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10. Das Wesen des Reichs: Projekte und Kultur

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In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstand eine große Bandbreite an Literatur zur Reform und weiteren Entwicklung des Reichs. Die Debatte wurde nun kontinuierlicher geführt und mehr Autoren als in zurückliegenden Epochen nahmen daran teil. Die Konfessionsspaltung überwand man dabei bewusst, wobei protestantische Autoren weiterhin überwogen. Öffentliches Recht wurde an katholischen Universitäten nicht vor 1720 unterrichtet und in Wien blieb die alte Idee der translatio imperii, die Theorie vom Übergang des römischen Kaisertitels via Byzanz auf die Franken und dann die Deutschen, bis ins 18. Jahrhundert prägend.1 Dennoch begannen katholische Autoren nun an der breiteren Debatte über Reformen teilzunehmen und zeichneten verantwortlich für einige der gewagteren Entwürfe zur weiteren Entwicklung des Reichs. Wichtige Initiativen zur Förderung der Reichseinheit entstanden in Mainz und dann in Wien. Einige der Reformer, die in der Zeit vor 1665 am Hof von Johann Philipp von Schönborn in Mainz begonnen hatten, tauchten nun in Wien wieder auf oder ihre Schüler und Mitarbeiter trugen ihre Ideen weiter.

Der Friede von 1648 machte mit einer Liste zukünftig zu bearbeitender Themen – den negotia remissa – eine breite Debatte über eine Reichsreform fast unausweichlich. Drei weitere Faktoren kamen hinzu. Die Diskussionen fanden ein Forum im Reichstag, der ab 1663 zur ständigen Institution wurde und für dessen Beratungen Pamphlete eine wesentliche Rolle spielten.2 Die zweimal wöchentlich stattfindenden Sitzungen waren recht kurz und weniger von Debatten bestimmt als vom Abgleich von Instruktionen und Meinungen aus den Reichsständen. Die Abgeordneten konnten nur arbeiten, soweit sie instruiert waren, und mussten sich immer wieder bei ihren Auftraggebern rückversichern. Dabei wurde das gedruckte Pamphlet zum wichtigen Mittel der Kommunikation zwischen den Regierungen. Zweitens brachten die auswärtigen Kriege spezifische Reformvorschläge und fundamentale konstitutionelle Fragen hervor. Drittens war die Selbstdarstellung des Kaisers in Wien und im Reich schon für sich Teil eines Reformprogramms. Die Präsentation des Kaisers als einigende Kraft im Reich zog eine Reihe führender Intellektueller und schöpferischer Geister nach Wien und ließ viele in ihm und seinem Hof das Zentrum eines erneuerten und erweiterten imperialen Systems sehen.3

Die Themen der Reformdebatte nach 1648 reichten über die naheliegenden politischen und konstitutionellen Probleme hinaus und betrafen auch Militär und Wirtschaft, die Frage der Wiedervereinigung der Konfessionen und Pläne zur Bildung nationaler oder kaiserlicher Akademien. Viele Autoren zeigten Interesse an mehr als einem dieser Punkte. Leibniz, einer der produktivsten Kommentatoren seiner Zeit, führte sie in seinen weitreichenden Reflexionen alle zusammen.4 Er war bei Weitem nicht der Einzige, der glaubte, die diversen Reformfragen seien allesamt Aspekte der generellen Frage nach dem Wesen des Reichs und seinen Möglichkeiten. Wegen ihrer auffallenden Neuartigkeit sind die ökonomischen, religiösen und akademischen Ansätze jedoch eine separate Betrachtung wert, bevor wir uns den allgemeinen Interpretationen des Reichs und seiner Verfassung zuwenden, die auf ihnen beruhten.

Vorschläge für Wirtschaftsreformen waren direkt mit Wien und der Frühzeit der Herrschaft von Leopold I. verbunden. Die Notwendigkeit, die Wirtschaft nach drei Jahrzehnten Krieg wieder in Gang zu setzen, und die Erörterung breit angelegter Maßnahmen zum Wiederaufbau nach dem Krieg bildeten ab Mitte der 1660er Jahre den Hintergrund der intensiven Auseinandersetzung mit dem sogenannten Reichsmerkantilismus.5 Führende Figuren dieser Bewegung waren Johann Joachim Becher (* 1635, † 1682), Philipp Wilhelm von Hörnigk (* 1640, † 1714) und Wilhelm von Schröder (* 1640, † 1699). Alle drei kamen aus Mitteldeutschland nach Wien; allerdings zog Hörnigk später nach Wien, als sein Arbeitgeber, Graf Lamberg, dort zum Fürstbischof gewählt wurde. Alle drei waren vom Luthertum zum Katholizismus konvertiert. Ein wichtiger Patron in Wien, besonders für Becher, aber auch für die anderen, war der spanische Franziskanerbischof Christoph de Royas y Spínola, seit 1660 Beichtvater am Kaiserhof und mehrmals als kaiserlicher Bevollmächtigter in politischen, ökonomischen und religiösen Angelegenheiten an verschiedene deutsche Höfe entsandt.6

Becher war der produktivste aller Reformer. Es gab kaum einen Aspekt der menschlichen Existenz, für den er keine Verbesserungsvorschläge parat hatte: eine Währungsreform, Pläne für Manufakturen, Handelsfirmen und Kolonien, Rezepte für Elixiere, Entwürfe für U-Boote und ein Perpetuum mobile, einen Vorschlag zur Umwandlung von Donausand in Gold, Erziehungsreformen und neue Sprachen.7 Becher verfasste dazu nicht nur umfangreiche Schriften, sondern trieb die Umsetzung aktiv voran, erst in den 1660er Jahren an verschiedenen deutschen Höfen, dann ab 1670 in Wien, bis er 1677 in Ungnade fiel. In den 1660er Jahren war er zum Beispiel verantwortlich für die ersten deutschen Kolonialprojekte.8 Ein Münchner Plan zum Kauf von Land in Guyana von der Niederländischen Westindienkompanie 1664 führte zu keinem Ergebnis. 1669 ermutigte Becher Graf Friedrich Casimir von Hanau-Münzenberg, Land von der Kompanie zu erwerben, um zwischen Amazonas und Orinoco eine deutsche Küstenkolonie zu errichten, die gewaltige Geldsummen verschlang, bis die Verwandten des Grafen diesen absetzten und das Projekt zusammenbrach.9 Derartige Vorhaben waren von vornherein zum Scheitern verurteilt, ebenso wie das Unternehmen, das 1660/61 im Auftrag des Kaisers und des Kurfürsten von Brandenburg durch Markgraf Hermann von Baden, Spínola und Admiral Gijsel van Lier in die Wege geleitet wurde und vorsah, auf spanischem Land in Südamerika eine Kolonie zu gründen. Ihr Scheitern spornte Becher und seine Schüler indes nur noch mehr an, das Problem anzugehen, in dem sie zunehmend die Wurzel aller Schwierigkeiten sahen: den Mangel an Einheit und Koordination im Reich. Angesichts der Schwäche des deutschen Außenhandels hatten der Schutz und die Förderung einheimischer Manufakturen oberste Priorität.

