Читать книгу Eine Nacht in Rimini - Joana Goede - Страница 5

veränderung.

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Man wird sich denken können, dass wir nicht lange weiterleben konnten, wie wir das in unserer jugendlichen Dümmlichkeit begonnen hatten. Erkältungen sind sicher lästig, jedoch nicht unbedingt ernstzunehmen. Ernst wurde es erst, als ich meinen Job tatsächlich kündigte, sogar bereit war, mein Zelt in Frankfurt abzubrechen und ein neues, gemeinsames mit Regine in Bologna aufzuschlagen – ungeachtet der unwichtigen Tatsache, dass ich noch immer kaum ein Wort Italienisch verstand, es also eher unwahrscheinlich war, dass ich in diesem fremden Land hätte als sprachliche Minderheit überleben können. Mit Regines Kellnergehalt war es selbstverständlich auch nicht weit her, sicher nicht genug für zwei. Obwohl sie aufgrund ihrer auffälligen Schönheit meistens reichlich Trinkgeld kassierte.

In jedem Fall hatte ich zu meinem Chef gesagt: „Ich liebe eine Frau und ich werde sie heiraten. Leider wohnt sie in Italien. Deshalb muss ich kündigen.“

Mein Chef hatte bemerkt: „Kündigen können Sie gern, überlegen Sie es sich aber noch mal gründlich mit dem Heiraten. Die wenigsten werden damit auf lange Sicht glücklich. Und wenn Ihre Liebste, wo Sie nicht einmal mit ihr verheiratet sind, Sie jetzt schon am Beginn Ihrer möglicherweise ewig währenden Beziehung zwingt, den Job für Sie aufzugeben, der Sie bislang gut ernährt hat und sich auf lauter Ungewissheiten in einem Land einzulassen, in dem Ihnen eigentlich einen Großteil des Jahres viel zu heiß ist, sollten Sie sich ernstlich die Frage stellen, ob das exakt das ist, was Sie möchten, oder ob man Sie da nicht auf die abscheulichste Art manipuliert.“

Seine lebenserfahrenen Worte nahm ich mir sehr zu Herzen. Nachdenklich schniefend eilte ich den regnerischen Weg zur Bahnhaltestellte entlang, fuhr stockend in die Richtung meiner trauten, grauen Heimat, wo mich mein Nachbar Ephraim bereits auf einer Bank vor meinem kleinen, mickrigen Häuschen sitzend mit toternster Miene im Nieselregen erwartete und meinte: „Soso, abhauen willst du also. Und deinen alten Freund sich selbst überlassen. Für so ein Weib.“

Ephraim hatte bereits im Nachbarhaus gelebt, als ich noch ein kleiner Junge gewesen war. Wir hatten eine innige Beziehung entwickelt im Laufe der Jahrzehnte und diese noch weiter ausgebaut, seit ich mein Elternhaus geerbt und nach dem Studium wieder dort eingezogen war. Häufig tranken wir einen guten Scotch zusammen, machten einen kleinen Streifzug durch Ephraims Gewächshäuschen und unterhielten uns über alles Mögliche. Ich wusste nicht genau, wie alt Ephraim war. Womöglich über achtzig. Seine Augen waren so grau wie seine Haut und seine Haare. Ein Stoppelbart zierte sein Gesicht. Er machte auf mich in der Regel den Eindruck eines alten Kapitäns, der das Meer aufgeben und sich einen anderen Lebensmittelpunkt suchen musste. Hier, in einem Randbezirk Frankfurts, hatte er diesen mit seinem Garten und seinem Häuschen gefunden.

