Читать книгу Traum oder wahres Leben - Joachim R. Steudel - Страница 4
Erwachen
Оглавление»Eine angenehme Wärme durchströmte mich und unbekannte Vogelstimmen drangen in mein Bewusstsein. Ich sog die reine klare Luft in meine Lunge und mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Was war geschehen? Wo war ich? Vorsichtig öffnete ich die Augen ein wenig und schloss sie im selben Moment, geblendet vom gleißenden Sonnenlicht, wieder. Ich hatte genau in die aufgehende Sonne geschaut.
War ich schon tot? War ich im Himmel? Nach einem Selbstmord? Darüber hatte ich in meiner Verzweiflung gar nicht mehr nachgedacht. Da ich den Glauben sowieso schon vernachlässigt hatte, hatte ich solche Gedanken in den letzten Stunden immer wieder verdrängt. Ein Leben nach dem Tod stand für mich einfach nicht mehr zur Debatte. Aber jetzt? Ich hatte keine Erklärung für das, was geschehen war. War ich wirklich gesprungen? Es war mir zwar noch bewusst, wie sich mein Körper angespannt hatte, um sich vom Ast abzustoßen, doch dann? Was war denn in diesem Augenblick nur geschehen?
Meine Hände fühlten den warmen Boden und die kleinen Steine des Weges, auf dem ich in ähnlicher Haltung wie auf dem Ast saß. Langsam drehte ich mich in dieser Stellung um, sodass ich die Sonne im Rücken hatte. Dann öffnete ich vorsichtig die Augen und riss sie erstaunt ganz weit auf. Ich hatte alles andere erwartet, nur nicht den Anblick, der sich mir jetzt bot. Die Sonne beschien vor einem strahlend blauen Himmel eine Landschaft, wie ich sie höchstens einmal im Fernsehen gesehen hatte. Ich befand mich auf einem Weg, der in einem sanften Bogen in ein schönes, lichtdurchflutetes Flusstal führte. An der Stelle, wo der Weg das Tal erreichte, war es sicherlich vier bis fünf Kilometer breit. Flussabwärts waren rechts und links des Flusses sauber abgetrennte Flächen zu sehen. Diese leuchteten in einem üppigen und gleichmäßigen Grün und ihre geometrischen Formen waren auf keinen Fall natürlichen Ursprungs.
Auf dem Wasser bewegten sich kleine Boote mit höchstens ein oder zwei Ruderern besetzt. Wenn man dem Fluss mit den Augen in die andere Richtung folgte, konnte man sehen, dass flussaufwärts die Berge das Tal weiter einengten. Es wurde enger und nur eine kurze Strecke weiter waren keine Felder mehr zu sehen. Die hohen, teilweise sehr steilen Berge schienen sich flussaufwärts fortzusetzen. Nur in der entgegengesetzten Richtung, wo die Landschaft ebener wurde und in weiter Ferne die Berge ganz verschwanden, schien es ausreichend Fläche zu geben, die urbar gemacht werden konnte.
Einige der Bäume und Pflanzen die am Wegrand standen waren mir unbekannt. Bei anderen dachte ich, dass ich sie schon einmal gesehen hätte. Vielleicht durch Filme, Abbildungen in Büchern oder durch Beschreibungen kamen mir diese bekannt vor. So erkannte ich etwas weiter unten am Wegrand einen kleinen Bambuswald, und das machte alles nur noch unverständlicher, denn wenn es wirklich einer wäre, dann müsste ich ja in Asien sein, dachte ich. Aber wie sollte das möglich sein? Was war denn nur geschehen?
Ohne mir einen Reim auf all das machen zu können, schaute ich mich auf der Suche nach etwas Bekanntem weiter um. Ich hielt Ausschau nach einer Asphaltstraße, modernen Gebäuden oder anderen technischen Bauwerken. Doch die einzigen Gebäude, die ich sah, waren einige kleine Häuser, eher Hütten, am Rande der Felder. Viel weiter flussabwärts war am Talrand eine größere Ortschaft zu sehen. Obwohl es weit weg war, hatte ich doch den Eindruck, dass es auch dort recht einfach aussah.
Ich konnte nichts erkennen, was nach fortschrittlicher Zivilisation aussah. Der Weg, auf dem ich mich befand, führte an den Feldern entlang bis zu dem größeren Ort. Dort verzweigte er sich in verschiedenen Richtungen. Einer schlängelte sich in vielen Windungen den Hang hinauf in die Berge hinein. Ein weiterer folgte dem Tal weiter flussabwärts, bis man ihn in weiter Ferne aus den Augen verlor. Und dann gab es da noch einen, der zu einer kleinen Anlegestelle führte. Von dort aus schien es eine Art Fährbetrieb zu geben. Der Fluss war an dieser Stelle breiter und floss ruhig und gleichmäßig dahin. Auch die Fähre, eher ein größeres Floß, konnte man sehen. Sie hatte eben das andere Ufer erreicht und man sah einige kleine Punkte, die sich in verschiedene Richtungen von der Fähre entfernten.
Die Sonne wärmte nun mit einer Kraft, die mich langsam ins Schwitzen brachte. Ich zog die Jacke aus und wollte mich gerade auf den Weg ins Tal machen, als ich hinter mir leise Männerstimmen hörte. Daraufhin drehte ich mich um und bemerkte nun erst, wie anders die Gebirgslandschaft hinter mir eigentlich war. In der Nähe des Flusses waren die Berge noch bis zu den Gipfeln bewaldet, doch dann wurden sie höher und schroffer. Ab einer gewissen Höhe waren sie nur noch mit Sträuchern und anderen niedrigen Pflanzen bewachsen und der graubraune Fels dominierte.
Aber was meinen Blick nun fesselte, waren die beiden Männer, die in diesem Moment hinter der Baumgruppe, die den Blick auf den weiteren Weg versperrte, hervor kamen. Sie unterhielten sich halblaut und ihr Schritt stockte kurz, als sie mich sahen, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie meine Anwesenheit sonderlich überraschte. Ihre Unterhaltung unterbrechend kamen sie dann mit zielsicheren Schritten auf mich zu.
Die beiden hatten asiatische Gesichtszüge und ihr Kopf war kahlgeschoren. Ein weites, locker sitzendes Obergewand reichte fast bis zu den Knien. Es war aus grobem Leinen, an den Seiten bis in Schritthöhe aufgeschlitzt und wurde von einem Stoffgürtel zusammengehalten. Die ebenfalls lockere Beinbekleidung steckte bis zu den Knien in Strümpfen, die mit kreuzweise umwickelten Bändern gehalten wurden. Die Hosen waren aus dem gleichen Stoff wie das Obergewand und nichts behinderte ihre Träger in ihren Bewegungen. Das leichte, geschmeidige Schuhwerk verlieh ihnen einen fast geräuschlosen Gang und ihre Bewegungen waren weich und gleichmäßig. Man sah sofort: sie waren eins mit der Natur.
Der Jüngere der beiden schien etwa Mitte zwanzig zu sein, war bestimmt nicht größer als einen Meter siebzig und hatte ein rundliches Gesicht. Die flache Nase und die leicht abstehenden Ohren verstärkten die jugendliche Wirkung noch. Kräftige, dunkle Augenbrauen überschatteten die schmalen, aber kaum schräggestellten Augen. In den Mundwinkeln hatte er viele, kleine Falten, die dem Gesicht einen schalkhaften Ausdruck verliehen.
Den zweiten schätzte ich auf etwa fünfzig Jahre, und er wirkte würdevoll, bedächtig, aber dennoch aufgeschlossen anderen gegenüber. Er war nur wenig kleiner als sein jüngerer Begleiter, doch das wurde durch sein hageres Erscheinungsbild wieder aufgehoben. Sein Mund war schmal und die schräggestellten Augen nur schmale Schlitze.
Trittsicher, ohne auf dem unebenen und steinigen Weg einen Stein anzustoßen oder zu straucheln, legten sie die kurze Strecke bis zu mir zurück. Sie stoppten vor mir, verbeugten sich, die rechte Hand im rechten Winkel vor die Brust haltend, und sprachen mich an. Die ganzen Umstände wurden immer unverständlicher für mich, denn dem Klang der Sprache nach konnte es wirklich nur chinesisch, vietnamesisch oder etwas ähnliches sein.
Ich deutete ebenfalls eine leichte Verbeugung an und schaute unsicher zu ihnen auf. Der ältere der beiden stellte, von Gesten begleitet, offenbar eine Frage an mich. Ich hatte den Eindruck, dass es nur wenig anders klang als ihre ersten Worte, vielleicht ein anderer Dialekt war, doch auch das konnte ich nicht verstehen.
Langsam fasste ich mich.
›Entschuldigung, ich habe Sie leider nicht verstanden. Sprechen Sie auch Deutsch oder Englisch?‹
Nach einer kurzen Pause:
›Do you speak English?‹
Keine Antwort, nur ratlose Blicke.
›Wer sind Sie? Wo bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?‹
Wieder keine Antwort.
›Das gibt’s doch gar nicht, bin ich denn hier im falschen Film? Wieso versteht mich denn keiner? Was ist denn bloß los hier?‹
Wie so oft in letzter Zeit war ich ratlos, unsicher und zu keiner vernünftigen Handlung fähig, doch die beiden schienen das zu spüren. Sie verständigten sich kurz mit einem Blick und forderten mich dann mit Gesten und beruhigenden Worten auf, ihnen zu folgen. Sie zeigten immer wieder auf den Weg, der in die Berge führte, und der ältere der beiden legte sanft seine Hand auf meine Schulter und drückte mich vorsichtig in diese Richtung.
Was wollten sie bloß von mir? Hatten sie mich etwa gesucht? Was war denn nur geschehen, seit ich mir die Schlinge um den Hals gelegt hatte? Die Schlinge, ja, natürlich! Ich fuhr mir mit der Hand an den Hals und tastete nach Spuren des Seiles, doch ich fühlte nichts als glatte Haut.
Mein Handeln muss für sie völlig unverständlich gewesen sein. Aber was sollte es, sie verstanden mich ja anscheinend sowieso nicht und eigentlich war es auch egal, ob ich ins Tal gehen oder ihnen folgen würde. Vielleicht würde sich ja auch alles aufklären, wenn ich ihnen folgte, denn irgendwie schien meine Anwesenheit ja nicht ganz unvermutet für sie zu sein. Also setzte ich mich zögernd in Bewegung. Erfreut lächelnd liefen sie neben mir her. Bald hatten sie wieder diesen gleichmäßigen, weit ausgreifenden Schritt erreicht, den ich vorher schon bei ihnen bewundert hatte. Am Anfang konnte ich ihnen noch folgen, obwohl ich schon fast in einen Laufschritt verfallen musste, um mitzuhalten, doch später mussten sie ihren Schritt verlangsamen, da ich auf die Dauer dieses Tempo nicht halten konnte.
