Читать книгу Hämmerle - Jochen Rinner - Страница 6

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Der Sturm riss ihm die Haustür aus der Hand und knallte sie gegen die Wand, während er den Regenmantel anzog und sich dabei verhedderte. Fritz Hämmerle zog die Haustür zu, hatte schließlich den Mantel an und ging. Die nächste Bö nahm ihm den Atem, trieb ihm den feinen Regen ins Gesicht und riss ihm die Kapuze vom Kopf. Er zog sie wieder hoch, band sie mit der Kordel fest und bog auf den Weg in den Wald.

Bis hier drang der trübe Schein der einzigen Laterne seiner Straße, dann war es dunkel, stockdunkel. Seine Augen gewöhnten sich daran und der Weg war ein gutes Stück zu sehen, denn ein wenig von dem Lichtsmog, der wie eine Glocke über der großen Stadt hing, kroch durch die Buchen bis auf den Weg.

Der Sturm hatte sich in die Wipfel verzogen, rauschte und holte dort oben von den Zweigen die rostroten Herbstblätter dieser mächtigen Bäume. Wenn er jetzt ausschritt, würde er die nächste Bahn erreichen und bald das Quietschen hören, wenn sie die Wendeschleife durch den Wald fuhr.

Sein Kalender für heute war leer, das hatte er beim Frühstück bemerkt und auch jetzt fiel ihm nichts ein, was im Büro auf ihn wartete. Nein, das war noch nie so gewesen - oder doch? Er erinnerte sich nicht. Sonst war es gründlich anders und der Dienst begann hier auf dem Weg. Seine Füße pflügten durch das nasse Laub und es klang träge und müde: Die Blätter hatten keine Lust zu tanzen.

Fritz Hämmerle versank in vergangene Bilder, als liefe sein Leben vor sieben Jahren eben noch mal vor ihm ab:

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Mit dem Abschluss der Polizeiakademie in der Tasche und der Zusage für seine erste Stelle ist er mit seiner Frau auf Wohnungssuche und sie stehen zusammen vor dem Gartentor aus Bretterschwarten, mächtig schief. Es hängt an einem noch schieferen Pfosten. Eine Weile lang sehen sie in den Vorgarten - zum Haus, irgendwie beklommen, bis Lilly sagt: „Das ist aber wirklich klein!“

„Hm.“

„Ist dieser Strauch eine Johannisbeere?“

„Scheint so, ein Hochstamm.“

„Ist der glücklich so, mit den Brennnesseln bis zum Kinn?“

Die Haustür geht auf und der alte Karl Winter kommt ihnen entgegen, humpelnd und mit Krückstock.

Winter, Karl und Gisela, stand im örtlichen Telefonbuch. Seine Frau sei vor vier Jahren gestorben, hatte er am Telefon gesagt.

„Kommen Sie rein, kommen Sie.“ Er bemerkt ihre zögernden Blicke auf das Gartentor und fügt hinzu: „Nur zu, das tut’s noch“, ist aber mit seinem Stock den kurzen Weg schon gelaufen und öffnet. Das Gartentor quietscht.

Sie hatten alle Maklerseiten durchstöbert, Dutzende Male hatten sie angerufen und waren schon zweimal in der Stadt gewesen, drei Stunden hin, drei Stunden zurück - nichts, immer nichts.

„Jetzt versuchen wir’s auf die altmodische Art“, hatte Lilly entschieden und eine Anzeige im örtlichen Wochenblatt geschaltet:

Gestandenes Paar mit achtjährigem Sohn sucht wegen

arbeitsbedingten Ortswechsels kleines Haus, Miete oder

Kauf

Handynummer dazu: fertig.

An dem Tag, als die Anzeige erschien, rief er an. Alt sei er und könne nicht mehr, und seine Tochter wolle ihn bei ihrem nächsten Besuch gleich mitnehmen. Er habe ihr gesagt, wenn schon keiner seiner Enkel ins Haus ziehen wolle, verkaufe er es wenigstens noch selbst, dann würde er mitkommen. Eben habe er die Annonce gelesen und bemerkt: Die letzten beiden Zahlen ihrer Telefonnummer seien der Geburtstag seiner verstorbenen Frau, und jetzt sei er dran.

Lilly war nur kurz irritiert und dann dachte sie: Er will sein Haus wirklich verkaufen. Sie antwortete kurzerhand: „Ja, wenn das so ist, würden wir gerne übermorgen kommen, das ist ebenfalls der Tag mit den gleichen Zahlen. Elf Uhr. Würde das passen?“

Es passte. Lilly notierte noch Namen und Adresse.

