Читать книгу Körperangst - Joana Goede - Страница 3

EKG

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„Sie sollten mal zunehmen“, sagte der Arzt. Ein dickbäuchiger, älterer Herr. Bodenständig, mit roter Nase und einer breiten Brille darauf. Er hing etwas kraftlos in seinem Drehstuhl hinter einem sehr langen Schreibtisch und betrachtete Minna durch seine Brille hindurch leicht misstrauisch. Vor ihm auf dem Tisch lag Minnas Patientenakte. Minna war lange nicht mehr beim Arzt gewesen, mehrere Jahre nicht.

„Das ist nicht so leicht“, erwiderte Minna und blickte auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. Ihre Finger waren dünn, klar. Ein wenig zitterte sie, weil sie im Wartezimmer so gefroren hatte. Das Fenster war offen gewesen, obwohl es draußen recht kalt war. Diese Kälte hatte sie mit hinüber in den Behandlungsraum genommen. Dort spürte sie eine große Unsicherheit. Sobald Minna einem Arzt gegenübersaß, fühlte sie sich direkt unter Generalverdacht. Sie hasste solche Situationen.

„Haben Sie Probleme mit dem Essen?“, wollte der Arzt wissen und griff nach einem Kugelschreiber, der vor ihm auf dem Tisch lag. Allerdings schrieb er nicht damit, er drehte ihn nur ungeduldig zwischen den Fingern hin und her.

Die meisten Ärzte hatten nicht genug Zeit, um sich mit solchen Fällen wie Minna auseinanderzusetzen. Jemand, dem es körperlich und psychisch seit Jahrzehnten schlecht ging und bei dem man die Ursache nicht kannte, wer sollte sich darum kümmern? Minna wurde meistens an Fachärzte abgeschoben, die auch über nicht genügend Zeit für Minna verfügten. Und das brachte selbstverständlich nichts. Da konnte sie es auch einfach lassen und sich den Stress mit den Arztbesuchen sparen.

Ihre Schwester Lisbeth jedoch, die niemals aufgab, wurde nicht müde, wenn es darum ging, Minna zu helfen. Sie hatte diesen Arzt angeschleppt, der sich angeblich Zeit für seine Patienten nahm. Minna glaubte das auch, denn sie hatte über zwei Stunden im Wartezimmer auf ihn warten müssen. Zumindest über Promiklatsch und Motorräder war sie durch die ausliegenden Zeitschriften bestens informiert.

Jetzt war sie endlich dran. Einen gehetzten Eindruck machte dieser Arzt jedenfalls nicht.

Minna zögerte einen Moment, bevor sie antwortete: „Sicher. Ich vertrage nichts. Mir wird von allem übel.“

Der Arzt tippte mit dem Stift auf die Patientenakte und meinte: „Das ist bedenklich. Aber da Nahrungsmittelallergien und andere Unverträglichkeiten ausgeschlossen wurden, würde ich vielleicht noch eine Darmspiegelung machen. Sie hatten erst eine und die ist fast zehn Jahre her. Magenspiegelungen dagegen hatten Sie viele.“

„Ja“, brummte Minna. Sie wusste nicht genau, auf was genau sie damit antwortete. Erinnerungen an die Magenspiegelungen mit dem Schlauch im Hals, der einem das Atmen beinahe unmöglich machte und permanente Erstickungspanik auslöste, durchfluteten ihr Gehirn. Der Arzt fuhr unbeirrt fort: „Eine Gewebeprobe wurde da damals bei Ihnen auch nicht entnommen. Das könnte man jetzt nachholen.“

„Ja“, sagte Minna wieder. Dabei fühlte sie sich willenlos und ausgeliefert. Sie war daran gewöhnt, dass ihr Körper nicht funktionierte und dass bei diesen Untersuchungen nichts herauskam. Ihr Symptomkatalog war elendig lang und verwies auf so gut wie jede Erkrankung. Deswegen löste der Vorschlag einer Darmspiegelung bei Minna hauptsächlich Angst aus. Nicht die Angst, dass etwas dabei gefunden wurde, das hätte sie sogar begrüßt. Nur die Angst vor der Untersuchungssituation selbst – und dass eben wieder nichts gefunden wurde.