Solche Ideen und Unternehmen gewannen vor dem Hintergrund der Reichstagsdiskussionen über die Regulierung der Gilden und den Status von Produzenten und Händlern zwischen 1666 und 1672 an politischer Bedeutung. Der Konflikt mit Frankreich nach 1672 und die Verhängung des ersten Boykotts auf französische Waren verliehen den Plänen von Becher, Spínola und anderen echte nationale Dringlichkeit. 1677 wurde Becher auf Reisen durchs Reich geschickt, um zu versuchen, ein komplettes Embargo gegen Geschäfte mit Frankreich durchzusetzen.10 Das Versprechen, durch Konfiskation französischer Güter fünf Millionen Gulden für den Kaiser einzutreiben, wurde sein Ruin.11 Als das Geld ausblieb, beschuldigten Bechers Gegner in Wien ihn der Untreue und er musste gehen. Seine Arbeit setzte er in den Niederlanden fort, landete dann in England und starb 1682 in London.

Bechers Platz in Wien hatten mittlerweile Spínola, Hörnigk und von Schröder eingenommen. Vor allem Spínola verfügte über unerreichte Erfahrungen in der Ausarbeitung imperialer Reformvorhaben: 1665 hatte er in München sein »Projekt zur wirtschaftlichen Vereinigung des Reichs« vorgestellt, in dem es im Grunde um eine protektionistische Zollunion ging. 1674/75 schickte ihn Leopold auf ausgedehnte Reisen durchs Reich und zu den größeren Höfen; 1677 weilte er in Berlin, um Heiratspläne der Häuser Habsburg und Brandenburg zu erörtern.12

Ihren Höhepunkt erreichten Spínolas Unternehmungen im September 1678, ein Jahr nach Bechers Scheitern, als er auf einer fast zwölfmonatigen Mission um Unterstützung für neue Vorschläge warb, um die Steuereinnahmen zu erhöhen und die ökonomische und religiöse Einheit voranzutreiben. Die Idee einer allgemeinen Erbschaftssteuer zur Sicherstellung dauerhafter Erträge war nach dem Türkenkrieg 1663/64 aufgekommen. 1678 holte man den Plan wieder hervor, verbunden mit einem Programm zur Koordination von Rohstoffförderung und Industrie, zur Errichtung staatlich finanzierter Fabriken wie der Seidenspinnerei Sinzendorf im niederösterreichischen Walpersdorf und Bechers Fabrik in der Taborstraße in Wien sowie zur Importkontrolle und Exportförderung.13 Sogar die Bildungsreisen junger Adliger ins Ausland (die Kavalierstour, ein Vorläufer der Grand Tour des 18. Jahrhunderts) sollten eingeschränkt werden, um den Abfluss von Kapital zu verhindern. Der Tyrannei wechselnder Moden, insbesondere der unersättlichen Gier nach französischer Kleidung, wollte man durch die Einführung von Uniformen für Frau und Mann entgegenwirken, die allen Höfen genehm sein und dann nicht mehr ohne allgemeine Zustimmung verändert werden sollten.

Spínola stieß auf großes Interesse, vor allem in Reichsstädten wie Augsburg, aber auch unter den rheinischen Kirchenfürsten, in Franken und Hessen und bei den Herzögen von Braunschweig und Sachsen. In Bamberg steuerte Bischof Peter Philipp von Dernbach den Vorschlag bei, die Warenproduktion generell unter Lizenz des Reichs zu stellen. Das werde alle Länder veranlassen, nur Güter herzustellen, für die sie über die Rohstoffe verfügten. Bei allem Respekt und Enthusiasmus, mit dem Spínolas Pläne bedacht wurden – sie führten doch zu nichts. Die erneuerte Allianz des Großen Kurfürsten mit Frankreich verhinderte seine Reise nach Berlin. Die geplante Erbschaftssteuer fiel bald wieder unter den Tisch, ebenso wie die ambitionierten Vorhaben zur Reichsökonomie. In den folgenden Jahrzehnten führten die Kriege gegen Frankreich zu weiteren Handelssperren, manchmal weitergehend als die erste von 1676. Der Übergang von Kriegsrestriktionen zu einer Regulierung in Friedenszeiten gelang jedoch nie.

Das Scheitern dieser Initiativen regte Hörnigk zu seinem Traktat Österreich über alles, wann es nur will (1684) an, das in den folgenden hundert Jahren vierundzwanzig Auflagen erreichte. Spätere Generationen verstanden es oft als Manifest des österreichischen Nationalismus, als Behauptung einer österreichischen Identität jenseits des Reichs.14 Aber Hörnigk ging es vielmehr um das Reich selbst und den Beitrag, den Österreich dazu leisten konnte. Der Titel verwies auf das kurz zuvor erschienene anonyme Pamphlet Teutschland über Frankreich, wenn es klug seyn will.15 Hörnigks Kernargument war, dass bislang alle Versuche eines umfassenden Handelsembargos gegen Frankreich erfolglos geblieben waren. Es sei an der Zeit, dass Österreich den Weg weise. »Österreich« stand dabei für alle Länder der österreichischen Habsburger innerhalb und außerhalb des Reichs, auch Ungarn. Das Gleichgewicht zwischen Landwirtschaft in Ungarn und kommerzieller Industrie in Böhmen und Österreich sollte als Vorbild einer integrierten Ökonomie dienen, als Primum mobile, dessen Beispiel die anderen deutschen Territorien nacheifern könnten.16

Die Wirkung der Reichsmerkantilisten ist schwer abzuschätzen. Ihre großen Pläne für das Reich scheiterten. Selbst in Österreich überlebten nur wenige ihrer Projekte.17 Aber ihre rastlose Projektarbeit und die unermüdlichen Missionsreisen trugen zweifellos viel zur Verbreitung ökonomischen Denkens im ganzen Reich bei.18 Becher war vielleicht der radikalste Propagandist eines deutschen Nationalstaats seiner Zeit.19 Er und die anderen Reformer waren maßgeblich an der Schaffung eines gesellschaftlichen Klimas beteiligt, in dem Territorialregierungen ihre Politik auf die Förderung des Wirtschaftswachstums richteten. Sie machten bewusst, was man mit einer Regelung und Förderung von Industrie und Handel erreichen konnte. Auf Reichsebene fanden ihre Argumente nur in Verbindung mit der Kriegsgesetzgebung Widerhall. In den Kreisen, Territorien und Städten zogen viele daraus Schlüsse für die Wirtschaftspolitik in Friedenszeiten.