Der Weg führte in vielen Windungen stetig bergauf bis er einen Bergsattel erreichte. Von da an ging es wieder abwärts und ich konnte Atem schöpfen. Nun hatte ich auch wieder die Kraft, um mich umzuschauen.
Das Gebirge setzte sich in alle Richtungen, nur unterbrochen von Tälern, Bach- und Flussläufen, fort. In höheren Lagen, weiter weg vom Wasser, wurde die Landschaft karger, die Vegetation weniger üppig als in dem Flusstal, aus dem wir kamen. Der Weg schlängelte sich ins nächste Tal hinab und nachdem wir ihm ein Stück gefolgt waren, wurde der Blick auf ein höher gelegenes Seitental frei. Meine beiden Begleiter blieben stehen und deuteten, begleitet von einigen Worten, auf einen bebauten Bereich, der aber leider noch zu weit weg war, um genaueres zu erkennen.
Wir setzten unseren Weg, der nun in das Seitental hinein führte, fort. Nach einiger Zeit erkannte ich, dass es eine Tempel- oder Klosteranlage sein musste, der wir uns nun näherten.
Unser Weg führte an einem Gelände vorbei, das nur mit Pagoden in unterschiedlicher Größe bestanden war. Teilweise nahmen diese nicht einmal zwei Quadratmeter Grundfläche ein, waren aber mehrere Meter hoch. Es gab aber auch welche, die schon fast wie ein mehrstöckiges Haus wirkten. Vom Weg aus gelangte man über eine kleine Treppe auf das höher gelegene Terrain. Gleich am Anfang standen kleine, eher säulenähnliche Gebilde, doch ein paar Schritte weiter folgten einige, die sicherlich fünf oder sechs Meter hoch waren. Diese Pagoden waren aus flachen Ziegeln erbaut und hatten immer wieder rundum laufende Simse. Diese wirkten wie kleine Vordächer die nach oben hin in immer kürzeren Abständen eingefügt waren. Doch keine Pagode glich der anderen, die eine hatte nur zwei solche Vordächer und die nächste schon fünf. Bei der einen wurde der Umfang nach jeder dieser Unterbrechungen geringer, bei der nächsten blieb der Umfang bis zum Abschluss gleich. Einige waren quadratisch, andere sechseckig oder rund. Die größten hatten meist kleine Türmchen obendrauf und die kleineren, etwa drei Meter hohen, nur eine kleine Platte als Abschluss der Dachspitze. Es gab Bereiche, in denen nur ein bis zwei Meter Abstand zwischen diesen Pagoden war, aber auch immer wieder freiere Flächen, die mit kleinen Bäumen bestanden waren. Es war ein richtiger Wald aus Pagoden.
Ich war immer langsamer geworden, um das alles in mich aufnehmen zu können, doch meine beiden Führer drängten mich weiter. Nach einer kurzen Strecke erreichten wir das Klostergelände.
Wir betraten den inneren Bereich durch ein mit Schnitzereien und vergoldeten Ornamenten verziertes Tor. Überall waren mir unverständliche Symbole, Schriftzeichen und für ein europäisches Auge seltsam anmutende Figuren angebracht. Die vorherrschenden Farben waren rot und blau, und bei einigen Figuren entstand der Eindruck, dass sie jeden Eintretenden ständig im Blick behielten.
Auf dem Klosterhof, den wir jetzt betraten, waren einige Mönche mit Fegen beschäftigt. Sie schauten auf, bekamen bei meinem Anblick große Augen und begannen miteinander zu tuscheln. So, wie sie sich verhielten, hatten sie sicherlich noch keinen Europäer gesehen.
Wir gingen auf ein großes Gebäude zu, das die Front dieses Platzes dominierte. Eine breite Treppe, die von einem mit Ornamenten verzierten steinernen Geländer begrenzt war, führte auf eine rund um das Gebäude laufende Terrasse. Diese wurde ebenfalls von einem hüfthohen, steinernen Geländer begrenzt. Am Ende der Treppe befand sich ein überdachter Durchgang. Von zwei quadratischen, roten Säulen getragen, überspannte ein mit blauen Dachziegeln gedecktes, schön geschwungenes Dach den Durchgang.
Auf den Ecken thronten, wie am Eingangstor, Wächterfiguren. Rechts vorn war ein grimmig aussehender Krieger mit einem erhobenen Schwert in jeder Hand zu sehen. Auf der dahinterliegenden Ecke war ein Drache mit ausgebreiteten Flügeln und weit vorgestrecktem Kopf angebracht. Die gegenüberliegende Ecke wurde von einer Löwenfigur beherrscht und die linke, vordere Ecke zierte ein weiterer Krieger. Die in einem satten Rot gehaltenen Wände des Tempels wurden direkt hinter dem überdachten Durchgang von einem etwa zwei Meter breiten Eingangsportal unterbrochen. Auf beiden Seiten des Eingangs waren auf kleinen Podesten steinerne Löwen postiert.
In einer Höhe von etwa drei Metern begann das an den Ecken nach oben geschwungene, wiederum mit blauen Dachziegeln gedeckte Unterdach. Auch hier wurden wieder die Ecken von verschiedenen Figuren beherrscht. Nach ungefähr zweieinhalb Metern wurde das Dach wieder von einer etwa eineinhalb Meter hohen Wand unterbrochen. Soweit man das von hier unten beurteilen konnte, waren dort reich verzierte Lichtdurchlässe eingebaut. Vermutlich versorgten sie den großen Innenraum mit einem diffusen Licht. Nun folgte das eigentliche Dach. Auch dieses war wieder mit blauen Ziegeln gedeckt und auch hier fehlten die Wächter nicht.
Durch die offene Eingangstür des Tempels konnte man den goldenen Schimmer einiger Figuren wahrnehmen. Gerade als ich diese besser zu erkennen versuchte, wurden sie von einigen Mönchen, die aus dem Tempel traten, verdeckt.
Alle trugen gelbe, bis auf den Boden fallende Kutten und bis auf den Mönch in der Mitte waren über diese noch rote Überhänge geschlungen. Dieser Mönch in der Mitte strahlte etwas aus, das mich sofort in seinen Bann zog. Auch auf alle anderen schien das so zu wirken, denn man ließ einen gewissen freien Raum um ihn herum.
Er schien schon ein recht hohes Alter erreicht zu haben, doch seine Bewegungen waren frisch und kraftvoll. In seiner rechten Hand hielt er eine Perlenkette und während er mich freundlich musterte, glitten die Perlen unablässig durch seine Finger.
Meine beiden Begleiter verneigten sich ehrerbietig vor ihm und auch ich senkte grüßend den Kopf. Es war, wie ich damals schon richtig vermutete, der Abt des Klosters. Mit ruhigen, bedächtigen Schritten kamen er und seine Begleiter die Treppe herunter auf uns zu. Mit seiner warmen und beruhigenden Stimme sprach er mich an, doch leider konnte ich, wie bei meinen beiden Führern, kein Wort verstehen.
›Tut mir leid, aber ich spreche diese Sprache leider nicht.‹
Er sah mich kurz prüfend an und stellte dann meinen beiden Führern einige Fragen, die diese, immer wieder auf mich deutend, beantworteten. Verstehend nickend schien er kurz zu überlegen, dann sprach er den Mönch zu seiner Rechten an. Dieser schien mit dem, was der Abt sagte, nicht einverstanden zu sein, denn es folgte ein kurzer Wortwechsel, an dessen Ende sich der kräftig aussehende, jüngere Mönch zwar vor dem Abt verneigte, aber man konnte seiner Haltung und dem Gesichtsausdruck ansehen, dass er dem, was der Abt gesagt hatte, nicht zustimmte.
Der Abt nickte mir aufmunternd zu und ging, gefolgt von seinen Begleitern, zurück in den Tempel. Nur der Mönch, mit dem der Abt gesprochen hatte, blieb zurück. Missmutig sah er mich an und gab dann meinen beiden Begleitern einige Anweisungen. Diese verneigten sich ehrerbietig vor ihm und forderten mich mit Gesten dazu auf, ihnen zu folgen.
Meine Unsicherheit steigerte sich. Ich sah hinauf zu dem Tempel, denn der Abt hatte mir Vertrauen eingeflößt, doch es war nichts mehr von ihm und seinen Begleitern zu sehen. Als der jüngere meiner beiden Führer mich schließlich am Handgelenk fasste und vorsichtig in die gewünschte Richtung zog, folgte ich ihnen immer noch hoffend, dass sich bald alles aufklären würde.
Wir verließen diesen Teil des Klosters und erreichten kurz darauf einen Bereich, der Ähnlichkeit mit einer Kaserne hatte.
Auf dem großen Hof, an dessen Rand wir entlanggingen, führte eine Gruppe von etwa einhundert Männern, in höchster Konzentration, mit synchronen Bewegungen kraftvolle Schlag- und Trittkombinationen aus. Es erinnerte mich sehr an ein Kung Fu-Training, über das ich einmal einen Bericht im Fernsehen gesehen hatte. Ich wäre gerne stehen geblieben, um zuzuschauen, doch meine beiden Begleiter drängten mich weiter. Wir gingen bis zu einigen einstöckigen Gebäuden im hinteren Teil der Klosteranlage. Sie waren in einer barackenähnlichen Bauweise erstellt, und in ihnen befanden sich anscheinend die Unterkünfte der Mönche.
Meine beiden Führer geleiteten mich in eines von ihnen und führten mich einen langen Gang entlang bis zu einer einfachen Zelle. Schon auf dem Weg den Gang entlang, hatte ich durch die offenen Türen in einige Räume sehen können. Die ersten waren größer gewesen und es standen immer mehrere Pritschen in diesen Unterkünften. Am Ende des Ganges waren dann einige kleinere Zellen, in denen nur eine oder zwei Pritschen standen.
In die äußerste dieser Unterkünfte wurde ich geführt. Dort lag auf der einzigen Liege, die sich in diesem Raum befand, ordentlich zusammengelegt, Kleidung wie sie meine Führer trugen. Der ältere der beiden sprach mich wieder an und deutete dabei auf die Kleidung, den Raum, die Pritsche und mich. Seinen Gesten entnahm ich, dass dieser Raum sowie die Kleidung für mich bestimmt war und dass ich mich umziehen sollte. Ich schüttelte den Kopf.
›Entschuldigung, ich möchte nicht hierbleiben! Ich weiß ja nicht einmal genau wo ich bin! Führen Sie mich doch bitte einfach zu einem Telefon, dann kann ich versuchen, das alles aufzuklären.‹
Verständnislos sahen die beiden mich an und zuckten nur bedauernd mit den Schultern. Frust stieg in mir auf.
Warum versteht mich denn bloß keiner? Wie soll ich’s ihnen denn nur erklären?
