Читать книгу Körperangst - Joana Goede - Страница 4
Psychotherapie I
Оглавление„Was führt Sie zu mir?“, erkundigte sich die Psychologin. Minna saß in einem weichen Korbsessel, fühlte sich unwohl und wusste nicht, was sie antworten sollte. Der Therapieraum war recht klein, in betont warmen Farben eingerichtet und wirkte eher wie ein winziges Wohnzimmer. Ein runder Holztisch stand zwischen Minna und der Psychologin, auf diesem befanden sich Taschentücher, mehrere Zettel und ein paar Bücher.
Die Psychologin hatte sich weit zurückgelehnt, eine schmale Frau in Minnas Alter, mit sehr kurzen, roten Haaren und vielen Sommersprossen auf der Nase. Sie trug große, goldene Ohrringe und eine grüne Bluse, außerdem auffällige Armreifen. Ein Notizblock in ihrer Hand machte Minna etwas nervös. Sie mochte es nicht, wenn Menschen mitschrieben, was sie sagte. Oder wenn jemand Kommentare zu ihrem Verhalten notierte. Minna fühlte sich dann beobachtet und bewertet, das war ihr sehr unangenehm. Und deshalb traute sich Minna auch nicht so recht, auf die Eingangsfrage zu antworten. Sie löste mehrfach leicht die Lippen voneinander, um sie direkt wieder zu schließen. Es wollte kein Wort herauskommen. Die Psychologin machte einen sehr geduldigen Eindruck und ließ Minna Zeit.
„Mein Hausarzt“, sagte Minna schließlich und musste sich räuspern, weil ihre Stimme nicht so richtig funktionierte, „er hat mich geschickt. Weil ich chronisch krank bin.“
Die Psychologin schaute Minna aufmerksam an, notierte jedoch nichts. Sie fragte: „An welcher Erkrankung leiden Sie denn?“
„Das weiß man nicht“, gab Minna hastig zu. Sie merkte, dass ihr kalter Schweiß auf die Handflächen trat. Ihre Jacke hatte sie noch an. In solchen Stresssituationen nützte sie ihre Jacke als zusätzlichen Schutz.
„Und Sie sind hier, um unterstützt zu werden. Weil Sie Ihre Erkrankung und die Unsicherheit belastet?“
„Vielleicht“, antwortete Minna, denn sie wusste ja nicht genau, was sich der Arzt dabei gedacht hatte, sie hierher zu schicken. Die Psychologin schaute Minna zwar an, doch Minna blickte nur auf ihre Hände. Auch wenn es unfhöflich war, wich sie den Augen der anderen lieber aus. Es strengte sie an. Das Reden strengte sie an. Und leider ging man ja zu so einer Therapie, um über Dinge zu sprechen. Fünfundvierzig Minuten lang reden. Und Minna war todmüde.
„Welche Beschwerden haben Sie und wie lange?“
Minna kannte diese Frage, sie hatte sie schon so unfassbar oft beantwortet, dass sie ihre Symptome quasi automatisch wie von einem Tonband abspulen konnte. Sie zählte also schnell und leise auf, womit sie sich herumschlug und fügte dann an: „Das alles sich steigernd seit so zwanzig Jahren.“
Die Psychologin nickte und schrieb nun einiges auf, während Minna auf den Holzfußboden starrte, der zum Teil von einem ziemlich bunten Teppich verdeckt wurde.
„Als was arbeiten Sie?“
„Nachtwächter im Krankenhaus.“
„Leben Ihre Eltern noch?“
„Ja.“
„Haben Sie Kontakt zu ihnen?“
„Nein.“
„Sonst Familie?“
„Meine Schwester und ihr Sohn. Mein Freund.“
„Wie lange sind Sie in dieser Beziehung?“
„Etwa vier Monate.“
Eine elende Fragestunde und Minna fühlte sich wie bei der Polizei. Als sei sie verhaftet worden und säße nun in einem Raum, wo sie verhört wurde. Sie war sichtlich nervös. Obwohl es ja um sie selbst ging und lediglich Fakten abgefragt wurden, hatte sie große Angst, etwas Falsches zu sagen oder etwas, das die Psychologin merkwürdig fand. Minna wollte, trotz all ihrer Besonderheiten, in keinem Fall besonders wirken. Lieber nur ganz normal.
