den­noch, ich brauch­te das un­hy­gie­ni­sche Es­sen nicht in mich hi­n­ein­zu­wür­gen.

Aber viel­leicht war das ja auch der Stan­dard in die­ser Welt und bes­ser Zu­be­rei­te­tes be­käme ich nie wie­der vor­ge­setzt. Wie recht ich mit die­sem Ge­dan­ken ha­ben soll­te, wur­de mir bald be­wusst.

Wie­der ein Ver­such, bei dem ich drei oder vier Reis­kör­ner schlu­cken konn­te und am liebs­ten hät­te ich die Ess­stäb­chen in die Ecke ge­schmis­sen. Ein Blick zum Abt hin­der­te mich aber dar­an. Wäh­rend die an­de­ren mehr oder we­ni­gen of­fen lach­ten, be­dach­te er mich mit ei­nem auf­mun­tern­den Blick. Dann zeig­te er mir noch ein­mal wie es ge­macht wird, hielt da­bei aber die Scha­le mit dem Reis di­rekt an sei­ne Lip­pen und schob ihn in sei­nen Mund hi­n­ein. Als er mir so de­mons­triert hat­te, wie ich mein Stäb­chen­pro­blem erst ein­mal um­ge­hen konn­te, zog er die an­de­ren Scha­len zu sich he­r­an und zeig­te mir, wie ich am bes­ten das Ge­mü­se und die Soße zu mir neh­men konn­te. Ich tat es ihm nach und auf die­se Wei­se ge­lang es mir, die Mahl­zeit doch noch in mei­nen Ma­gen zu be­för­dern.

Aus den Au­gen­win­keln konn­te ich be­ob­ach­ten, dass sich der Koch – of­fen­bar zu­frie­den da­mit, dass ich sein ‚Menü‘ ver­tilg­te – wie­der sei­ner Ar­beit zu­wand­te. Den Weg zur Koch­stel­le leg­te er nun schnel­ler zu­rück, da sich in der Zwi­schen­zeit die Kat­ze an ei­nem der Töp­fe güt­lich ge­tan hat­te. Un­ter ei­nem ener­gi­schen Re­de­schwall scheuch­te er sie da­von und mach­te sich dar­an, die Mahl­zeit in dem Topf wei­ter zu­zu­be­rei­ten. Als ich das sah, blieb mir der Bis­sen bei­nah im Hals ste­cken. Hus­tend und prus­tend schnapp­te ich nach Luft. Alle dach­ten, ich hät­te mich beim Es­sen ver­schluckt und ich war wie­der einen La­cher wert.

Der Wirt hat­te sich auch wie­der von un­se­rem Tisch ent­fernt und den an­de­ren Gäs­ten zu­ge­wandt. Doch ich hat­te den Ein­druck, dass es bei den Ge­sprä­chen an den an­de­ren Ti­schen, bei de­nen des Öf­te­ren ge­lacht wur­de, haupt­säch­lich um mich und mei­ne Ess­küns­te ging. Ich war froh, als ich nach ei­nem län­ge­ren Kampf die Scha­len ge­leert hat­te und nahm mir vor, dass ich, be­vor ich nicht rich­tig mit den Ess­stäb­chen um­ge­hen konn­te, nie wie­der in der Öf­fent­lich­keit da­mit es­sen wür­de.

Das Es­sen hat­te an­ders ge­schmeckt, als ich es aus dem Chi­na­lo­kal mei­ner Hei­mat­stadt ge­wohnt war. Dort hat­te ich im­mer ger­ne ge­ges­sen und ich war mir auch si­cher ge­we­sen, dass al­les frisch und sau­ber war, doch hier hat­te ich im Nach­hi­n­ein einen fa­den Ge­schmack im Mund.

Das Ge­mü­se schi­en nicht sehr frisch ge­we­sen zu sein und hat­te einen selt­sa­men Bei­ge­schmack ge­habt. Die mit mir un­be­kann­ten Kräu­tern ge­würz­te Soße hat­te das zwar zum Teil über­deckt, doch jetzt, nach­dem ich mit dem Es­sen fer­tig war, hat­te ich einen selt­sam pel­zi­gen Ge­schmack im Mund. Ich griff zur Tee­scha­le und ver­such­te mit dem Tee die­sen Ge­schmack los­zu­wer­den, doch Tee zu ei­nem sol­chen Es­sen war für mich ge­nau­so un­ge­wohnt und so­mit half es nicht wirk­lich, die Si­tua­ti­on zu ver­bes­sern. Es kos­te­te mich ei­ni­ge Mühe, vor den an­de­ren zu ver­ber­gen, dass mir das Es­sen nicht be­son­ders ge­schmeckt hat­te und ich war des­halb recht froh, als der Abt sich er­hob, nach­dem ich mei­nen Tee aus­ge­trun­ken hat­te.

Er wink­te den Wirt he­r­an und zog einen Le­der­beu­tel un­ter sei­nem Ge­wand her­vor, um zu be­zah­len, doch der Wirt wehr­te ener­gisch ab. An­schei­nend war es für ihn eine große Ehre ge­we­sen, den Abt als Gast zu ha­ben. Mit ei­nem Lä­cheln leg­te der Abt dem Wirt die Hand auf die Schul­ter und ver­neig­te sich leicht vor ihm. Das schi­en die­sem ge­nau­so viel wert zu sein wie eine gute Be­zah­lung, denn er be­dach­te den Abt mit ei­nem nicht en­den wol­len­den Re­de­schwall und die Sei­ten­bli­cke, die er den an­de­ren Gäs­ten zu­warf, schie­nen zu sa­gen: ›Seht, welch eine Ehre mir zu­teil­wur­de!‹

Nach­dem wir das Lo­kal ver­las­sen hat­ten, wan­der­ten wir schwei­gend den Weg zu­rück, auf dem wir den Ort er­reicht hat­ten. Ich hat­te wie­der Mühe, dem schnel­len, weit­aus­grei­fen­den Schritt der bei­den Män­ner zu fol­gen und be­gann nach ei­ni­ger Zeit zu schnau­fen und zu schwit­zen. Die bei­den ver­lang­sam­ten ih­ren Schritt ein we­nig, nicht so sehr, dass es ein be­que­mes Wan­dern wur­de, aber um so viel, dass ich ih­nen ge­ra­de noch fol­gen konn­te.

Wir hat­ten den Berg­kamm schon über­schrit­ten und konn­ten das Sei­ten­tal, in dem das Klos­ter lag, se­hen, als sich mein Bauch ener­gisch zu Wort mel­de­te. Das un­ge­wohn­te Es­sen zeig­te eine durch­schla­gen­de Wir­kung und ich muss­te mich schnell in die Bü­sche schla­gen. Auf dem rest­li­chen Weg wie­der­hol­te sich das noch zwei­mal und ich war heil­froh, als wir das Klos­ter er­reich­ten. Dort trenn­te sich der Abt von uns und der jün­ge­re Mönch führ­te mich in den Raum, der mir am Mor­gen schon ein­mal zu­ge­wie­sen wor­den war.

Auf dem Weg dort­hin hat­te ich den Ein­druck, dass es im Klos­ter ru­hi­ger ge­wor­den war. Ir­gend­wie fehl­ten die Men­schen. Bei mei­nem ers­ten Be­such hier hat­te ich viel mehr Mön­che ge­se­hen. Von de­nen, die am Mor­gen auf dem großen Hof die­se Übun­gen durch­ge­führt hat­ten, sah ich an die­sem und auch an den nächs­ten Ta­gen kei­nen ein­zi­gen mehr.