Diese ganze Tortur umsonst.

Das hatte sie schon zu oft gemacht.

Sich zu quälen für nichts.

Sie spürte deutlich, wie ihr die Tränen in die Augen steigen wollten, ihr Kopf wurde ganz heiß. Sie wandte hastig das Gesicht ab und suchte in ihrer Jackentasche ein Taschentuch heraus. Damit putzte sie sich lange die Nase und bemühte sich dabei, möglichst unauffällig auch die Augen abzutupfen. Der Gedanke an eine Darmspiegelung machte sie schon jetzt vollkommen fertig. Doch sie traute sich nicht, etwas dagegen zu sagen.

„Gehen Sie noch zu einer Psychotherapie?“, fragte der Arzt nun auch noch und Minna, völlig überfordert mit der ganzen Situation, schüttelte nur den Kopf, konnte keinen Ton mehr sagen. Sie riss sich zusammen, presste sie Lippen aufeinander und versuchte sich zu beruhigen. Kaum wagte sie es mehr, aufzusehen, denn ihre Reaktionen waren ihr vor dem Arzt peinlich. Sie wollte nicht, dass er sie für gestört hielt.

„Ich gebe Ihnen jetzt hier eine Überweisung zur Darmspiegelung und eine Überweisung zur Psychotherapie. Lassen Sie sich von der Sprechstundenhilfe vorn ein paar Kollegen empfehlen. Es gibt hier im Haus einige sehr gute Therapeuten. Ich würde Ihnen empfehlen, einen von ihnen aufzusuchen.“

Minna hörte, wie der Arzt wieder mit dem Kugelschreiber auf die Akte tippte und sich in seinem Drehstuhl weit zurücklehnte. Außerdem merkte sie, dass er wartete. Es lag eine Spannung in der Luft. Diese Art von Spannung, wenn eine Frage im Raum steht, die sich niemand zu beantworten traut.

„Ok“, brachte Minna nach einer gefühlten Ewigkeit hervor, kniff sich einmal, hoffentlich unbemerkt, kräftig in die Handfläche, damit der Schmerzreiz sie wieder kurzzeitig zur Vernunft brachte. Dann sah sie endlich auf und blickte direkt in das mitleidige Gesicht des Arztes. Rasch senkte sie ihren Kopf wieder und glaubte zu erröten. Sicher hatte er den weinerlichen Schimmer in ihren Augen gesehen.

Der Arzt beugte sich nun wieder vor, sogar recht weit auf den Schreibtisch, und sagte mit ruhiger, freundlicher Stimme: „Es geht Ihnen nicht gut. Diese jahrelange Krankheit macht Ihnen sehr zu schaffen. Ich möchte das gern mit Ihnen zusammen angehen, dann werden wir es auch schaffen. Es wird Ihnen wieder besser gehen.“

Fast hätte Minna gelacht. Sie hatte die Hoffnung darauf, dass es ihr einmal „besser“ ging, aufgegeben, lange schon aufgegeben. In der Regel wurde es eher schlechter. Deshalb hatte Lisbeth sie auch zum Arzt geschickt. Und deshalb hatte ihr Freund Niklas mit Lisbeth gemeinsame Sache gemacht und Minna zu einem erneuten Versuch überredet. Minna dagegen hatte die Kraft für Arztbesuche eigentlich verloren. Immer wieder musste sie neu erklären, was das Problem war, ihre Unterlagen bei verschiedenen Ärzten zusammensuchen und all ihre Symptome aufzählen, auf die sich dann ohnehin niemand einen Reim machen konnte.