Die Pläne für eine religiöse Wiedervereinigung waren ebenso unergiebig, obwohl die Gespräche länger dauerten. Ideen dieser Art kursierten seit der Reformation und hatten in den diversen religiösen Kolloquien des 16. Jahrhunderts stets eine Rolle gespielt. Im Dreißigjährigen Krieg hatte der lutherische Theologe Georg Calixt (* 1586, † 1652) aus Helmstedt eine Glaubenslehre entwickelt, die die christlichen Konfessionen auf Grundlage der apostolischen Lehren zu versöhnen versuchte.20 Sein Ziel war gegenseitige Anerkennung und Akzeptanz der Unterschiedlichkeit auf der Basis eines gemeinsamen Korpus christlicher Glaubensgrundsätze. Während es Calixt ganz allgemein um Versöhnung und Toleranz ging, waren die Initiativen der Zeit nach 1648 eher auf Wiedervereinigung in einer einzigen Reichskirche gerichtet.

Die konstitutionelle Grundlage solcher Ideen lieferte eine Klausel im Vertrag von Osnabrück (IPO Art 5 § 1), wonach die Bestimmungen zum Normaljahr in Kraft bleiben sollten, »bis man sich durch Gottes Gnade über die Religionsfragen verglichen haben wird«. Die Initiativen gingen größtenteils von Katholiken aus, und obwohl sie darauf abzielten, die Protestanten in die katholische Kirche zurückzuführen, waren sie zu Konzessionen bereit. Es ging dabei im Grunde um Politik und kaum um Theologie. Treibende Kraft waren führende Mitglieder der Reichskirche, im Großen und Ganzen gegen den Willen und ohne Billigung des Papstes, der seine Vorrechte gefährdet sah. Für Leopold I. hingegen war die religiöse Einheit ein Weg zur politischen Einheit und eine Möglichkeit zur Ausübung der traditionellen kaiserlichen Rolle des Advocatus ecclesiae.21

Die ersten Pläne formulierte Johann Philipp von Schönborn am Mainzer Hof vor dem Hintergrund der allgemeinen Reform- und Einheitsprojekte, an denen sein Minister Johann Christian Boineburg (* 1622, † 1672) in den Jahren 1650 bis 1664 arbeitete.22 Boineburg hatte bei Conring und Calixt in Helmstedt studiert und war 1656 vom Luthertum zum Katholizismus konvertiert. In Mainz rückte er ins Zentrum der Vereinigungsideen des Kurfürsten für das Reich, insbesondere des Rheinischen Bundes von 1658, und der Pläne zur Wiederherstellung konfessioneller Einheit, die nicht zuletzt die Unterstützung eines Netzwerks von gleichfalls zum Katholizismus Konvertierten fanden. Ein wichtiger Verbündeter war der Wittelsbacher Kurfürst Max Heinrich von Köln, Frankreichsympathisant und bekannter Befürworter einer Beschneidung des päpstlichen Einflusses, was ihn in Rom in Ungnade gebracht hatte. Im Reich indes war er mächtig und fand Gehör in Bayern und Wien.

Weitere Unterstützung kam von idealistischen Befürwortern einer konfessionellen Versöhnung wie dem Landgrafen Ernst von Hessen-Rheinfels (* 1623, † 1693), der 1651 auf seiner Burg Rheinfels, 1652 in Kassel und 1653 in Gießen religiöse Kolloquien veranstaltete.23 Landgraf Ernst gilt allgemein als Autor von Der discrete Catholische, einem von Gelehrten viel zitierten, aber weitgehend wirkungslosen Vereinigungstraktat.24 Gedruckt wurden nur achtundvierzig Exemplare und an ausgewählte »gebildete und angesehene Personen« versandt. Als Katholiken wie Protestanten wütend über die Schrift herzogen, tat der Landgraf, was er konnte, um die verteilten Exemplare zurückzubekommen. Neben allem anderen setzten seine Vorschläge von 1666 die Säkularisierung der Reichskirche voraus, was die Kirchenfürsten, die katholischen Fürsten und der Adel allgemein nie akzeptieren konnten, selbst wenn die Idee das Interesse protestantischer Herrscher geweckt hätte. Die wirkliche Bedeutung von Landgraf Ernst liegt eher in seiner Schlüsselrolle in einem Netzwerk von Politikern und Theologen, dem auch Boineburg und Leibniz angehörten.

Vor allem war er es, der den sogenannten Mainzer Plan von 1660 formulierte.25 Darin wurde unter Rückgriff auf entsprechende Vorschläge aus der Mitte des 16. Jahrhunderts die Verlesung der Messe auf Deutsch, das Abendmahl in beiderlei Gestalt, die Abschaffung der Beichte und des klerikalen Zölibats (jedoch nicht für Mönche und Nonnen) empfohlen. Die Vorrechte des Papstes im Reich sollten auf ein Minimum reduziert werden. Einstweilen sollte eine Synode von vierundzwanzig Katholiken und Protestanten über die Vorgehensweise bei der vollständigen Versöhnung und Vereinigung aller deutschen Christen beraten.

Aus den Mainzer Plänen wurde nichts. Die unversöhnliche Opposition des Papstes war eine nicht zu überwindende Hürde. Mit Boineburgs Entlassung 1664 endete die Kontinuität auf verschiedenen politischen Feldern, etwa in der Diskussion konfessioneller Themen. Der schrittweise erfolgende Zusammenbruch des Rheinischen Bundes und die Mainzer Neuorientierung auf Wien verschob zudem die Basis für die Formulierung politischer Ziele und Ansätze, und mit Regensburgs Aufstieg zum politischen Zentrum verschoben sich die Gewichte.