Ich verzog schlechtgelaunt den Mund, nahm neben ihm Platz und gemeinsam betrachteten wir das schlechte Wetter, die entblätterten Bäume und das braune, verwesende Laub auf der Erde, das vom verendenden Herbst und herannahenden Winter zeugte. Mehrfach musste ich seufzen, Ephraim fiel ein und so verbrachten wir eine ganze Weile, jeder für sich grübelnd und über das Leben sinnierend, das für Ephraim schon beinahe sein Ende erreicht hatte, für mich jedoch erstaunlich viel bereit hielt, von dem ich keine Ahnung hatte. Schließlich erklärte ich zögerlich: „Das Problem, mein Freund, das Problem liegt eben in der misslichen Lage, in der ich mich befinde. Ich liebe diese Frau. Wirklich. Nie habe ich jemanden geliebt wie sie.“

Er grummelte: „Und liebt sie dich denn genug?“

Ich schnaubte: „Genug, genug. Was soll das schon heißen.“

Er: „Nun, was ist sie bereit, für dich aufzugeben, wo du schon alles aufgibst?“

Daraufhin schwieg ich erneut und ließ mich zusehends von den Meinungen der mich umgebenden weisen Männer bekehren. Nicht, dass ich daran gedacht hätte, mich von meiner Liebsten zu trennen, aber dennoch wuchs in mir die Überzeugung, es weiterhin, trotz aller Unannehmlichkeiten, mit einer Fernbeziehung zu versuchen. Fernbeziehungen, manche werden das kennen, bringen reichlich Streitigkeiten und Tränen, Ärger und Stress mit sich – aber ich würde das wohl auf mich nehmen müssen für eine Frau wie Regine.

Folglich schlüpfte ich am nächsten Wochenende erneut in den besagten Flieger, der des starken Nebels wegen eine Stunde zu spät startete. Das deprimierte mich ungemein, zumal ich aus diesem Grund eine lästige Stunde länger am ungemütlichen Flughafen ausharren und warten musste, obwohl ich mich dort ohnehin so schlecht zu beschäftigen wusste. In der Regel lief ich gelangweilt von Geschäft zu Geschäft, blätterte in Zeitschriften, die ich nicht kaufte. Begaffte teuren Alkohol, den ich mir nicht leisten konnte. Beobachtete fremde Reisende an den Tischen eines Bistros, ohne mit ihnen ins Gespräch kommen zu wollen. Schlug eine herrenlos herumliegende Zeitung auf, überflog die dort dargebotenen Nachrichten und gähnte herzhaft dabei.

Letztlich verlief der Flug huckelig und ich befand mich gefangen in der Überzeugung, dass ich an diesem Tag ganz gewiss abstürzen müsste, weil ich schon viel zu oft ohne einen solchen Zwischenfall geflogen war. Mit jedem Wochenende, an dem ich zu meiner Freundin reiste, wuchs die Wahrscheinlichkeit zu verunglücken, womöglich bei dem verzweifelten Versuch einer Aufrechterhaltung dieser zum Scheitern verdammten Fernbeziehung umzukommen.

Dieser Gedanke ängstigte mich zutiefst.

Jeder ungewöhnliche Laut, den der Billigflieger von sich gab, wurde in meinem Kopf zu einer abbrechenden Tragfläche, zu einem ausfallenden Triebwerk. Die dicke Luft wurde zu den giftigen Gasen des Treibstoffs, die überhöflichen Mienen sämtlicher Stewards und Stewardessen verwandelten sich in besorgte Gesichter, schließlich zu panisch verzerrten Fratzen – es konnte nicht anders sein: wir waren dem Absturz nahe!

In wenigen Minuten musste das Flugzeug an den Bergkuppen zerschellen, auf die Erde aufschlagen oder in irgendeinem Gewässer versinken – wenn es nicht vorher in der Luft mit einem bombastischen Knall explodierte!

Überraschend landeten wir unversehrt in Mailand.