Hämmerle hatte die Nummer bereits vom Display des Telefons abgeschrieben und die Adresse per Rückwärtssuche am Laptop ermittelt.

Ob er das Haus auch vermieten würde, fragte Lilly.

Wenn er schon nicht mehr hier wohnen könne, wolle er sich auch nicht mehr drum kümmern. Er habe mit seinem Schwiegersohn schon über den Preis gesprochen. Den nannte er Lilly auch noch.

Die Stadt und das Polizeipräsidium hatte sich Fritz Hämmerle fünf Wochen früher, den Brief mit der Zusage für seine erste Stelle noch in der Hand, auf der digitalen Karte von oben angesehen. Der Link war noch auf dem Desktop. Er gab die Adresse ein und zoomte die Markierung langsam heran. Da waren der Vorort und schließlich der Steinweg, der in eine Waldlichtung führte. Dort standen auf der einen Seite des Weges acht wohl nicht allzu große Häuser und gegenüber war ein breiter Streifen grüne Wiese. Der Pfeil wies auf das letzte Haus vor dem Wald.

Karl Winter nimmt sie mit in seine Küche. Auf dem Tisch stehen vier Tassen, eine Packung Kakao und ein Teller mit Gebäck, die Kaffeemaschine dampft. Er lehnt seine Krücke an den Küchenschrank und fragt: „Und der Filius?“

„Daniel haben wir unterwegs bei seinen Großeltern abgesetzt“, antwortet Lilly. „In den Ferien freut er sich immer auf Oma und Opa.“

„In diesem Alter waren unsere Enkel auch gern bei uns.“ Ein Anflug von Traurigkeit huscht über sein Gesicht, als er eine Tasse und den Kakao wieder in den Schrank stellt. Seine Beine machen es ihm wirklich schwer. Er setzt sich ihnen gegenüber an den Küchentisch, üppiges schlohweißes Haar, buschige Krauslocken bis über die Ohren. „Kaffee?“

„Ja“

„Bitte nehmen Sie, die Kekse sind ein Rezept meiner Frau.“ Er schenkt Kaffee ein und schiebt den Teller mit den selbst gebackenen Keksen näher. Noch ehe das Gebäck bei ihnen ist, fragt Karl Winter, wie er das mit dem arbeitsbedingten Ortswechsel verstehen könne.

Fritz Hämmerle erzählt, eben von der Polizeiakademie zu kommen. Sein Mentor habe ihn auf diese freie Stelle aufmerksam gemacht. Lieber etwas mehr in der Nähe, habe er ihm geantwortet, sein Mentor habe aber nur vergnügt mit den Schultern gezuckt.

„Am Abend habe ich es meiner Frau erzählt. ‚Warum nicht? Probier’s halt‘, kam zurück. ‚Und deine Arbeit?‘, hielt ich ihr entgegen. ‚Findet sich‘, sprach sie. ‚Und Daniel?‘, fragte ich weiter. Aber sie sagte einfach: ‚Dani muss mit, und außerdem würde er nichts dagegen haben, seine Großeltern auch kurz übers Wochenende zu besuchen, die dann ja wirklich fast in der Nähe wohnen würden, und mir wär es auch ganz lieb so.‘“

Karl Winter sieht ihn die ganze Zeit an mit seinen graublauen Augen, mehr blau als grau. Vielleicht fällt das Blau nur wegen des üppigen weißen Haars so auf. Nun rückt er sich auf seinem Stuhl doch ein wenig zurecht und bemerkt: „Sie sehen aber nicht gerade wie ein Langzeitstudent aus.“

„Ja, ich bin jetzt fünfunddreißig und war zur Aufnahmeprüfung dreißig. Die hab ich gerade eben so geschafft - vor allem in Sport, das war haarscharf an der Untergrenze. Dass die mich überhaupt genommen haben mit dieser Vorgeschichte …“

„Vorgeschichte? Erzählen Sie, wenn Sie wollen.“

Der will’s aber wissen. Also redet er weiter: „Meiner Mutter, bei der ich damals noch gewohnt habe, sagte ich: ‚Ich würde das schon gerne machen, aber die nehmen mich sowieso nicht.‘ Sie fiel mir forsch ins Wort: ‚Bewirb dich doch einfach, wenn du nicht zu faul bist, ein paar Sätze zu schreiben!‘“

„Was haben Sie denn bis dahin so Schlimmes angestellt?“, fragt Karl Winter ziemlich direkt.