Ich deutete mit Gesten das Telefonieren an, doch die beiden zuckten wieder nur mit den Schultern.
Instinktiv griff ich in meine Jackentasche und berührte meine Brieftasche. Im ersten Moment atmete ich auf, doch die Freude über diesen Fund ebbte sofort wieder ab. Was sollten mir diese Dinge hier auch nützen, da wir uns ja nicht so recht verständigen konnten, würden sie sicherlich auch nichts mit einem Ausweis oder etwas ähnlichem anfangen können.
Da fiel mir mein Handy ein, ich zog es heraus und wollte wählen, doch es war kein Netz vorhanden. Fieberhaft überlegte ich. Gab es bloß hier keins, in diesem Gebirgstal, oder war generell keins vorhanden? Ich musste in einem fremden Land sein, soviel stand fest. Aber war ich überhaupt noch auf der Erde, in meiner Zeit? Oder war ich vielleicht tot? Aber ein Leben nach dem Tod, sollte das so aussehen? Träumte ich vielleicht nur? Aber dann müsste ich ja langsam mal aufwachen. Alles war so primitiv, so einfach. Auf dem ganzen Weg bis hierher hatte ich keinerlei Spuren von irgendwelcher modernen Technik gesehen.
Irgendwie war alles wie im Mittelalter und als ich wieder zu den beiden hinsah, bemerkte ich, wie sie das Handy in meiner Hand fixierten. So ein Gerät hatten sie mit Sicherheit noch nicht gesehen und als das Licht im Display wieder ausging, fuhren sie erschrocken zurück.
Nachdenklich steckte ich es wieder weg. Ich hatte keine Vorstellung, wie ich mich weiter verhalten sollte. Aus irgendeinem Grund schienen sie mich, nach ihrem Verhalten zu urteilen, erwartet zu haben, aber weshalb? Ratlos sah ich sie an, doch der ältere der beiden bedeutete mir nur wieder, dass ich die Kleidung, die auf der Pritsche lag, anziehen sollte.
Verständnislos schüttelte ich den Kopf und zeigte auf meine Kleidung, um ihnen zu zeigen, dass ich ja nicht unbekleidet war. Sie zuckten nur resignierend mit den Schultern, drehten sich um und ließen mich allein in der Mönchszelle zurück.
Zu keiner vernünftigen Handlung fähig, setzte ich mich auf die Pritsche und begann zu grübeln. War das die Strafe dafür, dass ich Selbstmord begangen hatte? War ich überhaupt tot, oder war das alles nur ein Traum?
Nach einer Weile stand plötzlich der Mönch, mit dem der Abt diskutiert hatte, im Raum. Immer noch oder schon wieder wütend sah er mich an. Er kam auf mich zu und ich sprang erschrocken hoch, denn ich hatte das Gefühl, dass er mich jeden Augenblick packen und durchschütteln würde. Doch er griff nur nach der Kleidung auf der Pritsche und drückte sie mir energisch in die Arme. Dabei schimpfte er die ganze Zeit vor sich hin. Er besah sich meine Hände, betastete meine Oberarme, sah mir ins Gesicht, schüttelte den Kopf und bedeutete mir wieder, dass ich mich umziehen solle. Ich konnte keinen Grund erkennen, warum ich das tun sollte, wollte ihn andererseits aber auch nicht noch mehr verärgern. Mit dankenden Worten legte ich die Kleidung wieder auf die Pritsche, doch er verstand mich ja nicht. Energisch und mit wütendem Gesichtsausdruck drückte er sie mir zum wiederholten Male in die Arme und als ich daraufhin erneut abwehrte, sah er mir kurz in die Augen und verließ mich dann mit einer wegwerfenden Geste.
Ich hatte gehofft, Aufklärung über meine Anwesenheit an diesem Ort zu erhalten, doch irgendwie wurde hier alles nur noch verworrener. Auch die Abneigung, die ich bei diesem Mönch gespürt hatte, machte es noch schwerer, etwas Positives hier zu sehen.
Aus diesen Gründen entschloss ich mich, das Kloster gleich wieder zu verlassen. Der größere Ort am Fluss schien im Augenblick das sinnvollste Ziel zu sein. Vielleicht konnte ich dort Aufklärung erhalten, oder ich fände einen Weg zurück in meine Welt.
Nachdenklich ging ich über den Hof, auf dem die Männer immer noch diese Übungen durchführten. Konzentriert, ruhig und gleichmäßig bewegten sie sich wie ein einziger Mann. Auch meine beiden Führer hatten sich eingereiht und nichts deutete darauf hin, dass sie oder die anderen mich bemerkten.
Ohne aufgehalten zu werden erreichte ich das Eingangstor. Die wenigen, die mich gesehen hatten, schauten mir verwundert nach, doch es schien keinen weiter zu interessieren, was ich tat. Langsam ging ich unter der brennenden Sonne den Weg hinauf zum Bergkamm. Dort drehte ich mich um und schaute zurück.
Weit hinter mir, sodass man gerade noch erkennen konnte was es war, sah ich drei Gestalten auf dem Weg hinter mir herkommen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich besonders beeilen würden um mich noch einzuholen, und im gleichen, ruhigen Tempo wie bisher setzte ich meinen Weg fort. Bald hatte ich auch die Stelle erreicht, an der ich wieder zu mir gekommen war. Nachdem ich mich einen Augenblick umgeschaut hatte, ging ich weiter in Richtung Fluss.
Die Sonne hatte nun schon fast ihren höchsten Punkt erreicht und die feuchtwarme Luft machte mir langsam zu schaffen. Ich schätzte, dass es bestimmt schon um die dreißig Grad warm war und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, als wenn es eben stark geregnet hätte und die Sonne nun das Wasser wieder aufsaugte.
Als ich das Flusstal erreichte, folgte ich dem Weg, der parallel dazu flussabwärts verlief. Hier begegneten mir jetzt mehr Menschen, aber keiner konnte mich verstehen, wenn ich eine Frage an sie richtete. Sie waren fast alle barfuß, im Höchstfall trugen sie leichte, dünnsohlige Sandalen. Die Hosen gingen nur wenig über die Knie herab und ein leichtes, weitgeschnittenes Obergewand sowie ein Hut aus Reisstroh vervollständigte bei den meisten die Kleidung.
Verwundert sahen sie mich an, wenn ich sie ansprach oder an ihnen vorbeiging. Bald war ich mir ganz sicher, dass sie noch nie einen Europäer gesehen hatten. Ich war dem größeren Ort schon sehr nahe gekommen, als mir ein Reiter in vollem Galopp entgegenkam.
Mit einem Satz in die Büsche musste ich mich in Sicherheit bringen, damit er mich nicht umritt. Ich hatte beim Sprung noch sein Gesicht gesehen, war mir aber sicher, dass ich wenigstens genauso verblüfft dreingeschaut hatte wie er.
Der Anblick dieses Reiters bestätigte einmal mehr meine Vermutung, dass ich mich in einer anderen Zeit befand. Er war gekleidet und gerüstet wie einer dieser Krieger, die ich einmal in einer Terrakotta-Ausstellung gesehen hatte.
Ich schaute hoch und konnte sehen, dass der Reiter sein Pferd herumgerissen hatte. Es tänzelte und bäumte sich auf, während er zu mir herunterschaute. Doch bald drehte er sich um, schaute in die Richtung, aus der ich gekommen war und anscheinend war ihm wichtiger, was er dort sah, denn er setzte seinen eiligen Ritt fort. Als ich seinem Blick folgte sah ich, dass die drei Wanderer, die ich schon vom Bergkamm aus gesehen hatte, mir mittlerweile sehr viel näher gekommen waren. Ich konnte die Gesichter noch nicht erkennen, aber einer der drei hatte diese Mönchskleidung an, die ich schon bei dem Abt im Kloster gesehen hatte.
Der Krieger unterbrach seinen Ritt bei den drei Wanderern, stieg ab und verbeugte sich mehrfach vor dem Mönch. Dann überreichte er ihm etwas und versuchte anschließend sein Pferd zu beruhigen. Es schien ein Schriftstück zu sein, denn der Mönch begutachtete es ausgiebig und gab es dem Krieger dann zurück. Anschließend sprach der Mönch kurz mit einem seiner Begleiter und dieser schickte sich dann an, gemeinsam mit dem Reiter aufs Pferd zu steigen und den Ritt fortzusetzen. In meine Richtung deutend, sagte der Reiter noch etwas zu dem Mönch, doch dieser machte nur eine abwehrende Handbewegung und bedeutete ihm, dass er seinen Ritt fortsetzen solle. Dann setzte auch er mit seinem verbliebenen Begleiter seinen Weg fort.
Nun wurde mir das Ganze doch unheimlich. Folgten mir diese Leute etwa doch und wenn ja, was wollten sie dann von mir? Und wieso ritt hier eigentlich einer herum, der gerade einem Filmset entstiegen zu sein schien? Es wurde immer dubioser.
In der Zwischenzeit hatte ich mich aus der Umklammerung der Büsche befreit und strebte nachdenklich weiter meinem Ziel entgegen. Automatisch hatte ich meinen Schritt beschleunigt, um den Wanderern hinter mir zu entgehen. Doch es hatte keinen Zweck, denn die Entfernung zwischen mir und ihnen wurde trotz all meiner Bemühungen immer kleiner. Das Hemd klebte mir mittlerweile klatschnass vor Schweiß am Körper und mein Schritt verlangsamte sich wieder. Dem größeren Ort war ich nun schon so nahe gekommen, dass ich erkennen konnte, dass auch hier nichts von moderner Technik, die mir vertraut vorkommen würde, zu sehen war. Resignierend hielt ich bei einem Baum an, der mit seiner großen Krone Schatten spendete, und ließ mich an seinem Stamm nieder.
Es dauerte nicht lange bis der Mönch und sein Begleiter mich erreichten. Nun erkannte ich, dass es der Abt und der jüngere meiner beiden Führer von heute Morgen waren. Ich wollte mich erheben, um sie zu begrüßen, denn in ihrer Gegenwart hatte man das Gefühl willkommen und geachtet zu sein, doch der Abt bedeutete mir, sitzen zu bleiben. Dann nahm er mir gegenüber Platz und schaute mir tief in die Augen.
Dieser Mann hatte eine Ausstrahlung, die sich schwer beschreiben lässt. Alles an ihm wirkte beruhigend und verständnisvoll. Diese Aura umgab ihn und nahm jeden in seiner Nähe gefangen. Seine schmalen, asiatischen Augen schienen alles zu durchdringen, doch das hagere, von vielen Falten durchzogene Gesicht ließ keine Regung erkennen. Die kleinen Fältchen in seinen Augen- und Mundwinkeln verliehen dem Gesicht aber einen schalkhaften Ausdruck. Der dünne Oberlippenbart und der graue, langfaserige Kinnbart standen im Gegensatz zu dem kahlgeschorenen Kopf. Ebenso verhielt es sich mit dem restlichen Körper. All seine Bewegungen wirkten jugendlich und voller Energie. Die Hände waren erstaunlich kräftig und ich hätte sie eigentlich einem wesentlich jüngeren Mann zugeordnet.
