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Wenn eine Leiche gefunden wird …

… hört man in Filmen von Protagonisten weiblichen Geschlechts stets einen markerschütternden Schrei. Ein desillusionierter Detective oder eine coole Kommissarin tasten dagegen als Erstes nach dem Puls der Halsarterie, ob vielleicht doch noch Leben in dem Körper steckt. Alles Weitere ist Routine.

Im realen Leben stellen sich bei der Auffindung von Leichen oder Leichenteilen verschiedene Fragen. Mit an vorderster Stelle: Wer ist zuständig? In diesem Zusammenhang gilt es unter anderem, Folgendes zu klären: Liegt eine natürliche Todesursache vor? Muss die Staatsanwaltschaft tätig werden? Hat ein Totengräber nicht aufgepasst? Fällt die Angelegenheit in den Zuständigkeitsbereich der Archäologen? Zu den entscheidenden Faktoren gehören dabei der „Frischegrad“ des Leichnams, seine Vollständigkeit sowie die Fundumstände und die Fundsituation. Am raschesten erledigt ist eine solche Angelegenheit, wenn jemand im Krankenhaus stirbt – es sei denn, die Hinterbliebenen vermuten einen Behandlungsfehler. Das Vorhandensein von Weichteilen schließt nicht zwangsläufig die Archäologen aus, denn Mumifizierungsprozesse können je nach Liegebedingungen – z.B. auf einem trockenen, gut durchlüfteten Dachboden – innerhalb weniger Jahre stattfinden oder einen Körper im Moor für Jahrtausende konservieren. Ähnliches gilt bei Skelettfunden, die von einem Toten stammen könnten, der erst vor wenigen Monaten im Wald verscharrt wurde. Oder es sind bereits Archäologen vor Ort, die im Vorfeld einer geplanten Baumaßnahme oder infolge vorangegangener Aktivitäten von Raubgräbern Ausgrabungen durchführen.

Da bei unerwartet angetroffenen Überresten in der Regel als Erstes die Polizei gerufen wird, konzentriert sich deren primäres Interesse zunächst auf die Liegezeit des Leichnams bzw. das sogenannte postmortale Intervall (PMI). Denn obwohl es in Deutschland laut Gesetz keine Verjährungsfrist für Mord gibt, werden nach einem PMI von über 50 Jahren üblicherweise keine polizeilichen Ermittlungen mehr eingeleitet. Doch diese Grenze ist schwieriger zu bestimmen, als man denkt. Die Gerichtsmediziner verfügen zwar über verschiedene Methoden, ein PMI von Stunden (Körpertemperatur, Einsetzen der Leichenstarre) oder Tagen (Veränderungen im Glaskörper des Auges, Auflösung der Leichenstarre) vergleichsweise präzise zu bestimmen. Bei Wochen und Monaten kommen, sofern die Leichen für Insekten zugänglich sind, die über den bekannten Kriminalbiologen Mark Benecke bekannt gewordenen, den Leichnam sukzessive besiedelnden Fliegen- und Käferspezies ins Spiel. Aber nach Jahren oder Jahrzehnten liefern unter Umständen nur noch die Durchwurzelung – je nach Vegetation am Fundort – oder die Beurteilung eines Knochenquerschnitts im UVLicht grobe Anhaltspunkte. Auch die unter Anthropologen verbreitete Lippen-Adhäsions-Probe kann hier keine genaueren Angaben liefern, da Knochen in entsprechendem Liegemilieu unter Umständen auch nach jahrzehntelanger Inhumierung noch reichlich organische Bestandteile aufweisen.

Als zusätzliche Indizien zur Bestimmung des PMI kommen gegebenenfalls vorhandene Prothesen oder Zahnersatzmaterialien infrage, die zu bestimmten Zeiten verwendet wurden und später nicht mehr, oder Kleidungsreste, Schmuck oder sonstige Beifunde, die ebenfalls als zeittypisch gelten können. Letztere liefern neben möglicherweise charakteristischen Grabformen (Steinkisten, Reste von Holzsärgen oder Ähnliches), Körperhaltungen (gestreckte Rückenlage oder Bestattung in seitlicher Hocklage) oder Ausrichtung (zum Beispiel Orientierung in West-Ost-Richtung im frühen Mittelalter) auch den Archäologen erste Hinweise für die chronologische Einordnung eines Grabfundes.