Schlafstörungen, Verdauungsstörungen, hoher Puls, niedriger Blutdruck, Übelkeit, Nervosität, Panikattacken, Konzentrationsschwierigkeiten, Schwindel, starke Müdigkeit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Ängstlichkeit, Migräne, Schwäche, Appetitlosigkeit oder Heißhunger, depressive Verstimmungen, Frieren.

Die Liste war lang, es kamen noch viele Kleinigkeiten hinzu. Sie konnte auf viele Krankheiten zutreffen, alles konnte psychosomatisch sein. Minnas Psyche war ohnehin im Eimer. Sie wusste nicht, ob das immer schon so gewesen war oder ob es sich erst mit der Zeit entwickelt hatte. Als Teenager war es noch nicht so schlimm gewesen. Jetzt, mit Ende Dreißig, hatte sie den Eindruck, sie könne unmöglich mehr lange leben.

Der Arzt, den sie weitestgehend ignoriert hatte, weil sie abwesend mit gesenktem Kopf dasaß, sprach sie nun an: „Haben Sie sich mal gynäkologisch untersuchen lassen? Die Hormone, Östrogen, Progesteron? Haben Sie einen regelmäßigen Zyklus?“

Minna schüttelte den Kopf. Das war nicht ihr Lieblingsthema. Mit Männern unterhielt sie sich ungern über solche Frauendinge. Und Ärzte fragten da leider häufig sehr direkt. „Wie oft kommt denn ihre Monatsblutung?“, hakte der Arzt nun auch tatsächlich nach und Minnas Hände wurden nun richtig kalt, ihre Wangen glühten vor Scham. Sie sagte dann sehr leise: „Sie, sie, naja. Unterschiedlich.“

„Was heißt das?“

Minna atmete ein und aus. Sie tat so, als müsse sie überlegen, um die Antwort noch hinauszuzögern. Dann erst überwand sie sich: „Also, mal alle vier Wochen. Mal erst nach acht. Mal schon nach zwei.“

„Eher stark? Lang?“

Minna wollte diese Information keinem Menschen auf der Welt geben. Einer der Gründe, weshalb sie es so sehr verabscheute, zum Arzt zu gehen, war, dass sie dort alle Hüllen fallen lassen musste. Sie konnte ihren Körper und sich selbst nicht mehr verbergen, ihr Körper stand sogar im Mittelpunkt des Interesses. Jedes Detail über sein Fehlverhalten musste sie mitteilen, der Arzt führte darüber Buch. Und Minna fühlte sich entblößt, auch irgendwie gedemütigt. Sie wusste, sie musste antworten. Der Arzt wollte ihr ja auch nichts Böses mit seiner Fragerei, er wollte ihr lediglich helfen. So gab sie endlich zur Antwort: „Unterschiedlich. Manchmal viel und lang, manchmal fast nichts und kurz.“

Der Arzt nickte dazu, rückte mit ratlosem Gesicht seine Brille zurecht und erklärte dann: „Einen Besuch beim Frauenarzt würde ich auch für sinnvoll halten. Schwanger waren Sie nie?“

„Nein.“

„Haben Sie es mal versucht?“

„Nein.“

„Also ich schlage vor, dass Sie morgen um 8.00 Uhr zum Blutabnehmen kommen. Außerdem lassen Sie sich von meiner Sprechstundenhilfe einen Termin zur Darmspiegelung machen, es geht schneller, wenn sie dort anruft. Und einen Psychologen finden wir auch für Sie. Wenn bei der Darmspiegelung nichts herauskommt, würde ich Sie mal zum Frauenarzt schicken und dort alles untersuchen lassen. Haben Sie Haarausfall?“

„Nein.“

„Dann machen wir jetzt noch eben EKG.“

Bei diesen letzten Worten wurde Minna so übel, dass sie sich fast übergeben musste. Sie schmeckte bereits Magensäure in ihrem Mund, schluckte sie erschrocken herunter, zwang sich zur Vernunft. Ihre Knie bebten, der Magen blieb herumgedreht. Sie konnte nicht aufstehen. Jetzt keine Panik kriegen, sagte sie innerlich zu sich selbst. Und doch bekam sie Panik.