Er streckte mir seine rechte Hand entgegen und forderte mich mit einer beruhigenden Geste auf, meine Hand in die seine zu legen. Sein Begleiter hatte sich seitlich von uns niedergelassen und nickte mir jetzt ermunternd zu. Zögernd folgte ich dieser Aufforderung und wusste im selben Moment, dass mir nichts geschehen würde. Als ich die Hand des Abtes berührte, durchströmte mich eine große Ruhe und Kraft. Es war als ob er mir sagte: ›Du brauchst keine Angst zu haben, wir möchten dir nur helfen.‹
Wieder sah er mir tief in die Augen und wieder hatte ich das Gefühl, dass er alles in mir sehen konnte. Ich versuchte mich dagegen zu sperren, zu wehren, mein Innerstes zu verbergen. Doch so richtig wollte mir das nicht gelingen. Nach einer Weile brach er den Blickkontakt ab und schloss die Augen, aber nur um sie gleich wieder zu öffnen und mir zu bedeuten, es ihm gleich zu tun. Zögernd folgte ich seinem Beispiel und schloss die Augen.
Eine große Energie strömte über unsere ineinandergelegten Hände in meinen ganzen Körper. Durch die geschlossenen Augen stieg meine Konzentration. Meine Gedanken beruhigten und ordneten sich. Ich hatte das Gefühl, dass er mich fragte, was mit mir los sei, was geschehen sei, warum ich so aufgewühlt und traurig wäre. Meine letzten Erlebnisse liefen vor meinem inneren Auge noch einmal ab. Der Streit mit Gabi, die Erpressung, die Nachricht vom Autounfall und mein Selbstmordversuch. All dies spielte sich in meinen Gedanken noch einmal ab und ich wusste, dass der Abt dies auch sah, denn ich spürte seine Verwunderung über all die technischen Dinge, mit denen er nichts anfangen konnte. Und ich merkte auch, dass er mir helfen wollte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht begreifen, wie es möglich war auf diese Weise mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, und doch war es intensiver als ein Traum und ich begriff, was er mir mitteilen wollte, obwohl wir in verschiedenen Sprachen dachten.
In meinen Gedanken tauchten wirre Bilder von Buddha, von Gott und anderen Figuren auf, die dem Abt einen Auftrag gegeben hatten. Was der Inhalt dieser Aufgabe war, wurde mir nicht klar und von wem er ihn letztendlich erhalten hatte, darüber schien sich der Abt selbst nicht im Klaren zu sein, doch dass es mit mir und meinem Erscheinen zu tun hatte stand für ihn fest. Mir wurde auch bewusst, dass er es mit aller Kraft und gerne tun würde.
Doch was war die Konsequenz dieser Erkenntnisse? Sollte ich mit dem Abt zurück in dieses Kloster gehen oder sollte ich versuchen, zurück nach Hause zu kommen? Irgendetwas in mir sagte mir aber auch, dass es kein Zurück für mich gab, dass ich, warum auch immer, an diesem Ort gestrandet war. Ich hatte aus meinem alten Leben und vor meinen Problemen fliehen wollen und dies schien auch gelungen zu sein, wenn auch anders als ich es geplant hatte.
Doch was sollte ich in diesem Kloster, welchen Auftrag hatte der Abt bekommen? Ich bekam zwar eine vage Vorstellung von dem, was ich dort lernen sollte, doch wofür das gut sein sollte verstand ich nicht. Für den Moment musste ich erst einmal begreifen und akzeptieren, dass mein Leben nun ganz anders verlaufen würde, dass es nichts mehr mit dem zu tun haben würde, was ich bisher kannte. Ich öffnete die Augen und sah den Abt und seinen Begleiter verunsichert an. Doch diese lächelten nur und nickten mir freundlich zu.
Warum auch nicht? dachte ich. Vielleicht finde ich ja mein inneres Gleichgewicht wieder. Zurück kann ich anscheinend nicht und außerdem hatte ich sowieso schon mit allem abgeschlossen. So zu sein, diese innere Kraft zu haben wie sie der Abt ausstrahlte, erschien mir in diesem Moment erstrebenswert und da ich keine Alternative sah, fand ich mich mit dem Gedanken, mit ihnen zu gehen, ab.
Ich sah dem Abt in die Augen und da er meinen Entschluss schon gespürt hatte, drückte er freundlich meine Hand. In diesem Augenblick knurrte mein Magen recht laut. Meine neu gewonnenen Freunde schmunzelten und verständigten sich mit einem kurzen Blick. Dann standen sie auf, der Abt zeigte auf die Ortschaft, die ich hatte erreichen wollen und deutete mit Gesten das Essen an. Dankbar nickte ich ihnen zu. Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, als mir einfiel, dass das Geld, das ich in der Brieftasche hatte, hier sicherlich nicht zählen würde. Ihnen das zu erklären, gestaltete sich nicht so einfach für mich, doch schließlich huschte ein verstehendes Lächeln über das Gesicht des Abtes. Er legte mir die Hand auf die Schulter, drückte mich in Richtung des Ortes und gab mir zu verstehen, dass ich mir darum keine Gedanken zu machen brauchte.
Während wir auf die ersten Häuser des größeren Dorfes zuliefen, versuchte ich zu ergründen warum sie mir, einem ihnen völlig Unbekannten, einem der nicht ihre Sprache sprach, der nicht einmal ihrer Rasse angehörte, scheinbar so selbstlos halfen. Für einen, der aus einer Gesellschaft kam, die von dem Streben nach persönlichem Besitz, Einfluss, Macht und Reichtum geprägt ist, war dies schwer zu verstehen. Dann war da auch noch diese Ruhe, diese innere Kraft, diese Energie die besonders der Abt ausstrahlte. Das konnte nur von jemandem ausgehen, den keine Zweifel und Ängste plagten, von einem, der mit seinem Leben zufrieden war.
Bald hatten wir die ersten Häuser erreicht. Der Abt schien hier bekannt und beliebt zu sein, denn jeder, der ihn sah, grüßte ihn freundlich und wenn der eine oder andere noch einige Worte mit ihm wechseln konnte, schien es das höchste Glück für denjenigen zu sein. Auch er hatte für jeden ein freundliches Lächeln und Kopfneigen übrig und so war es nicht verwunderlich, dass wir, besser gesagt er, in dem kleinen Lokal, das wir betraten, mit ehrfürchtigem Respekt zu einem freien Tisch geführt wurden.
Der Begriff Lokal war vielleicht zu hochangesetzt. Da, wo ich hergekommen war, hätte keiner diese Kaschemme betreten. Im Gegenteil, diese Bude wäre schon am ersten Tag aus den unterschiedlichsten Gründen, wieder geschlossen worden. Doch hier störte sich keiner an diesen Zuständen.
Als wir Platz genommen hatten, wischte der Wirt oder Bedienstete mit einem nicht mehr ganz sauberen Tuch die Essensreste unserer Vorgänger vom Tisch auf den Fußboden. Der Abt sprach kurz mit diesem Mann, woraufhin dieser durch einen offenen Durchgang in den Innenhof des Gebäudes ging. Dort war unter einer Überdachung eine offene Feuerstelle, die offenbar die Küche darstellte. Der Koch spülte gerade eine Pfanne über einem offenen Graben neben der Überdachung aus. Wohin dieser Graben führte, konnte ich nicht sehen, doch anscheinend gab es einen Durchgang zwischen den Gebäuden, über den man diesen Bereich auch betreten konnte. Nach den Geräuschen zu urteilen, gab es in einem der Seitengebäude auch Stallungen, in denen Pferde untergebracht waren. Doch vielmehr interessierte mich, was der Koch nun tat. Mit der soeben ausgespülten Pfanne in der Hand ging er zur Feuerstelle und begann mit der Zubereitung einer Mahlzeit. Wenn man sah, wie er mit seinen schmutzigen Händen von einem Behältnis ins andere griff, sich zwischendurch höchstens mal die Hände an seiner Kleidung abwischte, nur um gleich darauf die Katze, die um seine Beine strich, mit der Hand wegzuschieben, dann konnte einem schon der Appetit vergehen. Doch es schien keinen der anderen Gäste zu stören, im Gegenteil sie verspeisten ihre Mahlzeit mit großem Appetit und warfen dabei verstohlene Blicke in unsere Richtung.
Ich wurde in meinen Betrachtungen unterbrochen, als der Wirt – mittlerweile war ich mir sicher, dass es der Wirt war – mit drei großen Schalen Tee an unseren Tisch kam. Sich immer wieder verneigend, stellte er die Schalen vor uns auf den Tisch. Als er bei mir angekommen war, nickte ich ihm dankbar zu. Er sprach mich an, doch ich konnte ihn ja leider nicht verstehen, zuckte bedauernd mit den Schultern und sah hilfesuchend zu meinen beiden Begleitern. Der Abt sprach kurz mit dem Wirt, dieser nickte verstehend und verließ uns wieder.
Nur kurze Zeit später kam er wieder an unseren Tisch. Diesmal mit mehreren Schalen, die eine dicke, süßlich riechende Soße, Reis und verschiedene Gemüsesorten enthielten. Auch Essstäbchen legte er mit dazu, schaute mich aufmunternd an und blieb neben mir stehen. Anscheinend erwartete er, dass ich gleich mit dem Essen beginnen würde, doch ich bedeutete ihm, dass ich warten wollte, bis die Mönche ihr Essen hatten. Der Abt gab mir jedoch zu verstehen, dass sie nichts essen würden.
Da mich alle beobachteten – selbst der Koch schaute von draußen herein – und ich auch keinen beleidigen wollte, überwand ich die Abscheu, die mir angesichts der Zubereitung des Essens gekommen war, und griff nach der Schale mit dem Reis. Nun hatte ich aber noch nie mit Stäbchen gegessen und als ich verzweifelt versuchte, diese in einer Hand zum Essen zu nutzen, konnte sich der jüngere Mönch ein Lachen nicht verkneifen. Mit einem strafenden Blick sah ihn der Abt an und richtete einige Worte an den Wirt, woraufhin dieser ging und gleich darauf mit einer kleinen Schale Reis und einem Paar Stäbchen zurückkehrte. Dann zeigte mir der Abt wie ich die Essstäbchen halten sollte und führte mir vor, wie man damit aß. Krampfhaft versuchte ich es ihm gleichzutun, doch immer wieder bekamen die Stäbchen in meiner Hand ein Eigenleben. Frustriert setzte ich die Schale ab, doch der Abt lächelte mir nur aufmunternd zu, griff nach meiner Hand, korrigierte die Haltung meiner Finger und machte es mir noch einmal vor. Nach einigen Versuchen gelang es mir schließlich, einige Reiskörner in meinen Mund zu befördern.
