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Nico

Der dunkelgraue Hund

»Aufstehen, du Faulpelz«, forderte die strenge Stimme seiner großen Schwester Emily.

»Was? Lass mich in Ruhe. Geh weg«, nuschelte Nico und drehte sich verschlafen um. Im Halbschlaf kugelte er sich auf seinem Strohhaufen zusammen und glitt zurück ins Reich der Träume.

Unsanft wurde ihm in die Seite gestoßen. Er gab ein erschrecktes Jaulen von sich und sprang hastig auf die Beine.

»Ich bin wach, ich bin wach«, gähnte Nico und rieb sich die Augen.

»Wenn Vater erfährt, dass du bei der Arbeit schläfst, dann …«, warnte die Ältere. Es war gar nicht nötig, diese Drohung zu vollenden. Er wusste genau, was sein Erzeuger davon halten würde.

In Gedanken ging er das Szenario durch: Vater würde ausrasten. Er würde toben, ihn als Nichtsnutz und unsagbare Enttäuschung beschimpfen. »Was?! Nico schläft schon wieder? Das ziehe ich ihm vom Lohn ab!« Wie Nico das hasste. Und dann war er auch noch der Jüngste aus dem Wurf.

Emily baute sich vor ihm auf und riss ihn aus seinen Gedanken. »Ach, Nico. Warum schläfst du auch so viel? Was machst du denn nachts?«, stöhnte sie und begann, die Tiere im Stall zu füttern. Nico streckte sich ausgiebig und schnaubte: »Was ich mache, geht dich nichts an. Ich brauche niemanden, der mich bemuttert.«

»So? Du bist dir schon bewusst, dass ich gerade deine Arbeit erledige? Ich kann auch gehen und diese Angelegenheit von Vater regeln lassen. Die Tiere haben Hunger, du Nichtsnutz.« Ihre Worte waren scharf wie Messer und ihr Blick tadelte ihn für seine rücksichtslose Art.

Nun, da sie es angesprochen hatte, vernahm auch er den Lärm im Stall. Die Kaninchen und Hasen sprangen wie wild in ihren Boxen auf und ab. Auch die wenigen Füchse, welche sie aufzogen, machten Radau.

Mit einem Seufzen auf den Lippen fuhr Emily fort: »Was soll nur aus dir werden? Es ist an der Zeit, dass du Verantwortung für dein Handeln übernimmst!« Mahnend sah seine Schwester von ihrer Tätigkeit auf.

Unbewusst zuckte Nico zusammen. Nach so einer Einleitung kam nie etwas Gutes.

»Du hast mit Vater schon oft den Hasen auf der Rennstrecke repariert, oder? Kannst du dich darum kümmern? Der hängt schon wieder.«

»Muss das sein?«, platzte es aus ihm heraus und er kam nicht umhin, seine Augen zu verdrehen.

Emily baute sich zu ihrer vollen Größe auf und hob drohend einen Finger. »In einer Stunde findet die nächste Jagd statt. Entweder der Hase funktioniert oder Vater erfährt, wer die Tiere füttern musste!«

Wenn sie sich so resolut verhielt, dann sollte man ihr besser nicht widersprechen. Diesen Charakterzug hatte Emily von ihrer Mutter geerbt und beide wussten damit umzugehen.

»Jaja, ich mach ja schon«, murrte Nico und trollte sich. Was blieb ihm auch anderes übrig? Er wusste, dass seine Schwester es nur gut meinte. Doch viel lieber hätte er in Ruhe sein Nickerchen beendet, als auf allen vieren im Geräteschuppen herumzukriechen, um an die Mechanik zu kommen.

Wahrscheinlich steckten Haare in der Kette. Diese Arbeit konnte jeder Trottel erledigen, nur ließ ihr Vater Torsten niemanden an den Apparat. Einzig sein großer Bruder und er selbst durften die Katakomben unter der Rennbahn betreten, ohne dass ihr Erzeuger einen Tobsuchtsanfall bekam.

*

In seine trüben Gedanken versunken, kam der Schuppen, in dem sich die Leiter befand, die zu den Katakomben führte, in Sicht. Mit einem Kopfschütteln kehrte Nico ins Hier und Jetzt zurück und ging langsam auf die versperrte Tür zu. Die vielen Warn- und »Zutritt verboten«-Schilder ignorierte er gekonnt und öffnete mit seinem Spezialschlüssel das Schloss.

