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4 „Sima de los Huesos“ – der älteste Mordfall der Menschheitsgeschichte

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Größer, älter und besser erhalten als alles Bisherige, auf seine Art einzigartig, neu oder spektakulär, zumindest aber unerwartet sollte heutzutage ein archäologischer Fund sein, um sich in Fachkreisen einen Namen zu machen und möglichst auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden. Ein Superlativ im Publikationstitel verspricht höchste Aufmerksamkeit. So wurde im Jahr 2011 ein verheilter Defekt an der rechten Schläfe des bereits 1958 entdeckten Schädels „Maba 1“ aus der südchinesischen Provinz Guangdong als „Altersrekord für Körperverletzung unter Homo sapiens“ vorgestellt. Es handelt sich bei diesem Befund zweifellos um eine verheilte Impressionsfraktur. Die beteiligten Fachleute schließen als Ursache zwar einen Unfall nicht aus, favorisieren jedoch interpersonelle Gewalt. Die nur indirekt mittels assoziierter Faunenreste und über die Stratigrafie ermittelte Datierung des Stücks ist unsicher und wird mit 129.000 bis 135.000 Jahren angegeben, könnte aber auch 237.000 Jahre zurückreichen. Es hätte sich damit also um den ältesten bis dahin bekannten Fall dieser Art handeln können, wenn man die zumeist mit Tierverbiss in Verbindung gebrachten Läsionen an den Schädeln aus „Zhoukoudian Locality 1“ und die unter anderen Erklärungsmöglichkeiten als Verletzung diskutierte Veränderung im linken Stirnbereich von „Hulu 1“ aus Nanjing außer Acht lässt. Beide werden Homo erectus zugeordnet und auf ca. 350.000 bzw. mindestens 485.000 Jahre vor heute datiert. Bis 2009 gehörte auch der Urmensch von Steinheim an der Murr mit einem Alter von ca. 320.000 Jahren noch in die Spitzengruppe dieser fragwürdigen Toplist. Dann konnten die festgestellten Defekt- und Verformungsspuren endgültig als taphonomisch abgehakt werden. In Anbetracht dieser unsicheren Kandidaten könnte es sich – bis ein noch älterer Beleg gefunden wird – bei dem nachfolgend beschriebenen Objekt tatsächlich um das älteste Dokument interpersoneller Gewalt handeln. Auch wenn hier vielleicht „nur“ ein Totschlag vorliegt, es ist nicht opportun, juristische Differenzierungen der Neuzeit auf das Mittelpaläolithikum zu übertragen.

Die Sima de los Huesos (spanisch für „Knochengrube“) ist eine Kammer am Grund eines 13 m tiefen, senkrecht abfallenden Schachts der Höhle Cueva Mayor in der Sierra de Atapuerca, einem kleinen, inzwischen als UNESCO-Welterbe ausgewiesenen Höhenzug in der Provinz Burgos im Norden der Iberischen Halbinsel. In dieser Region, die seit Jahrzehnten intensiv erforscht wird, immer wieder spektakuläre Funde geliefert und unter Paläoanthropologen einen klangvollen Namen hat, findet sich auch die bekannte Gran Dolina. Einer der bekanntesten Funde ist der 1992 dort ausgegrabene Schädel „Nr. 5“, der unter Spezialisten als der am vollständigsten erhaltene eines Homo heidelbergensis gilt.

Der in der Sima de los Huesos gefundene, aus 52 Fragmenten zusammengesetzte und als „Cranium 17“ bezeichnete Schädel, den Nohemi Sala vom Zentrum für Evolution und Verhaltensforschung in Madrid und Kollegen im Mai 2015 publiziert haben, stammt von einem jungen Erwachsenen (18 bis 25 Jahre alt). Überliefert sind Stirnbein, Keilbein, linkes Scheitel- und Schläfenbein, das Hinterhaupt sowie beide Oberkieferhälften mit insgesamt elf Zähnen, also ein nicht ganz komplettes Kalvarium. Aus der erwähnten Kammer sind bis heute fast 7000 Menschenknochen geborgen worden, sämtlich ohne Schnittspuren, nur wenige mit Tierverbiss, von mindestens 28 Individuen stammend, die ursprünglich wohl vollständig dort hineingerieten. Mittlerweile durchgeführte DNA-Analysen weisen den zunächst als Homo heidelbergensis angesprochenen Schädel, für den ein Alter von 430.000 Jahren angegeben wird, heute als Früh- oder Protoneandertaler aus.

Das Besondere daran sind zwei unregelmäßig geformte, jeweils ca. 1,5 cm x 2 cm große, durch einen Ausbruch miteinander verbundene Lochdefekte (Trauma 1 und Trauma 2) auf der linken Stirnbeinhälfte. Dazu kommen typische Berstungsfrakturen zu beiden Augenhöhlen und zur Kranznaht hin sowie partielle Randabsprengungen auf der Außen- und Innenseite. Die Bearbeiter schließen aufgrund einer an beiden Traumata erkennbaren winkligen Teilkontur (Ecke) und daraus abgeleiteter unterschiedlicher Orientierung und Auftreffrichtung auf zwei tödliche Schläge mit demselben Gegenstand „standardisierter Größe und Form“. Dass die nahezu identischen Läsionen weder auf einen Sturz, Steinschlag oder Tierverbiss zurückzuführen noch mit rituellen Praktiken oder einem Jagdunfall in Verbindung zu bringen oder als Folge einer Selbstbeibringung zu deuten sind, gilt als sicher. Mindestens zwei dieser Ursachen verbietet allein der gesunde Menschenverstand. Unter Bezug auf die sogenannte Hutkrempenregel, wonach Schlagtraumatisierungen eher über dieser gedachten Linie und Sturzverletzungen eher darunter liegen, die Tatsache, dass zweimal zugeschlagen wurde, sowie die Lage der beiden Defekte oberhalb des linken Auges implizieren die Autoren eine Face-to-face-Situation zwischen dem Opfer und einem rechtshändigen, mit Tötungsabsicht agierenden Angreifer. Doch halten der vorliegende Befund und dessen Interpretation einer kritischen Beurteilung stand?