Der Arzt war aufgestanden und zur Sprechstundenhilfe hinausgegangen, um ihr alles mitzuteilen, was er Minna gesagt hatte. Minna blieb zusammengekrümmt auf dem Stuhl sitzen und traute sich kaum, zu atmen.

Es kam ihr vor wie der pure Wahnsinn. Ihr Körper tobte vor lauter Widerwillen gegen diese Untersuchung. Ihre Angst kam nicht daher, dass sie fürchtete, es könne irgendwie schmerzhaft werden. Sie wusste, dass beim EKG nichts passierte. Nichts bis auf das, wogegen Minna eine große Abscheu empfand. Denn sie verabscheute die Situation, ihren Oberkörper in einem Raum mit grellem Licht und einer Arzthelferin zu entblößen und sich dann in dieser hilflosen Lage auf eine Liege zu legen. Die Erinnerung an diese Momente war ihr dermaßen unangenehm, dass sie tatsächlich nur unter Magenschmerzen aufstehen und dem Arzt folgen konnte. Der hatte schon zweimal nach ihr gerufen. Erst dann gelang es Minna, den Behandlungsraum zu verlassen und der jungen Arzthelferin in einen anderen hinterher zu wanken. Diese war recht klein, etwas rundlich und hatte volles, blondes Haar. Minna sah sie zwar von hinten, nahm ihre Person jedoch nur verschwommen wahr. Schwindel überkam sie. Sie widerstand der Versuchung, sich an einer Wand abzustützen, stattdessen tat sie brav einen Schritt nach dem nächsten.

Dann erstarrte sie komplett, als sie den Raum mit der Liege betreten hatte. Es war dermaßen hell darin, Minna musste die empfindlichen Augen zusammenkneifen und mehrfach schlucken. Ihr Magen wand und wehrte sich. Sie drückte eine Hand darauf, während sie mit großen Augen einfach da stand. Die Arzthelferin wandte sich nun zu Minna um, lächelte freundlich mit einem vollen Gesicht und gesunden, roten Wangen, ja, ihre Augen strahlten beinahe vor lauter Freude. So schien es Minna. Doch Minna verstand kein einziges Wort von dem, was die junge Frau sagte, als diese den Mund öffnete. Sie hörte nur eine Art Brummen und dahinter irgendwo eine ruhige Stimme.

Als Minna keine Reaktion auf das Gesagte zeigte, machte die Arzthelferin ein verunsichertes Gesicht, berührte Minna vorsichtig an der Schulter, woraufhin Minna sehr stark zusammenzuckte und aufwachte. „Ist alles in Ordnung? Ist Ihnen nicht gut?“ Minna hielt noch immer eine Hand auf ihren schmerzenden Magen gepresst, murmelte „Mir ist nie gut“ und setzte sich dann ganz schnell auf einen Stuhl in der Ecke, von wo aus sie sehr kritisch die Liege beäugte.

„Wollen Sie sich einen Moment hinlegen?“, erkundigte sich die besorgte Arzthelferin und war offenbar kurz davor, Hilfe zu holen, denn sie hatte bereits einen Schritt Richtung Tür gemacht. Minna wusste, dass sie unbedingt etwas sagen musste, es strengte sie allerdings unglaublich an, ein Wort herauszubringen. In ihrem Kopf formulierte sie noch recht schnell, doch das Aussprechen verlangte ihr mehr Kraft ab als sie hatte. „Es ist nur mein Magen“, sagte sie deshalb, denn alles andere wäre ihr zu umständlich gewesen. Die Arzthelferin blickte Minna nun mit großen Augen an, man sah deutlich, wie sie alles durchging, was das verursachen konnte. „Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen? Soll ich den Herrn Doktor holen?“