Dann trat Spínola als neue, vielversprechende Lichtgestalt der Vereinigung auf den Plan. 1677 reiste er nach Rom und sicherte sich zumindest die stillschweigende Unterstützung des Heiligen Stuhls, auch wenn er keinen offiziellen Auftrag hatte, im Namen des Papstes zu handeln, den Protestanten keinerlei Zusicherungen machen durfte und seine Bemühungen geheim halten musste.26 Er fand Gehör beim Kaiser, für den er mehrere Male als Abgesandter in Regensburg und anderswo aufgetreten war. Spínolas tatsächliche Instruktionen umfassten anfangs nicht einmal die Förderung der religiösen Einheit; der Inhalt seiner ersten Missionen war im Wesentlichen politischer und ökonomischer Natur, aber Leopold scheint die religiöse Dimension insgeheim impliziert zu haben. In den Instruktionen für Spínolas große Reise 1678/79 wurde der Auftrag der Werbung für ökonomische und militärische Reformen dann auf die Förderung einer religiösen Einigung ausgeweitet.27

Spínola wandte sich an eine ganze Reihe von Fürsten. Die protestantischen Stände waren im Allgemeinen geneigt, ihn anzuhören, vor allem, da ihre gemeinsam mit England und den Niederlanden 1676 an Leopold gerichteten Gesuche um eine gemäßigtere Politik gegenüber den ungarischen Protestanten erfolgreich gewesen waren. Auch auf das Interesse des Herzogs Johann Friedrich von Braunschweig-Lüneburg, eines frühen und einflussreichen Konvertiten zum Katholizismus und Patrons der Universität Helmstedt, wo synkretische Traditionen auch in den Jahrzehnten nach Calixts Tod 1656 lebendig blieben, konnte der Kaiser setzen. 1673 hatte Herzog Johann Friedrich einen Schüler von Calixt und Conring, Gerhard Molanus (* 1633, † 1722), zum Oberhaupt seiner lutherischen Kirchenadministration und 1677 zum Abt des lutherischen Klosters Loccum ernannt.28 Leibniz, den der Herzog 1674 als Bibliothekar und Rat in Hannover anstellte, brachte aus Mainz sein Interesse an sämtlichen Reform- und Einigungsvorhaben mit. 1678/79 erhielten Molanus und Leibniz den Auftrag, mit Spínola Gespräche über die Möglichkeiten einer protestantisch-katholischen Union zu führen.

Es gab jedoch profunde Differenzen, sogar zwischen Spínola, Leibniz und Molanus. Spínola arbeitete auf die Wiedervereinigung der Protestanten mit der katholischen Kirche hin. Der Ansatz von Leibniz war in dieser Phase im Wesentlichen politisch; seine Vision einer globalen Vereinigung entwickelte er erst in den 1690er Jahren.29 Molanus verspürte die christliche Pflicht, Spínolas Ideen zu entgegnen; sein Beharren auf den Grundsätzen der protestantischen Theologie verurteilte das Projekt letztlich zum Scheitern.30 Trotz ausführlicher und leidenschaftlicher Diskussion fanden die Drei 1683 nicht zu einer Einigung. Spínolas Vorbedingung für eine Wiedervereinigung war die Anerkennung der Dekrete des Konzils von Trient und der Vorrangstellung des Papstes aufgrund göttlicher Gnade. Molanus bestand auf der Aufhebung der Trienter Erlasse und Einberufung eines neuen Konzils unter päpstlicher Leitung. Eine Aussicht, dass Rom Molanus’ Forderungen oder protestantische Höfe im Reich Spínolas Voraussetzungen akzeptieren würden, bestand nie. Die Beteiligung von Bossuet, mit dem Leibniz 1679 erstmals korrespondiert hatte und den er nun auf Spínolas Anregung hin erneut ansprach, ab 1683 änderte daran nichts. Bossuet war ebenfalls überzeugt, dass die Protestanten Kompromissbereitschaft zeigen mussten. Leibniz gegenüber äußerte er: »On est ou on n’est pas catholique« (Man ist entweder Katholik oder nicht).31

Neben dem außer Zweifel stehenden Engagement der Hauptprotagonisten gab es eine Reihe weiterer Gründe, die Diskussionen bis um 1700 fortzuführen. Schon 1679 wurde Spínola klar, dass protestantische Fürsten nur bereit sein würden, die Gespräche zu bezuschussen, wenn für sie etwas dabei herausspränge. Der pfälzische Kurfürst forderte die Säkularisation von Worms und Speyer. 1679 kamen die Diskussionen durch den Tod des Herzogs Johann Friedrich zum Erliegen. 1681 führte eine neue Anfrage an die Höfe in Berlin und Hannover zu weiteren langwierigen Gesprächen, vor allem in Hannover. Herzog Ernst Augusts Interesse war indes rein weltlich: Er wollte die Gespräche unterstützen, deutete sogar die Bereitschaft zum Konvertieren oder zumindest zur Unterstützung des Wiedervereinigungsprojekts an, aber nur solange er einen Vorteil daraus ziehen konnte. Leibniz und Molanus waren für ihn kaum mehr als zwei Schachfiguren in seinem Streben nach der Kurwürde.

Zwischen 1683 und 1688 stockte das Projekt, nahm jedoch um 1690 wieder Fahrt auf. Leibniz trat erneut an Spínola heran und weilte 1688/89 mehrere Monate lang in Wien. Auch der Kaiser selbst schien nun mehr Interesse zu zeigen. Der Austausch einer reformierten Dynastie gegen eine katholische Linie in der Pfalz und der Widerruf des Edikts von Nantes im selben Jahr erregten erneut das Misstrauen der deutschen Protestanten, deren Befürchtungen durch die Thronfolge von Jakob II. in England und Gerüchte über seine angeblichen militanten Pläne für eine Rekatholisierung verstärkt wurden. Um 1690 hatte sich die Lage durch die Glorreiche Revolution, den Krieg mit Frankreich und die Gründung der Wiener Großen Allianz geändert. Jetzt war auch Spínola bereit, über die Grenzen des Reichs hinaus zu blicken und die ungarischen Protestanten sowie möglicherweise die polnische und schwedische Krone in seine Pläne einzubeziehen. Die Gespräche blieben ohne Ergebnis. Ernst August verlor das Interesse, sobald 1692 das Thema Kurwürde erledigt war. Die Päpste Alexander VIII. (1689–1691) und Innozenz XII. (1691–1700) waren frankreichfreundlicher eingestellt als ihr Vorgänger Innozenz XI. (1676–1689) und standen dem Kaiser folglich kritischer gegenüber. In Wien setzte der Krieg gegen Frankreich andere Prioritäten. Dass zu einer geplanten Konferenz in Frankfurt 1693 keine sächsischen Theologen eingeladen wurden, bestärkte viele in dem Glauben, dass es Spínola in Wirklichkeit nur um eine Spaltung der Protestanten ging.