Dadurch wurde in mir nur die Angst vor dem Rückflug unerträglich. Ich war gezwungen, mir auszurechnen, ob ich mir eine Rückfahrt mit dem Zug leisten konnte. Allerdings hat ein Mensch ohne Job nicht so viele Wahlmöglichkeiten. Es war nicht ganz auszuschließen, dass ich bald irgendeine Arbeit würde annehmen müssen, um mich über Wasser zu halten, nachdem ich für meine geliebte Regine meinen Job gekündigt hatte. Nur für flexible Arbeitszeiten, nur für die winzige Chance einer Anstellung in einem fremden Land? Oder hatte sich diese Frau in den Kopf gesetzt, mich zu vernichten und das war ihr erster Schritt dorthin? Hatte ich soeben den Vertrag zu meinem eigenen Ruin unterzeichnet?

Hilflos stierte ich aus dem Zugfenster in die vermaldedeite Landschaft, die ich früher für schön befunden hatte, ab diesem Tag aber mit Argwohn betrachten musste. Wie mir auch Regine in ihrer ganzen perfekten Art von Minute zu Minute unheimlicher wurde. Der Zug stampfte geräuschvoll vorwärts, ich verlor mich in seinem Lärm und in meinen Gedanken, die mich folterten und quälten. Denn ich wusste eines genau: sobald ich in die Arme meiner Liebsten fiel, waren alle Zweifel wie fortgefegt, ich sagte nur noch Ja und Amen – ich hatte nicht die geringste Chance, mich gegen ihren Charme, ihre Verzauberungstechniken zur Wehr zu setzen, denen jeder Mensch erliegen musste!

Und trotzdem, trotzdem setzte ich meinen Weg fort, kämpfte mich durch zu ihr, um in ihren Armen zu landen und zumindest dort für einen kurzen Moment, auf den der Tag, das Wochenende, die Woche zusammenschrumpfte, glücklich und zufrieden zu sein. Zu kurz war es ohnehin immer. Kam ich an, musste ich schon wieder weg. Meine Arbeitslosigkeit änderte an diesem Gefühl nicht viel. Wie ernüchternd. Die Arbeitssuche verlangte mir sogar noch größere Kräfte ab, als die Arbeit es vorher getan hatte. Zwar konnte ich länger bei Regine bleiben, doch fort von ihr musste ich immer, so oder so.

Es war ein Elend, ein furchtbares Elend – es ging mir so schlecht, als ich bei ihr eintraf – jedes Mal wieder, und als ich sie sah, war alles dahin, war alles gut. Mein Kopf fragte mich, wo denn bitte das Problem war. Das bisschen Weg, das konnte man ja wohl auf sich nehmen, dabei waren sie ja immer viel zu kurz, diese Besuche, die Zeit dazwischen dehnte sich ins Unermessliche, eine Qual, eine ewige Qual und ich mitten darin. Sie dagegen war immer unbeschwert, immer hübsch, immer ausgeruht – ein kleines Energiebündel, zum Anbeten, aber sie machte mich fertig.

Es war in unserem vierten gemeinsamen Monat, bei unserem achten Treffen, als ich mich anschickte, unsere ernste Sachlage einmal gründlich und vernünftig durchzusprechen. Immerhin war ich ohne Arbeit und nur mit geringen Ersparnissen, sie machte keine Anstalten mit mir in mein Land zu ziehen, obwohl sie die Sprache gut beherrschte, wohingegen ich ja bis auf wenige Brocken nichts Sinnvolles auf Italienisch zusammenbrachte – als was hätte ich mich da bewerben sollen? Zuhause war ich auf der Suche nach einer Arbeit, die möglichst vom Computer aus zu erledigen war – die viel Freiraum ließ, aber bislang ohne jeden Erfolg.