In der Zel­le, die mir zu­ge­wie­sen wor­den war, lag die Klei­dung im­mer noch dort, wo ich sie hin­ge­legt hat­te. Ich nahm sie von der Lie­ge und leg­te sie auf einen Hocker, der ne­ben der Prit­sche stand, dann ließ ich mich, mir den Bauch hal­tend, nie­der. Über das Ge­sicht des jun­gen Mön­ches, der noch in der of­fe­nen Tür ge­stan­den hat­te, husch­te ein Aus­druck, als wäre ihm et­was ein­ge­fal­len und er ver­ließ mit schnel­len Schrit­ten den Raum. Nur we­nig spä­ter kehr­te er mit ei­ner damp­fen­den Scha­le zu­rück. Er hielt sie mir hin und for­der­te mich mit Ges­ten zum Trin­ken auf. Ich nahm die Scha­le und der aro­ma­ti­sche Ge­ruch von heißem Tee stieg mir in die Nase. Vor­sich­tig be­gann ich zu trin­ken. Der Tee schmeck­te un­ge­wohnt, denn da er nicht ge­süßt war, kam der Ge­schmack der Kräu­ter so rich­tig zur Gel­tung. Doch ich spür­te schon nach we­ni­gen Schlu­cken, wie sich mein Bauch be­ru­hig­te. Ich ent­spann­te mich und mit ei­nem zu­frie­de­nen Ge­sicht ver­ließ mich der Mönch. Er­schöpft von dem lan­gen Fuß­weg schlief ich dann ein.

Als ich wie­der er­wach­te, war es sehr still um mich he­r­um. Nur das Zwit­schern ei­nes Vo­gels und das Zir­pen der Gril­len, das durch die Fens­ter­öff­nung mei­ner Zel­le he­r­ein­drang, mach­ten deut­lich, dass es noch an­de­res Le­ben gab. Ich stand auf und ver­ließ das Ge­bäu­de.

Auf dem großen Platz trai­nier­ten nun ei­ni­ge jun­ge Mön­che. Für mich sa­hen die­se Übun­gen aus wie Kung Fu, denn man­gels Er­fah­run­gen fass­te ich alle asia­ti­schen Kampf­sport­ar­ten un­ter die­sem Be­griff zu­sam­men. Die fei­nen Un­ter­schie­de kann­te ich noch nicht und in die­sem Mo­ment war mir auch nicht be­wusst, dass es die­sen Be­griff an die­sem Ort, zu die­ser Zeit nicht gab.

Fas­zi­niert schau­te ich zu und be­wun­der­te die Be­weg­lich­keit und Schnel­lig­keit die­ser Män­ner. Nach ei­ni­ger Zeit lös­te sich mein jun­ger Füh­rer aus der Grup­pe der Üben­den und kam zu mir. Er be­deu­te­te mir, dass ich mit­ma­chen soll­te. Ich wehr­te ab und ver­such­te, ihm ver­ständ­lich zu ma­chen, dass ich nichts der­glei­chen be­herrsch­te. Aber er wie­der­hol­te die­se Auf­for­de­rung im­mer wie­der und schließ­lich be­griff ich, dass ich es von ih­nen ler­nen soll­te. Doch be­vor wir uns die­ser He­r­aus­for­de­rung zu­wand­ten, gab es noch eine an­de­re Hür­de zu über­win­den. Da ich ihre und sie mei­ne Spra­che nicht ver­stan­den, war die Ver­stän­di­gung sehr schwie­rig und der jun­ge Mönch wur­de ei­ner mei­ner ge­dul­digs­ten Sprach­leh­rer. Wir muss­ten oft la­chen, wenn ich ver­such­te ihm nach­zu­spre­chen, et­was falsch be­ton­te, oder ein Wort im falschen Zu­sam­men­hang ver­wen­de­te.

Doch be­gon­nen hat­te das Gan­ze mit der ge­gen­sei­ti­gen Vor­stel­lung. Er deu­te­te auf sich und nann­te sei­nen Na­men:

›Wang Lee!‹

Mit Ges­ten for­der­te er mich auf ihm nach­zu­spre­chen. Ich ver­such­te es, doch da­bei kam et­was ganz an­de­res he­r­aus. Die­ser Name klang in der wei­chen, sin­gen­den chi­ne­si­schen Aus­spra­che ganz an­ders und mei­ne an das har­te Deutsch ge­wohn­te Stim­me hat­te Pro­ble­me, das rich­tig wie­der­zu­ge­ben. Wang Lee konn­te ein Schmun­zeln nicht un­ter­drücken und ließ es mich mehr­fach wie­der­ho­len, bis es ei­ni­ger­ma­ßen nach ‚Wang Lee‘ klang. Er war da­bei sehr fröh­lich und mo­ti­viert, was sich wie­der­um auf mich über­trug. Nach­dem ich es ei­ni­ger­ma­ßen hin­be­kom­men hat­te, deu­te­te er auf mich und sei­nen Ges­ten ent­nahm ich, dass er nun mei­nen Na­men wis­sen woll­te. Ich nann­te ihm mei­nen vol­len Na­men und der Ge­sichts­aus­druck, den ich ern­te­te, war köst­lich.

Als er ver­such­te es nach­zu­spre­chen, hat­te ich ge­nau­so viel Grund zum Schmun­zeln, wie er vor­her bei mir. Nach ei­ner Wei­le – sei­ne Fort­schrit­te wa­ren schon recht be­acht­lich – er­schi­en ihm ‚Gün­ter Kauf­mann‘ zum An­spre­chen oder Ru­fen doch viel zu lang und mit ei­ner re­si­gnie­ren­den Ges­te deu­te­te er auf mich und sag­te:

›Gü Man!‹

Ich lach­te kurz auf und nick­te zu­stim­mend. Es war mein ers­tes un­be­fan­ge­nes La­chen seit dem Tod mei­ner Fa­mi­lie und es war rich­tig be­frei­end. Wang Lee freu­te sich an­schei­nend sehr, dass ich mit sei­ner Na­mens­ge­bung ein­ver­stan­den war, und so be­gann mein Sprach­un­ter­richt in Chi­ne­sisch, der bei je­der sich bie­ten­den Ge­le­gen­heit fort­ge­setzt wur­de. Er fand im­mer einen Weg, um einen Be­griff oder eine Be­zeich­nung zu um­schrei­ben und den­noch soll­te eine lan­ge Zeit ver­ge­hen, be­vor ich ei­ni­ger­ma­ßen ver­stand, was ge­spro­chen wur­de.