Im Zweifelsfall oder wenn derartige Kriterien nicht zur Verfügung stehen, besteht zwar immer noch die Chance, anhand von Knochenproben eine Radiokarbondatierung durchzuführen, doch 14C-Analysen sind zur Bestimmung kürzerer Zeiträume nicht geeignet. Es ist aber auch schon vorgekommen, dass Polizei und Rechtsmedizin ein 3000 Jahre altes bronzezeitliches Frauengrab aufgrund der vorgefundenen, fälschlicherweise als „billiger Modeschmuck“ angesprochenen grünlich korrodierten Accessoires und ohne Hinzuziehung von Archäologen oder Anthropologen als Fall für die Staatsanwaltschaft eingestuft haben. Ob und wie lange die Vermisstenkartei in dieser Angelegenheit erfolglos durchforstet wurde, ist nicht überliefert.

Sobald die Zuständigkeiten geklärt sind, geht es darum, den vorgefundenen Leichen oder Leichenteilen so viele Detailinformationen zu entlocken wie möglich. Dabei liegen die methodischen Ansätze zwischen dem Rechtsmediziner, der sich im Auftrag der Staatsanwaltschaft der rezenten – das heißt bis 50 Jahre alten – Fälle annimmt, um dann der Kripo für deren Ermittlungen entsprechende Erkenntnisse zu liefern, und dem Anthropologen, dem auf Veranlassung der archäologischen Denkmalpflege alle älteren, nicht selten bis zu mehrere Tausend Jahre alten Skelette zufallen, um daraus Rückschlüsse auf die Lebensumstände unserer Vorfahren zu gewinnen, gar nicht so weit auseinander. Die Unterschiede liegen am ehesten darin, dass Ersterer es mit mehr oder weniger frischen Leichen zu tun hat, deren Identität und Todesursache es festzustellen gilt, um Ermittlern und Gericht zuzuarbeiten. Letzterer hingegen beschäftigt sich bis auf seltene Ausnahmen ausschließlich mit Skelettresten, und die von ihm obduzierten Menschen bleiben fast immer anonym. Die Untersuchung urkundlich bekannter historischer Persönlichkeiten gehört in diesem Metier zu den seltenen Ausnahmefällen. Wenn ausschließlich Knochen vorliegen, lässt sich erwartungsgemäß auch die Todesursache nur selten ansprechen. Beiden Berufssparten stehen jeweils Dutzende von Fachzeitschriften zur Verfügung, wobei die Überschneidungen im Methodenspektrum groß sind – sie reichen von bewährten klassischen Verfahren bis hin zu DNA-Analysen nach modernstem Standard.

Todesart und Todesursache

Es gibt per definitionem nur zwei Todesarten, jedoch unendlich viele Todesursachen. Das klingt nach Wortklauberei, doch Wissenschaftler und Juristen sind stets gehalten, die fachübliche Terminologie zu verwenden und mit klar definierten Begriffen zu operieren. Die Todesart ist entweder natürlich oder nicht natürlich. Ist sich der Arzt, der die Leichenschau durchführt, unsicher, hat er die Möglichkeit, auf dem Totenschein die Kategorie Todesart ungeklärt anzukreuzen. Natürlicher Tod ist üblicherweise die Folge einer vielleicht schon länger bestehenden Krankheit, von Altersschwäche oder Organversagen, nicht natürlicher Tod die Folge eines unter Umständen viele Jahre zurückliegenden Unfallgeschehens, von Fremdeinwirkung oder Suizid. Entscheidend ist dabei der Ursprung der Wirkungskette, der letztlich zum Tod geführt hat. Diese Wirkungskette gilt es zu dokumentieren, das heißt die Grunderkrankung (die innere Ursache, z.B. Mammakarzinom) oder die äußere Ursache (z.B. Verkehrsunfall), die in fortgeschrittenem Stadium oder direkt (Metastasen im Gehirn, Schleudertrauma, Quetschung des Brustkorbs) die unmittelbare Todesursache (Hirnblutung, Herzinfarkt) bewirkt hat. Bei der Feststellung nicht natürlicher Tod oder Todesart ungeklärt kommen Polizei und Staatsanwaltschaft auf den Plan und nehmen sogenannte Todesermittlungen auf. Kommt Fremdverschulden in Betracht, ordnet der Staatsanwalt die Obduktion durch einen Gerichtsmediziner an, um die Todesursache abzuklären.