„Wie kommen Sie denn mit der Nachtarbeit zurecht?“, erkundigte sich die Psychologin nun, da fiel Minna nun kaum etwas zu ein. Sie brummte daher bloß: „Ich kann eben nur nachts arbeiten. Wach bin ich eh.“
„Also hatten Sie die Schlafstörungen schon vor der Nachtarbeit?“
„Ja.“
„Und waren Sie mal in einem Schlaflabor oder so?“
„Nein, was sollte ich da?“, fragte Minna zurück und die Psychologin schaute etwas verständnislos, weil doch jeder wusste, dass im Schlaflabor der Schlaf überwacht wurde und man anschließend sagen konnte, wo die Probleme lagen. Minna sah also ein, dass sie das näher erklären musste. „Ich schlafe ja eben nicht. In so einem Labor würde ich gar nicht erst einschlafen können, sondern die ganze Zeit wach herumliegen. Da können sie ja keine Schlafphasen oder sowas untersuchen.“
Die Psychologin nickte dazu und schrieb wieder etwas in ihren Block. Minna hätte allzu gern mal einen Blick hinein geworfen. Oder vielleicht auch lieber nicht.
„Und wenn Sie nicht arbeiten, schlafen Sie dann nachts auch nicht?“
Minna gab zur Antwort: „Ich schlafe tagsüber, in kurzen Schüben. Wenn es eben geht. Nachts in der Regel nicht.“
„Und was machen Sie dann die ganze Zeit?“
„Lesen, Filme gucken, den Haushalt. Ich mache die Dinge, die andere Menschen auch Zuhause machen. Nur eben nachts.“
„Und Freunde? Wann treffen Sie sich mit Freunden?“
„Gar nicht. Außer zu meiner Schwester, meinem Freund und meinem Neffen habe ich keine Kontakte. Auch nicht in sozialen Netzwerken.“
„Warum nicht?“
„Sowas ist mir zu stressig.“
Die Psychologin ließ ihren Stift eifrig über den Block flitzen, dabei klimperten ihre Armreifen sehr. Minna verzog leicht ungehalten das Gesicht. Sie fragte sich, in welche Schublade sie wohl gerade gesteckt wurde. Im Raum war es ziemlich still. Bis auf das Geräusch des Schreibens und das Geklimper. In Minnas Kopf passierte viel, nach außen hin wirkte sie aber wie versteinert. Die Psychologin hatte zuende geschrieben, überflog offenbar ihre Notizen und wollte dann wissen: „Haben Sie Träume?“
Minna glotzte nun vollkommen überfordert auf die Frau vor, die sie ruhig und geduldig ansah. Träume. Hatte Minna Träume? Minna wusste nicht, ob sie welche hatte, ob sie je welche gehabt hatte. Was waren schon Träume? Träume von einem besseren Leben?
Da Minna mit dieser allgemeinen Frage nichts anfangen konnte und keinen Ton dazu sagte, fügte die Psychologin erklärend hinzu: „Ich meine sowas wie eine große Reise in ein fernes Land, die Sie immer mal machen wollten, eine Familie gründen, ein schönes, großes Haus mit hübschem Garten. Sie verstehen schon.“
Minna sagte nun: „Nein. Solche Träume habe ich nicht.“
„Haben Sie denn Hoffnungen?“
„Nein.“
„Was ist mit Ihrem Freund. Denken Sie beide daran, zu heiraten?“
„Keine Ahnung.“
„Sind Sie denn sehr verliebt?“
„Sicher.“
Die Psychologin bemerkte wohl, dass man an Minna nicht so leicht herankam. Minna redete von sich aus nicht gern und um sie zum Reden zu kriegen, war mehr als direktes Fragen nötig. Sie sprach zu allem Überfluss auch gar nicht gern über sich selbst. Da erzählte sie schon eher mal etwas über ihre Schwester oder deren Sohn. Aber sicher nicht über sich. Minna war im Grunde alles peinlich, was sie hätte sagen können. Der einzige, vor dem sie sich nicht schämte, war ihr Freund. Und bis zu gewissen Grenzen auch ihre Schwester. Vor allen anderen wollte Minna sich am liebsten dauerhaft verbergen.