Wenn sich das so fortsetzen würde, dann wäre ich noch Stunden damit beschäftigt, die Schalen zu leeren. Aber etwas Gutes hätte es dennoch, ich brauchte das unhygienische Essen nicht in mich hineinzuwürgen.
Aber vielleicht war das ja auch der Standard in dieser Welt und besser Zubereitetes bekäme ich nie wieder vorgesetzt. Wie recht ich mit diesem Gedanken haben sollte, wurde mir bald bewusst.
Wieder ein Versuch, bei dem ich drei oder vier Reiskörner schlucken konnte und am liebsten hätte ich die Essstäbchen in die Ecke geschmissen. Ein Blick zum Abt hinderte mich aber daran. Während die anderen mehr oder wenigen offen lachten, bedachte er mich mit einem aufmunternden Blick. Dann zeigte er mir noch einmal wie es gemacht wird, hielt dabei aber die Schale mit dem Reis direkt an seine Lippen und schob ihn in seinen Mund hinein. Als er mir so demonstriert hatte, wie ich mein Stäbchenproblem erst einmal umgehen konnte, zog er die anderen Schalen zu sich heran und zeigte mir, wie ich am besten das Gemüse und die Soße zu mir nehmen konnte. Ich tat es ihm nach und auf diese Weise gelang es mir, die Mahlzeit doch noch in meinen Magen zu befördern.
Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, dass sich der Koch – offenbar zufrieden damit, dass ich sein ‚Menü‘ vertilgte – wieder seiner Arbeit zuwandte. Den Weg zur Kochstelle legte er nun schneller zurück, da sich in der Zwischenzeit die Katze an einem der Töpfe gütlich getan hatte. Unter einem energischen Redeschwall scheuchte er sie davon und machte sich daran, die Mahlzeit in dem Topf weiter zuzubereiten. Als ich das sah, blieb mir der Bissen beinah im Hals stecken. Hustend und prustend schnappte ich nach Luft. Alle dachten, ich hätte mich beim Essen verschluckt und ich war wieder einen Lacher wert.
Der Wirt hatte sich auch wieder von unserem Tisch entfernt und den anderen Gästen zugewandt. Doch ich hatte den Eindruck, dass es bei den Gesprächen an den anderen Tischen, bei denen des Öfteren gelacht wurde, hauptsächlich um mich und meine Esskünste ging. Ich war froh, als ich nach einem längeren Kampf die Schalen geleert hatte und nahm mir vor, dass ich, bevor ich nicht richtig mit den Essstäbchen umgehen konnte, nie wieder in der Öffentlichkeit damit essen würde.
Das Essen hatte anders geschmeckt, als ich es aus dem Chinalokal meiner Heimatstadt gewohnt war. Dort hatte ich immer gerne gegessen und ich war mir auch sicher gewesen, dass alles frisch und sauber war, doch hier hatte ich im Nachhinein einen faden Geschmack im Mund.
Das Gemüse schien nicht sehr frisch gewesen zu sein und hatte einen seltsamen Beigeschmack gehabt. Die mit mir unbekannten Kräutern gewürzte Soße hatte das zwar zum Teil überdeckt, doch jetzt, nachdem ich mit dem Essen fertig war, hatte ich einen seltsam pelzigen Geschmack im Mund. Ich griff zur Teeschale und versuchte mit dem Tee diesen Geschmack loszuwerden, doch Tee zu einem solchen Essen war für mich genauso ungewohnt und somit half es nicht wirklich, die Situation zu verbessern. Es kostete mich einige Mühe, vor den anderen zu verbergen, dass mir das Essen nicht besonders geschmeckt hatte und ich war deshalb recht froh, als der Abt sich erhob, nachdem ich meinen Tee ausgetrunken hatte.
Er winkte den Wirt heran und zog einen Lederbeutel unter seinem Gewand hervor, um zu bezahlen, doch der Wirt wehrte energisch ab. Anscheinend war es für ihn eine große Ehre gewesen, den Abt als Gast zu haben. Mit einem Lächeln legte der Abt dem Wirt die Hand auf die Schulter und verneigte sich leicht vor ihm. Das schien diesem genauso viel wert zu sein wie eine gute Bezahlung, denn er bedachte den Abt mit einem nicht enden wollenden Redeschwall und die Seitenblicke, die er den anderen Gästen zuwarf, schienen zu sagen: ›Seht, welch eine Ehre mir zuteilwurde!‹
Nachdem wir das Lokal verlassen hatten, wanderten wir schweigend den Weg zurück, auf dem wir den Ort erreicht hatten. Ich hatte wieder Mühe, dem schnellen, weitausgreifenden Schritt der beiden Männer zu folgen und begann nach einiger Zeit zu schnaufen und zu schwitzen. Die beiden verlangsamten ihren Schritt ein wenig, nicht so sehr, dass es ein bequemes Wandern wurde, aber um so viel, dass ich ihnen gerade noch folgen konnte.
Wir hatten den Bergkamm schon überschritten und konnten das Seitental, in dem das Kloster lag, sehen, als sich mein Bauch energisch zu Wort meldete. Das ungewohnte Essen zeigte eine durchschlagende Wirkung und ich musste mich schnell in die Büsche schlagen. Auf dem restlichen Weg wiederholte sich das noch zweimal und ich war heilfroh, als wir das Kloster erreichten. Dort trennte sich der Abt von uns und der jüngere Mönch führte mich in den Raum, der mir am Morgen schon einmal zugewiesen worden war.
Auf dem Weg dorthin hatte ich den Eindruck, dass es im Kloster ruhiger geworden war. Irgendwie fehlten die Menschen. Bei meinem ersten Besuch hier hatte ich viel mehr Mönche gesehen. Von denen, die am Morgen auf dem großen Hof diese Übungen durchgeführt hatten, sah ich an diesem und auch an den nächsten Tagen keinen einzigen mehr.
In der Zelle, die mir zugewiesen worden war, lag die Kleidung immer noch dort, wo ich sie hingelegt hatte. Ich nahm sie von der Liege und legte sie auf einen Hocker, der neben der Pritsche stand, dann ließ ich mich, mir den Bauch haltend, nieder. Über das Gesicht des jungen Mönches, der noch in der offenen Tür gestanden hatte, huschte ein Ausdruck, als wäre ihm etwas eingefallen und er verließ mit schnellen Schritten den Raum. Nur wenig später kehrte er mit einer dampfenden Schale zurück. Er hielt sie mir hin und forderte mich mit Gesten zum Trinken auf. Ich nahm die Schale und der aromatische Geruch von heißem Tee stieg mir in die Nase. Vorsichtig begann ich zu trinken. Der Tee schmeckte ungewohnt, denn da er nicht gesüßt war, kam der Geschmack der Kräuter so richtig zur Geltung. Doch ich spürte schon nach wenigen Schlucken, wie sich mein Bauch beruhigte. Ich entspannte mich und mit einem zufriedenen Gesicht verließ mich der Mönch. Erschöpft von dem langen Fußweg schlief ich dann ein.
Als ich wieder erwachte, war es sehr still um mich herum. Nur das Zwitschern eines Vogels und das Zirpen der Grillen, das durch die Fensteröffnung meiner Zelle hereindrang, machten deutlich, dass es noch anderes Leben gab. Ich stand auf und verließ das Gebäude.
Auf dem großen Platz trainierten nun einige junge Mönche. Für mich sahen diese Übungen aus wie Kung Fu, denn mangels Erfahrungen fasste ich alle asiatischen Kampfsportarten unter diesem Begriff zusammen. Die feinen Unterschiede kannte ich noch nicht und in diesem Moment war mir auch nicht bewusst, dass es diesen Begriff an diesem Ort, zu dieser Zeit nicht gab.
Fasziniert schaute ich zu und bewunderte die Beweglichkeit und Schnelligkeit dieser Männer. Nach einiger Zeit löste sich mein junger Führer aus der Gruppe der Übenden und kam zu mir. Er bedeutete mir, dass ich mitmachen sollte. Ich wehrte ab und versuchte, ihm verständlich zu machen, dass ich nichts dergleichen beherrschte. Aber er wiederholte diese Aufforderung immer wieder und schließlich begriff ich, dass ich es von ihnen lernen sollte. Doch bevor wir uns dieser Herausforderung zuwandten, gab es noch eine andere Hürde zu überwinden. Da ich ihre und sie meine Sprache nicht verstanden, war die Verständigung sehr schwierig und der junge Mönch wurde einer meiner geduldigsten Sprachlehrer. Wir mussten oft lachen, wenn ich versuchte ihm nachzusprechen, etwas falsch betonte, oder ein Wort im falschen Zusammenhang verwendete.
Doch begonnen hatte das Ganze mit der gegenseitigen Vorstellung. Er deutete auf sich und nannte seinen Namen:
›Wang Lee!‹
Mit Gesten forderte er mich auf ihm nachzusprechen. Ich versuchte es, doch dabei kam etwas ganz anderes heraus. Dieser Name klang in der weichen, singenden chinesischen Aussprache ganz anders und meine an das harte Deutsch gewohnte Stimme hatte Probleme, das richtig wiederzugeben. Wang Lee konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken und ließ es mich mehrfach wiederholen, bis es einigermaßen nach ‚Wang Lee‘ klang. Er war dabei sehr fröhlich und motiviert, was sich wiederum auf mich übertrug. Nachdem ich es einigermaßen hinbekommen hatte, deutete er auf mich und seinen Gesten entnahm ich, dass er nun meinen Namen wissen wollte. Ich nannte ihm meinen vollen Namen und der Gesichtsausdruck, den ich erntete, war köstlich.
Als er versuchte es nachzusprechen, hatte ich genauso viel Grund zum Schmunzeln, wie er vorher bei mir. Nach einer Weile – seine Fortschritte waren schon recht beachtlich – erschien ihm ‚Günter Kaufmann‘ zum Ansprechen oder Rufen doch viel zu lang und mit einer resignierenden Geste deutete er auf mich und sagte:
›Gü Man!‹
Ich lachte kurz auf und nickte zustimmend. Es war mein erstes unbefangenes Lachen seit dem Tod meiner Familie und es war richtig befreiend. Wang Lee freute sich anscheinend sehr, dass ich mit seiner Namensgebung einverstanden war, und so begann mein Sprachunterricht in Chinesisch, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit fortgesetzt wurde. Er fand immer einen Weg, um einen Begriff oder eine Bezeichnung zu umschreiben und dennoch sollte eine lange Zeit vergehen, bevor ich einigermaßen verstand, was gesprochen wurde.