„Eher hatte ich wohl überhaupt nichts angestellt“, antwortet er. „Nach dem Abitur wollte ich meiner Mutter nicht mehr auf der Tasche liegen. Ich wollte weg von zu Hause. Also fragte ich kurzerhand in der nächsten Kneipe, ob sie einen Kellner bräuchten. Brauchten sie, erst aushilfsweise und wenig später war ich fest drin. Daraus wurden elf Jahre und bei meiner Mutter bin ich auch geblieben. In der Zwischenzeit begann ich eine Ausbildung im Fach. Das war aber nur kurz. Ich wollte mir nicht merken, wo welche Gabel zu welchem Anlass hingehört und so. Mein Chef hat mich wieder genommen. Gelegentlich legte ich das Besteck anders. Eine Dame fragte mich einmal: ‚Gehört die Gabel nicht nach links?‘ Ich antwortete: ‚Sie brauchen die Gabel heute unbedingt rechts.‘ Sie ließ sich auf den vergnüglichen Schlagabtausch ein und es schien ihr Spaß zu machen.“ Insgeheim denkt er: An der Höhe des Trinkgeldes gemessen.

Das erzählt er Herrn Winter nicht, auch nicht, dass überhaupt alles Trinkgeld auf die hohe Kante kam, konsequent, die ganzen elf Jahre lang, und nicht nur das Trinkgeld. Am Tag nach Karl Winters Anruf war er bei der Bank, und dieses Geld ist der Grund, warum er schon eine Finanzierungsbestätigung in der Tasche hat, für alle Fälle.

Seine Frau hält sich kurz, weil sie sich wohl eher das Haus ansehen will. Sie habe gleich nach der Schule Physiotherapeutin gelernt, dann sei Daniel gekommen. Sie sei lange alleinerziehend gewesen. Ihren Mann habe sie vor vier Jahren kennengelernt. Als sie das letzte Mal hier waren, hätten sie physiotherapeutische Praxen besucht und eine habe ihr zugesagt und es habe ihr dort auch gefallen. Dann sieht sie Karl Winter erwartungsvoll an.

„Schauen Sie sich doch erst einmal um. Ins Dachgeschoss müssen Sie allerdings allein hoch, die Treppe hat mir die Freundschaft gekündigt“, sagt Karl Winter und setzt sich, während sie hinaufsteigen, an den Küchentisch.

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Die Bahn zog kreischend ihre Schleife durch den Wald. Wenn er jetzt einen Schritt zulegte, würde er sie noch schaffen, der Autobahnzubringer war schon zu hören. Aber Fritz Hämmerle mochte nicht – wozu heute auch? – und während er gemächlich durch das nasse Laub watete, fand er sich im Dachgeschoss von Karl Winters Haus wieder.

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Geradeaus durch die schmale Tür ist die Toilette, die Sonne zeichnet das Rechteck des Dachfensters gleich hinter die Schwelle der Tür. Rechts geht es ins Schlafzimmer. Sie stehen in der Tür. Im großen Giebelfenster ist der nahe Wald zu erkennen, hohe Rotbuchen, von denen durchs Fenster nur eine Wand aus Blättern zu sehen ist. In die Dachschrägen sind Kleiderschränke eingebaut und in der Mitte steht das Doppelbett mit grauer Tagesdecke, die bis auf den Boden reicht. Dieses Bett ist aus mattschwarzem Eisen, zwei Meter im Quadrat, die Ecksäulen mit dicken runden Füßen und Knäufen, geschuppt wie goldene Zapfen. Die goldene Farbe ist bei denen am Fußende abgegriffen, nachdem sich Generationen von betagten Eheleuten daran festhielten, während sie Abend für Abend ihre Kleider, also die von der Hüfte abwärts, über die Füße zogen. Was zwischen diesen Säulen ist, gleicht eher den Seiten eines Babybettes mit Gitterstäben, nur eben nicht aus Holz, sondern aus schwarzgrauen Eisenstangen. Es vermittelt ein Gefühl, als wolle man jemanden einsperren, obgleich nur Kopf- und Fußteil so sind. Und es steht mitten im Raum, weil das Kopfteil höher ist als das Fensterbrett.

Sie sehen sich entsetzt an und denken wohl das Gleiche: Falls wir je hier einziehen, dann nicht mit diesem Bett! Obwohl, irgendwie lustig ist es schon, denn die Gitterstäbe sind ein wenig schräg eingebaut, im Kopfteil nach rechts geneigt und im Fußteil nach links. Das Bett scheint leicht zu schwanken, als hätte es einen über den Durst getrunken.