In den zwei Jahren vor seinem Tod 1695 warb Spínola in umfangreichen Korrespondenzen mit Molanus und Leibniz weiterhin für seine Mission. Angesichts des kaiserlichen Zögerns, die Wiedervereinigungspläne öffentlich zu unterstützen, mag es überraschen, dass die Sache nach Spínolas Tod nicht einfach fallen gelassen wurde. Zwar wurden die Papiere des Bischofs versiegelt, damit niemand ihre sensiblen Inhalte missbrauchen konnte; der Vorschlag Hannovers im Sommer 1695, die Gespräche wieder aufzunehmen, blieb unbeantwortet. Drei Jahre später indes wurde Spínolas Nachfolger als Bischof der Wiener Neustadt, Graf Franz Anton von Buchheim, zu weiteren Gesprächen entsandt.32 Sie fanden unter strikter Geheimhaltung statt, Buchheim reiste sogar unter falschem Namen. Anfangs war er skeptisch, dann beeindruckt von der Kompromissbereitschaft der Protestanten, aber das Treffen führte zu nichts. Nachdem Leopold Leibniz 1700 nach Wien eingeladen hatte, wurde das Projekt schließlich aufgegeben. Der Spanische Erbfolgekrieg ließ keine Zeit für weitere Anläufe.

Aus Leopolds Sicht war die religiöse Wiedervereinigung immer Teil einer umfassenderen Strategie zur Einigung des Reichs. Offene Unterstützung fanden die Pläne bei ihm kaum, wiederholt verpflichtete er Spínola und andere Beteiligte zur Geheimhaltung. Angesichts der Schwierigkeit der zugrunde liegenden theologischen Probleme war das wohl vernünftig. Dass Mainz in den 1650er Jahren und Wien später jahrzehntelang zahlreiche prominente Konvertiten anzogen, ließ manche Hoffnung keimen. Es blieb jedoch undenkbar, dass die deutschen Protestanten in ihrer Gesamtheit jemals zur katholischen Kirche zurückkehren würden.

Auch Leopolds eigene Position war eingeengt. Er war tiefgläubig und dem Katholizismus treu. Ein neues Kirchenkonzil einzuberufen, wozu ihn Spínola verschiedentlich drängte, hätte ihm vielleicht den Beifall der deutschen Protestanten eingebracht, aber auch eine Zusammenarbeit mit Ludwig XIV. und eine offene Herausforderung des Papstes bedeutet. Ersteres verbot ihm die Politik, Letzteres die Pietät. Dass überhaupt Diskussionen stattfanden, eröffnete jedoch zumindest der Kommunikation zwischen Wien und den wichtigen Fürstenhöfen eine neue Dimension.

Die Verbindungen zwischen dem Kaiser und den diversen Akademieprojekten waren eher spärlich. Leopold hatte mit ihrer Gründung wenig zu tun, erteilte jedoch seine Bewilligung und zeigte sich bereit, ihnen Privilegien zu übertragen. Viele dieser Vorhaben trugen nie Früchte und keines reichte an ausländische Vorbilder wie die Royal Society in London (1660) und die Académie des Arts et des Sciences in Paris (1666) heran. Aber die Anzahl und Fruchtbarkeit der Projekte zeigt die magnetische Anziehungskraft, die Wien während der Herrschaft Leopolds I. auf viele deutsche Intellektuelle ausübte, und markiert eine neue Phase im Denken über das Reich als einheitliches Gemeinwesen nach dem Dreißigjährigen Krieg.

Um dieses Phänomen begreifen zu können, sind ein paar Bemerkungen zum Schicksal der Sprachgesellschaften und zur Rolle der Universitäten im Reich nach 1650 nötig. Der Krieg hatte viele frühere Entwicklungen abgerissen. Einige Sprachgesellschaften überlebten und arbeiteten nach 1648 weiter, ein paar neue wurden gegründet. Ohne den breiteren politischen Hintergrund der konstitutionellen Krisen des frühen 17. Jahrhunderts verloren sie jedoch die umfassende patriotische Bedeutung, wie sie etwa der Fruchtbringenden Gesellschaft einst zugekommen war.33

Der Krieg hatte auch die Netzwerke zerstört, die die mystischen, philosophischen und wissenschaftlichen Ideen von Andreae und seinen Briefpartnern hervorgebracht und bis in die 1620er Jahre weitergetragen hatten. 1623 hatte Joachim Jungius (* 1587, † 1657) die Societas ereunetica sive cetetica (Forschende oder untersuchende Gesellschaft) gegründet, die dem Vorbild der Accademia dei Lincei folgte und stark von Andreaes pansophischen Idealen sowie Wolfgang Ratkes pädagogischen Verfahren beeinflusst war. Ihr Ziel war, die Philosophie der Jesuiten zu entkräften, die Mathematik zu fördern und die Natur zu erforschen.34 Existiert hat sie indes wohl nur, bis Jungius 1625 nach Helmstedt ging; im Jahr darauf kehrte er nach Rostock zurück, zog jedoch 1629 als Rektor des Johanneums und des Akademischen Gymnasiums auf Dauer nach Hamburg und gründete keine weitere Gesellschaft.

Viele andere, die das hätten tun können, flohen vor den Anfeindungen und trieben anderswo Entwicklungen voran. Andreaes Schüler Samuel Hartlib aus Elbing und der pfälzische Comenius-Anhänger Theodor Haak gingen nach England und beteiligten sich an der Gründung der Royal Society. Deren erster Sekretär Henry Oldenburg aus Bremen (* 1619, † 1677) besuchte England vermutlich erstmals 1653 als Diplomat, war jedoch bereits in den 1640er Jahren als Lehrer und Reisebegleiter junger Engländer tätig gewesen.35 Die in London geknüpften Kontakte, unter anderen zu Hartlib und Boyle, ermutigten ihn, sich dauerhaft dort niederzulassen. In den Jahrzehnten um 1600 trugen Deutsche beträchtlich zum Fortschritt der Naturphilosophie und neuer Wissenschaften bei. Mitte des 17. Jahrhunderts fruchteten ihre Anstöße allerdings hauptsächlich im Ausland.

