Читать книгу Eine Nacht in Rimini - Joana Goede - Страница 4
fernbeziehung.
ОглавлениеUm mich her war das pure Chaos ausgebrochen.
Ich hielt mich selbst mit Mühe aufrecht, stellte mich breitbeinig und dadurch großkotzig mitten in den Gang, schnäutze mich geräuschvoll in ein Papiertaschentuch und pfefferte dieses anschließend mit verdrießlicher Miene aus dem geöffneten Zugfenster, wo es vom Fahrtwind direkt auf Nimmerwiedersehen weggeschlürft wurde. Dieses Verbrechen gegen die ohnehin schon schwer belastete Umwelt wurde von einer neben mir stehenden jungen Dame mit einem Naserümpfen kommentiert. Ich ignorierte das. Die besagte Dame stand etwas unsicher schwankend auf hellblauen Pfennigabsätzen im ratternden Zug und wartete darauf, dass ich ihr Platz machte. Mürrisch ließ ich sie passieren, wobei sie nicht wenig gegen mich stieß bei ihrem Versuch, sich ohne peinliche Berührung an mir vorbeizudrücken.
In italienischen Regionalbahnen herrscht meistens Chaos. Insbesondere auf der mir wohlbekannten Strecke von Mailand nach Bologna, wo man vor lauter Poltern und Donnern kaum mehr sein eigenes Niesen hören kann. Der Zug erregt keinesfalls den Anschein, als ob er sich als sorgfältig hintereinander gereihte Wagonkette durch die malerische Landschaft schleppen würde. Die Fahrtgeräusche lassen eher auf eine Lok schließen, auf der sich alle Wagons ohne Sinn und Ordnung bis weit hinauf in den Himmel stapeln und so aufeinander herumkratzen, sich gegenseitig einbeulen und die arme alte Lok unter diesem untragbaren Gewicht hilflos ächzt und stöhnt. Das Tohuwabohu wird unaushaltbar, wenn sich dieses bemannte Monstrum in einen der vielen Tunnel hineinquetscht, um an der anderen Seite zusammengematscht wieder herauszudrängen. Wie aus einer bedauernswerten Schrottpresse, die ihren Dienst nicht mehr richtig tut.
Das alles erträgt der Fahrgast in seit der vorletzten Jahrhundertwende nicht mehr gereinigten Abteilen, zusammengepfercht mit anderen miesgelaunten Reisenden, denen der Ärger und das Leiden von den schweren Jahren tief in die faltigen Gesichter eingraviert worden sind – auf zerschlissenen und zerrissenen Polstern sitzend, sich grämend, nicht mehr Geld für die Fahrt und einen besseren Zug ausgegeben zu haben. Nicht nur, dass die Fahrt dann in einem Viertel der Zeit erledigt gewesen wäre, sondern der Wohlfühlfaktor ist in einem modernen Schnellzug doch wesentlich höher.
Zusätzlich zu diesen Unerträglichkeiten muss man sich über die niemals eingebaute und daher auch nicht funktionstüchtige Klimaanlage ärgern, zumal draußen noch im September vierzig Grad das Hirn zum Kochen und die Fliegen zum Absturz bringen.
Dass ich bei dieser nicht nachzuahmenden Reise schwer erkältet war und daher unzählige Taschentücher in die italienische Vegetation schleudernd meine Zeit verbringen musste, als wenn der widerliche Kopfschmerz, der brennende Hals und die vom Niesen taube Nase nicht schon genug Unheil auf einmal wären, kam nicht dadurch zustande, dass ich mich in meinem Erkältungsfieberwahn in einen Flieger Frankfurt-Mailand gesetzt und gedankenlos abgereist war. Ohne zu wissen, wer, warum und wie ich selbst war und wohin ich oder jemand anderes sich soeben bewegte, geschweige denn, was das ganze mit mir oder diesem anderen, den ich nicht zu kennen glaubte, zu tun hatte.