Nach­dem wir uns nun vor­ge­stellt hat­ten, ver­such­te er he­r­aus­zu­fin­den was ich für Vor­aus­set­zun­gen mit­brach­te, um an ih­rem Trai­ning teil­neh­men zu kön­nen. Bald be­griff er, dass ich kei­ner­lei Grund­kennt­nis­se hat­te. Doch er war kei­ner, der sich gleich ent­mu­ti­gen ließ. Mit ver­schie­de­nen Übun­gen, die er mir vor­mach­te und die ich dann un­ter sei­ner Be­ob­ach­tung nach­ahm­te, be­gann er aus­zu­lo­ten, was bei mir mög­lich war und wo er an­set­zen konn­te. Als er sich für einen Au­gen­blick un­be­ob­ach­tet glaub­te sah ich, wie er ei­nem der an­de­ren an­we­sen­den Mön­che einen Blick zu­warf, der so viel be­deu­te­te wie ‚Puuh, das wird ein har­tes Stück Ar­beit!‘

Es däm­mer­te be­reits, als ein Gong er­tön­te. Die Mön­che be­en­de­ten ihr Trai­ning und streb­ten dem Tem­pel­be­reich zu. Kei­ner sprach, al­les lief ru­hig und ent­spannt ab. Nur Wang Lee for­der­te mich mit ei­nem Wink dazu auf ih­nen zu fol­gen.

Als der Abt mit ei­nem mo­no­to­nen Sprech­ge­sang be­gann, war der Haupt­tem­pel nicht ein­mal zu ei­nem Drit­tel ge­füllt und doch schie­nen alle, die sich zu die­sem Zeit­punkt im Klos­ter­be­reich auf­hiel­ten, an­we­send zu sein. Ich hat­te mich in der Nähe des Ein­gangs nie­der­ge­las­sen und kei­ner schi­en wei­ter No­tiz von mir zu neh­men. Da ich nicht wuss­te, was ich nun tun soll­te, mit ih­ren Ge­be­ten und Ze­re­mo­ni­en aber auch nichts an­fan­gen konn­te, schloss ich die Au­gen und kam in­ner­lich lang­sam zur Ruhe. Ich dach­te über mein bis­he­ri­ges Le­ben nach, über die letz­ten Er­eig­nis­se, über den Sinn des Gan­zen und ver­such­te mir vor­zu­stel­len wie es nun wei­ter­ge­hen soll­te.

Nach ei­ni­ger Zeit, an­ge­regt durch mein Um­feld, be­gann ich über den Glau­ben nach­zu­den­ken. Es hat­te eine Zeit ge­ge­ben, als mein Glau­be an Gott und die christ­li­che Kir­che zwar nicht fel­sen­fest, aber be­stim­mend in mei­nem Le­ben ge­we­sen war. Doch ir­gend­wann hat­te ich im All­tagsstress den Glau­ben ver­nach­läs­sigt, hat­te nur noch ne­ben­bei dar­an ge­dacht und mir nie die Zeit ge­nom­men die in­ne­re Ruhe zu fin­den, die nö­tig ist, um mit Gott zu spre­chen. Jetzt fand ich das ers­te Mal seit lan­ger Zeit wie­der die Ruhe, um dar­über nach­zu­den­ken. Mir wur­de be­wusst, dass ich mich im Großen und Gan­zen nach den Ge­bo­ten ge­rich­tet und ge­lebt hat­te, wie es von ei­nem Chris­ten er­war­tet wur­de, doch die Ver­bin­dung zu Gott war ver­lo­ren ge­gan­gen.

Hat­te Gott mit den letz­ten Er­eig­nis­sen zu tun? Wie war ich hier­her­ge­kom­men? Warum war ich hier? Wenn Gott et­was da­mit zu tun hat­te, warum war ich dann an ei­nem Ort, wo ein ganz an­de­rer Glau­be vor­herrsch­te? Ist der Gott, an den ich glau­be, auch der wah­re Gott? Gibt es über­haupt einen Gott?

Fra­gen über Fra­gen und ich fand kei­ne Ant­wor­ten. Das in­ne­re Gleich­ge­wicht, das ich ge­ra­de ge­fun­den hat­te, be­gann wie­der zu schwin­den. Ich wur­de im­mer ner­vö­ser und woll­te mich schon er­he­ben, um den Tem­pel zu ver­las­sen, als ich fühl­te, dass mich je­mand be­ob­ach­te­te. Ich öff­ne­te die Au­gen und sah nach vorn zu dem leicht er­höh­ten Teil, auf dem die Bud­dha­fi­gur stand, und ich sah di­rekt in die Au­gen des Ab­tes. Die­ser Blick hat­te et­was, das ich nicht be­schrei­ben konn­te und ich spür­te, wie sich die Ruhe des Ab­tes auf mich über­trug. Lang­sam glät­te­ten sich die Wo­gen mei­ner auf­ge­wühl­ten Ge­dan­ken und Ge­füh­le und mir wur­de be­wusst, dass es ei­gent­lich egal war warum, wie oder durch wen ich hier­her­ge­kom­men war. Es zähl­te nur, dass ich jetzt hier war und das Bes­te dar­aus mach­te. Als ich die­se Er­kennt­nis ge­won­nen hat­te, sah ich hoch und wie­der in die Au­gen des Ab­tes. Da­bei dach­te ich: Dan­ke, du hast mir sehr ge­hol­fen!

Im sel­ben Mo­ment er­schi­en ein Lä­cheln auf dem Ge­sicht des Ab­tes und ich glaub­te, ein leich­tes Kopf­nei­gen zu be­mer­ken. Wäh­rend der rest­li­chen An­dacht der Mön­che dach­te ich über mein bis­he­ri­ges Le­ben nach und kam da­bei zu dem Er­geb­nis, dass die­ses ei­gent­lich sehr ober­fläch­lich ge­we­sen war. Das stän­di­ge Stre­ben nach Be­sitz, Si­cher­heit und An­er­ken­nung hat­te mich vie­les nicht mehr er­ken­nen und ver­ste­hen las­sen. In die­sem Mo­ment wur­de mir be­wusst, dass ich von den Men­schen an mei­ner Sei­te und um mich he­r­um nur noch die Ober­flä­che wahr­ge­nom­men und in der Hast mei­nes Le­bens ihre Ge­dan­ken und Ge­füh­le über­se­hen hat­te.

Die ers­te Nacht in mei­ner neu­en Un­ter­kunft schlief ich sehr un­ru­hig. Das lau­te Zir­pen der Gril­len, die vor der Licht­öff­nung mei­ner Mönchs­zel­le ihr Nacht­kon­zert ga­ben, trug si­cher­lich ge­nau­so dazu bei wie die feh­len­de Mög­lich­keit, sich rich­tig zu rei­ni­gen und der pel­zi­ge Be­lag, den ich auf mei­nen Zäh­nen spür­te, war mir mehr als nur un­an­ge­nehm. Als das schwa­che Licht des be­gin­nen­den Ta­ges in den Raum fiel, misch­te sich das un­deut­li­che Ge­räusch der auf­ste­hen­den Mön­che mit mei­nen wil­den Träu­men. Müde und un­aus­ge­schla­fen ver­such­te ich noch bei­des zu tren­nen, als auch schon mein jun­ger Freund Wang Lee in der Tür stand. Er be­deu­te­te mir, dass ich ihm fol­gen soll­te. So schnell ich in mei­nem schlaf­trun­ke­nen Zu­stand konn­te, zog ich mich an und folg­te ihm dann in Rich­tung Haupt­tem­pel.