„Nein, nein“, beeilte sich Minna zu sagen und ihr tat die junge Frau ziemlich leid, so dass sie nun allen Mut zusammennahm und ihre Jacke auszog. Das wertete die Arzthelferin als ein gutes Zeichen. Minna sah zu ihr auf und meinte: „Es geht schon gleich. Ich, ich habe große Probleme mit dem Kreislauf.“

Minna wollte sich nicht ausziehen. Schon gar nicht mit diesen Magenschmerzen. Es war schlimm genug für sie, ihren Bauch zu entblößen, wenn es an eine Ultraschalluntersuchung der Organe ging, doch auch noch den BH auszuziehen, das war zu viel für Minna. Sie fühlte sich dann schutzlos und hässlich. Sie mied es normalerweise, ihren eigenen Körper anzusehen. Denn sie ekelte sich maßlos vor Körpern. Nun saß sie da und rang mit sich.

Die Arzthelferin verzog etwas den Mund und sagte dann: „Sie brauchen nur den Oberkörper freizumachen. Dann legen Sie sich auf die Liege. Lassen Sie sich ruhig die Zeit, die Sie brauchen. Ich bin gleich wieder da.“ Mit diesen Worten verschwand sie und schloss die Tür hinter sich. Minna atmete tief ein und schloss die Augen. Den Kopf legte sie an der Wand hinter sich ab. Was für eine Strapaze. Diese Untersuchung.

Dass Minna nun allein war, half ihr ein wenig. Sich allein auszuziehen, war schwer für sie und kostete sie große Überwindung. Sich in der Gegenwart von anderen Menschen zu entkleiden, war für Minna beinahe unmöglich. Sie wollte nicht, dass jemand sie nackt sah. Sie schämte sich, sie hatte Angst vor den Blicken der anderen.

Nun nutzte sie die Zeit und legte ihren Pullover ab, das T-Shirt. Sie fror. Ihre eiskalten Hände zitterten sehr beim Öffnen des BHs. Ihr Magen war ein schmerzender Klumpen. Er drückte von innen gegen ihren Brustkorb und riet ihr dringend zur Flucht. Schnell anziehen und verschwinden. Pfeife auf die Ärzte, sagte er zu ihr, vergiss deine Schwester und deinen Freund. Du solltest hier schleunigst verschwinden, du bist hier falsch!

Als Minna noch in der Bewegung des BH-Öffnens verharrte und überlegte, ob sie gehen sollte oder nicht, ging die Tür wieder auf und die Arzthelferin kam herein. Da wurde Minna das Ganze auch peinlich. Eilig nahm sie den BH ab, sah betont starr in die Luft, als sie aufstand und sich auf die Liege legte. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass sie nicht nackt war. Es musste merkwürdig aussehen, wie sie den Kopf krampfhaft gerade hielt und nicht zusah, wie die Arzthelferin Saugnäpfe an ihrem Körper befestigte. Am Oberkörper und an den Fußgelenken. Minna blickte stur in die Luft und bildete sich ein, sie sei nicht nackt. Dann schloss sie die Augen und stellte sich vor, sie läge allein unter einer Wolldecke zuhause auf dem Sofa im Dunkeln. Was die Arzthelferin ihr erklärte, hörte sie nicht. Minnas Einbildungskraft war stark, wenn sie sich Mühe gab. Und sie gab sich große Mühe.

Das Abreißen der Saugnäpfe von Minnas ausgekühltem Körper löste ein taubes Gefühl an den Stellen aus, die betroffen waren. Jetzt hörte Minna die Worte: „Sie können sich wieder anziehen.“ Darauf hatte sie gewartet. Plötzlich sprangen ihre Augen auf, sie erhob sich und hatte schon alles wieder an. Die Arzthelferin schaute sie leicht irritiert an, sagte jedoch nichts außer: „Ihnen ist sicher kalt gewesen.“

Minna antwortete hastig: „Ja, ich friere leicht.“

Wieder in ihrem Pullover, fühlte sie sich sicherer. Sie zog noch die Jacke darüber und eine gewisse Erleichterung machte sich in ihr breit. Der Magen entspannte sich. „Ich lasse den Herrn Doktor eben darauf gucken, dann holen Sie sich vorn bei meiner Kollegin die Termine ab.“

„Ja“, sagte Minna.