Atapuerca, Sima de los Huesos, Spanien. Frontalansicht eines ca. 430.000 Jahre alten, zu Homo Heidelbergenis zählenden und aus 52 Fragmenten rekonstruierten Schädels eines jüngeren Erwachsenen mit zwei nahe beieinander liegenden Lockdefekten in der linken Stirnregion. Gilt als bislang ältester Fall interpersoneller Gewalt bei der Gattung Homo.

Es werden zu den Verletzungen weder exakte Maße noch wird eine Angabe zur Knochendicke mitgeteilt. Bei Trauma 1 ist endokranial fast umlaufend ein Aussprengkrater zu erkennen, bei Trauma 2 nicht. Zur Entstehung beider sind die gleiche Intensität oder Kinematik und ähnliche Auftreffgeschwindigkeiten anzunehmen. Die erwähnte „Ecke“ reicht jedoch bei Trauma 1 trichterförmig bis in die Tiefe und ist bei Trauma 2 nur oberflächlich erkennbar. Zudem fehlen in beiden Fällen Mikroterrassen auf der Außentafel, sodass sie kaum als werkzeugseitig anzusehen sind und keine Kontur des Werkzeugs abbilden. Die rekonstruierten Richtungsunterschiede hinsichtlich der Einwirkungsgeometrie basieren somit allein auf der Kontur des Schädels und der Annahme jeweils rechtwinkligen Auftreffens des verwendeten Gegenstands. Rückschlüsse auf die Auftreffrichtung sind anhand der vorliegenden Spuren jedoch nicht möglich. Bei einem Sturz über 13 m ist fraglich, ob dieser ohne Wechselwirkung mit den Schachtwänden möglich gewesen wäre. Zudem kann bei freiem Fall nicht mit der Hutlinie argumentiert werden.

Eine Face-to-face-Situation ist mehr als unwahrscheinlich. Die beiden Traumata liegen auf weniger als Streichholzschachtelgröße beieinander. Zu ihrer Erzeugung sind viel Kraft und weites Ausholen – mit welchem Gegenstand auch immer – erforderlich. Doch würde der Getroffene nach dem ersten Schlag regungslos stehen bleiben? Eher nicht! Somit kommt der Flächendichte der höchste Aussagewert zu: Die Täter-Opfer-Geometrie hat sich definitiv nicht geändert. Das Opfer dürfte bereits regungslos und in Rückenlage am Boden gelegen haben, als die Schläge trafen. Nicht dokumentiert oder diskutiert werden in der Publikation die Fundlage des Gesichtsschädels, zu erwartende Imprimatreste, mögliche Grabungsartefakte und die Reihenfolge der Traumatisierungen – nach Lage der Dinge am ehesten Trauma 1 vor Trauma 2. Ferner gilt: Mit Verletzungen im Stirnbereich kann man theoretisch tagelang überleben. Das Fehlen von Heilungserscheinungen bedeutet also nicht, dass das Opfer sofort gestorben ist.

Man kann im vorliegenden Fall zwei unabhängige Traumatisierungen von Menschenhand annehmen. Alle Anzeichen deuten auf Schläge mit einem stumpfen, länglichen Gegenstand mit beträchtlicher Masse hinter der Einwirkungsfläche: Heutzutage wäre vielleicht die Pinne eines Pickels vorstellbar. Für die damalige Zeit kommen nur wenige Werkzeuge infrage: Wenn es ein Faustkeil war, muss dieser sehr groß gewesen sein und eine ausgearbeitete Spitze gehabt haben. Der 1998 zwischen den Menschenknochen in der Sima de los Huesos angetroffene Faustkeil, der den Namen „Excálibur“ erhielt, aus rotem Quarzit gefertigt war und deshalb von weither gebracht worden sein musste, kommt aufgrund seiner geringen Dimensionen (Länge 16 cm, Breite 9 cm, Dicke 5 cm) und der eher rundlichen Spitzengeometrie dafür nicht infrage. Eine Geweihhacke scheidet mangels Massigkeit ebenfalls aus. Unter Umständen könnte man an eine Lanze oder einen Speer denken – Stangenwaffen, wie sie mindestens seit 270.000, möglicherweise auch schon seit 400.000 Jahren aus Schöningen bekannt sind.

Als Motiv für das vorliegende Tötungsdelikt kommen Streitigkeiten zwischen oder innerhalb von Kleingruppen, Missgunst, Eifersucht und anderes in Betracht. Tätliche Auseinandersetzungen sind also ganz offensichtlich so alt wie die Menschheit selbst. Ob allerdings die Knochengrube in der Cueva Mayor den frühen Neandertalern in Nordspanien tatsächlich als eine Art Friedhof diente, wie die Ausgräber meinen, müssen weitere Untersuchungen zeigen.

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