Am Absatz der Leiter entspannte er sich ein wenig. Hier unten war alles eng. Es roch nach Öl, Fett und nassen Hundehaaren, dennoch fühlte er sich in den Katakomben sicher. Außer um die Maschine zu warten, kam keiner hier herunter. Hier hatte er seine Ruhe, musste sich nicht verstecken und konnte sein, wie er eben war.

»Früher waren die Hunde noch kleiner«, sprach Nico mit tiefer, vor Sarkasmus triefender Stimme, die Weisheiten seines Vaters nach, »und es herrschte noch Respekt vor dem Alter.«

Alt, das war das richtige Wort für den Mechanismus. Langsam wurde es Zeit für eine Modernisierung, aber sein alter Herr war nun mal ein Geizkragen.

»Was alt ist, muss nicht schlecht sein, mein Junge. Diese Anlage ist älter als ich und sie wird auch dich überleben, wenn man sie mit Liebe wartet. Du musst das Getriebe immer gut ölen.«

Wohl mit Blut – mit seinem Blut, bei den ganzen scharfen Zahnrädern und Metallteilen hier. Wozu Öl? Reichte sein Blut denn nicht? »Aua …«

Schnell steckte er sich den verletzten Finger ins Maul und beäugte böse das scharfe Metall, an dem er sich geschnitten hatte. Hier unten war kaum Platz, nicht mal er – und er war der Kleinste in seinem Rudel – konnte hier aufrecht stehen. Schnell schnappte er sich eine Taschenlampe mit der unverletzten Pfote und ging den Schacht entlang. Während er den Zahnrädern und anderen Teilen der Antriebskette auswich, schaute er sich suchend nach dem Fehler um.

Nach einer Weile fand er das Problem. In der Kette hatte sich ein Fellbüschel verfangen, welches nun mit Öl verschmiert als Klumpen zwischen der Kette und einem der Umlenkzahnräder steckte.

Nico stöhnte ungehalten auf. »Dachte ich es mir doch. Haare in der Kette. Schon wieder …« Erst vor ein paar Tagen war er hier auf Pelzschau gewesen. Unter den Welpen nannten sie so die Arbeit in den Katakomben. Meist waren es Fellbüschel, welche den Mechanismus verklebten.

Mit der Taschenlampe im Maul zupfte er vorsichtig an den Haaren und zog sie Stück für Stück von der Kette. Diese Enthaarung war gefährlich und das war ihm bewusst.

Doch er hatte fast alle öligen Haare entfernt und die Kette zitterte leicht, so stark stand sie unter Spannung. Nun konzentrierte er sich auf die Arbeit. Dieser Teil war am gefährlichsten, immerhin hatte die Kette schon einen Arm, zwei Pfoten und viele Finger erbeutet; er wollte kein Blutopfer an das Metall entrichten. Ganz langsam und vorsichtig zupfte er an den letzten Haaren.

Plötzlich gab das Zahnrad nach und die Kette entspannte sich surrend, indem gut zehn Fuß Metall an ihm vorbeischossen. Das Geräusch, das sie dabei von sich gab, war beängstigend.

Nachdem er sich die Pfoten an der Hose abgewischt hatte, nahm er seine Lampe aus dem Maul und ging langsam den Weg weiter. Wenn er schon hier unten war, konnte er ebenso gut mit den wöchentlichen Wartungsarbeiten beginnen.

In einer nahen Nische fand Nico ein Ölkännchen. Dessen Position zeigte an, bis wohin der letzte Besucher gekommen war. Nun nahm er es und begann, die Zahnräder zu beträufeln. Pfeifend und erneut in seine Gedanken versunken, arbeitete er sich voran. Es war Nachmittag, das wusste er und die Rennstrecke würde bald öffnen.

Nach einer Weile hörte er das Signal kurz vor dem Start des Hasen. Hastig brachte er seine Gliedmaßen in Sicherheit. Das Öl stellte er in eine der Nischen neben sich, bevor er das Licht ausmachte und sich auf den Boden legte.

»Solange der Mechanismus in Betrieb ist, sollte man nicht hier herumlaufen«, gähnte er in die Dunkelheit hinein, denn es war an der Zeit für ein Schläfchen. Der Bereich am Boden war sicher, also streckte er die Glieder und rollte sich zu einer Kugel zusammen.