Es gab keine Uhr im Raum, dabei hätte Minna gern in Erfahrung gebracht, wie lange sie hier noch aushalten musste. Aufs Handy zu schauen, war ihr gerade zu unhöflich. Und eine Armbanduhr trug sie eher selten.
„Wie sieht es mit Hobbys aus?“
Minna war sich nicht sicher, was man von ihren Tätigkeiten als Hobby bezeichnen konnte. So sagte sie: „Weiß nicht. Lesen, Filme gucken. Im Internet surfen. Was man eben so tut.“
„Nichts Außergewöhnliches?“
„Nein.“
Die Psychologin bemühte sich darum, weiterhin ein freundliches Gesicht zu machen. Immerhin war es ja genau ihr Job, sich mit Menschen mit psychischen Störungen zu beschäftigen und diesen zu helfen. Bei Minna hatte sie den Eindruck, dass Minna gar keine Hilfe wollte. Sie lebte offenbar isoliert, schien sich daran allerdings nicht so sehr zu stören. Es war ja auch nichts dagegen zu sagen, wenn man Freund, Schwester und Neffen hatte. Einigen reichten so wenige Beziehungen. Die Psychologin war sich nicht ganz sicher, wo sie bei Minna ansetzen sollte.
„Würden Sie von sich sagen, dass Sie an einer Depression leiden?“
„Kann sein“, brummte Minna. Dieses Depressionsgetue hatte sie immer für überflüssig gehalten. Man bekämpfte depressive Episoden mit irgendwelchen Tabletten, von denen man sich besser fühlen sollte. Minna hatte sich davon nie besser gefühlt, sie war eher noch nervöser und ängstlicher geworden und das konnte sie nun wirklich nicht brauchen.
„Ist sowas bei Ihnen denn mal untersucht und behandelt worden?“
„Ja, aber ich vertrage diese Antidepressiva nicht. Ich werde davon sehr unruhig und kriege mehr Panikattacken.“
Die Psychologin notierte sich mit sehr ernster Miene etwas und sagte dann zu Minna: „Für heute sind wir fertig. Wir können fünf Sitzungen machen und dann entscheiden, ob eine Therapie sinnvoll wäre oder nicht. Sie können dann immer noch Nein sagen, wenn Sie nicht möchten. Ist das in Ordnung für Sie? Sehen wir uns nächste Woche?“
„Ist ok“, brummte Minna, die erleichtert war, endlich aufstehen und gehen zu können. Sie verabschiedete sich so schnell wie möglich von der Frau in der grünen Bluse, versprach, in der nächsten Woche zur selben Zeit wiederzukommen und schon hatte sie den Raum verlassen. Draußen im Flur atmete sie erst einmal tief durch. Es gab mehrere Therapieräume in dieser Praxis, insgesamt vier Psychologen. Minna verließ die Praxis mit Scheuklappen und blieb erst im Treppenhaus des Ärztehauses stehen. Dort suchte sie sich eine Ecke, um kurz zu verschnaufen. Ein wenig Alleinsein. Zuhause wartete Niklas auf sie. Und gerade brauchte sie eigentlich eher Ruhe.
Sie wagte auch gar nicht, auf ihr Handy zu sehen, ob dort vielleicht eine Nachricht für sie eingegangen war. Womöglich von Lisbeth, die sie bat, Jakob irgendwo hinzufahren oder ihn abzuholen. Von Niklas, der sie fragte, wie es war.