Nachdem wir uns nun vorgestellt hatten, versuchte er herauszufinden was ich für Voraussetzungen mitbrachte, um an ihrem Training teilnehmen zu können. Bald begriff er, dass ich keinerlei Grundkenntnisse hatte. Doch er war keiner, der sich gleich entmutigen ließ. Mit verschiedenen Übungen, die er mir vormachte und die ich dann unter seiner Beobachtung nachahmte, begann er auszuloten, was bei mir möglich war und wo er ansetzen konnte. Als er sich für einen Augenblick unbeobachtet glaubte sah ich, wie er einem der anderen anwesenden Mönche einen Blick zuwarf, der so viel bedeutete wie ‚Puuh, das wird ein hartes Stück Arbeit!‘
Es dämmerte bereits, als ein Gong ertönte. Die Mönche beendeten ihr Training und strebten dem Tempelbereich zu. Keiner sprach, alles lief ruhig und entspannt ab. Nur Wang Lee forderte mich mit einem Wink dazu auf ihnen zu folgen.
Als der Abt mit einem monotonen Sprechgesang begann, war der Haupttempel nicht einmal zu einem Drittel gefüllt und doch schienen alle, die sich zu diesem Zeitpunkt im Klosterbereich aufhielten, anwesend zu sein. Ich hatte mich in der Nähe des Eingangs niedergelassen und keiner schien weiter Notiz von mir zu nehmen. Da ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, mit ihren Gebeten und Zeremonien aber auch nichts anfangen konnte, schloss ich die Augen und kam innerlich langsam zur Ruhe. Ich dachte über mein bisheriges Leben nach, über die letzten Ereignisse, über den Sinn des Ganzen und versuchte mir vorzustellen wie es nun weitergehen sollte.
Nach einiger Zeit, angeregt durch mein Umfeld, begann ich über den Glauben nachzudenken. Es hatte eine Zeit gegeben, als mein Glaube an Gott und die christliche Kirche zwar nicht felsenfest, aber bestimmend in meinem Leben gewesen war. Doch irgendwann hatte ich im Alltagsstress den Glauben vernachlässigt, hatte nur noch nebenbei daran gedacht und mir nie die Zeit genommen die innere Ruhe zu finden, die nötig ist, um mit Gott zu sprechen. Jetzt fand ich das erste Mal seit langer Zeit wieder die Ruhe, um darüber nachzudenken. Mir wurde bewusst, dass ich mich im Großen und Ganzen nach den Geboten gerichtet und gelebt hatte, wie es von einem Christen erwartet wurde, doch die Verbindung zu Gott war verloren gegangen.
Hatte Gott mit den letzten Ereignissen zu tun? Wie war ich hierhergekommen? Warum war ich hier? Wenn Gott etwas damit zu tun hatte, warum war ich dann an einem Ort, wo ein ganz anderer Glaube vorherrschte? Ist der Gott, an den ich glaube, auch der wahre Gott? Gibt es überhaupt einen Gott?
Fragen über Fragen und ich fand keine Antworten. Das innere Gleichgewicht, das ich gerade gefunden hatte, begann wieder zu schwinden. Ich wurde immer nervöser und wollte mich schon erheben, um den Tempel zu verlassen, als ich fühlte, dass mich jemand beobachtete. Ich öffnete die Augen und sah nach vorn zu dem leicht erhöhten Teil, auf dem die Buddhafigur stand, und ich sah direkt in die Augen des Abtes. Dieser Blick hatte etwas, das ich nicht beschreiben konnte und ich spürte, wie sich die Ruhe des Abtes auf mich übertrug. Langsam glätteten sich die Wogen meiner aufgewühlten Gedanken und Gefühle und mir wurde bewusst, dass es eigentlich egal war warum, wie oder durch wen ich hierhergekommen war. Es zählte nur, dass ich jetzt hier war und das Beste daraus machte. Als ich diese Erkenntnis gewonnen hatte, sah ich hoch und wieder in die Augen des Abtes. Dabei dachte ich: Danke, du hast mir sehr geholfen!
Im selben Moment erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Abtes und ich glaubte, ein leichtes Kopfneigen zu bemerken. Während der restlichen Andacht der Mönche dachte ich über mein bisheriges Leben nach und kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieses eigentlich sehr oberflächlich gewesen war. Das ständige Streben nach Besitz, Sicherheit und Anerkennung hatte mich vieles nicht mehr erkennen und verstehen lassen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich von den Menschen an meiner Seite und um mich herum nur noch die Oberfläche wahrgenommen und in der Hast meines Lebens ihre Gedanken und Gefühle übersehen hatte.
Die erste Nacht in meiner neuen Unterkunft schlief ich sehr unruhig. Das laute Zirpen der Grillen, die vor der Lichtöffnung meiner Mönchszelle ihr Nachtkonzert gaben, trug sicherlich genauso dazu bei wie die fehlende Möglichkeit, sich richtig zu reinigen und der pelzige Belag, den ich auf meinen Zähnen spürte, war mir mehr als nur unangenehm. Als das schwache Licht des beginnenden Tages in den Raum fiel, mischte sich das undeutliche Geräusch der aufstehenden Mönche mit meinen wilden Träumen. Müde und unausgeschlafen versuchte ich noch beides zu trennen, als auch schon mein junger Freund Wang Lee in der Tür stand. Er bedeutete mir, dass ich ihm folgen sollte. So schnell ich in meinem schlaftrunkenen Zustand konnte, zog ich mich an und folgte ihm dann in Richtung Haupttempel.
Auf dem Platz vor dem Tempel wurde ich nun wieder mit etwas konfrontiert, das ich schon aus dem Fernsehen oder anderen modernen Medien kannte und dennoch nicht eindeutig zuordnen konnte. Der Abt und einige andere ältere Mönche führten dort Übungen aus, die mich sehr an Tai Chi erinnerten und dennoch anders wirkten, als ich sie in Erinnerung hatte. Die gleichmäßigen und synchron ausgeführten Bewegungen sahen wundervoll kraftvoll, elegant und beruhigend aus. Mir fiel auf, dass einige dieser Mönche schon recht alt zu sein schienen und dennoch wirkten ihre Bewegungen jung und elegant.
Ich hatte einige dieser Männer am Vortag in ihrer zeremoniellen Mönchstracht gesehen, doch nun hatten sie auch diese locker sitzende, leichte, graublaue Kleidung angelegt, die auch alle anderen Bewohner dieses Klosters zu tragen schienen. Aber obwohl sie sich äußerlich nun nicht mehr von den anderen unterschieden, strahlte diese Gruppe etwas aus, das man mehr fühlte, als man es sah. Eine Aura der Ruhe und Kraft umgab sie und jedes Gesicht spiegelte inneren Frieden wieder. Besonders der Abt zog meinen Blick magisch an. Die Leichtigkeit, mit der er diese schwungvollen Bewegungen ausführte, schien im krassen Gegensatz zu seinem Alter zu stehen. Eine unbändige Kraft ging von ihm aus und man kam nicht umhin, diesem Mann Respekt zu zollen.
Als wir die Gruppe dieser Männer erreicht hatten, unterbrach der Abt seine Übungen und ging mit uns einige Schritte zur Seite. Er bedeutete den anderen fortzufahren, und nachdem er einige Worte mit meinem jungen Begleiter gesprochen hatte, gab er mir mit Worten und Zeichen zu verstehen, dass ich das, was er mir vorführte nachahmen sollte. Ich versuchte es, doch bei mir sah das bei Weitem nicht so leicht und elegant aus. Meine Bewegungen waren ungleichmäßig und eckig, sie kosteten mich zu viel Kraft und Schweiß, denn ich verstand meinen Körper noch nicht und konnte meinen Geist nicht freimachen.
Auch meine Atmung war den Bewegungen nicht angepasst und so kam es, dass ich mich mehr anstrengte als nötig war, und durch diese ungewohnte Betätigung meine Kraft schnell nachließ. Nachdem Wang Lee bemerkte, dass ich nicht von allein meine Fehler erkannte und korrigierte, unterbrach er, ermuntert durch ein Kopfnicken des Abtes, seine Übungen und versuchte mir begreiflich zu machen, was ich falsch machte. Er führte, auf dem linken Bein stehend, mit den Armen und dem rechten Bein, eine Bewegung zum Körper hin aus und atmete dabei ein. Anschließend verharrte er einen Augenblick in der erreichten Position und atmete dann bei der Bewegung vom Körper weg wieder aus. Er führte mir noch einige dieser Bewegungsabläufe vor und nahm dabei seinen Sprachunterricht wieder auf. Es gelang ihm, beides gut zu kombinieren und er brachte mir in diesem Zusammenspiel mit sichtlicher Freude Worte wie einatmen, ausatmen, Arm, Faust, Bein und Fuß bei.
Auf dem Gesicht des Abtes erschien ein herzliches Lächeln und nachdem er Wang Lee kurz in die Augen geschaut hatte, wurden dessen Wangen rot vor Verlegenheit. Anscheinend war dies ein großes Lob für den jungen Mönch und ich wollte dem Abt zeigen, dass er ein guter Lehrer war und gab mir besonders viel Mühe, ruhig und gleichmäßig im Einklang mit meinen Bewegungen zu atmen.
Nach einiger Zeit, meine Arme und Beine wurden langsam schwer von der ungewohnten Betätigung, ertönte ein Gong. Der Abt brach seine Übungen ab, nickte mir und Wang Lee zu, und ging, gefolgt von den anderen Mönchen, in den Tempel. Wang Lee forderte mich auf ihnen zu folgen, doch ich gab ihm zu verstehen, dass ich mich nicht wohl fühlte, so verschwitzt und ungewaschen wie ich war, und dass ich mich erst einmal reinigen wollte. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich Enttäuschung und Unverständnis in seinen Augen zu sehen, doch freundlich und geduldig beschrieb er mir mit Gesten, dass außerhalb des Klosters ein Wasserlauf vom Gebirge herabkam, den ich zum Waschen nutzen konnte und so war ich mir am Ende nicht mehr sicher, ob ich mich nicht getäuscht hatte.
Nachdem Wang Lee den anderen schnell in den Tempel gefolgt war, ging ich in Richtung Klostereingang. Gleich außerhalb der Mauern fiel mir ein Trampelpfad auf, der in der Richtung verlief, die mir mein neuer Freund angedeutet hatte. Nachdem ich diesem eine Weile gefolgt war, hörte ich das Plätschern des Wassers, das sich seinen Weg durch den Fels bahnte. Der Pfad endete am oberen Teil eines Wasserbeckens, das ungefähr zehn Meter breit und fünfzehn Meter lang war. Ein kleiner Steg führte dort ins Wasser und endete direkt am Zufluss des Beckens. Der zirka einen Meter breite Bach stürzte an dieser Stelle etwa eineinhalb Meter hinab ins Wasserbecken. Das Wasser war sauber und kälter, als ich es bei diesen Umgebungstemperaturen erwartet hatte. Bald sollte ich auch erfahren, dass an dem kleinen Wasserfall das Trinkwasser geholt und am Rande des Steges die Wäsche gewaschen wurde.