Die Arzthelferin verschwand mit einem Ausdruck des EKGs und Minna blieb erst fertig auf dem Stuhl sitzen, wollte dem grässlichen Licht entkommen und kämpfte sich deshalb doch auf die Beine. Sie musste sich entscheiden, ob sie hier allein im Behandlungszimmer warten oder sich auf den Flur stellen wollte. Gerade stand sie halbwegs sicher, da kam die Arzthelferin wieder und meinte: „EKG war in Ordnung. Gehen Sie nur noch eben bei meiner Kollegin vorn vorbei, die gibt Ihnen die Überweisungen und Termine.“

Minna merkte, dass man in dieser Praxis an die Hand genommen wurde. Das war ihr vorher nie so begegnet. In der Regel bekam man Überweisungen und Rezepte, musste dann selbst zusehen, wie und wann man einen Arzt fand und kam dann irgendwann mit den Ergebnissen wieder. Ergebnisse, die nichts brachten.

Hier durchquerte Minna langsam den schmalen Flur und blieb anschließend vor der anderen Sprechstundenhilfe stehen, die an einem Computer saß und gerade Überweisungen für einen Patienten ausdruckte. Minna musste kurz warten. Dabei bewegte sie sich leicht hin und her, um dem Schwindel entgegenzuwirken, der sie beim Stillstehen überkam. Es dauerte nicht lang, bis sie die Sprechstundenhilfe ansprach. Auch sie war blond, aber deutlich älter, sicher um die Fünfzig. Kleine Augen blickten zu Minna hoch, das Gesicht wirkte etwas eingefallen. „Ihre Überweisungen und Termine. Der Herr Doktor sagte mir, Sie arbeiten nachts?“

„Das stimmt“, bestätigte Minna und nahm die Zettel entgegen, ohne sie anzusehen.

„Ich habe Ihnen die Termine auf den späten Vormittag und auf den frühen Nachmittag gelegt. Die Darmspiegelung ist in einer Woche. Und die Psychologin können Sie sich mal am Freitag ansehen. Schauen Sie, wie Sie sich mit ihr verstehen. Wenn Sie den Eindruck haben, dass es nicht geht, sagen Sie das einfach dem Herrn Doktor, wir finden schon jemanden für Sie.“

„Ja, danke, das ist sehr nett“, antwortete Minna und meinte das auch so. Fürsorge in diesem Umfang war sie wirklich nicht gewohnt.

Sie stolperte nun etwas unbeholfen aus der Praxis, die nur eine von vielen in einem großen Ärztehaus war. Dabei war sie froh, für diesen Tag durch mit der Sache zu sein. Gleichzeitig aber wuchs das innere Unbehagen in bezug auf alles, was da noch kam. Angefangen mit dem Besuch beim Psychologen. Und mit der Darmspiegelung. Minna ging mit unsicheren Schritten eine breite Treppe hinunter, blickte dabei weder nach links noch nach rechts. Nur auf die Stufen sah sie, damit sie auch keine verpasste.

Nach Hause, dachte sie. Endlich nach Hause.

Wie war es denn?“, fragte Lisbeth direkt, als Minna noch am Abend vor ihrer Arbeit bei ihrer Schwester vorbeikam. Dort traf sie auch auf ihren Freund Niklas und Lisbeths Sohn Jakob, fast zehn Jahre alt. Niklas war Jakobs Vater, doch diese ungewöhnlichen Verflechtungen störten keinen in der Familie. Minna war etwas überrascht, bei ihrem Betreten von Lisbeths Wohnung auf so viele Menschen zu treffen und dazu mit einer so direkten Frage konfrontiert zu werden. Jakob spielte mit Niklas Schach. Beide wirkten sehr konzentriert dabei. In der Regel gewann Jakob jedes Spiel, in seiner Schule war er in seiner Schach-AG der beste Spieler. Er war ein sehr intelligenter Junge, der den Dickkopf seiner Mutter mehr als alles andere von ihr geerbt hatte.