*

Laute Geräusche rissen Nico aus seinem Schlummer. Irritiert spitzte er die Ohren. Er konnte gedämpfte Schreie hören. »Verdammt noch mal. Müssen die schon wieder durchdrehen? Ist doch nur ein Rennen. Immer diese schlechten Verlierer«, stöhnte er in die Dunkelheit und tastete den Boden nach seiner Taschenlampe ab.

Irgendetwas schien anders zu sein. Die Stimmen waren nicht zornig, eher panisch. Seltsam. Was war oben los? Im Licht der Lampe kontrollierte er kurz, ob der Mechanismus außer Betrieb war, dann kroch er so schnell er konnte den Gang zurück. Einige Minuten später hatte er die schmale Leiter erreicht und sah einen roten Schimmer durch die offene Tür.

»Oh nein. Ich habe vergessen, die Tür zu schließen! Ich hoffe, Dad hat das nicht gesehen. Oh, das könnte Ärger geben«, quengelte er reuevoll vor sich hin. Rasch legte er die Taschenlampe in ihre Box zurück und kletterte hoch. Oben schloss er schnell die Tür und sah sich schuldbewusst um, konnte jedoch niemanden sehen.

»Gut gegangen«, atmete Nico erleichtert auf und ging pfeifend in Richtung der Rennstrecke. Nebelschwaden hingen in der Luft und er hatte ein seltsames Gefühl, so als würde er neben sich stehen.

Eine unnatürliche Stille legte sich um ihn hernieder und er hielt erschrocken den Atem an. »Wo sind denn all die Gaffer und Läufer?«, fragte er sich verwundert und sah sich suchend um. Es war keine Hundeseele zu sehen, nur der undurchdringliche Nebel. Die Luft roch eigenartig; war das Eisen? Oder verbrannte Haare? Beides?

Auf seine Füße achtend, tapste er vorsichtig umher. Plötzlich durchzog ein durchdringender Schrei die Stille, bei dem sich seine Nackenhaare aufstellten. Panisch schaute Nico in die Richtung des Lärms und erschrak. In diesem Moment lichtete sich der Nebelschleier.

Mitten auf der Rennbahn lagen Hunde kreuz und quer, manche aufeinander, manche in seltsam verrenkten Posen. Einige von ihnen waren Läufer, das konnte er an den Trikots erkennen, die anderen mussten Zuschauer sein. Keiner bewegte sich, nur ihr Fell strich mit dem einsetzenden Wind hin und her.

Etwas abseits stand eine fremde Gestalt, die in eine schwarze Kutte gekleidet war. Vor dem Fremdling schwebte Nicos Vater in der Luft. Die ganze Situation hatte etwas sehr Surreales an sich, ganz wie ein übler Albtraum.

Hastig rieb sich Nico die Augen. Hunde konnten nicht in der Luft schweben. Als er erneut hinsah, hatte sich die Szenerie nicht verändert. Der wütende Schmerzensschrei seines Vaters wurde von einem lauten, gehässigen Lachen seitens des Fremden begleitet. Torsten erblickte trotz seiner Pein seinen Sohn und riss die Augen auf. Mit den Lippen formte er das Wort: Lauf!

Nico verstand nicht, was vor sich ging. Kaum waren die Geräusche verklungen, legte sich abermals Totenstille über das Areal. Träumte er etwa noch?

Ein lautes Knacken durchdrang die Stille.

Torstens Kopf ruckte zur Seite. Wie gelähmt und mit aufgerissenem Maul starrte Nico zum zuckenden Leib seines Vaters.

Wie aus dem Nichts machte die unbekannte Person eine wegwerfende Handbewegung – und Torsten flog durch die Luft, genau auf seinen zitternden Sohn zu. Vor diesem stoppte der leblose Körper. Nico konnte seinen Blick nicht abwenden. Das war sein Vater und er hatte Schmerzen. Gebannt schaute er in die gelben Augen. Kein Lebenslicht brannte mehr darin. Sie starrten tot und für ewig dunkel zu ihm auf.

»Das ist ein Scheißtraum. Ich will aufwachen«, schluchzte Nico und Tränen liefen ihm über die Wange.

