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Teil 1

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Anmerkung zu § 1:

Also, ich persönlich sehe in den Wissenschaften der 20er und 30er Jahre keine Krisis. Das bedeutet aber nicht, dass sich die Wissenschaft zum heutigen Zeitpunkt nicht inzwischen doch in einer Krisis (oder Krise, was für mich das Gleiche ist) befindet. So sprechen wir heute beispielsweise von der kosmologischen Krise, in der sich die Wissenschaft befindet... Warum sollte Husserl also zum damaligen Zeitpunkt eine Krise der Wissenschaften konstatieren. Meint er eine Krise der wissenschaftlichen Methoden, oder geht es ihm gar nicht um die Wissenschaft, sondern um die Philosophie. Oho, das ist interessant. Husserl will, wir werden es sicherlich noch sehen, die Philosophie als reine Wissenschaft begründen, als reine Phänomenologie. Man könnte es in eine solche Formel bringen:

Philosophie = Wissenschaft = Phänomenologie

Ob Husserl nun mit Wissenschaft die tatsächlichen Einzelwissenschaften anspricht, oder nur die Philosophie meint, die er gerne in der Rolle der Mutter aller Wissenschaften sehen möchte Husserl geht da zurück bis zu den alten Griechen, bei denen Wissenschaft und Philosophie noch in eins zusammenfiel), muss sich erst noch zeigen. Wir werden sehen.

Damals gab es jedenfalls noch keine Krise der wissenschaftlichen Methode. Vielleicht auch deshalb keine Krise (Krisis) der Methode, weil die Wissenschaft, zumindest zum damaligen Zeitpunkt, an sich noch eine ausgesprochen phänomenologische war. Der ganze Zuschnitt der Wissenschaft zur Jahrhundertwenden vom 19. zum 20. Jahrhundert war an sich ein mehr oder weniger phänomenologischer. So gesehen hat Husserl die Phänomenologie nicht erfunden, sondern ihr nur eine äußere philosophische Form gegeben, wenn auch vielleicht eine äußerst problematische... Freud beispielsweise bemüht in seinen sämtlichen Schriften ständig den Begriff der Phänomene, und man kann in ihm den Prototypen eines guten und gesunden Phänomenologen sehen. Freud war nämlich ein geradezu genialischer Beobachter. Andere Phänomenologen waren Mach und Vaihinger, die sich allerdings zu einem radikalen Phänomenalismus bekannten.

Man kann übrigens auch in Newton, Darwin, Planck und Einstein echte Phänomenologen sehen. Ich bin sicher, sie hätten da keinerlei Einwände...

Übrigens ist der Begriff der "Phänomenologie" kein Zitat der bisherigen Philosophie von Husserl selbst, keine Selbstetikettierung, sondern der Begriff wurde von außen an ihn und seine Philosophie herangetragen... Zumindest so viel ich weiß. Erst danach sprang der Funke über.

Ich könnte mir vorstellen, das wenn man damals allgemein von einer Krise der Wissenschaft sprach, dann war das einfach den Erfindungen der Relativitätstheorie und der Quantenphysik geschuldet die praktisch ein komplettes physikalisches Weltbild zum Einsturz brachten. Dann kam 1922 die Entdeckung er allgemeinen Galaxienflucht von Hubbel dazu, was zur Urknalltheorie führte. Es ist vollkommen klar, dass diese vielen geradezu gewaltigen Paradigmenwechsel eine ebenso gewaltige Erschütterung der Wissenschaften und auch der Gesellschaft auslösten. Aber vielleicht handelt es sich dabei weniger um eine "Krise" der Wissenschaften, als vielmehr um ihren eigentlichen Sieg.