Im Gegenteil. Ich tat mir diese Reise bewusst und geplant an, immer wieder aufs Neue. Da ich mir im Leben nichts einfach zu machen pflegte, verliebte ich mich nämlich keineswegs in eine Frau aus der Stadt, in der ich wohnte. Auch nicht in eine aus derselben Region, demselben Bundesland oder überhaupt meines Landes – sondern ich verliebte mich in eine Italienerin, die eigentlich Französin ist. Und diese lebte, man wird es sich bereits gedacht haben, in Bologna. So flog ich zweiwöchentlich mit zusammengebissenen Zähnen wegen der beständig ansteigenden Flugpreise und meines sich immerfort leerenden Bankkontos von Frankfurt nach Mailand und reiste anschließend über Land in der widerwärtigsten und billigsten Regionalbahn weiter nach Bologna, um dort nach einer schweißreichen und stinkenden Busfahrt meiner Liebsten in die Arme zu fallen.
Erkältet hatte ich mich selbstverständlich nicht in der hierzulande üblichen Hitze, sondern im kalten, regnerischen und permanent dunkelgrau bewölkten Deutschland, wo in diesem Jahr wieder einmal der Sommer kaum vom Herbst und der Winter kaum vom Frühling zu unterscheiden war. Seit ich hin und her reiste zwischen Hitze und Kälte, Sonne und Regen, Liebe und Einsamkeit, Herz und Verstand, war ich quasi ununterbrochen erkältet – diesen Wetterwechsel verkraftete mein durch das ständige Reisen geschundener Körper nicht.
Wir erinnern uns: ich mache mir nichts einfach. Meine Liebste hatte nämlich Flugangst und konnte mich daher nicht selbst besuchen. Unsere ganze Beziehung lastete auf meinen, durch Krankheit geschwächten Schultern und ich sage es gleich: für derartige Belastungen tauge ich nicht. Diese Regine musste mein Untergang sein. Zuerst stahl sie mir mein Herz und meine Seele, anschließend wollte sie mich umbringen, diese ruchlose Mörderin.
Verzweifelt wartete ich darauf, dass meine Liebe erlosch, damit ich wieder leben konnte und nicht elendig an diesem Gefühl zugrunde ging. Öffnete ich die Tür und fiel meiner Liebsten in die Arme, erhoffte ich mir jedesmal ein nicht wie bescheuert hämmerndes Klopfen im ganzen Körper. Grässliches Adrenalin. Dopamin. Serotonin. Betäubt die Sinne und den Körper. Stumpf glücklich, zufrieden, sorgenfrei. Da grinste ich, lachte, war voll Energie, Lebenslust und auf ätzende Art und Weise fröhlich.
Leider war es so: lag ich in ihren Armen, vergaß ich die stundenlangen Strapazen, die mich dorthingeführt hatten und die mich wieder von dort entfernen würden. Lag ich nicht in ihren Armen, war mein Leben angefüllt von Schmerz, Übelkeit, Trauer, Todessehnsucht, Angst, Verzweiflung und Depressionen.
Unaufhörlich warf ich mich ins Chaos des Sammelsuriums aller möglichen Fortbewegungsarten, nur um eineinhalb Tage lieben zu können. Und eineinhalb Tage leben zu können.
Lohnt sich das? Kann man sich fragen.
Sollte man sich fragen. Aber da ich krankheits-und liebesbedingt selten einmal bei Verstand war, konnte ich das nicht beantworten. Meiner Ansicht nach blieb mir ja keine Wahl.