Ich schaute mich kurz um, ob jemand in der Nähe sei und zog mich dann kurz entschlossen aus, um mich zu waschen. Dies gestaltete sich aber schwieriger, als ich gedacht hatte, da der Rand des Wasserbeckens fast an allen Stellen steil, zwei bis drei Meter bis zum Grund der Beckens abfiel. Doch in der Nähe des Abflusses fand ich eine Stelle, die wie eine Plattform in einem Meter Tiefe genügend Platz zum Stehen bot.
Ich stieg in das ungewohnt kalte Wasser und sofort zog sich meine Haut zusammen. Mir stockte kurz der Atem, doch der Drang mich zu reinigen war stärker als der Wunsch, das Wasser sofort wieder zu verlassen. In Ermangelung von Seife oder anderen Hilfsmitteln wusch ich mich lange und gründlich. Als ich aus dem Wasser stieg, bemerkte ich das nächste Problem. Ich hatte ja kein Handtuch, wie sollte ich mich jetzt abtrocknen? Ich streifte das Wasser so gut es ging mit meinen Händen von der Haut und ließ den Rest durch die Sonne trocknen. Aber das pelzige Gefühl und der seltsame Geschmack im Mund störten mich immer noch und ich überlegte, wie ich das beseitigen könnte. Beim Anblick eines Busches kam mir dann ein Gedanke. Ich brach einen kleinen saftigen Zweig ab, franste ein Ende aus und nutzte es wie eine Zahnbürste. Es war zwar langwierig, aber am Ende der Prozedur fühlten sich meine Zähne wieder glatt und sauber an. Nachdem ich mich dann angezogen hatte, fühlte ich mich sehr erfrischt und trat den Rückweg ins Kloster an.
Als ich den Tempelvorhof erreichte bemerkte ich, dass sich die Mönche anscheinend immer noch im Haupttempel aufhielten und vorsichtig, um nicht zu stören, ging ich hinein. Langsam und leise ließ ich mich in der Nähe des Eingangs nieder und schaute mich aufmerksam um. Im selben Moment wusste ich, dass ich nicht so unbemerkt geblieben war, wie ich gedacht hatte. Als ich nach vorn sah, blickte ich direkt in die freundlichen Augen des Abtes, und bei einem Blick zur Seite konnte ich, nicht weit entfernt von mir, Wang Lee sehen. Das Lächeln auf seinem Gesicht zeigte mir, dass er mich ebenfalls bemerkt hatte.
Ich schloss die Augen und versuchte, mich so zu entspannen, wie es mir am Vorabend gelungen war, doch es brauchte einige Zeit, bis meine aufgewühlten Gedanken wieder zur Ruhe kamen. Es dauerte nicht lange und ich war wieder bei dem Gedanken angekommen, der mich im Moment am meisten beschäftigte.
Warum, weshalb und wie war ich hierhergekommen?
Bald merkte ich, dass meine Gedanken wieder so durcheinander wirbelten wie am Vorabend. Ich zwang mich zur inneren Ruhe, öffnete die Augen und schaute auf die betenden Mönche. Es war schon bewundernswert wie diese Menschen in sich und ihrem Glauben ruhten. Warum konnte das bei mir nicht so sein, warum war mein Glaube so schwach und oberflächlich?
Langsam versuchte ich, die Verbindung zu Gott wieder aufzubauen, denn eins war für mich sicher, es gab oder gibt den einen Gott! Wie er aussieht, wo er ist oder in welcher Form er existiert, das war unwichtig, nur seine Gegenwart und die Verbindung zu ihm zählten. Diese Erkenntnis brachte mich so sehr zur Ruhe, dass ich beinahe nicht bemerkt hätte, dass die Gebete der Mönche verstummt waren und sich einer nach dem anderen erhob.
Als ich die Augen öffnete und aufstand, sah ich in das lächelnde Gesicht des Abtes. Unbemerkt von mir, war er mit Wang Lee herangetreten. Er musterte mich, befühlte meine Arme und stieß leicht mit seinen Fingern in meinen Bauch. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen und krümmte mich nach dieser leichten Berührung. Nachdenklich betrachtete mich der Abt einen Augenblick und wechselte dann einige Worte mit Wang Lee. Dieser nickte zustimmend und forderte mich dann auf ihm zu folgen. Er führte mich zu dem Platz, der neben den Unterkünften lag und auf dem die Mönche schon wieder trainierten. Etwas abseits von den anderen begannen wir mit einem Krafttraining, das meine Arme, Bauch- und Brustmuskulatur stärken sollte. Er machte mir verschiedenes vor, ließ es mich dann nachmachen und immer dann, wenn ich aufhören wollte, weil ich dachte es ginge nicht mehr, musste ich noch so lange weitermachen, bis es wirklich nicht mehr ging. Auch wies er mich immer wieder darauf hin, dass meine Atemtechnik nicht gut war und dass das richtige Atmen sehr wichtig sei. Bei all diesen Übungen nahm er auch noch seinen Chinesisch-Unterricht wieder auf, doch nur in den kurzen Pausen, in denen er mir die nächste Übung vorführte.
Nach einiger Zeit, ich war völlig durchgeschwitzt und bei einigen Bewegungen hinderte mich meine zu enge Hose, ging er mit mir zu meiner Schlafstelle und hielt mir die Kleidung hin, die noch vom Vortag im Zimmer lag. Als ich nicht gleich zugriff, zeigte er mir, dass ich so ausgestattet viel mehr Bewegungsfreiheit hätte und auch nicht so schnell schwitzen würde. Das waren Vorteile, die mich überzeugten und ich begann mich umzuziehen. Beim Binden der Bänder, die Schuhe und Strümpfe hielten, hatte ich Probleme und erst durch die Hilfe Wang Lees bekam ich das in den Griff.
Nach dieser kurzen Unterbrechung setzten wir das Training fort und ich war fast am Ende meiner Kraft, als um die Mittagszeit wieder ein Gong ertönte. Auf dem Weg in einen Teil des Klosters, den ich bisher noch nicht kannte, begann mein Magen gewaltig zu knurren, denn ich hatte seit dem Vortag nur Wasser zu mir genommen und nach den Anstrengungen des Vormittages hatte ich wirklich Hunger.
Wir erreichten die ‚Küche‘, die mich sehr an die des Lokals erinnerte, in dem wir am Vortag gegessen hatten. Sie war nur um einiges größer, da ja auch mehr Menschen zu versorgen waren, aber ansonsten fast gleich ausgestattet. Auch die Katzen, die sich in der Nähe aufhielten, um etwas abzustauben, fehlten nicht.
Es gab wieder Reis mit einer Gemüsesoße, aber keinerlei Fleisch und wie ich später erfuhr, ernährten sich die Mönche aufgrund ihres Glaubens rein vegetarisch. Der Kampf mit den Stäbchen, den ich am Vortag aufgenommen hatte, setzte sich an diesem Tag fort. Doch Wang Lee half mir sehr, den Umgang mit den Essstäbchen zu erlernen. Ich hatte schon einiges gegessen, als es in meinem Bauch zu rumoren begann. Anscheinend vertrug ich diese ungewohnte Nahrung doch noch nicht so recht. Aber der Hunger war groß und ich aß alles, was ich bekommen konnte.
Nach dem Essen begaben sich die Mönche wieder in den Tempel, um zu beten. Ich folgte ihnen, dankbar für die Ruhepause und versuchte mich zu entspannen. Nach einer Weile schlug das ungewohnte Essen wieder durch. Doch wohin sollte ich gehen, ich hatte bis jetzt noch keine Toiletten bemerkt. Schnell begab ich mich vor die Klostermauern und einige Meter seitlich in einen kleinen Wald. Dort scharrte ich mit einem Ast ein kleines Loch, das ich nach meiner Notdurft wieder mit Erde überdeckte. Erleichtert aber immer noch mit Bauchweh ging ich zu der Kochstelle und versuchte dem Koch, der eben seine Mahlzeit zu sich nahm, begreiflich zu machen, dass ich gerne so einen Tee hätte, wie ihn mir Wang Lee am Vortag gebracht hatte. Es dauerte recht lange, bis er mich verstand, doch dann bereitete er mir den gleichen Tee zu. Die Wirkung war wieder überwältigend und ich bedankte mich sehr beim Koch. Dieser schien sich über den Dank und das Lob sehr zu freuen, lächelte mich freundlich an und bedeutete mir, dass ich jederzeit zu ihm kommen könne , wenn ich etwas benötigte.
Da ich mich nun wieder besser fühlte, ging ich zurück zum Tempel und kam gerade zu der Zeit dort an, als die Mönche ihre Andacht beendeten. Wang Lee schien mich schon gesucht zu haben, denn sein Gesicht hellte sich auf, als er mich kommen sah. Freundlich winkte er mich zu sich heran und erkundigte sich, mit vielen Gesten und Umschreibungen, wo ich gewesen sei. Ich schilderte ihm mein Problem und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass ich beim nächsten Mal gerne die Toilette aufsuchen würde. Nach einer Weile hatte er mich verstanden und führte mich wieder in den Wald außerhalb des Klosters. Nach einer kurzen Strecke sagte mir schon der Geruch, dass wir uns der gesuchten Stelle näherten. Als wir dann zu der Stelle kamen, überlegte ich mir doch, ob ich es nicht auf meine Weise weiter praktizieren sollte. Wir hatten eine längliche Grube erreicht, in die anscheinend alle Klosterbewohner ihre Notdurft verrichteten. Am Rand der Grube war ein Querholz zum Festhalten angebracht und Schwärme von Fliegen und anderen Insekten sorgten mit Sicherheit dafür, dass man sich beeilte. Wie ich später erfuhr, wurde von Zeit zu Zeit die bestehende Grube zugeschüttet und eine neue angelegt. Der Gedanke diesen Ort zu nutzen widerstrebte mir, doch wie hatte ein Offizier während meiner Wehrdienstzeit einmal zu mir gesagt: ›Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und du wirst staunen, an was man sich alles gewöhnen kann!‹
Nach dieser Exkursion fuhren wir mit unserem Krafttraining fort, aber wir merkten immer mehr, dass es mit meiner Ausdauer und meinem Lungenvolumen nicht sehr gut aussah.
Außerdem begann ich auch noch darüber nachzugrübeln, warum ich mir das überhaupt antat und schlagartig ließ meine Leistung noch mehr nach. Wang Lee versuchte, mich wieder zu motivieren, doch so recht gelang ihm das nicht und schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen und ging mit mir zum Abt.