Regine saß mir gegenüber in einem knappen Kleid, das ihre wohlgeformten Beine nur bedingt bedeckte. Obwohl wir uns dem Winter näherten, trug sie keine Strumpfhose. Ich fragte mich insgeheim, ob sie dadurch meine Konzentration zu stören beabsichtigte, damit ich nicht zu irgendwelchen Ergebnissen gelangen konnte, die ihr missfielen. Im Gegensatz zu mir war Regine nämlich recht zufrieden mit unserer Beziehung. Zwar klagte die manchmal jämmerlich, wenn sie mich eine Woche nicht gesehen hatte und noch eine weitere warten musste, aber ansonsten war sie die pure Lebensfreude. Ich dagegen wurde ja zusehends depressiv. Diese ständigen Flüge, die quälenden Bahnfahrten, die beinahe tödlichen Busfahrten – alles ein Graus und nichts, das ich auf Dauer durchhalten konnte, durchhalten wollte. Auch wenn ich mittlerweile ja länger am Stück bei ihr bleiben konnte.

So sagte ich im Ernst: „Regine, ich kann so nicht mehr. Ich bin quasi pleite. Ich bin total fertig. Was soll ich machen?“

Regine schlug als Antwort ihre Beine übereinander, sah mich mit ihren großen blauen Augen lange an und meinte dann: „Du liebst mich doch oder nicht?“

Was blieb mir anderes übrig als in Anbetracht ihrer französischen Schönheit und italienischen Leidenschaft zu beteuern: „Ja, ja! Selbstverständlich liebe ich dich, mehr als ich jemals irgendwen oder irgendwas geliebt habe!“

Daraufhin erwiderte sie: „Dann finde einen Weg. Gib nicht auf, einen Job zu finden. Du kannst Englisch, versuch es an einem Flughafen. Versuch es in Mailand.“

Ich rief entsetzt: „In Mailand? Soll ich denn täglich diese schreckliche Zugfahrt auf mich nehmen? Was glaubst du denn, wie lange es da dauert, bis ich komplett zusammenbreche und du mich hier begraben musst? Was ist mit dem Flughafen in Bologna? Oder willst du nicht, dass ich immer hier bin? Außerdem habe ich gar keine Ausbildung dafür!“

Regine meinte ruhig: „Dann such dir was, was zu deiner Ausbildung passt, mon Cheri.“

Ich wusste nicht, ob ich mich entrüsten oder aufgeben sollte, ob ich mich gleich in den Rinnstein legen und obdachlos werden oder vorher noch Arbeitslosengeld beantragen sollte, ob ich zukünftig diese Reise nach Bologna überhaupt noch bezahlen konnte oder das Fahrrad nehmen musste – ich wusste gar nichts mehr. Mein Leben war ein Trümmerfeld. Und inmitten dieser Trümmer, wo rein gar nichts mehr heil geblieben war, wo nichts mehr stand, das mir Sicherheit gegeben hätte, da saß Regine in ihrem Kleid – knapp, rot, feurig – ich saß ihr gegenüber – erbärmlich, verliebt, blöde gaffend – welche Chance hätte ich gehabt? Musste einem angesichts einer solchen Frau nicht alles egal sein? Wen interessierte schon das Leben, die Zukunft, was überhaupt sollte eine Zukunft ohne Regine sein? Es konnte keine Zukunft ohne Regine geben!

Ich sagte ihr also: „Ich kann mir keine Zukunft ohne dich vorstellen.“

Sie nickte und behauptete: „Das hatte ich auch nicht erwartet.“

Nun tat ich einen langen Seufzer, bevor ich erklärte: „Aber es macht für mich keinen Sinn, nach Italien zu ziehen, hier finde ich nie Arbeit, ebensowenig in Frankreich, du musst zu mir ziehen, Regine – ich habe ein kleines Haus, ich habe nette Nachbarn und einen hübschen Garten – und du wirst dort sicher Arbeit finden, eine Frau wie du mit diesen Sprachkenntnissen – die werden sich um dich reißen!“

Regine starrte mich irritiert und fassungslos an. Sie fragte: „Deutschland? Ich soll dahin ziehen? Weißt du, wie kalt und grau es da ist? Weißt du, was ich für Depressionen kriege, wenn es das ganze Jahr über kalt und grau ist? Willst du, dass ich mich umbringe für dich?!“