Minna stand eine Weile nur tief atmend da und starrte an die Wand vor sich. Eine ganz normale weiße Wand. Darauf konnte man nichts Interessantes entdecken. Meistens wirkten weiße Wände auf Minna irgendwie beruhigend. Sie waren so einheitlich, nichts daran stach ins Auge. Die Augen mussten sich auch auf nichts konzentrieren, denn es war ja nichts da. Das Weiß verschwamm dann, das entspannte die Augen und damit auch Minna. Das einzige Problem am Weiß war, dass es so stark das Licht reflektierte. Und Minna war extrem lichtempfindlich. Ihre Pupillen zogen sich schnell heftig zusammen und im Grunde musste sie bei hellem Licht die Augen direkt schließen. Oder schon bei Tageslicht eine Sonnenbrille tragen. So wandte sie sich nach wenigen Minuten wieder von der Wand ab, innerlich etwas ruhiger, weniger gestresst, und suchte den Ausgang.
Niklas saß auf dem Sofa in Minnas kleiner Wohnung und las in einem Buch. Er hatte eine Vorliebe für ältere Bücher. Die las er bei recht wenig Licht. Da es in Minnas Wohnung immer dunkel war, wäre Lesen dort ansonsten auch gar nicht möglich gewesen. Eine kleine Leselampe hatte er dabei, die trug er immer mit sich herum. Momentan hatte er eine schwere Ausgabe von Sherlock Holmes in den Händen, obwohl er die Geschichten alle kannte. Er las sie trotzdem gern wieder und wieder. Das Bekannte daran empfand er als angenehm, keine Überraschungen, keine Spannung, nur Entspannung. So saß er am frühen Nachmittag mit einem sehr großen Becher starkem Kaffee da, die Beine hochgelegt, in regelmäßigen Abständen gähnend. Er wartete auf Minnas Rückkehr.
Die Wohnung war ganz einfach eingerichtet. Es gab nicht sonderlich viele Möbel, dafür allerdings ein großes Bett im Schlafzimmer. Minnas schlief ja schlecht bis gar nicht, deswegen brauchte sie ein Bett, in dem sie viel Platz hatte. Ständig umdrehen, umlegen. Lag Niklas dabei, wurde es schon schwierig. Es gab so viel, was man bei Minna beachten musste, wenn man mehr oder weniger mit ihr zusammen wohnte. Für Niklas ergab sich vieles davon von allein, weil er ebenfalls kein Licht und keine Kälte ertrug, keine lauten Geräusche, keine Menschen. Niklas zog sich gern zurück. Auch durchaus mal in seine eigene Wohnung. Es war wichtig für beide, dass jeder seine eigene Wohnung behielt. Sonst wäre es ihnen schnell zu eng geworden.
So war Niklas meistens bei Minna, sie sehr selten bei ihm. Und manchmal zogen sie es vor, jeder Zeit für sich in der eigenen Wohnung zu verbringen. Das war auch wichtig.
Als Minna den Schlüssel in die Tür steckte, legte Niklas sein Buch nicht zur Seite. Er wusste, dass sie es nicht mochte, direkt nach ihrer Ankunft von der Anwesenheit eines anderen überfallen zu werden. Am besten war, man beachtete sie gar nicht. So verfolgte Niklas weiter stumm Sherlock Holmes, während Minna sehr leise die Wohnung betrat, die Jacke aufhing, die Schuhe auszog und Niklas nur mit einem kurzen „Hallo“ begrüßte. Danach stoplerte sie schon in die Küche und machte sich mit fahrigen Bewegungen einen Kaffee. Man hörte es daran, dass ihr der Löffel herunterfiel, sie mehr Geräusche machte als sonst. Minna war gestresst. Mit dem Kaffee kam sie dann nicht ins Wohnzimmer sondern blieb in der Küche. Dort befand sich ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, an dem man ganz gut sitzen konnte. Niklas las einfach weiter und wartete darauf, dass Minna von sich aus zu ihm kam. Alles andere hätte sie nur unnötig unter Druck gesetzt, Fragen mochte sie ja gar nicht. Und Niklas war ein sehr geduldiger Mensch.