Lisbeth hatte ein Glas Weißwein in der Hand und Minna war nahe daran, in die Küche zu stürmen und die Flasche zu suchen, um auch zuzuschlagen. Aber sie erinnerte sich noch rechtzeitig daran, dass sie sich auf dem Weg zu ihrer Arbeit befand. Somit blieb sie einfach in der Tür zum Wohnzimmer stehen, unfähig, es zu betreten.

Es war ok“, sagte sie nach einer ganzen Weile. Alle im Raum waren Minnas lange Reaktionszeiten gewöhnt. Keiner rechnete ernsthaft mit ausführlichen Schilderungen irgendwelcher Begebenheiten. Deswegen hakte auch zunächst keiner der Anwesenden nach, was Minna etwas beruhigte. Es nahm ihr den Druck.

Niklas und Jakob spielten weiter Schach, als sei Minna gar nicht da. Lisbeth nippte nachdenklich an ihrem Wein. Angenehm ruhig war es im Wohnzimmer. So traute sich Minna auch, einzutreten. Sie setzte sich auf das Sofa an der Wand, wo sie den ganzen Raum im Blick hatte. Niklas und Jakob saßen an einem kleinen Esstisch, Lisbeth hockte mit angezogenen Beinen im Sessel. So saß sie häufig da, wenn sie nicht gerade aktiv herumschwirrte.

Waren sie nett zu dir in der Praxis? Ich fand die da alle total nett. Als ich neulich wegen der Grippe da war, die nicht wegging. Der Arzt hat sich lange mit mir unterhalten. Und die Sprechstundenhilfen haben mir noch Tipps gegeben. Sehr sympathisch.“

Ja“, stimmte Minna zu und war froh, dass Lisbeth ihr schon alles vorwegnahm, das sie hätte erzählen können. Sie warf einen Blick hinüber zu Niklas. Dabei überlegte sie, ob sie im Augenblick eine Umarmung brauchen könnte oder ob die es eher schlimmer machte. Sie entschied sich gegen das Aufstehen, drehte den Kopf wieder zu ihrer jüngeren Schwester und berichtete dann: „Eine Darmspiegelung, nächste Woche. Und zur Psychotherapie soll ich, noch in dieser Woche.“

Oh“, meinte Lisbeth und überlegte offenbar einen Moment lang, wie sie darauf reagieren sollte. Denn dass Minna solche Dinge enorm zusetzten, wusste sie schließlich. „Und, das ist in Ordnung oder nicht?“

Ich weiß nicht.“ Minna blickte verunsichert auf den Fußboden. Lisbeth blickte ihre Schwester lange an und merkte, dass sich diese in einem eingeschüchterten Zustand befand und man daher raten musste, was ihr Problem war. Von selbst würde sie sicher nichts sagen.

Hast du Angst vor der Untersuchung?“, wollte Lisbeth nun wissen und Minna schwieg eine ganze Zeit. Während Minna nach einer Antwort suchte, trank Lisbeth ihr Weinglas aus und Jakob sagte leise: „Schach!“

Minna öffnete schnließlich leicht die Lippen, schloss sie wieder und letztlich brachte sie hervor: „Ich weiß nicht, ob ich mehr Angst vor der Untersuchung oder vor der Therapie habe.“

Lisbeth nickte mitfühlend und vermutete: „Die Unterschung wird unangenehm sein, aber sie geht auch vorbei. Du hattest das ja schon einmal. Man trinkt dieses Zeug, rennt die ganze Nacht zur Toilette, am nächsten Tag hungert man und wartet. Schließlich kriegt man ein Schlafmittel und wenn man aufwacht, ist es vorbei. So war es doch bei dir.“

Ja, es war schrecklich“, erinnerte sich Minna und machte dabei ein zutiefst unglückliches Gesicht.