Das Reich war keine akademische oder wissenschaftliche Wüste und nicht abgeschnitten von der intellektuellen Welt Westeuropas. Die intellektuelle Szene im Nachkriegsdeutschland wird oft als desolat und unheilbar provinziell dargestellt, es gibt jedoch viele Belege für anhaltende Vitalität und Schaffenskraft. Als Sekretär der Royal Society korrespondierte Oldenburg lebhaft mit vielen Deutschen, insbesondere ab 1670 mit dem jungen Leibniz, ebenso wie mit Wissenschaftlern aus anderen europäischen Ländern.36 Der Briefverkehr der Royal-Society-Mitglieder überschritt Landes- und Konfessionsgrenzen und umfasste auch das Reich. Mit mehr als tausend Briefpartnern an 169 Orten in Europa und Asien war Leibniz sicher eine Ausnahme, aber auch für andere Gelehrte war eine umfangreiche Korrespondenz unverzichtbar.37 Die pansophischen Traditionen überlebten den Krieg ebenso wie das deutsche Universitätssystem. Ihre unabhängige Entwicklung und Interaktion schuf einen intellektuellen Nährboden und trug zur Konsolidierung der imperialen Idee während Leopolds Herrschaft bei.

Das Ansehen deutscher Universitäten nach 1650 litt unter den durch Thomasius’ ätzende Kritik der akademischen Welt des späten 17. Jahrhunderts geförderten Mythen ebenso wie unter der Bedeutung, die man der Neugründung in Halle 1694 für die deutsche Aufklärung beimaß, und der Glorifizierung von Humboldts Reformen um 1800.38 Tatsächlich blühten die deutschen Universitäten auf, während die in England, Frankreich, Spanien und Italien im 17. Jahrhundert an Bedeutung verloren.39 Vom Krieg erholten sie sich rasch: Die Gesamtanzahl der Studenten, die 1618 etwa 8.000 betrug, erreichte in den 1650er Jahren 6.000 bis 7.000 und 1660 7.800. Das Attribut »provinziell« trugen viele zweifellos zu Recht, schließlich waren sie territoriale Institutionen, eingebunden in eine Herrschaftsstruktur, die in erster Linie auf eine Dynastie und ihre Ländereien ausgerichtet war. Die meisten Universitäten waren mit 150 bis 300 Studenten und etwa 20 Professoren relativ klein – mehr als 1.000 Studenten hatte keine – und in Kleinstädten angesiedelt. Nur Leipzig und Königsberg (das geografisch außerhalb des Reichs lag) waren mit Handelszentren verbunden, nur Wien lag in derselben Stadt wie der Hof eines Herrschers.

Andererseits wäre es falsch, die deutsche Universitätslandschaft als Ansammlung isolierter Institute oder gar als Diaspora in einer unwirtlichen, feindseligen Umgebung zu sehen. Auch die konfessionelle Trennung in sechzehn katholische, dreizehn lutherische und sechs calvinistische beziehungsweise deutsch-reformierte Anstalten wird gern überbewertet.40 Obwohl sie der Kontrolle von Fürsten (und im Fall der Kölner und der Nürnberger Universität in Altdorf von Stadtmagistraten) unterstanden, galten für alle dieselben kaiserlichen Privilegien. Fachlich führend waren die lutherischen Institute in Leipzig, Wittenberg, Jena und Helmstedt, wobei die protestantischen Universitäten allgemein das neue Gebiet des öffentlichen Rechts dominierten.41 Den Nachkriegsaufschwung Heidelbergs stoppte die erneute Zerstörung der Stadt 1689 und 1693; Halle erlangte unmittelbar nach der Gründung 1694 Bedeutung. Die katholischen Universitäten folgten der gleichen Aufteilung in vier Fakultäten wie die protestantischen und hielten an den im 16. Jahrhundert etablierten humanistischen Forschungsidealen fest.

Der Austausch zwischen den Universitäten blieb rege, obwohl es in dieser Hinsicht doch gewisse Gräben zwischen den Konfessionen gab, die für die Entstehung zweier paralleler Kommunikationswege sorgten, jeder mit eigenen internationalen Verbindungen. Die studentische Grand Tour blieb weiterhin üblich, ebenso wie Bildungsreisen und Briefverkehr.42 Von Professoren wurde erwartet, dass sie die offizielle Religion ihres Territoriums stützten; öffentliche Abweichung führte zur Entlassung.43 Aber die für den akademischen Austausch in Deutschland im 16. Jahrhundert typischen nicht- und überkonfessionellen Tendenzen hielten sich hartnäckig. Die Geschichte der deutschen Universitäten nach 1650 ist im Grunde eine Geschichte der gegenseitigen Annäherung.44

Thomasius und andere beklagten, dass die deutschen Universitäten an der lateinischen Sprache und dem traditionellen Curriculum festhielten. Und sie spotteten über den fast anarchischen Enzyklopädismus eines Großteils der späthumanistischen Gelehrten: die Produktion ungeheurer Kompendien aller Arten von Wissen oder gar allen Wissens überhaupt.

Daniel Georg Morhof (* 1639, † 1691) prägte für sie den Begriff Polyhistor.45 Bei aller Besessenheit von der Anhäufung von Faktenwissen, offenbar um ihrer selbst willen, waren die Polyhistoren dennoch fähig und offen für neue Erkenntnisse aus dem Ausland und den Naturwissenschaften.

Tradition und Erneuerung prägten die Acta Eruditorum (Verhandlungen von Gelehrten), die erste deutsche Gelehrtenzeitschrift, die Professor Otto Mencke 1682 in Leipzig gründete. Ihr Vorbild war das wissenschaftliche und medizinische Journal des Sçavans (1665 gegründet; in Deutschland erschien ab 1667 eine lateinische Version). Beiträge und Material lieferten anfangs Kollegen von Mencke in den Niederlanden, England, Frankreich und Italien, die Rezensionen wurden in Leipzig geschrieben, es gab aber auch einige externe Korrespondenten, etwa den englischen Astronomen John Flamsteed und den französischen Arzt Jacques Spon.