Er lauschte allerdings genau darauf, was Minna in der Küche so tat. Niklas' Gehör funktionierte nämlich hervorrragend. Schon ganz leise Laute konnte er wahrnehmen, was zum Teil eine Qual war, weil er eben auch alles andere lauter hörte, jedoch auch Vorteile hatte. So bemerkte er deutlich, wie Minna in der Küche mehrfach tief Luft holte, was sie tat, um sich zu beruhigen. Wenn Minna Angst hatte oder sogar eine Panikattacke, dann legte sie meistens den Kopf auf einen Gegenstand, manchmal in ihre Hände, und atmete ganz tief ein und ganz tief aus. Das klang ein bisschen so, wie wenn jemand inhaliert. Das hatte auf Minna einen entspannenden Effekt, ihr Herz klopfte nicht mehr so schnell, ihre Hände zitterten weniger.
Nach etwa einer Viertelstunde, in der Minna fast bewegungslos in der Küche gesessen und Niklas ihr beim Atmen zugehört hatte, kam sie mit ihrer Kaffeetasse langsam aus der Küche hervor und blieb im Türrahmen stehen. Sie stand auf diese Weise hinter Niklas, da sich das Sofa mitten im Raum befand. Zuerst sagte sie nichts, dann kam es doch leise aus ihrem Mund: „Hast du die ganze Zeit gelesen?“
Niklas wusste, dass nun der Moment war, wo er mit Minna relativ normal reden konnte. Trotzdem legte er sein Buch zunächst nicht zur Seite und wandte sich nicht um, als er antwortete: „Ja, sicher. Es ist ja gemütlich, hier zu sitzen und zu lesen. Deine Wohnung ist sehr still. In meiner höre ich ständig die Nachbarn.“
Minna erwiderte: „Die Nachbarn arbeiten ja noch. Wenn sie Zuhause sind, hört man sie hier doch auch.“
„Nicht so wie bei mir“, widersprach Niklas, „meine Nachbarn haben gerade Zwillinge bekommen, die brüllen immer abwechselnd. Du hast sie noch gar nicht gehört. Sie sind so laut, als seien sie in meinem Schlafzimmer.“
Minna kam, während Niklas sprach, langsam auf ihn zu und legte dann, hinter ihm stehend, eine Hand auf seine Schulter, ganz vorsichtig. Die Suche nach körperlicher Nähe. Wenn Minna von sich aus Kontakt aufnahm, war das immer ein gutes Zeichen. Niklas konnte sein Buch nun zuklappen und es zur Seite legen, anschließend drehte er den Kopf und blickte zu Minna hoch. Sie sah geschafft aus. Hielt sich an der Kaffeetasse fest wie an einem Rettungsring und an Niklas' Schulter wie an einem zweiten. Niklas legte seine warme Hand auf ihre kalte und sagte: „Es ist schön, dass du wieder da bist.“
Minna blickte zu ihm herunter und dachte ebenfalls, dass er sehr müde aussah. Sie meinte: „Du arbeitest zu lange. Kannst du nicht wieder weniger fahren? Du schlägst dir im Taxi die Nächte um die Ohren, die du besser im Bett verbringen solltest.“
„Es ist schon ok“, behauptete Niklas, „wenn ich dich sehen will, muss ich nachts eben arbeiten. Müde wäre ich auch, wenn ich morgens um 6.00 Uhr aufstehen müsste.“
„Das sagst du nur, damit ich mich nicht schlecht fühle. Aber ich fühle mich schlecht. Du machst das nur meinetwegen.“ Minna kam nun um das Sofa herum, stellte ihre Tasse auf den Wohnzimmertisch und setzte sich neben Niklas. Von da aus blickte sie ihn etwas traurig an.
„Du bist es doch wert“, erklärte Niklas lächelnd, griff nach ihrer Hand und drückte sie fest, um ihr zu signalisieren, dass wirklich alles in Ordnung war. Minna kam nicht damit zurecht, wenn man etwas für sie tat. Es war ihr unangenehm, sie hatte dann das Gefühl, es sofort wieder gut machen zu müssen und das ging eben nicht.