Ich erwiderte: „Aber es wäre doch das Vernünftigste, Regine, glaube mir bitte, wirklich das Allerbeste – gib dem Land eine Chance, du bist ja immerhin mal ein paar Monate dagewesen...“

Regine rief: „Schrecklich, es war schrecklich!“

Ich: „Aber, ich bitte dich, nimm Urlaub, komm mit mir, sieh dir alles an, vielleicht gefällt es dir, vielleicht möchtest du bleiben!“

Sie schüttelte entschieden den Kopf und wenn eine Frau wie Regine etwas entschieden hat, dann kann nichts in der Welt sie mehr umstimmen, ihr Wille ist Gesetz – ich war machtlos. Vollkommen machtlos. Mit ergebener Miene hockte ich auf meinem Stuhl, auf dem ich immer in ihrer kleinen Wohnung saß, weil es einfach nicht viele Alternativen gab, auf denen ich hätte Platz nehmen können – dort hockte und hing ich wortlos, fassungslos, hoffnungslos. Wie zusammengeschlagen fühlte ich mich, wie getreten und verraten. Regine hatte eine kerzengerade Haltung angenommen, ihre kleinen, weißen Hände in ihren Schoß gelegt und blickte mich freundlich-mitfühlend an, in etwa, wie wenn man einen kleinen Hund anlächelt, der zwar keine Ahnung von der Welt hat, aber unheimlich niedlich ist. So kam ich mir vor. Dumm, aber niedlich. Ahnungslos, aber putzig. Liebte sie mich?

Ich fragte sie unsicher: „Regine, liebst du mich?“

Sie lachte und es versetzte mir einen tiefen Stich in den Magen, wobei aus der Öffnung direkt das Blut schoss – erst, als es sich schon etwas auf meinem T-Shirt verteilt hatte, stellte Regine das Lachen ein und meinte versöhnlich: „Natürlich liebe ich dich, mon Cheri, wie kannst du nur so etwas Dummes fragen?“

Nun, das Loch blieb, mein Magen blutete aus, er krampfte sich zusammen, ich spürte ihn als festen Klumpen, als unnützes Organ, als verschrumpeltes, vertrocknetes Überflüssiges, das nichts konnte, als Gefühle anzuzeigen – und zwar in der Regel nicht die Besten. Am liebsten hätte ich den Magen einfach herausgenommen, weil er ohnehin nicht mehr dazu taugte, Hunger und Sattheit mitzuteilen – er kannte nichts mehr als Übelkeit, sehnsüchtiges Ziehen und Ausbluten – dazwischen wechselte er beständig hin und her in den letzten vier Monaten – ich war am Ende – ich war quasi hin.

So faltete ich die Hände, blickte Regine traurig an und bat sie: „Begleite mich wenigstens einmal in meine Heimat, einmal zu meinem Haus, zu meinem Garten – gib all dem doch wenigstens eine Chance, meine Liebe, eine Chance, wenn du mich liebst, dann musst du mir die Möglichkeit geben, an dieser heftigen Liebe zu dir nicht elendig zu verenden, sondern ein glückliches Leben gemeinsam mit dir führen zu können!“

Sie reagierte spät und das ziemlich spröde, denn sie sagte nur in barschem Ton: „Ja, aber nicht in Deutschland.“

Damit stand sie auf, ihr Kleid rutschte ein Stück die Oberschenkel herab, ohne dass es diese minimale zusätzliche Bedeckung irgendwie besser gemacht hätte – im Gegenteil – so reizte es mich nur noch mehr. Mir blieb nichts, als ihr mit offenem Mund und matten Augen hinterherzusehen, voll Bewunderung und Liebe – zum Aufstehen und Verfolgen fehlte mir die Kraft. Sie ließ sich in den Sessel fallen, schnappte sich eine Illustrierte und blätterte gelangweilt darin, um mir zu zeigen, dass dieses Thema für alle Zeiten durch war.