Verloren und mit verblödetem Funkeln in den erschöpften Augen lehnte ich unablässig am Fenster, aus dem ich das Taschentuch und mit ihm den Rest meiner Kraft geworfen hatte. Mir fehlte selbst die Energie, um zurück in das Abteil zu wanken, wo mich ein alter und ein junger Mitreisender erwarteten – womöglich Vater und Sohn oder Onkel und Neffe, wer weiß das schon so genau und wen interessiert das überhaupt. Eine Abteilung in einem Wagon, die sechs Personen fasst, erinnert mich immer zu sehr an das unangenehme Schweigen aufgrund der unausstehlichen Nähe von sich fremden Menschen in einem Fahrstuhl. Längere Zeit darin aufhalten, mag ich mich nicht. Aber die Züge waren eben so veraltet, dass ich um diese Abteile nie herumkam. Gerade als Erkrankter, dem das Fieber ins Gesicht geschrieben steht und der mit jedem Atemzug die übrigen Fahrgäste anstecken will, fühlt man sich in engen Abteilen eher unerwünscht. Der Gang erschien mir als einzige Ausweichmöglichkeit auf der stundenlangen Fahrt, schwitzend und niesend, dabei in leichten Schüttelfrost fallend, war ich dorthin entwichen und klebte nun dort fest.
Es dauerte nicht lang, bis die stöckelnde Dame sich erneut in meiner umittelbaren Nähe zeigte, mich mit Abscheu beim Vorbeigehen berühren musste und ich ihr ungehalten einen lauten Nieser nachwarf, den sie unter dem Getöse des viehischen Zuges vermutlich nicht einmal hören konnte. Zumindest drehte sie sich nicht mehr nach mir um und kam auch nicht mehr wieder, obwohl ich noch eine gute Stunde am Fenster zubrachte. Nur ab und an schickte ich bange Blicke in das Abteil neben mir, mein Sitz und mein Koffer nur etwa zwei große Schritte entfernt. Aber das stützende Fenster wollte mein schlapper Körper nicht aufgeben, in der Angst, ansonsten mitten im Gang bei einem Hüpfer des Zuges zu fallen und sich dem Gelächter aller Mitreisenden preiszugeben.
Regionalbahnen sind auf dieser Strecke deshalb derart lahm, weil sie an jeder erdenklichen Mini-Station halten – da gibt es Orte, die bestehen kaum aus dem Ortsschild und dem mickrigen Bahnhofsgebäude. Dieses scheint nichts als eine miese, heruntergekommene, verlassene Hütte mitten im Nichts zu sein. Ein unheimlicher Bretterbau, in dem es allerhöchstens noch spukt. Man fragt sich unweigerlich, sobald der Zug hält, ob denn jemals auch nur eine einzige Person an diesem Ort ein oder ausgestiegen ist – ob Menschen überhaupt hier leben können, in dieser absoluten Einöde.
Da gibt es ausgetrocknete Flussläufe, die einem richtig Angst machen, der Zug könne an dieser Stelle das Zeitliche segnen und man müsse zwangsweise in dieser menschenfeindlichen Landschaft elendig verdursten. Außerdem kommen Brücken und Tunnel hinzu, die wenig vertrauenserweckend wirken, die wahrscheinlich schon vor Jahrzehnten hätten repariert oder ersetzt werden müssen – es wundert mich im übrigen, dass auf meiner Strecke so wenig Unfälle passieren. In der Zeit, in der ich dort hin und her und her und hin gefahren bin, sind wir nur zweimal wegen eines Defekts liegengeblieben und nur einmal musste meine Freundin ewig auf mich warten, weil Schienenersatzbusse aufgrund eines Unfalls von einem anderen Zug eingesetzt wurden – und der Einsatz solcher Busse muss in Italien von langer Hand geplant werden, damit zeitnah damit zu rechnen ist. Bei überraschenden Einsätzen steht man als Fahrgast schon mal mehrere Stunden bis zu einem halben Tag in sengender Hitze und stirbt fast durch die monströse Sonneneinstrahlung und den Flüssigkeitsverlust. Jedes Mal habe ich ein kurzes Dankeswort an den Herrn geschickt, wenn ich heil in Bologna angekommen bin, obwohl ich ja kein Kirchgänger bin – aber schaden wird es nicht. Irgendwem muss man ja danken, das Schicksal selbst ist mir zu unpersönlich.