Niklas beschloss, das Thema zu wechseln. Deswegen erzählte er schnell: „Meine Schwester hat angerufen. Sie lässt sich jetzt wohl tatsächlich richtig scheiden. Von ihrem Mann. Zumindest klang sie irgendwie so, als habe sie sich entschieden. Du weißt ja, dass es da schon lange Probleme gibt.“
„Ja“, sagte Minna. Niklas' jüngere Schwester Caroline interessierte sie nicht wirklich und von diesen Eheproblemen hatte sie auch die Nase voll. Doch sie sah ein, dass Niklas darüber sprechen musste, schließlich war es seine Schwester, zu der er eine ganz gute Beziehung hatte.
„Sie ist sich noch nicht sicher, wie sie es machen will. Vielleicht zieht sie mit Mike hierher.“ Minna erschrak ein wenig. Caroline und ihr sechsjähriger Sohn Mike in derselben Stadt, das konnte ja nur anstrengend werden. Sicher wollte Caroline dann häufiger eben mal zu Besuch kommen, womöglich noch das Kind zum Aufpassen da lassen. Wenn Minna ihre Ruhe gefährdet sah, wurde sie panisch. Niklas sah das bereits in ihren Augen, so dass er schnell hinterherschob: „Es ist aber nicht sicher. Sie überlegt eben momentan. Erst wollte sie ja komplett zu meinem Bruder ziehen. Aber sehen wir mal. Du brauchst keine Angst haben. Meine Schwester hält nicht viel von Familienbesuchen. Sie wird uns nicht auf die Nerven gehen, das verspreche ich dir.“
„Ja, ok“, brummte Minna. Etwas kleinlaut und holte sich ihre Kaffeetasse, um viel auf einmal daraus zu trinken. Sie wusste nicht, ob sie nun von ihrer Therapie erzählen sollte oder nicht. Im Grunde gab es da ja nichts zu berichten, das interessant gewesen wäre. Und doch wusste sie, dass Niklas natürlich darauf wartete. Er war nur zu rücksichtsvoll, um zu fragen. Sie bemühte sich nun, die Angst vor Caroline und ihrem Kind zu verdrängen, und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, ihre Sitzung von gerade möglichst kurz zusammenzufassen.
Niklas war zwar nicht fertig damit, von seiner Schwester zu erzählen, trotzdem fuhr Minna ihm dazwischen, weil sie sich gerade traute und die Gelegenheit nützen musste: „Die Psychologin hat nur viel gefragt. Sonst war nichts. Sehr anstrengend. Ich bin kaputt. Vielleicht lege ich mich gleich hin. Sie verschafft sich erstmal einen Überblick über mich, glaube ich. Nächste Woche gehe ich wohl wieder hin, vielleicht kann ich dann mehr erzählen.“
Das war für Minna schon ein recht langer Redebeitrag. Niklas hörte deswegen ruhig zu und wusste, dass Minna keine Rückfragen wollte. Für sie war das Thema mit diesen Mitteilungen durch. Deswegen rückte er nur kurz näher an sie heran, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schlug vor: „Dann leg dich mal hin. Und danach kann ich ja immer noch von Caroline erzählen, bevor wir zur Arbeit fahren.“
„Ja“, erwiderte Minna, griff nach Niklas Hand, zog ihn nah an sich heran und küsste ihn. Es war nur kurz, dass sie eine solche Nähe zuließ, doch sie genoss diesen Moment sehr. Die sanften Berührungen der Lippen aufeinander hatte sie ihr ganzes Leben lang als unangenehm empfunden, bei Niklas fühlte es sich allerdings gut an. So gut, dass sie nur deshalb aufhören konnte, weil sie zu erschöpft war für eine solche körperliche Anstrengung. Niklas strich ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schickte sie ins Bett. Verliebt war er sehr in sie. Und es fiel ihm manchmal nicht leicht, den Abstand zu ihr einzuhalten, den er einhalten musste, damit sie sich nicht bedrängt fühlte. Doch auch hier hatte er Geduld. Und so konnte er, als Minna die Schlafzimmertür hinter sich schloss, ruhig wieder zu seinem Buch greifen, sich ein wenig mit den Fingerspitzen verträumt über die Lippen fahren und weiter den Abenteuern von Sherlock Holmes und Dr. Watson folgen.