Die Bandbreite der Acta Eruditorum war universell; 30 Prozent aller Rezensionen und 94 Prozent aller Originalartikel behandelten naturwissenschaftliche Themen.46 Besprochen wurden Schriften aus ganz Europa von Protestanten und Katholiken; 70 Prozent der Bücher waren nicht auf Deutsch.47 Allein unter Otto Menckes Herausgeberschaft (1682–1706) erschienen mehr als 4.000 Beiträge, davon gut 300 Originalschriften und über 150 Übersetzungen, von fast 200 Mitarbeitern in 69 Städten wie London, Leiden und Paris. Leipzig stach in vielerlei Weise heraus. Dass es ab den 1670er Jahren Frankfurt am Main als Zentrum der Buchproduktion ablöste, trug zu Menckes Erfolg bei und war eine Spätfolge der Kriegsschäden im Rheinland. Aber die Acta Eruditorum fanden weite Verbreitung und wurden bald zur Pflichtlektüre an Universitäten im ganzen Reich.

Die deutschen Universitäten blieben lebendig und spielten eine entscheidende Rolle in der Entwicklung vom Humanismus des 16. zur Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Die Begegnung mit neuen Erkenntnissen aus dem Ausland verstärkte ihr Bestreben, Teil einer grenzüberschreitenden Gelehrtenrepublik zu werden. Gleichzeitig bildeten sie ein zunehmend eigenständiges deutsches Subsystem der Kommunikation.

Die protestantischen Universitäten hatten besondere überregionale Bedeutung als meinungsbildende theologische und juristische Zentren und waren zunehmend gefragt, da die Territorialregierungen ihre administrativen Strukturen festigten und ab den 1530er Jahren ihre Zuständigkeit für Belange der Gesellschaft und Kirche zu erweitern suchten. Die protestantischen juristischen Fakultäten entwickelten im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert die Grundlagen des öffentlichen Rechts im Reich. Akademische Juristen spielten aber auch eine wichtige Rolle an den Reichsgerichten und im Reichstag, wo sie regelmäßig bei der Formulierung von Regelungen, zur Schlichtung und Beurteilung der fürstlichen Tätigkeiten herangezogen wurden. Daneben berieten sie Regierungen, kommentierten politische Vereinbarungen, Erlässe und Abkommen. So entstand etwa im Jahrhundert nach 1648 eine umfangreiche Literatur – juristisch, politisch, theologisch – zur Interpretation des Westfälischen Friedens und seiner Folgen für Staat, Kirche und Gesellschaft.48

Die Kritik an den Universitäten begann nicht erst mit Thomasius. Schon immer gab es Klagen über das Benehmen der Studenten, ihren mangelnden Fleiß, über Unmoral und Gottlosigkeit, die die Universitäten angeblich ausbrüteten. Ebenso beständig wurde ihnen vorgeworfen, sie erforschten und lehrten nichts von praktischem Nutzen. Darin hallten in gewisser Weise Johann Valentin Andreaes pansophische Ideale nach.49 Die Klagen rührten auch von den Fortschritten her, die man in England und Frankreich beobachtete. Deutsche Versuche, dem Vorbild ausländischer Akademien nachzueifern, gerieten höchstens halbherzig.

Die Anfänge der ersten Reichsakademie, der Academia Naturae Curiosorum, waren bescheiden. 1651 lud der Stadtphysicus der Reichsstadt Schweinfurt, Johann Lorenz Bausch, einen kleinen Kreis von Naturae Curiosi ein, sich einer an den italienischen Akademien und der Fruchtbringenden Gesellschaft orientierten Gemeinschaft anzuschließen.50 Anfangs beteiligten sich nur drei weitere Schweinfurter Ärzte, im folgenden Jahrzehnt stieg die Anzahl auf zwanzig, die meisten waren aus Süddeutschland und keine Akademiker. Was die Gesellschaft genau tat, ist nicht bekannt; Bausch nannte sich Jason und verglich die Arbeit seiner Gesellschaft mit der Reise der Argonauten. Hinderlich waren jedoch sicherlich die weite geografische Verteilung, Geldmangel und das Fehlen direkter Kontakte zu den medizinischen Fakultäten von Universitäten.

Die Wende kam erst nach Bauschs Tod, als sein Nachfolger Johann Michael Fehr (* 1610, † 1688) und der Breslauer Arzt Philipp Jacob Sachs von Lewenhaimb (* 1627, † 1672) sich an den Wiener Hof wandten. 1669 gab sich die Akademie ein neues Statut, das Experimente und Entdeckungen in Aussicht stellte. Im folgenden Jahr erschien erstmals eine Zeitschrift mit dem Titel Miscellanea Curiosa sive Ephemerides Medico-physicae Germaniae Academiae Naturae Curiosorum. 1677 wurde die Gesellschaft vom Kaiser bestätigt und gab sich den Namen Sacri Imperii Academia Naturae Curiosorum (Reichsakademie der Naturneugierigen). 1686 hatte sie mehr als hundertfünfzig Mitglieder, 1687 erhielt sie ein offizielles kaiserliches Privileg. Der Präsident und der Director Ephemeridum wurden zu kaiserlichen Leibärzten und Comites palatinae ernannt, was die Akademie berechtigte, Adoptionen zu bestätigen, uneheliche Kinder zu legitimieren und »Ehrlose« zu rehabilitieren.51 1712 erhielt die Akademie nach einer Geldspende von Karl VI. ihren endgültigen Namen: Kaiserlich Leopoldinisch-Carolinische Deutsche Akademie der Naturforscher.52

Das Ausmaß der kaiserlichen Beteiligung und die Stellung der Akademie in ihrem ersten Jahrhundert sollte man nicht überbewerten. Vor 1750 wechselte sie fünfmal den Standort, kam jedoch nie nach Wien, und so etwas wie eine wirkliche Nationalakademie wurde sie erst in den 1870er Jahren. Zwar strebte sie nach dem Prestige kaiserlicher Anerkennung, erreichte aber nie zentralen Status im Reich. Ihr wissenschaftliches Profil war ebenfalls bescheiden. Bausch kannte immerhin Bacons Werke, auf die sich die Korrespondenz der Akademie ab den 1670er Jahren gern bezog. Ihr Hauptanliegen war die öffentliche Gesundheit, aber die Miscellanea Curiosa enthüllen wesentlich breitere Interessen und eine Leidenschaft für Wunder, Alchemie und andere Geheimlehren. Darin unterschied sie sich nicht so sehr von der Royal Society und anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften ihrer Zeit.53 Alchemie war kein rein deutsches Betätigungsfeld, aber die Vielzahl deutscher Höfe, die daran Interesse zeigten, sorgte für eine seltene Vorrangstellung in einem »Fach«.54 Und in Deutschland warf sie zumindest ein greifbares Ergebnis von enormem Wert ab: Porzellan.