Ich stieg wie jedes Mal in Bologna aus dem Zug, warf einen letzten verächtlichen Blick auf ihn in der Überzeugung, niemals mit einem schlimmeren seiner Artgenossen unterwegs gewesen zu sein, dann suchte ich mir einen Sonnenplatz an der Bushaltestelle und wartete auf die in unregelmäßigen Abständen ankommenden heißen, vollen und dementsprechend scheußlichen Busse mit ihren harten Plastiksitzen.
Eines der Undinge in Bologna ist, dass gerade auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof, der von vielen, vielen Menschen genutzt wird, kaum Schattenplätze zu finden sind. Es ist unmöglich, der prallen Sonne auszuweichen. Unter der kleinen Überdachung der Bushaltestelle drängen sich immer die ganzen Alten, die viel Zeit haben und sich deshalb frühzeitig die besten Stehplätze sichern können. Für Kranke ist da kein Platz. Das ist eine Zweiklassengesellschaft. Überall – und ich betone das noch einmal – überall in Bologna ist Schatten, nur nicht da, wo man eventuell lange, lange warten muss.
Ich wurde beinahe ohnmächtig. Frierend stand ich, während die Gegend an mir vorbeischwamm wie ein Haufen dickbäuchiger Walfische auf Nahrungssuche. Schwindel warf mich beinahe um, ich glaubte mich einem Hitzeschlag nahe, ohne die Hitze zu spüren. Wo blieb mein Bus?
Viele Zahlen fuhren in die richtige Richtung. Nach links. Trotzdem hatte ich stets den Eindruck, eben gerade diese Zahlen würden besonders lange brauchen, hätten die ausgeprägtesten Verspätungen und überhaupt – die Hitze machte mein Gehirn immer so matschig. Die richtige Zahl kam nicht. Wahrscheinlich übersah ich häufig die richtige Zahl, wenn sie denn ankam, weil ich nicht mehr in der körperlichen und geistigen Verfassung dazu war, eine 123 von einer 132 zu unterscheiden oder überhaupt Busse beim Näherkommen als Busse zu erkennen.
Nebelhaft zeigte sich mir meine mörderische Umwelt. Wer kann da einen Kleinwagen von einem Bus trennen, wenn beide in der Einbildung zu geschmolzenen Massen unförmigen Blechs werden müssen? Hauptsache bunt?
Einmal war ich wahllos in einen solchen Klumpen Metall eingestiegen und irgendwo bei einer Kirche herausgekommen, die ich a) nie zuvor gesehen hatte und b) auch niemals sehen wollte, weil c) zwielichtige Typen mit Hunden und Tauben davor auf Bänken im Schatten von Bäumen hockten und mich aus blutrünstigen Augen anschauten, weil sie mit einem dummen Touristen wie mir in keinem Fall ihre seit Generationen weitervererbte Bank teilen wollten. Die Familie ist ja wichtig in Italien, über Familie geht nichts, schon gar nicht Nächstenliebe für fremde, schweißtriefende, orientierungslose, dem Ableben nahe Hilflose mit chronischem Schnupfen und grässlicher Angst!
Angst habe ich nämlich seit jeher in Italien gehabt, ganz besonders in Bologna. Tagsüber ist es ja verhältnismäßig normal, die Stadt ist sogar durchaus schön zu nennen. Aber nachts tummeln sich unter den Arkaden kuriose kriminelle Elemente, die tuschelnd in Gruppen Raubzüge planen, Beute aufteilen und, wenn man nicht aufpasst, jeden beliebigen vorübergehenden Ahnungslosen in ihre Planungen als Opfer miteinbeziehen. Musste ich nachts in Bologna eine gewisse Strecke allein zurücklegen, ohne die schützende Hand meiner Freundin Regine, hatte ich stets einen Hunderteuroschein in meiner Brieftasche, um die Diebe nicht unnötig aufgrund des geringen Raubguts zu verärgern. Gebraucht habe ich ihn nie. Das sage ich dazu. Aber mit hatte ich ihn, denn ich bin ein vorausschauender, weiser Mann, der aus dem Fernsehen alle Lehren zieht, die nur eben möglich sind.