Auf dem Platz vor dem Tem­pel wur­de ich nun wie­der mit et­was kon­fron­tiert, das ich schon aus dem Fern­se­hen oder an­de­ren mo­der­nen Me­di­en kann­te und den­noch nicht ein­deu­tig zu­ord­nen konn­te. Der Abt und ei­ni­ge an­de­re äl­te­re Mön­che führ­ten dort Übun­gen aus, die mich sehr an Tai Chi er­in­ner­ten und den­noch an­ders wirk­ten, als ich sie in Er­in­ne­rung hat­te. Die gleich­mä­ßi­gen und syn­chron aus­ge­führ­ten Be­we­gun­gen sa­hen wun­der­voll kraft­voll, ele­gant und be­ru­hi­gend aus. Mir fiel auf, dass ei­ni­ge die­ser Mön­che schon recht alt zu sein schie­nen und den­noch wirk­ten ihre Be­we­gun­gen jung und ele­gant.

Ich hat­te ei­ni­ge die­ser Män­ner am Vor­tag in ih­rer ze­re­mo­ni­el­len Mönch­stracht ge­se­hen, doch nun hat­ten sie auch die­se lo­cker sit­zen­de, leich­te, graublaue Klei­dung an­ge­legt, die auch alle an­de­ren Be­woh­ner die­ses Klos­ters zu tra­gen schie­nen. Aber ob­wohl sie sich äu­ßer­lich nun nicht mehr von den an­de­ren un­ter­schie­den, strahl­te die­se Grup­pe et­was aus, das man mehr fühl­te, als man es sah. Eine Aura der Ruhe und Kraft um­gab sie und je­des Ge­sicht spie­gel­te in­ne­ren Frie­den wie­der. Be­son­ders der Abt zog mei­nen Blick ma­gisch an. Die Leich­tig­keit, mit der er die­se schwung­vol­len Be­we­gun­gen aus­führ­te, schi­en im kras­sen Ge­gen­satz zu sei­nem Al­ter zu ste­hen. Eine un­bän­di­ge Kraft ging von ihm aus und man kam nicht um­hin, die­sem Mann Re­spekt zu zol­len.

Als wir die Grup­pe die­ser Män­ner er­reicht hat­ten, un­ter­brach der Abt sei­ne Übun­gen und ging mit uns ei­ni­ge Schrit­te zur Sei­te. Er be­deu­te­te den an­de­ren fort­zu­fah­ren, und nach­dem er ei­ni­ge Wor­te mit mei­nem jun­gen Be­glei­ter ge­spro­chen hat­te, gab er mir mit Wor­ten und Zei­chen zu ver­ste­hen, dass ich das, was er mir vor­führ­te nach­ah­men soll­te. Ich ver­such­te es, doch bei mir sah das bei Wei­tem nicht so leicht und ele­gant aus. Mei­ne Be­we­gun­gen wa­ren un­gleich­mä­ßig und eckig, sie kos­te­ten mich zu viel Kraft und Schweiß, denn ich ver­stand mei­nen Kör­per noch nicht und konn­te mei­nen Geist nicht frei­ma­chen.

Auch mei­ne At­mung war den Be­we­gun­gen nicht an­ge­passt und so kam es, dass ich mich mehr an­streng­te als nö­tig war, und durch die­se un­ge­wohn­te Be­tä­ti­gung mei­ne Kraft schnell nachließ. Nach­dem Wang Lee be­merk­te, dass ich nicht von al­lein mei­ne Feh­ler er­kann­te und kor­ri­gier­te, un­ter­brach er, er­mun­tert durch ein Kopf­ni­cken des Ab­tes, sei­ne Übun­gen und ver­such­te mir be­greif­lich zu ma­chen, was ich falsch mach­te. Er führ­te, auf dem lin­ken Bein ste­hend, mit den Ar­men und dem rech­ten Bein, eine Be­we­gung zum Kör­per hin aus und at­me­te da­bei ein. An­schlie­ßend ver­harr­te er einen Au­gen­blick in der er­reich­ten Po­si­ti­on und at­me­te dann bei der Be­we­gung vom Kör­per weg wie­der aus. Er führ­te mir noch ei­ni­ge die­ser Be­we­gungs­ab­läu­fe vor und nahm da­bei sei­nen Sprach­un­ter­richt wie­der auf. Es ge­lang ihm, bei­des gut zu kom­bi­nie­ren und er brach­te mir in die­sem Zu­sam­men­spiel mit sicht­li­cher Freu­de Wor­te wie ein­at­men, aus­at­men, Arm, Faust, Bein und Fuß bei.

Auf dem Ge­sicht des Ab­tes er­schi­en ein herz­li­ches Lä­cheln und nach­dem er Wang Lee kurz in die Au­gen ge­schaut hat­te, wur­den des­sen Wan­gen rot vor Ver­le­gen­heit. An­schei­nend war dies ein großes Lob für den jun­gen Mönch und ich woll­te dem Abt zei­gen, dass er ein gu­ter Leh­rer war und gab mir be­son­ders viel Mühe, ru­hig und gleich­mä­ßig im Ein­klang mit mei­nen Be­we­gun­gen zu at­men.

Nach ei­ni­ger Zeit, mei­ne Arme und Bei­ne wur­den lang­sam schwer von der un­ge­wohn­ten Be­tä­ti­gung, er­tön­te ein Gong. Der Abt brach sei­ne Übun­gen ab, nick­te mir und Wang Lee zu, und ging, ge­folgt von den an­de­ren Mön­chen, in den Tem­pel. Wang Lee for­der­te mich auf ih­nen zu fol­gen, doch ich gab ihm zu ver­ste­hen, dass ich mich nicht wohl fühl­te, so ver­schwitzt und un­ge­wa­schen wie ich war, und dass ich mich erst ein­mal rei­ni­gen woll­te. Für einen kur­zen Au­gen­blick glaub­te ich Ent­täu­schung und Un­ver­ständ­nis in sei­nen Au­gen zu se­hen, doch freund­lich und ge­dul­dig be­schrieb er mir mit Ges­ten, dass au­ßer­halb des Klos­ters ein Was­ser­lauf vom Ge­bir­ge her­ab­kam, den ich zum Wa­schen nut­zen konn­te und so war ich mir am Ende nicht mehr si­cher, ob ich mich nicht ge­täuscht hat­te.

Nach­dem Wang Lee den an­de­ren schnell in den Tem­pel ge­folgt war, ging ich in Rich­tung Klos­ter­ein­gang. Gleich au­ßer­halb der Mau­ern fiel mir ein Tram­pel­pfad auf, der in der Rich­tung ver­lief, die mir mein neu­er Freund an­ge­deu­tet hat­te. Nach­dem ich die­sem eine Wei­le ge­folgt war, hör­te ich das Plät­schern des Was­sers, das sich sei­nen Weg durch den Fels bahn­te. Der Pfad en­de­te am obe­ren Teil ei­nes Was­ser­be­ckens, das un­ge­fähr zehn Me­ter breit und fünf­zehn Me­ter lang war. Ein klei­ner Steg führ­te dort ins Was­ser und en­de­te di­rekt am Zu­fluss des Be­ckens. Der zir­ka einen Me­ter brei­te Bach stürz­te an die­ser Stel­le etwa ein­ein­halb Me­ter hin­ab ins Was­ser­be­cken. Das Was­ser war sau­ber und käl­ter, als ich es bei die­sen Um­ge­bung­stem­pe­ra­tu­ren er­war­tet hat­te. Bald soll­te ich auch er­fah­ren, dass an dem klei­nen Was­ser­fall das Trink­was­ser ge­holt und am Ran­de des Ste­ges die Wä­sche ge­wa­schen wur­de.