Mir entwichen einige Seufzer, die ich nicht zurückhalten konnte und die im stillen Zimmer lange unbeachtet in der Luft schwebten. Bis Regine schließlich doch aufblickte und meinte: „Du brauchst Urlaub. Lass uns mal nach Rimini fahren.“

Beinahe wäre ich auf der Stelle zusammengebrochen.

Mein linker Arm zuckte unbeherrscht, ich warf einen raschen Blick darauf und er stellte das Zucken direkt wieder ein, als habe er das Ungehaltene in meinen Augen erkannt. Doch der Schock blieb. Er schlug mich fast zu Boden.

Rimini. Das bedeutete Massen an Menschen, Unruhe, teure Restaurants – Strandbars, die vielleicht jetzt gerade nicht so überfüllt sein mochten, aber schlimm genug war es sicher noch. Außerdem – was sollte ich an einem Strand? Ich brauchte ein Bett und keinen Strand. Dieses Bett brauchte ich mindestens drei Wochen lang, um mich von all dem Stress zu erholen, den diese Liebe mir machte. Und was tat Regine? Meinen Blick ignorierend, der angefüllt mit blankem Entsetzen irgendwo ins Nichts geglitten war, Ausflüchte und Argumente gegen einen Aufenthalt in Rimini suchend, war Regine bereits aufgesprungen und ins Schlafzimmer geeilt, wo sie einen runden, dunkelgrünen Koffer herauskramte und wahllos Kleider hineinstopfte.

Ich deutete durch das Zuschlagen meiner Augen eine Ohnmacht an, aber davon nahm sie beim Packen keine Notiz. Sie drehte mir auch den schönen Rücken zu und sah mich nicht. Einen Moment vergaß ich, verzückt ihre hübschen Schultern betrachtend, das ganze Übel meiner Existenz. Allerdings riss ich mich rasch wieder aus dem Liebesrausch heraus und warf mich mit letzter Kraft zurück in die Realität. Handtücher flogen zu Bürste und Fön, zierliche Slips legten sich auf weiche Tücher, die Regine um sich zu schlingen pflegte, wenn sie fröstelte – ich schnaufte entgeistert zu ihr hinüber: „Aber, aber, für wie lange willst du denn dahin? Ich, ich muss am Dienstag zu einem Vorstellungsgespräch, ich muss dahin, Regine...“

Sie sah nicht einmal hoch, sondern sprach hastig: „Kannst du doch, dann fährst du eben ein paar Tage früher als ich, ich wollte mir ohnehin die Woche freinehmen.“

Aus dem letzten Loch röchelte ich: „Wenn du dir die ganze Woche freinimmst, Regine, dann komm doch bitte mit zu mir, komm mit nach Frankfurt, wir fahren mit dem Zug, du musst nicht fliegen. Bitte, Regine. Ich flehe dich an.“

Sie sagte böse: „Du weißt genau, dass ich nicht die richtige Kleidung für Deutschland im Winter besitze. Willst du, dass ich mir da den Tod hole? Siehst du nicht, wie krank du schon immer bist? Und du bist da geboren!“

Ich gab auf. Schniefte heftig, aber gab auf. Suchte mutlos in meiner Hosentasche nach einem Feuerzeug, um wenigstens rauchen zu können – fand aber keins. Mir fiel ein, nachdem ich einige Minuten verwundert darüber nachgedacht hatte, dass ich das Rauchen schon vor einem halben Jahr aufgegeben hatte. Vor einem halben Jahr. Vor einem halben Jahr hatte ich noch ein Leben gehabt. Noch Freunde, Freude, Zuversicht. Jetzt hatte ich eine Frau, die ich mit jeder verwirrten Zelle meines Körpers liebte und die jede dieser Zellen durch ihre egoistische Art dauerhaft folterte. Es war ein Kampf. Ein heftiger Kampf in mir.

Eine Nacht in Rimini

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