Anmerkung zu § 2:

Husserl stellt in § 2 die Frage "nach Sinn oder Sinnlosigkeit des ganzen menschlichen Daseins." In der Überschrift hieß es: "Die positivistische Reduktion der Idee der Wissenschaft auf bloße Tatsachenwissenschaft." Was Husserl kritisiert, ist, dass die positivistisch reduzierte Wissenschaft nicht mehr von der Frage nach dem Sinn infiziert, nicht mehr von dieser Frage getragen ist. Wobei, den Naturwissenschaften billigt er diese Reduktion zu, aber nicht der Geisteswissenschaft. Hier muss also unterschieden werden, zwischen Naturwissenschaften, die ohne weiteres auf bloße Tatsachenwissenschaften positivistisch reduziert werden dürfen, und den Geisteswissenschaften, die dies eben nicht dürften. Und weiter heißt es in der Überschrift: Die "Krisis" der Wissenschaft als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit". Man könnte vielleicht einschränkend sagen: Die "Krisis der Geisteswissenschaften als Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit (oder genauer, als Verlust ihres Lebens"sinns"). Die von mir hier gemachte Einschränkung der Husserlkritik an den Wissenschaften auf eine Kritik lediglich an den Geisteswissenschaften scheint mir hier einfach notwendig zu sein.

Anmerkung zu § 3:

Was will Husserl eigentlich? Worauf will er hinaus? Ich könnte nicht einmal die Einzeloptionen angeben, die Husserl hier zu präformieren versucht... Husserl ist für mich in § 3 jedenfalls nicht greifbar. Er entzieht sich mir und meinem Zugriff ständig wie eine Schlange.

Nur ein Beispiel - ein Beispiel von vielen: Husserl stellt fest, dass Philosophie, Theologie und Wissenschaft bis zur Renaissance noch eine Einheit bilden, und dass diese Einheit mit der Renaissance zerbricht, bis das Auseinaderbrechen dann in der Aufklärung seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluss findet. Steiner hat ja viele Vorträge dazu gehalten...Für mich ein großartiger Sieg der Vernunft. Für Husserl der Inbegriff der Krise des europäischen Menschentums. Will Husserl nun hinter den großen Bruch zurück? Will er die Einheit wieder herstellen? Er müsste doch eigentlich wissen, dass das unmöglich ist. Die Entwicklung geht immer nur vorwärts, niemals rückwärts...Jedenfalls nicht zurück in vorwissenschaftliche Zeiten.

Husserl bringt da zwei Ebenen durcheinander: Wenn die Wissenschaft sich von der Philosophie trennt, ist das ihre Sache. Dadurch wird die Philosophie nicht enthauptet... Wenn Wissenschaft im Husserlschen Sinne positivistische Restwissenschaft ist, dann ist das mehr als legitim. Wenn aber auch noch der Philosophie, etwa durch Kant, das Recht abgesprochen werden soll, die großen Menschheitsfragen zu stellen, dann ist das "in der Tat" eine Enthauptung der Philosophie. Und in dem Punkt hätte Husserl recht, wenn er die Philosophie wieder in den Stand versetzen wollte, Universalphilosophie zu sein, und nicht nur ein Torso... Aber dann soll er bitte nicht auch noch an der Wissenschaft herumdoktern, an deren Wissenschaftlichkeit und Integrität er ja in § 1 keinerlei Zweifel gelassen hatte. Er kann jedenfalls nicht in vorwissenschaftliche Zeit zurück. Und darum kann er die positiven Wissenschaften auch nicht mehr mit den großen Menschheitsfragen - etwa nach dem Sinn des Lebens - belasten. Jeder Wissenschaftler würde das weit von sich weisen. Zu recht, wie ich finde. In dieser Frage kann es praktisch nur noch eine Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Philosophie geben.

Man könnte auch sagen: Kant hat die Philosophie enthauptet, aber nicht der positivistische Bruch zwischen Wissenschaft und Philosophie am Beginn der Neuzeit.

Ein weiteres Beispiel: Husserl schreibt:

"Nicht immer waren die spezifischen Menschheitsfragen [Anm.: nach dem Sinn] aus dem Reiche der Wissenschaft verbannt und ihre innere Beziehung zu allen Wissenschaften, selbst zu denen, in welchen nicht der Mensch [Anm.: oder der Geist] das Thema ist (wie in den Naturwissenschaften), außer Betracht gestellt." (§3)

Mit der Neuzeit jedenfalls findet der große Bruch statt, und jeder vernünftig denkende Mensch feiert dies als den Sieg der Vernunft. Nicht so Husserl. Aber was will er? Die Tatsachenwissenschaften wieder mit den spezifischen Menschheitsfragen nach Sinn und Unsinn des Lebens, des Menschen und der Geschichte belasten? Die Wissenschaften hatten sich doch gerade erst davon und sind aus dem Schatten der Theologie getreten. Und sie werden ihre Freiheit bestimmt nicht wieder aufgeben. Nicht freiwillig.