Und die Psychotherapie hat dir bislang zwar noch nichts gebracht, sie hat dir aber auch nicht geschadet. Also eigentlich nichts, wovor du dich fürchten müsstest.“

Lisbeth stand bei diesen Worten auf, drehte ihr leeres Glas in den Händen und bewegte sich langsam Richtung Küche, wohl um Nachschub zu besorgen. Niklas trank nur Kaffee, wie Minna feststellte. Er fuhr nachts Taxi und durfte daher keinen Alkohol trinken. Bei Minnas Nachtwächtertätigkeit im Krankenhaus hätte ein Glas Wein sicherlich keinen Unterschied gemacht, doch das Pflichtgefühl in ihr war zu stark, um dem inneren Drang danach nachzugeben. Sie blieb hart und lehnte ab, als Lisbeth ihr nun aus Höflichkeit ein Glas anbot.

Lisbeth verschwand in der Küche, Jakob setzte Niklas Schach Matt. Der gab ein Seufzen von sich, erhob sich und machte ein paar Schritte auf Minna zu. Mitten im Raum blieb er stehen und betrachtete sie prüfend. Sie blickte mit ausdruckslosem Gesicht zu ihm hoch.

Kein guter Tag?“, fragte er. Minna wusste sofort, dass sich die Frage auf Körperkontakt bezog. Leider ertrug Minna Körperkontakt nämlich nicht an allen Tagen gleich gut. Ging es ihr sehr schlecht, waren ihr auch eine Umarmung und ein Kuss von Niklas zu viel. Nun musste sie überlegen, ob heute in der Hinsicht ein „guter“ oder ein „schlechter“ Tag war. In ihr führte sie eine kleine Diskussion. Einerseits löste es häufig ein angenehmes Gefühl in ihrem Körper aus, wenn sie den Kontakt zu Niklas herstellte. Er tat ihr gut. Andererseits hatten ihr Körper und ihre Psyche heute sehr beim Arzt gelitten, deswegen war sie nicht sicher, ob Abstand da nicht besser war.

Daher gab Minna zur Antwort: „So dazwischen.“

Niklas nickte, setzte sich dann langsam neben Minna auf die Couch, lächelte sie an und forderte sie auf: „Sag stopp!“ Dann näherte er sich ihr vorsichtig. Er hatte ein Spiel daraus gemacht, herauszufinden, ob Minna eher einen guten oder eher einen schlechten Tag hatte. Dabei tastete er sich immer näher an sie heran, berührte mal vorsichtig ihr Knie, dann ihren Arm, dann ihre Schulter. Rückte sein Gesicht näher an ihres, gab ihr einen scheuen Kuss auf die Schulter, den Hals, die Wange. Meistens heiterte er Minna durch dieses Verhalten so sehr auf, dass sie vergaß, wie unangenehm Körperkontakt sein konnte. Schließlich überließ sie ihm meistens doch ihre Lippen und das löste ein wohliges Gefühl in ihr aus. So auch heute. Ihre Lippen blieben aneinander hängen, bis Lisbeths Stimme sie beide zusammenzucken ließ: „Kaum bin ich mal raus, fangt ihr gleich an zu knutschen.“

Jakob behauptete: „Das machen sie doch immer, Mama.“

Niklas sagte nur „Jaja“, gab Minna einen Kuss auf die Stirn und teilte mit: „Ich muss leider los. Einen schönen Abend, euch allen. Minna, melde dich jederzeit, ok? Ansonsten bin ich morgen Mittag bei dir.“

Ja, gut“, brummte Minna und versuchte noch ein wenig von dem Kuss zu profitieren.

Körperangst

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