Zurück zu mir mit hochrotem Kopf an der Bushaltestelle, gerade kräftig niesend. Da kam ein Bus, hielt und ich trat vorsichtig heran, als sich die Tür wie ein Höllentor aufschob, und rief in schlechtem Englisch in den schwarzen, unscharfen Schlund: „Wohin fahren Sie?“
Die aus dem bärtigen Mund des Fahrers, irgendwo aus den Tiefen des Maules herüberschallenden italienischen Worte, denen ich meinte, die entscheidende Station entnehmen zu können, richteten mich auf und drängten mich hinein in das brummende Ungetüm. Dort fiel ich auf einen steinharten Plastiksitz gelber Färbung und durch ein Wunder an der richtigen Station wieder heraus – es wird wohl die mächtige Gewohnheit gewesen sein, die mir diesen Dienst erwies.
Verschnupft und fiebrig gelangte ich so als menschliches Wrack an die Wohnungstür meiner Freundin in einem dunklen, abgebröckelten, schmalen Bau, fern der Hauptstraße, in einer düsteren Gasse im dritten Stock ohne Balkon. Dort schlug ich dreimal kräftig an die alte Holztür und rief: „Mach auf, mach auf, ich sterbe!“
Man muss dazu sagen, dass Regine die schönste Frau der Welt war. Sagte ich das bereits? Wahrscheinlich. Zumindest die schönste, mit der ich je geschlafen habe und vermutlich jemals schlafen werde. Denn Regine hatte den vollendeten Körper einer jungen, dunkelhaarigen Französin, zart, feingliedrig und mit den Rundungen an den richtigen Stellen in der richtigen Menge. Die helle Gesichtshaut verfärbte sich bei Aufregung an den Wangen anziehend rötlich, ihre blauen Augen blühten dann und der rote Mund verformte sich zu einem Eingangstor in himmlische Gefielde. Sagte ich das schon? Wahrscheinlich.
Heute aber war nicht viel mit Himmel. Sie öffnete zwar gewohnt schwungvoll die Tür, riss mich an sich und wollte sich in derselben Bewegung gleich das leichte Kleid vom Körper reißen, hielt jedoch inne, als sie mich anblickte und feststellte, dass ich tatsächlich mehr tot als lebendig bei ihr erschienen war und sie mich mit einer üblich ausgefüllten Nacht vollends in die ewigen Jagdgründe befördert hätte. So zog sie mich besorgt wegen meiner schweren Erkrankung und ungehalten wegen meiner nicht vorhandenen Fähigkeit zum Beischlaf in ihre kleine, enge Wohnung, stieß mich auf das harte Sofa, warf mir eine Wolldecke über den Kopf und verschwand in der Küche, um Tee zu kochen, wie sie sagte. Ich ächzte und verlangte nach diversen Dingen aus der Apotheke, von denen sie mir einige brachte, weil sie die noch da hatte. Durch meine ununterbrochenen Erkältungen war ihr Badezimmerschränkchen gut gefüllt mit der Heilung dienlichen Medikamenten.