Nachdem wir ihn in einem kleinen Seitenraum des Haupttempels, wo er damit beschäftigt war eine Schriftrolle mit seltsamen chinesischen Schriftzeichen zu beschreiben, gefunden hatten, schilderte Wang Lee ihm das Problem. Der Abt nickte und schaute mich an, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Dann winkte er mich zu sich heran, forderte mich zum Setzen auf und nahm meine Hände in die seinen. Sofort spürte ich wieder diese unheimliche Energie, die von ihm ausging. Nachdem ich dann dem Drang nachgegeben hatte, meine Augen zu schließen und mich nicht mehr dagegen sperrte, dass der Abt auf diese Weise mit mir kommunizierte, hatte ich das Gefühl, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Sprachen miteinander reden könnten.
Zu dieser Zeit konnte ich noch nicht sagen wie das funktionierte, doch es funktionierte genauso gut, oder vielleicht sogar besser, als wenn wir miteinander gesprochen hätten. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet und in das lächelnde Gesicht des Abtes geschaut hatte, war ich bereit, alles von ihnen zu lernen, was sie mir beibringen konnten.
So begann meine Lehrzeit im Kloster und die folgenden Tage und Wochen hatten fast immer den gleichen Ablauf. Im Morgengrauen, gleich nach dem Aufstehen, ging ich mit Wang Lee zum Abt und führte dort mit ihm die morgendlichen Übungen durch. Ich nannte das für mich Tai Chi, obwohl es doch einige Unterschiede gab. Auch hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, gleich danach, während die Mönche ihre Morgenandacht hielten, etwas zu joggen, um meine Ausdauer und Beinmuskulatur zu stärken. Am ersten Tag kam ich nicht weit. Nach drei bis vierhundert Metern verließ mich die Kraft. Doch nachdem ich diesen Stand zwei Tage gehalten hatte, lief ich am dritten Tag einige Meter weiter und als ich dachte, es ginge nicht mehr setzte ich noch ein Stück hinzu. Das führte ich so fort bis ich es geschafft hatte, fünf bis sechs Kilometer am Stück zu laufen. Das war das Pensum, das ich mir selbst auferlegte und bis auf wenige Ausnahmen täglich absolvierte. Nur die Geschwindigkeit oder die Strecke änderte ich ab und zu.
Nach dem Joggen ging ich immer zu dem Wasserbecken, an dem ich meine erste Morgentoilette gemacht hatte. Bald fiel es mir auch nicht mehr schwer, in dem kalten Wasser unterzutauchen und ein wenig zu schwimmen. Diese Körperreinigung, die ich oft auch abends durchführte, tat mir sehr gut, wurde aber von den Mönchen, die das nicht kannten, leise belächelt.
Fast immer schaffte ich es, kurz vor oder am Ende der Morgenandacht, ins Kloster zurückzukommen, um dann mit Wang Lee weiter zu trainieren. Die wenigen Male, die ich später kam, fand ich ihn dann immer schon auf dem großen Platz vor den Unterkünften. Ich baute mir auch bald einige Hilfsmittel, fürs Krafttraining. Sie hatten zwar keinerlei Ähnlichkeit mit den Geräten, die in modernen Fitnessstudios genutzt werden, aber ähnliche Funktionen. Wang Lee und einige andere Mönche nutzten sie gerne mit, denn sie erleichterten einiges.
Die ungewohnte körperliche Betätigung ging nicht spurlos an mir vorüber. Nach den ersten Tagen tat mir jede Körperstelle weh und wenn ich morgens aufstand, musste ich mich zu jeder Bewegung zwingen, da mich schon beim Aufrichten der Muskelkater im Bauch schmerzte. Die ersten Schritte stakste ich steif wie ein Storch durchs Gelände und Wang Lee hatte oft Grund zum Lachen. Erst bei den Tai Chi-Übungen wurden meine Bewegungen langsam wieder geschmeidig und ich merkte auch, dass der Abt manche Übungen bevorzugte, die die Muskeln wieder entkrampften. Es vergingen aber einige Wochen, bis sich mein Körper auf die neue, ungewohnte Betätigung eingestellt hatte.
Nach einiger Zeit vertrug ich auch das Essen besser. Mein Magen hatte sich langsam an die fremde Kost gewöhnt. Mit den Essstäbchen konnte ich auch immer besser umgehen und Wang Lees Chinesisch-Unterricht zeigte erste Früchte.
An der Mittagsandacht der Mönche nahm ich nach einiger Zeit gern und regelmäßig teil. Zum einen verschaffte es mir die Möglichkeit mich auszuruhen und Kraft für das Nachmittagstraining zu schöpfen und zum anderen war es eine gute Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen, zu meditieren und Geist und Körper zu vereinigen. Der Abt, mit dem ich oft in den Abendstunden beisammen saß, lehrte mich auch, dass nur ein gesunder und entspannter Geist zu außergewöhnlichen Leistungen fähig ist. Ich erkannte, dass die Meditation ein gutes Mittel ist, um den Körper dazu anzuspornen. Die Einstellung zum Körper und zum Leben trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei. Wenn der Geist sagt, ich bin schön, gesund und stark, dann strahlt das der Körper, das Gesicht auch aus. Er vermittelte mir, dass es nicht darauf ankommt, stark zu sein und gut kämpfen zu können, sondern dass es wichtig ist, welche Einstellung ich zum Leben, zum Kämpfen, zur Gerechtigkeit habe. Er zeigte und bewies mir, dass es durchaus möglich ist, schwächer und dem anderen unterlegen zu sein und dennoch so viel Kraft und Überlegenheit auszustrahlen, dass der Gegner ohne Worte und Aktion eingeschüchtert wird und jede Konfrontation vermeidet.
Doch vorerst hatte ich damit zu tun, meine Gedanken zu ordnen, zur Ruhe zu kommen und mich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Zeit, in der ich aufgewachsen und in die ich hineingewachsen war, war so angefüllt von Reizen und äußeren Einflüssen, dass der Geist eigentlich gar nicht mehr zur Ruhe gekommen war.
Es war kein Wunder, dass es so viele Menschen mit Schlafstörungen gab, dass so viele Menschen hektisch, nervös und überreizt waren. Wie oft hatte ich es selbst gemacht oder bei anderen gesehen, dass mehrere Dinge auf einmal oder nebeneinander abliefen. Schon als Jugendlicher hatte ich bei den Hausaufgaben laut Musik gehört, durch das geöffnete Fester die Nebengeräusche von der Straße, Gespräche der Passanten oder Familienmitglieder gehört und doch keines von alledem richtig oder einprägsam wahrgenommen.
Wie oft hatte ich gesehen, dass jemand ein Buch las, den Fernseher anhatte und einen Film anschaute und doch keines von beiden richtig verstand. Oder dass beim Zusammensein mit Freunden der Fernseher lief und sich dann der eine oder andere wunderte, wenn man unaufmerksam beim Gespräch war oder einen Einwurf weit weg vom Thema machte.
Dasselbe galt für Bücher und Filme. Wenn ich einen Film bewusst anschaute oder ein Buch bewusst las, ohne mich durch etwas anderes stören oder beeinflussen zu lassen, nahm ich Kleinigkeiten wahr, die mir sonst oft entgangen waren und die mir zum Verständnis des Ganzen oftmals fehlten. Wenn ich mir am Ende des Filmes oder Buches dann noch die Zeit nahm, mit geschlossenen Augen über bestimmte Stellen nachzudenken, fielen mir dann manchmal noch Kleinigkeiten auf, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte.
Zu diesen Erkenntnissen gelangte ich in den Zeiten der Meditation. Ich brachte meinen Körper und Geist zur Ruhe und lernte bewusst zu leben. Mit der Zeit ordnete ich meine Gedanken, lernte aus meinen Fehlern und verstand es, gute Dinge bewusst wahrzunehmen und zu leben.
Doch es gab auch Momente, in denen ich an meine Familie und mein dummes Verhalten, das zum Tod meiner Lieben beigetragen hatte, dachte. Am Anfang zerbrach ich dann fast immer an diesen Erinnerungen und die Selbstvorwürfe wollten kein Ende nehmen. Doch irgendwann verstand ich, dass ich das Geschehene doch nicht mehr ändern konnte und nun das Beste aus meinem jetzigen Leben machen musste. Vielleicht sollte das so sein, vielleicht hatte auch alles einen tieferen Sinn und das Geschehene trug zu etwas Wesentlichem und Wichtigem bei. Vielleicht waren diese Gedanken auch Ausflüchte und Wunschvorstellungen, aber sie halfen mir sehr, meinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Doch es dauerte lange, bis ich mein Gleichgewicht gefunden hatte und auch mit diesen Erinnerungen umgehen konnte.
Mithilfe des Trainings, das bis auf die wenigen Pausen fast den ganzen Tag und sieben Tage in der Woche andauerte, lernte ich langsam meinen Körper kennen und verstehen. Mit der Zeit stählte sich mein Körper und ich lernte Muskeln, wenn sie schmerzten oder überanstrengt waren, zu schonen, die Anstrengung auf andere oder mehrere Körperpartien zu verteilen oder es durch Geschwindigkeit wettzumachen. Da das Training jeden Tag durchgeführt wurde, und in der jetzigen warmen Jahreszeit nur an den wenigen ganz heißen Tagen nachmittags durch Meditation und Andacht im kühlen Tempel ersetzt wurde, machte ich auch gute Fortschritte. So kam es, dass ich schon nach einigen Wochen die ersten Kampf- und Bewegungstechniken erlernte. Doch um einen Trainingskampf selbst mit einem der jüngsten und schwächsten Mönche auch nur annähernd zu bestehen, musste noch viel Zeit vergehen.
Am Anfang fiel es mir noch schwer, meine Ungeduld zu bezähmen und ich wollte rasche Fortschritte sehen. Irgendwann fiel aber die Hektik und Unruhe meines bisherigen Lebens von mir ab und ich wurde ruhiger und gelassener. Ich lernte, dass man vieles mit Ruhe ertragen konnte, wenn man bereit war, es als gegeben und unumgänglich hinzunehmen.
Eines Tages erkannte ich auch, dass der kahlgeschorene Kopf der Mönche nicht nur rituelle Bedeutung hatte, sondern dass es auch einen rein praktischen Hintergrund gab. Der ständige Juckreiz auf dem Kopf war belastend und beim Kratzen bemerkte ich, dass ich Läuse hatte. Als ich das Wang Lee mitteilte, machte dieser mir klar, dass es besser wäre, wenn ich mir den Kopf kahlrasieren lassen und die andere Körperbehaarung kurz halten würde. Auf diese Weise wurde ich diese Plagegeister wieder los und ich fühlte mich nicht einmal unwohl, da alle um mich herum so aussahen.«