Der im Rahmen der Leichenschau auszustellende Totenschein ist ein mehrseitiges Formular, das von Bundesland zu Bundesland variiert und aus einem vertraulichen und einem nicht vertraulichen Teil (im Freistaat Bayern Blatt 1–5) besteht, die ihrerseits farblich unterschieden sind und mit Durchschlägen in verschlossenen Kuverts den Angehörigen – für das Standesamt zur Beurkundung des Sterbefalls und zur Weiterleitung an das Gesundheitsamt –, dem Hausarzt und dem Rechtsmediziner zugleitet werden. Laut aktuell gültiger Gebührenordnung für Ärzte (Ziffer 100 GOÄ) fallen für die Leichenschau und das Ausstellen des Totenscheins Euro 33,51 plus Wegegeld (einfache Strecke, gegebenenfalls mit Nachtzuschlag) an. Ein separater Hausbesuch darf nur hinzugerechnet werden, wenn der Verstorbene noch gelebt hat. Soll der Leichnam eingeäschert werden, ist zum Beispiel in Rheinland-Pfalz vor der Kremation eine zweite Leichenschau zwingend vorgeschrieben, denn eine spätere Obduktion ist an den verbrannten Überresten nicht mehr möglich.

Die Todesursachenstatistik, die jedes Bundesland anhand der eingereichten Todesbescheinigungen führt, gibt jedoch nur annähernd die tatsächlichen Verhältnisse wieder: Nachuntersuchungen haben gezeigt, dass die auf dem Totenschein vermerkte Todesursache nur in etwa zwei Drittel der Fälle mit dem Sektionsergebnis des Gerichtsmediziners übereinstimmt, dass bei der ärztlichen Totenschau in Deutschland pro Jahr schätzungsweise ein- bis zweitausend Tötungsdelikte unerkannt bleiben und in mehr als zehntausend Fällen fälschlicherweise natürlicher Tod bescheinigt wird. Das ist ein Resultat der hierzulande sehr geringen Obduktionsfrequenz von lediglich drei bis vier Prozent, die im internationalen Vergleich um das Drei- bis Vierfache höher liegt. Wer Böses im Schilde führt, könnte fast versucht sein, dies als Ermutigung aufzufassen.

Es gibt unzählige Möglichkeiten, ums Leben zu kommen: versehentlich oder absichtlich, durch eigene oder fremde Hand, durch wilde Tiere, Krankheiten, Naturgewalten, unter Verwendung von Hilfsmitteln, infolge tätlicher Auseinandersetzungen, einer Brandkatastrophe, eines Unfalls oder eines Behandlungsfehlers. In einem konkreten Fall die eigentliche Todesursache zu ermitteln, ist demzufolge nicht immer so einfach, wie die einschlägigen Fernsehserien suggerieren. Viele Möglichkeiten lassen sich gemäß der jeweiligen Spurenlage zwar ausschließen, im Detail sind jedoch häufig Spezialuntersuchungen nötig. Auch ein mit Blut verschmierter Gegenstand, der neben einem Erschlagenen gefunden wird, muss nicht zwangsläufig das Tatwerkzeug sein. Die forensische Literatur ist voll von allen möglichen und bisweilen auch unmöglich scheinenden, mit gesundem Menschenverstand kaum vorstellbaren Spielarten.

Der Anthropologe hat es im Vergleich zum Rechtsmediziner noch schwerer: Es sind keine Weichteile mehr vorhanden, die Spuren von Krankheiten oder Gewalteinwirkung aufzeigen könnten; er kann keine Körperflüssigkeiten, inneren Organe oder Haare auf mögliche Giftstoffe hin analysieren; oft sind sogar die Skelettreste aufgrund ungünstiger Liegebedingungen so schlecht erhalten, dass sie kaum noch Informationen liefern. Und das größte Problem: Eine Lungenembolie, auch Nierenversagen, Leberzirrhose, Herzinfarkt, Alkoholabusus, Ertrinken, Ersticken und Vergiften oder – je nach Ausführung – Messerstiche in den Bauch, ein Kehlschnitt, geöffnete Pulsadern und anderes sind am Knochen nicht erkennbar. Nur wenige Krankheiten und nur ein Teil der Gewalteinwirkungen hinterlassen überhaupt Spuren am Skelett.

Die in diesem Buch beschriebenen Fälle sollen beispielhaft aufzeigen, mit welchen Methoden die beteiligten Spezialisten zu weiterführenden Erkenntnissen gekommen sind.

Knochenarbeit

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