Sie meinte in ihrem akzentdurchfeuerten Deutsch: „Ich weiß gar nicht, warum du dich in den Flieger setzt, in dem Zustand. Du solltest im Bett bleiben.“
Ich darauf ungehalten: „Mein Bett ist hier, Mademoiselle! Und um dahin zu kommen, muss ich eben Europa durchqueren – Liebe ist heutzutage eben auch global.“
Sie: „So viel global ist das auch nicht, von Deutschland nach Italien, da kannst du ja fast zu Fuß gehen.“
Ich: „Dann geh mal schön zu Fuß, das nächste Mal!“
Sie warf mir an dieser Stelle unseres Dialogs ein Kissen an den Kopf, was furchtbar schmerzte, denn mein Kopf war ein einziges Bündel an überreizten und verkrampften Muskeln, Nerven und nach Atem ringenden Gehirnzellen, denen das Fieber heftig zusetzte. Alles glühte, alles steckte in Brand.
Ich sagte deshalb kläglich, das Kissen an mich drückend: „Ich verbrenne und erfriere.“
Sie: „Das ist normal, du hast eben Fieber.“
Ich: „Unmöglich kann das normal sein! Kein Körper hält das lange aus!“
Sie: „Zurückfliegen kannst du so zumindest nicht. Ich werde den Flug verschieben.“
Ich: „Verschieben? Wie, wie, ich muss Montag arbeiten.“
Sie: „Du kannst nicht mal geradeaus gucken, wie willst du bitte von hier nach Mailand finden und von da aus nach Frankfurt? Ruf Montagmorgen eben einfach deinen Chef an.“
Ich: „Den kann man nicht einfach anrufen.“
Sie: „Jeden kann man anrufen, wenn man sich krank meldet.“
Ich ängstlich: „Bei meinem Chef gibt es das Wort krank nicht. Da gibt es nur lebend, also arbeitsfähig, und tot, also nicht arbeitsfähig. Grauzonen kennt er nicht.“
Sie: „Er soll sich nicht so anstellen, ihr seid nur eine Druckerei und keine Armee. Wie machen das denn die anderen, wenn sie krank sind? Es kann nicht sein, dass keiner deiner Kollegen jemals krank wird! Jeder kriegt mal Grippe.“
Ich: „Es gibt keine Krankheiten, die man nicht mit Tabletten unterdrücken könnte. Wovon lebt wohl die Pharmaindustrie hauptsächlich? Von Angestellten, deren Chefs Kranksein nicht dulden, in deren Weltbild Krankheiten einfach nicht existieren, Chefs, die selbst nie krank werden, bis sie eines Tages einen Hirnschlag kriegen oder Prostatakrebs.“
Sie: „Du bleibst jedenfalls hier und kurierst dich aus.“
Ich: „Dann verliere ich meinen Job!“
Sie: „Such dir halt einen anderen.“
Ich: „Einen anderen?“
Sie setzte sich neben mich auf das Sofa und legte beschwörend einen Arm um mich. Vertraulich sprach sie zu mir: „Du, es geht so nicht weiter.“
Ich seufzte: „Ja, ich, ich, weiß.“
Sie fuhr nachdrücklich fort: „Entweder musst du deinen Job aufgeben und dir einen suchen, der dir mehr Freiheiten lässt, keine festen Arbeitszeiten oder so – oder wir müssen uns trennen.“
Erschrocken klammerte ich mich an Regine und schniefte in ihr Haar: „Wenn ich für jemanden sterben würde, dann für dich! Ich würde alles für dich tun, alles!“
Sie: „Du solltest kündigen.“
Es war unmöglich, nicht auf Regine zu hören. Sie musste mich nur anschauen und schon war ich von ihrer Meinung überzeugt, glaubte sogar, die Idee sei ursprünglich von mir gewesen. Sie hatte mich vollständig in der Hand.
Überhaupt war mir ja die Arbeit in der Druckerei lange ein Dorn im Auge gewesen. Viel saß ich in unfassbarer Lautstärke herum, dann musste ich irgendwelche wahnsinnig schweren Kartons in einen alten Lieferwagen laden, der unter dem Gewicht fast zusammenbrach, und das ganze Übel dann zu einem Kunden fahren, um es dort wieder auszuladen. Kein Traumjob. Aber wer hat den schon?