Ich schau­te mich kurz um, ob je­mand in der Nähe sei und zog mich dann kurz ent­schlos­sen aus, um mich zu wa­schen. Dies ge­stal­te­te sich aber schwie­ri­ger, als ich ge­dacht hat­te, da der Rand des Was­ser­be­ckens fast an al­len Stel­len steil, zwei bis drei Me­ter bis zum Grund der Be­ckens ab­fiel. Doch in der Nähe des Ab­flus­ses fand ich eine Stel­le, die wie eine Platt­form in ei­nem Me­ter Tie­fe ge­nü­gend Platz zum Ste­hen bot.

Ich stieg in das un­ge­wohnt kal­te Was­ser und so­fort zog sich mei­ne Haut zu­sam­men. Mir stock­te kurz der Atem, doch der Drang mich zu rei­ni­gen war stär­ker als der Wunsch, das Was­ser so­fort wie­der zu ver­las­sen. In Er­man­ge­lung von Sei­fe oder an­de­ren Hilfs­mit­teln wusch ich mich lan­ge und gründ­lich. Als ich aus dem Was­ser stieg, be­merk­te ich das nächs­te Pro­blem. Ich hat­te ja kein Hand­tuch, wie soll­te ich mich jetzt ab­trock­nen? Ich streif­te das Was­ser so gut es ging mit mei­nen Hän­den von der Haut und ließ den Rest durch die Son­ne trock­nen. Aber das pel­zi­ge Ge­fühl und der selt­sa­me Ge­schmack im Mund stör­ten mich im­mer noch und ich über­leg­te, wie ich das be­sei­ti­gen könn­te. Beim An­blick ei­nes Bu­sches kam mir dann ein Ge­dan­ke. Ich brach einen klei­nen saf­ti­gen Zweig ab, fran­s­te ein Ende aus und nutz­te es wie eine Zahn­bürs­te. Es war zwar lang­wie­rig, aber am Ende der Pro­ze­dur fühl­ten sich mei­ne Zäh­ne wie­der glatt und sau­ber an. Nach­dem ich mich dann an­ge­zo­gen hat­te, fühl­te ich mich sehr er­frischt und trat den Rück­weg ins Klos­ter an.

Als ich den Tem­pel­vor­hof er­reich­te be­merk­te ich, dass sich die Mön­che an­schei­nend im­mer noch im Haupt­tem­pel auf­hiel­ten und vor­sich­tig, um nicht zu stö­ren, ging ich hi­n­ein. Lang­sam und lei­se ließ ich mich in der Nähe des Ein­gangs nie­der und schau­te mich auf­merk­sam um. Im sel­ben Mo­ment wuss­te ich, dass ich nicht so un­be­merkt ge­blie­ben war, wie ich ge­dacht hat­te. Als ich nach vorn sah, blick­te ich di­rekt in die freund­li­chen Au­gen des Ab­tes, und bei ei­nem Blick zur Sei­te konn­te ich, nicht weit ent­fernt von mir, Wang Lee se­hen. Das Lä­cheln auf sei­nem Ge­sicht zeig­te mir, dass er mich eben­falls be­merkt hat­te.

Ich schloss die Au­gen und ver­such­te, mich so zu ent­span­nen, wie es mir am Vor­abend ge­lun­gen war, doch es brauch­te ei­ni­ge Zeit, bis mei­ne auf­ge­wühl­ten Ge­dan­ken wie­der zur Ruhe ka­men. Es dau­er­te nicht lan­ge und ich war wie­der bei dem Ge­dan­ken an­ge­kom­men, der mich im Mo­ment am meis­ten be­schäf­tig­te.

Warum, wes­halb und wie war ich hier­her­ge­kom­men?

Bald merk­te ich, dass mei­ne Ge­dan­ken wie­der so durch­ein­an­der wir­bel­ten wie am Vor­abend. Ich zwang mich zur in­ne­ren Ruhe, öff­ne­te die Au­gen und schau­te auf die be­ten­den Mön­che. Es war schon be­wun­derns­wert wie die­se Men­schen in sich und ih­rem Glau­ben ruh­ten. Warum konn­te das bei mir nicht so sein, warum war mein Glau­be so schwach und ober­fläch­lich?

Lang­sam ver­such­te ich, die Ver­bin­dung zu Gott wie­der auf­zu­bau­en, denn eins war für mich si­cher, es gab oder gibt den einen Gott! Wie er aus­sieht, wo er ist oder in wel­cher Form er exis­tiert, das war un­wich­tig, nur sei­ne Ge­gen­wart und die Ver­bin­dung zu ihm zähl­ten. Die­se Er­kennt­nis brach­te mich so sehr zur Ruhe, dass ich bei­na­he nicht be­merkt hät­te, dass die Ge­be­te der Mön­che ver­stummt wa­ren und sich ei­ner nach dem an­de­ren er­hob.

Als ich die Au­gen öff­ne­te und auf­stand, sah ich in das lä­cheln­de Ge­sicht des Ab­tes. Un­be­merkt von mir, war er mit Wang Lee he­r­an­ge­tre­ten. Er mus­ter­te mich, be­fühl­te mei­ne Arme und stieß leicht mit sei­nen Fin­gern in mei­nen Bauch. Ich war nicht dar­auf vor­be­rei­tet ge­we­sen und krümm­te mich nach die­ser leich­ten Be­rüh­rung. Nach­denk­lich be­trach­te­te mich der Abt einen Au­gen­blick und wech­sel­te dann ei­ni­ge Wor­te mit Wang Lee. Die­ser nick­te zu­stim­mend und for­der­te mich dann auf ihm zu fol­gen. Er führ­te mich zu dem Platz, der ne­ben den Un­ter­künf­ten lag und auf dem die Mön­che schon wie­der trai­nier­ten. Et­was ab­seits von den an­de­ren be­gan­nen wir mit ei­nem Kraft­trai­ning, das mei­ne Arme, Bauch- und Brust­mus­ku­la­tur stär­ken soll­te. Er mach­te mir ver­schie­de­nes vor, ließ es mich dann nach­ma­chen und im­mer dann, wenn ich auf­hö­ren woll­te, weil ich dach­te es gin­ge nicht mehr, muss­te ich noch so lan­ge wei­ter­ma­chen, bis es wirk­lich nicht mehr ging. Auch wies er mich im­mer wie­der dar­auf hin, dass mei­ne Atem­tech­nik nicht gut war und dass das rich­ti­ge At­men sehr wich­tig sei. Bei all die­sen Übun­gen nahm er auch noch sei­nen Chi­ne­sisch-Un­ter­richt wie­der auf, doch nur in den kur­zen Pau­sen, in de­nen er mir die nächs­te Übung vor­führ­te.

Nach ei­ni­ger Zeit, ich war völ­lig durch­ge­schwitzt und bei ei­ni­gen Be­we­gun­gen hin­der­te mich mei­ne zu enge Hose, ging er mit mir zu mei­ner Schlaf­stel­le und hielt mir die Klei­dung hin, die noch vom Vor­tag im Zim­mer lag. Als ich nicht gleich zu­griff, zeig­te er mir, dass ich so aus­ge­stat­tet viel mehr Be­we­gungs­frei­heit hät­te und auch nicht so schnell schwit­zen wür­de. Das wa­ren Vor­tei­le, die mich über­zeug­ten und ich be­gann mich um­zu­zie­hen. Beim Bin­den der Bän­der, die Schu­he und Strümp­fe hiel­ten, hat­te ich Pro­ble­me und erst durch die Hil­fe Wang Lees be­kam ich das in den Griff.