Anmerkung zu § 4:

Wenn Husserl von anfänglich gelingender Wissenschaft spricht, dann meint er doch wohl die Tatsachenwissenschaften genau so, wie die Philosophie, und zwar als universelle Wissenschaften. Wenn das Projekt einer universellen Philosophie scheitert, dann ist das nach Husserl der Tatsache geschuldet, dass sich die Einzelwissenschaften im Sinne des Positivismus reduziert hatten. Ich persönlich bin da anderer Ansicht. Ich sehe das Scheitern erst viel später, nämlich da, wo Kant jedem Universalitätsanspruch schlicht den Garaus gemacht hat.

Anmerkung zu § 5:

In § 3 war es noch die Philosophie, die ihre Krisis aus dem Reduktionismus der Wissenschaften zog. Jetzt scheint Husserl, möglicher Weise mit sich selbst im Unklaren, die Wissenschaften aus der Krise der Philosophie, die ihr von Husserl unterstelltes Ideal einer universellen Philosophie nicht einlösen kann, selbst in eine Krisis zu geraten. Fragt sich, was zuerst war: Huhn oder Ei? Offensichtlich versucht Husserl krampfhaft, die verlorengegangene Einheit von Wissenschaft und Philosophie wieder herzustellen. Dabei erkennt Husserl nicht, dass es hier keinen gemeinsamen Kitt mehr gibt, und dass die Wissenschaft in der Neuzeit einfach eigene Wege gehen "muss". Der Bruch zwischen Theologie, Philosophie und Wissenschaft ist eine historische Tatsache, und nicht mehr rückgängig zu machen. Alles andere würde einen Rückfall in vorwissenschaftliche Zeit bedeuten... Könnte es sein, das Husserl einfach die Zeichen der Zeit nicht verstanden hat?

Ich habe ein bisschen das Gefühl, als wolle Husserl die Philosophie und die Wissenschaft unter dem Dach einer universellen Philosophie wiedervereinigen. Irgendwie scheint das das Ideal zu sein, von dem er träumt. Wenn dem so wäre müsste man ihm aber eine klare Absage erteilen.

Anmerkung zu § 6:

Ich habe immer wieder das Gefühl, dass Husserl ein unentschieden-ambivalentes Verhältnis den Dingen gegenüber hat. Z.B. der Begriff "transzendentale Phänomenologie": einerseits eine Anlehnung besonders an Kant, andrerseits aber auch eine bewusste Abgrenzung.

Oder der Begriff Entelechie des europäischen Menschentums: Mit der Idee oder dem Ideal einer universalen Philosophie knüpft Husserl an Platon an, aber mit dem Begriff einer Entelechie (Seele) knüpft er an Aristoteles an. (Wobei man ihm dieses Kontinental-Seelenhafte auch als chauvinistische Spielart eines globalen Rassismus auslegen kann. Die europäische Philosophie ist ja geradezu infiziert davon...)

Ich glaube fast, Husserl will kein Philosoph sein, sondern Theologe.

Anmerkung zu § 7:

Husserl weist in § 7, dem letzten der Einleitung, noch einmal auf die Krisis der europäischen Philosophie hin. Eine Lösung bietet er noch nicht, aber er verspricht, im Laufe der eigentlichen Schrift den Leser zu einer solchen Lösung zu führen und anzuleiten. Dabei "wird insbesondere das tragische Versagen der neuzeitlichen P s y c h o l o g i e verständlich und erleuchtet werden..." Es ist klar, dass der Kritik an der Psychologie und dem Psychologismus seit den so erfolgreichen "Logischen Untersuchungen" Husserls besondere Aufmerksamkeit gilt. Schließlich ist es sein Steckenpferd. Nun gut, lassen wir uns denn vielleicht einfach in Bezug auf "beides" überraschen.

Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften

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