Zweifellos war die Akademie ein wichtiges Vehikel für die Verbreitung wissenschaftlicher Entdeckungen und ihre imperialen Ambitionen zeigen die Attraktivität der Reichsidee und den Umfang des Austauschs unter diesem Vorzeichen. Leibniz hielt indes 1671 fest, keine ausländische Körperschaft habe bislang groß Kenntnis von ihr genommen und es geschehe dort sowieso nichts Besonderes.55

Leibniz war aber natürlich ein Konkurrent, der selbst eine Reihe ambitionierter Projekte verfolgte. Von den späten 1660er Jahren bis zu seinem Lebensende warb er unermüdlich für geplante Gesellschaften, die die Verbindungen zwischen deutschen Intellektuellen und den neuen philosophischen und wissenschaftlichen Bewegungen in Europa verstärken sollten.56 Die Bandbreite reicht von der religiöswissenschaftlichen Societas Philadelphica von 1669 bis hin zu Akademieprojekten für Forschung, Kunst, Sprache beziehungsweise Mathematik. Begeistert unterstützte er auch Hiob Ludolfs Plan für ein Collegium Imperiale Historicum in Wien, lehnte es jedoch ab, selbst Mitglied zu werden.57 Die Societas – eher ein utopischer Entwurf als ein praktisches Projekt – sollte eine wirklich internationale Gemeinschaft in den Niederlanden werden. Für ein viel späteres Vorhaben war St. Petersburg ins Auge gefasst. Die 1700 gegründete Berliner Akademie war die einzige mit Substanz, aus der 1704 geplanten Reichsakademie in Wien wurde nichts, obwohl sich der einflussreiche Prinz Eugen dafür engagierte. Aufschlussreich waren indes schon die Planungen an sich.

Leibniz versicherte später Peter dem Großen, er sei nicht seinem Vaterland oder irgendeiner bestimmten Nation zugeneigt, und viele seiner Vorhaben verfolgten letztlich übergreifend universelle christliche Absichten. Die Vereinigung der Welt durch Wissen war ein beständiges Thema seines Denkens, was mit zunehmendem Alter wohl noch deutlicher wurde.58 Aber Leibniz widmete einen Großteil seines Lebens der Stärkung der Deutschen und ihres Beitrags zur Welt und konzentrierte sich dabei auf das Reich. Als er 1668 bis 1672 in Diensten des Mainzer Kurfürsten stand, schlug er diesem vor, eine Societas eruditorum Germaniae (Gesellschaft der Gelehrten Deutschlands) zur Förderung echter Bildung im Reich zu gründen. Sein Aufenthalt in Paris 1672–1676 festigte seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer nationalen Akademie. In Hannover entwickelte er ab 1677 einen Entwurf für eine solche Institution, finanziert von den Erträgen der fürstlichen Minen im Harz, zu deren Aufbesserung er ebenfalls detaillierte Vorschläge machte. Von da an hatte Leibniz anscheinend ein Netzwerk derartiger regionaler Akademien zur Förderung der Bildung in ganz Deutschland im Auge.59

Noch deutlicher tritt sein Engagement für Deutschland in seinen Essays zur deutschen Sprache von 1682–1683 und 1697 zutage, in denen er die linguistischen Anliegen der Fruchtbringenden Gesellschaft mit dem Wunsch nach Förderung neuer Wissenschaften und deren praktischer Anwendung verknüpfte. Der Dreißigjährige Krieg, so Leibniz, habe Deutschland zurückgeworfen und zur Herrschaft der »Franzgesinnten« geführt.60 Nun müssten sie für die Verbesserung ihres Wohlstand sorgen und eine rein deutsche Sprache kultivieren, um voranzukommen. Die Deutschen, schrieb er 1682/83, hätten sich bis dahin mehr für Latein und Kunst interessiert als für Deutsch und die Natur.61 Ihre Gelehrten hätten nur füreinander geschrieben, die alten Sprachgesellschaften lediglich Sonette und Pastoralen verfasst.62 Was sie wirklich bräuchten, seien Werke der praktischen Wissenschaft. Dem Reich fehle nichts, »so groß nun des Kaisers Majestät, so gelind und süß ist seine Regierung […], und Leopold hat auch die Ungläubigsten und Argwöhnigsten zu erkennen gezwungen, daß er’s mit dem Vaterland wohl gemeine«.63 So verband er Sprache und Wissenschaft mit patriotischen Absichten.

Dass so gut wie alle Pläne von Leibniz scheiterten, ist so bezeichnend wie ihre Motivation. Obwohl der Kaiser Interesse zeigte, war offenbar kein Geld dafür übrig. Schließlich ging Wien 1683 beinahe an die Türken verloren, und während seiner gesamten Herrschaft gab es kaum ein Jahr wirklichen Friedens. Selbst ein anfangs bescheidenes Projekt wie die 1692 in Wien gegründete Akademie der Künste musste mit einem minimalen Budget auskommen. Zudem nannte sie sich »kaiserliche« und nicht »Reichsakademie«; ihre öffentliche Kundmachung 1705 betonte ihr Anliegen, die Kunst der Zeichnung, der Skulptur, des Festungsbaus und der Architektur in »Erbkönigreich und Landen« Österreichs zu fördern, ohne das Reich auch nur zu erwähnen.64

Obwohl sie nie zustande kam, war die Idee einer nationalen Reichsakademie ein weiterer Indikator für die wachsende Reichsbegeisterung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Darin spiegelte sich auch der Wille, die politischen Institutionen auszugestalten, die so effektiv zu funktionieren begannen. Wie Leibniz sagte, fehlte dem Reich nichts, es musste sich nur weiterentwickeln. Dass die erste Akademie 1700 in Berlin realisiert wurde, ist ebenfalls ein Zeichen, wenn auch nicht so offensichtlich. Sie war geprägt von Leibniz’ Ideen, etwa der Kultivierung der deutschen Sprache.65 Und sie war die erste von vielen Gründungen auf deutschem Boden im 18. Jahrhundert, was oft als Beleg für die Entstehung der preußischen Vorherrschaft beziehungsweise den Triumph der Fürsten über das Reich gedeutet worden ist. Mit Sicherheit spiegelt sich darin ein typischer Zug des Reichs seit dem Mittelalter wider: die Abwicklung vieler wichtiger Regierungsfunktionen auf regionaler Ebene.

Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Territorien

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