Nach die­ser kur­zen Un­ter­bre­chung setz­ten wir das Trai­ning fort und ich war fast am Ende mei­ner Kraft, als um die Mit­tags­zeit wie­der ein Gong er­tön­te. Auf dem Weg in einen Teil des Klos­ters, den ich bis­her noch nicht kann­te, be­gann mein Ma­gen ge­wal­tig zu knur­ren, denn ich hat­te seit dem Vor­tag nur Was­ser zu mir ge­nom­men und nach den An­stren­gun­gen des Vor­mit­ta­ges hat­te ich wirk­lich Hun­ger.

Wir er­reich­ten die ‚Kü­che‘, die mich sehr an die des Lo­kals er­in­ner­te, in dem wir am Vor­tag ge­ges­sen hat­ten. Sie war nur um ei­ni­ges grö­ßer, da ja auch mehr Men­schen zu ver­sor­gen wa­ren, aber an­sons­ten fast gleich aus­ge­stat­tet. Auch die Kat­zen, die sich in der Nähe auf­hiel­ten, um et­was ab­zu­stauben, fehl­ten nicht.

Es gab wie­der Reis mit ei­ner Ge­mü­se­so­ße, aber kei­ner­lei Fleisch und wie ich spä­ter er­fuhr, er­nähr­ten sich die Mön­che auf­grund ih­res Glau­bens rein ve­ge­ta­risch. Der Kampf mit den Stäb­chen, den ich am Vor­tag auf­ge­nom­men hat­te, setz­te sich an die­sem Tag fort. Doch Wang Lee half mir sehr, den Um­gang mit den Ess­stäb­chen zu er­ler­nen. Ich hat­te schon ei­ni­ges ge­ges­sen, als es in mei­nem Bauch zu ru­mo­ren be­gann. An­schei­nend ver­trug ich die­se un­ge­wohn­te Nah­rung doch noch nicht so recht. Aber der Hun­ger war groß und ich aß al­les, was ich be­kom­men konn­te.

Nach dem Es­sen be­ga­ben sich die Mön­che wie­der in den Tem­pel, um zu be­ten. Ich folg­te ih­nen, dank­bar für die Ru­he­pau­se und ver­such­te mich zu ent­span­nen. Nach ei­ner Wei­le schlug das un­ge­wohn­te Es­sen wie­der durch. Doch wo­hin soll­te ich ge­hen, ich hat­te bis jetzt noch kei­ne Toi­let­ten be­merkt. Schnell be­gab ich mich vor die Klos­ter­mau­ern und ei­ni­ge Me­ter seit­lich in einen klei­nen Wald. Dort scharr­te ich mit ei­nem Ast ein klei­nes Loch, das ich nach mei­ner Not­durft wie­der mit Erde über­deck­te. Er­leich­tert aber im­mer noch mit Bauch­weh ging ich zu der Koch­stel­le und ver­such­te dem Koch, der eben sei­ne Mahl­zeit zu sich nahm, be­greif­lich zu ma­chen, dass ich ger­ne so einen Tee hät­te, wie ihn mir Wang Lee am Vor­tag ge­bracht hat­te. Es dau­er­te recht lan­ge, bis er mich ver­stand, doch dann be­rei­te­te er mir den glei­chen Tee zu. Die Wir­kung war wie­der über­wäl­ti­gend und ich be­dank­te mich sehr beim Koch. Die­ser schi­en sich über den Dank und das Lob sehr zu freu­en, lä­chel­te mich freund­lich an und be­deu­te­te mir, dass ich je­der­zeit zu ihm kom­men kön­ne , wenn ich et­was be­nö­tig­te.

Da ich mich nun wie­der bes­ser fühl­te, ging ich zu­rück zum Tem­pel und kam ge­ra­de zu der Zeit dort an, als die Mön­che ihre An­dacht be­en­de­ten. Wang Lee schi­en mich schon ge­sucht zu ha­ben, denn sein Ge­sicht hell­te sich auf, als er mich kom­men sah. Freund­lich wink­te er mich zu sich he­r­an und er­kun­dig­te sich, mit vie­len Ges­ten und Um­schrei­bun­gen, wo ich ge­we­sen sei. Ich schil­der­te ihm mein Pro­blem und ver­such­te ihm be­greif­lich zu ma­chen, dass ich beim nächs­ten Mal ger­ne die Toi­let­te auf­su­chen wür­de. Nach ei­ner Wei­le hat­te er mich ver­stan­den und führ­te mich wie­der in den Wald au­ßer­halb des Klos­ters. Nach ei­ner kur­zen Stre­cke sag­te mir schon der Ge­ruch, dass wir uns der ge­such­ten Stel­le nä­her­ten. Als wir dann zu der Stel­le ka­men, über­leg­te ich mir doch, ob ich es nicht auf mei­ne Wei­se wei­ter prak­ti­zie­ren soll­te. Wir hat­ten eine läng­li­che Gru­be er­reicht, in die an­schei­nend alle Klos­ter­be­woh­ner ihre Not­durft ver­rich­te­ten. Am Rand der Gru­be war ein Quer­holz zum Fest­hal­ten an­ge­bracht und Schwär­me von Flie­gen und an­de­ren In­sek­ten sorg­ten mit Si­cher­heit da­für, dass man sich be­eil­te. Wie ich spä­ter er­fuhr, wur­de von Zeit zu Zeit die be­ste­hen­de Gru­be zu­ge­schüt­tet und eine neue an­ge­legt. Der Ge­dan­ke die­sen Ort zu nut­zen wi­der­streb­te mir, doch wie hat­te ein Of­fi­zier wäh­rend mei­ner Wehr­dienst­zeit ein­mal zu mir ge­sagt: ›Der Mensch ist ein Ge­wohn­heits­tier und du wirst stau­nen, an was man sich al­les ge­wöh­nen kann!‹

Nach die­ser Ex­kur­si­on fuh­ren wir mit un­se­rem Kraft­trai­ning fort, aber wir merk­ten im­mer mehr, dass es mit mei­ner Aus­dau­er und mei­nem Lun­gen­vo­lu­men nicht sehr gut aus­sah.

Au­ßer­dem be­gann ich auch noch dar­über nach­zu­grü­beln, warum ich mir das über­haupt an­tat und schlag­ar­tig ließ mei­ne Leis­tung noch mehr nach. Wang Lee ver­such­te, mich wie­der zu mo­ti­vie­ren, doch so recht ge­lang ihm das nicht und schließ­lich wuss­te er sich nicht mehr an­ders zu hel­fen und ging mit mir zum Abt.