»Aufwachen?«, fragte eine gehässige Stimme ganz nahe bei ihm. »Du wirst dir noch wünschen, dass das hier ein Traum ist.«

Entsetzt sah er auf und blickte direkt in die Kapuze des Fremden. Aber dort befand sich kein Hundegesicht. Das erschreckend hässliche Antlitz eines schaurigen Monsters schaute zu Nico herunter. Blank und ohne Fell, mit platt gedrückter Schnauze verzog er die fleischigen Lippen zu einem höhnischen Grinsen. Weiße Stummelzähne schauten zwischen den seltsam rosafarbenen Lefzen hervor. Seitlich aus dem Kopf ragten winzige Ohrmuscheln. Noch nie hatte Nico von so einem unheimlichen Wesen gehört oder eines in der Flimmerkiste gesehen.

»Ja, du gefällst mir. Wie alt bist du?«, erkundigte sich der Fremde zuckersüß.

»Ich … ich …«, stammelte Nico entsetzt.

Das Monster schüttelte unzufrieden den Kopf. »Wie konnte ich auch erwarten, von einem niederen Wesen eine klare Antwort zu erhalten? Dein Alter ist ohnehin egal. Lass dich mal ansehen.«

Plötzlich blitzte ein drei Fuß langer goldener Stab unter der schwarzen Robe hervor. Das Ding erinnerte Nico an eine Art Zauberstab. Die Oberfläche glänzte makellos und verjüngte sich leicht zur Spitze hin. Am anderen Ende sah er die Pfote des Monsters – felllos und ohne Krallen. Mit dem Stab drehte das Ungetüm seinen Kopf grob auf die Seite. Wut stieg in Nico auf und er bleckte die Zähne.

Das Monster nickte. »Das Gebiss scheint in Ordnung zu sein.« Erbost versuchte Nico, den Stab zu ergreifen, doch das Metall machte eine schnelle Bewegung abwärts und entkam so seiner Pfote. Bevor er auch nur einen weiteren Gedanken fassen konnte, spürte er, wie sein T-Shirt und seine Hose sich von ihm lösten. Erschrocken griff er nach dem Stoff, um diesen zurückzuhalten und blickte an sich herab. Mit offenem Maul sah er seiner Kleidung beim Fallen zu. Sie bestand nur noch aus etwa klauenlangen Stofffetzen, welche sanft wie Konfetti zu Boden schwebten. So schnell er konnte, verschränkte er die Arme vor seinem Intimbereich und drehte sich weg.

»Du bist ein perfektes Geschenk für meine kleine Schwester. Ja, dich werde ich mitnehmen«, überlegte das Monster laut.

»Bruder!«, rief Emily ängstlich hinter ihm und Nico wandte sich ihr zu.

»Du störst, Abschaum«, stieß der Fremde hervor.

»Lauf!«, schrie Nico, aber es war schon zu spät. Aus den Augenwinkeln sah er die Spitze des Goldstabes hervorschnellen. Sie zeigte direkt auf Emily. Plötzlich tauchten seltsame leuchtende Symbole auf der Oberfläche des Metalls auf. Ein Zischen erklang. Dieses Geräusch erinnerte Nico an die Entspannung der Antriebskette unter der Rennbahn.

Vor dem Stab erschien ein bläulicher, spitzer Kristall. Kürzer als einen Wimpernschlag schwebte dieser in der Luft, dann schoss er davon. Ein grauenhaftes Gurgeln erklang und Nico blickte erschrocken zu seiner Schwester. Das Geschoss steckte in ihrer Brust. Aus ihrer Kehle sickerte gurgelnd Blut hervor. Ihre Augen waren weit aufgerissen und zuckten haltlos. Urplötzlich erlosch auch deren Glanz und Emilys lebloser Körper sackte zu Boden. Nebel verschluckte sie in Bruchteilen von Sekunden.

Zitternd sackte Nico zusammen und seine Tränen waren wie Flüsse. Das durfte nicht wahr sein! Seine Schwester und sein Vater konnten doch nicht tot sein …

Ein seltsames Gefühl überkam Nico. Er fühlte sich wie in Watte eingepackt und sein denken wurde träge. Dann plötzlich durchfuhr ihn ein brennender Schmerz in seinem Kopf. Seine Sicht verschwamm und die Welt wurde schwarz.

Der Sklavenwiderstand

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