Nach­dem wir ihn in ei­nem klei­nen Sei­ten­raum des Haupt­tem­pels, wo er da­mit be­schäf­tigt war eine Schrift­rol­le mit selt­sa­men chi­ne­si­schen Schrift­zei­chen zu be­schrei­ben, ge­fun­den hat­ten, schil­der­te Wang Lee ihm das Pro­blem. Der Abt nick­te und schau­te mich an, als ob er nichts an­de­res er­war­tet hät­te. Dann wink­te er mich zu sich he­r­an, for­der­te mich zum Set­zen auf und nahm mei­ne Hän­de in die sei­nen. So­fort spür­te ich wie­der die­se un­heim­li­che Ener­gie, die von ihm aus­ging. Nach­dem ich dann dem Drang nach­ge­ge­ben hat­te, mei­ne Au­gen zu schlie­ßen und mich nicht mehr da­ge­gen sperr­te, dass der Abt auf die­se Wei­se mit mir kom­mu­ni­zier­te, hat­te ich das Ge­fühl, dass wir trotz un­se­rer un­ter­schied­li­chen Spra­chen mit­ein­an­der re­den könn­ten.

Zu die­ser Zeit konn­te ich noch nicht sa­gen wie das funk­tio­nier­te, doch es funk­tio­nier­te ge­nau­so gut, oder viel­leicht so­gar bes­ser, als wenn wir mit­ein­an­der ge­spro­chen hät­ten. Nach­dem ich die Au­gen wie­der ge­öff­net und in das lä­cheln­de Ge­sicht des Ab­tes ge­schaut hat­te, war ich be­reit, al­les von ih­nen zu ler­nen, was sie mir bei­brin­gen konn­ten.

So be­gann mei­ne Lehr­zeit im Klos­ter und die fol­gen­den Tage und Wo­chen hat­ten fast im­mer den glei­chen Ab­lauf. Im Mor­gen­grau­en, gleich nach dem Auf­ste­hen, ging ich mit Wang Lee zum Abt und führ­te dort mit ihm die mor­gend­li­chen Übun­gen durch. Ich nann­te das für mich Tai Chi, ob­wohl es doch ei­ni­ge Un­ter­schie­de gab. Auch hat­te ich es mir zur An­ge­wohn­heit ge­macht, gleich da­nach, wäh­rend die Mön­che ihre Mor­ge­n­an­dacht hiel­ten, et­was zu jog­gen, um mei­ne Aus­dau­er und Bein­mus­ku­la­tur zu stär­ken. Am ers­ten Tag kam ich nicht weit. Nach drei bis vier­hun­dert Me­tern ver­ließ mich die Kraft. Doch nach­dem ich die­sen Stand zwei Tage ge­hal­ten hat­te, lief ich am drit­ten Tag ei­ni­ge Me­ter wei­ter und als ich dach­te, es gin­ge nicht mehr setz­te ich noch ein Stück hin­zu. Das führ­te ich so fort bis ich es ge­schafft hat­te, fünf bis sechs Ki­lo­me­ter am Stück zu lau­fen. Das war das Pen­sum, das ich mir selbst auf­er­leg­te und bis auf we­ni­ge Aus­nah­men täg­lich ab­sol­vier­te. Nur die Ge­schwin­dig­keit oder die Stre­cke än­der­te ich ab und zu.

Nach dem Jog­gen ging ich im­mer zu dem Was­ser­be­cken, an dem ich mei­ne ers­te Mor­gen­toi­let­te ge­macht hat­te. Bald fiel es mir auch nicht mehr schwer, in dem kal­ten Was­ser un­ter­zut­au­chen und ein we­nig zu schwim­men. Die­se Kör­per­rei­ni­gung, die ich oft auch abends durch­führ­te, tat mir sehr gut, wur­de aber von den Mön­chen, die das nicht kann­ten, lei­se be­lä­chelt.

Fast im­mer schaff­te ich es, kurz vor oder am Ende der Mor­ge­n­an­dacht, ins Klos­ter zu­rück­zu­kom­men, um dann mit Wang Lee wei­ter zu trai­nie­ren. Die we­ni­gen Male, die ich spä­ter kam, fand ich ihn dann im­mer schon auf dem großen Platz vor den Un­ter­künf­ten. Ich bau­te mir auch bald ei­ni­ge Hilfs­mit­tel, fürs Kraft­trai­ning. Sie hat­ten zwar kei­ner­lei Ähn­lich­keit mit den Ge­rä­ten, die in mo­der­nen Fit­ness­stu­di­os ge­nutzt wer­den, aber ähn­li­che Funk­tio­nen. Wang Lee und ei­ni­ge an­de­re Mön­che nutz­ten sie ger­ne mit, denn sie er­leich­ter­ten ei­ni­ges.

Die un­ge­wohn­te kör­per­li­che Be­tä­ti­gung ging nicht spur­los an mir vor­über. Nach den ers­ten Ta­gen tat mir jede Kör­per­stel­le weh und wenn ich mor­gens auf­stand, muss­te ich mich zu je­der Be­we­gung zwin­gen, da mich schon beim Auf­rich­ten der Mus­kel­ka­ter im Bauch schmerz­te. Die ers­ten Schrit­te staks­te ich steif wie ein Storch durchs Ge­län­de und Wang Lee hat­te oft Grund zum La­chen. Erst bei den Tai Chi-Übun­gen wur­den mei­ne Be­we­gun­gen lang­sam wie­der ge­schmei­dig und ich merk­te auch, dass der Abt man­che Übun­gen be­vor­zug­te, die die Mus­keln wie­der ent­krampf­ten. Es ver­gin­gen aber ei­ni­ge Wo­chen, bis sich mein Kör­per auf die neue, un­ge­wohn­te Be­tä­ti­gung ein­ge­stellt hat­te.

Nach ei­ni­ger Zeit ver­trug ich auch das Es­sen bes­ser. Mein Ma­gen hat­te sich lang­sam an die frem­de Kost ge­wöhnt. Mit den Ess­stäb­chen konn­te ich auch im­mer bes­ser um­ge­hen und Wang Lees Chi­ne­sisch-Un­ter­richt zeig­te ers­te Früch­te.

An der Mit­tag­san­dacht der Mön­che nahm ich nach ei­ni­ger Zeit gern und re­gel­mä­ßig teil. Zum einen ver­schaff­te es mir die Mög­lich­keit mich aus­zu­ru­hen und Kraft für das Nach­mit­tags­trai­ning zu schöp­fen und zum an­de­ren war es eine gute Mög­lich­keit, um zur Ruhe zu kom­men, zu me­di­tie­ren und Geist und Kör­per zu ver­ei­ni­gen. Der Abt, mit dem ich oft in den Abend­stun­den bei­sam­men saß, lehr­te mich auch, dass nur ein ge­sun­der und ent­spann­ter Geist zu au­ßer­ge­wöhn­li­chen Leis­tun­gen fä­hig ist. Ich er­kann­te, dass die Me­di­ta­ti­on ein gu­tes Mit­tel ist, um den Kör­per dazu an­zu­spor­nen. Die Ein­stel­lung zum Kör­per und zum Le­ben trägt we­sent­lich zum Wohl­be­fin­den bei. Wenn der Geist sagt, ich bin schön, ge­sund und stark, dann strahlt das der Kör­per, das Ge­sicht auch aus. Er ver­mit­tel­te mir, dass es nicht dar­auf an­kommt, stark zu sein und gut kämp­fen zu kön­nen, son­dern dass es wich­tig ist, wel­che Ein­stel­lung ich zum Le­ben, zum Kämp­fen, zur Ge­rech­tig­keit habe. Er zeig­te und be­wies mir, dass es durch­aus mög­lich ist, schwä­cher und dem an­de­ren un­ter­le­gen zu sein und den­noch so viel Kraft und Über­le­gen­heit aus­zu­strah­len, dass der Geg­ner ohne Wor­te und Ak­ti­on ein­ge­schüch­tert wird und jede Kon­fron­ta­ti­on ver­mei­det.

Doch vor­erst hat­te ich da­mit zu tun, mei­ne Ge­dan­ken zu ord­nen, zur Ruhe zu kom­men und mich nur auf das We­sent­li­che zu kon­zen­trie­ren. Die Zeit, in der ich auf­ge­wach­sen und in die ich hi­n­ein­ge­wach­sen war, war so an­ge­füllt von Rei­zen und äu­ße­ren Ein­flüs­sen, dass der Geist ei­gent­lich gar nicht mehr zur Ruhe ge­kom­men war.

Es war kein Wun­der, dass es so vie­le Men­schen mit Schlaf­stö­run­gen gab, dass so vie­le Men­schen hek­tisch, ner­vös und über­reizt wa­ren. Wie oft hat­te ich es selbst ge­macht oder bei an­de­ren ge­se­hen, dass meh­re­re Din­ge auf ein­mal oder ne­ben­ein­an­der ab­lie­fen. Schon als Ju­gend­li­cher hat­te ich bei den Haus­auf­ga­ben laut Mu­sik ge­hört, durch das ge­öff­ne­te Fes­ter die Ne­ben­ge­räusche von der Stra­ße, Ge­sprä­che der Passan­ten oder Fa­mi­li­en­mit­glie­der ge­hört und doch kei­nes von al­le­dem rich­tig oder ein­präg­sam wahr­ge­nom­men.

Wie oft hat­te ich ge­se­hen, dass je­mand ein Buch las, den Fern­se­her an­hat­te und einen Film an­schau­te und doch kei­nes von bei­den rich­tig ver­stand. Oder dass beim Zu­sam­men­sein mit Freun­den der Fern­se­her lief und sich dann der eine oder an­de­re wun­der­te, wenn man un­auf­merk­sam beim Ge­spräch war oder einen Ein­wurf weit weg vom The­ma mach­te.

Das­sel­be galt für Bü­cher und Fil­me. Wenn ich einen Film be­wusst an­schau­te oder ein Buch be­wusst las, ohne mich durch et­was an­de­res stö­ren oder be­ein­flus­sen zu las­sen, nahm ich Klei­nig­kei­ten wahr, die mir sonst oft ent­gan­gen wa­ren und die mir zum Ver­ständ­nis des Gan­zen oft­mals fehl­ten. Wenn ich mir am Ende des Fil­mes oder Bu­ches dann noch die Zeit nahm, mit ge­schlos­se­nen Au­gen über be­stimm­te Stel­len nach­zu­den­ken, fie­len mir dann manch­mal noch Klei­nig­kei­ten auf, die ich vor­her gar nicht wahr­ge­nom­men hat­te.

Zu die­sen Er­kennt­nis­sen ge­lang­te ich in den Zei­ten der Me­di­ta­ti­on. Ich brach­te mei­nen Kör­per und Geist zur Ruhe und lern­te be­wusst zu le­ben. Mit der Zeit ord­ne­te ich mei­ne Ge­dan­ken, lern­te aus mei­nen Feh­lern und ver­stand es, gute Din­ge be­wusst wahr­zu­neh­men und zu le­ben.

Doch es gab auch Mo­men­te, in de­nen ich an mei­ne Fa­mi­lie und mein dum­mes Ver­hal­ten, das zum Tod mei­ner Lie­ben bei­ge­tra­gen hat­te, dach­te. Am An­fang zer­brach ich dann fast im­mer an die­sen Er­in­ne­run­gen und die Selbst­vor­wür­fe woll­ten kein Ende neh­men. Doch ir­gend­wann ver­stand ich, dass ich das Ge­sche­he­ne doch nicht mehr än­dern konn­te und nun das Bes­te aus mei­nem jet­zi­gen Le­ben ma­chen muss­te. Viel­leicht soll­te das so sein, viel­leicht hat­te auch al­les einen tie­fe­ren Sinn und das Ge­sche­he­ne trug zu et­was We­sent­li­chem und Wich­ti­gem bei. Viel­leicht wa­ren die­se Ge­dan­ken auch Aus­flüch­te und Wunsch­vor­stel­lun­gen, aber sie hal­fen mir sehr, mei­nem Le­ben wie­der einen Sinn zu ge­ben. Doch es dau­er­te lan­ge, bis ich mein Gleich­ge­wicht ge­fun­den hat­te und auch mit die­sen Er­in­ne­run­gen um­ge­hen konn­te.

Mit­hil­fe des Trai­nings, das bis auf die we­ni­gen Pau­sen fast den gan­zen Tag und sie­ben Tage in der Wo­che an­dau­er­te, lern­te ich lang­sam mei­nen Kör­per ken­nen und ver­ste­hen. Mit der Zeit stähl­te sich mein Kör­per und ich lern­te Mus­keln, wenn sie schmerz­ten oder über­an­strengt wa­ren, zu scho­nen, die An­stren­gung auf an­de­re oder meh­re­re Kör­per­par­ti­en zu ver­tei­len oder es durch Ge­schwin­dig­keit wettz­u­ma­chen. Da das Trai­ning je­den Tag durch­ge­führt wur­de, und in der jet­zi­gen war­men Jah­res­zeit nur an den we­ni­gen ganz hei­ßen Ta­gen nach­mit­tags durch Me­di­ta­ti­on und An­dacht im küh­len Tem­pel er­setzt wur­de, mach­te ich auch gute Fort­schrit­te. So kam es, dass ich schon nach ei­ni­gen Wo­chen die ers­ten Kampf- und Be­we­gungs­tech­ni­ken er­lern­te. Doch um einen Trai­nings­kampf selbst mit ei­nem der jüngs­ten und schwächs­ten Mön­che auch nur an­nä­hernd zu be­ste­hen, muss­te noch viel Zeit ver­ge­hen.

Am An­fang fiel es mir noch schwer, mei­ne Un­ge­duld zu be­zäh­men und ich woll­te ra­sche Fort­schrit­te se­hen. Ir­gend­wann fiel aber die Hek­tik und Un­ru­he mei­nes bis­he­ri­gen Le­bens von mir ab und ich wur­de ru­hi­ger und ge­las­se­ner. Ich lern­te, dass man vie­les mit Ruhe er­tra­gen konn­te, wenn man be­reit war, es als ge­ge­ben und un­um­gäng­lich hin­zu­neh­men.

Ei­nes Ta­ges er­kann­te ich auch, dass der kahl­ge­scho­re­ne Kopf der Mön­che nicht nur ri­tu­el­le Be­deu­tung hat­te, son­dern dass es auch einen rein prak­ti­schen Hin­ter­grund gab. Der stän­di­ge Juck­reiz auf dem Kopf war be­las­tend und beim Krat­zen be­merk­te ich, dass ich Läu­se hat­te. Als ich das Wang Lee mit­teil­te, mach­te die­ser mir klar, dass es bes­ser wäre, wenn ich mir den Kopf kahl­ra­sie­ren las­sen und die an­de­re Kör­per­be­haa­rung kurz hal­ten wür­de. Auf die­se Wei­se wur­de ich die­se Pla­ge­geis­ter wie­der los und ich fühl­te mich nicht ein­mal un­wohl, da alle um mich he­r­um so aus­sa­hen.«

Traum oder wahres Leben

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