Erst das Klappern der Teller in der Küche, das durch die offenen Türen nach oben dringt, löst ihren Blick von diesem Monstrum. Er geht um das Bett herum. Näher am Fenster gesellt sich zu der grünen Blätterwand über den Wipfeln der Buchen strahlend blauer Himmel.

Lilly steht vor einer Kommode gleich neben der Tür, die eine schwarze Marmorplatte hat und einen hohen, aufgesetzten Spiegel, in dem sie ihn am Fenster stehen sieht. „Fritz, jetzt komm, wir können Herrn Winter nicht länger warten lassen.“

Alles hier oben ist mit einer Staubschicht überzogen, selbst auf dem bräunlichen Bretterboden sind ihre Fußabdrücke zu sehen. Karl Winter hat wohl schon länger auf dem Klappsofa im Wohnzimmer neben der Küche sein Bett aufgeschlagen. Gegenüber dem Schlafzimmer sind zwei kleine Räume für die Kinder, zusammen so groß wie das Schlafzimmer. Die Treppe hat ziemlich schmale Stufen, auf denen sich Lilly mit ihren hohen Absätzen nach unten müht.

Karl Winter hat den kleinen Haushalt im Erdgeschoss offenbar gut im Griff und dieser scheint ihm auch keine Last zu sein. „Den Garten haben Sie ja schon gesehen“, sagt er, als sie wieder am Küchentisch sitzen. „Zwischen den Johannisbeersträuchern wuchsen früher Erdbeeren und im Sommer haben der Giersch und die Brennnesseln die Schlacht gegen die vereinigten Steingartenpflanzen endgültig gewonnen. Früher hat mir der Garten viel Spaß gemacht, aber mit dem dritten Bein ging es immer mühseliger und es tat weh zu erleben, wie der Garten so langsam den Bach runterging. Das wollte ich nicht mehr mit ansehen. Sie können morgen früh wiederkommen“, meint er, „wenn Sie wollen.“

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Es dämmerte, als er auf den Weg einbog, der von der nahen Siedlung zur Haltestelle führte. Von hier sah man die wartende Bahn: ein hell leuchtendes, langes Lichtband, das von dem Unterstand aus Wellblech unterbrochen wurde. Er schaute sich nach Frau Reiter um, der er nicht selten morgens mit ihrer kleinen Tochter im Kinderwagen hier begegnete. Vielleicht ist sie schon weg, weil ich heute später dran bin, dachte er und lief weiter.

Wie immer stieg er in den hinteren Wagen, löste seine Kapuze, streifte sie nach hinten und setzte sich ans Fenster. Er war allein und das blieb bis zur nächsten Haltestelle so. Ab dieser waren alle Sitzplätze belegt, denn dort begann die Siedlung, die bis zum Wald reichte und von der das letzte Haus Familie Reiter gehörte. Auf der anderen Seite war der Parkplatz am Autobahnzubringer. Fritz Hämmerle zog den Kragen seiner nassen Jacke hoch, lehnte sich an die Scheibe und schlief ein. Doch der Lärm an der nächsten Haltestelle weckte ihn bereits wieder.

Die Gleise führten dann entlang der vierspurigen Straße. Die Bahn fuhr den Autos davon. Vor sieben Jahren hatte er mit dem alten Golf genau da drüben im Verkehr gesteckt. Er war an seinem ersten Arbeitstag früher von zu Hause losgefahren, um auch wirklich pünktlich anzukommen. Wie hätte er auch wissen können, dass wegen einer Baustelle viele auf diese Straße auswichen? Sie fuhren wie die Schnecken und an ebendieser Stelle hatte er sehnsüchtig der Bahn hinterhergeschaut, die unendlich schnell davonraste, und seine Stimmung hätte nicht düsterer sein können, selbst wenn er geahnt hätte, dass er so viel später keinen Parkplatz mehr finden würde und dass obendrein auch noch fünf Minuten Fußweg dazukommen würden.

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Nach ihrem ersten Besuch im Steinweg fahren Lilly und er gleich zum Hotel. Sie hängen ihren Gedanken nach und nur die Dame aus dem Navi redet.

Nach den Formalitäten an der Rezeption scheppert schließlich der Schlüssel auf den Tresen. Sie beziehen ihr Zimmer und er fragt: „Gehen wir essen?“ Sie nickt.

Dann schweigen sie weiter. Der Kellner muss zweimal nach ihren Getränkewünschen fragen und sie sind tatsächlich hungrig.

Mit vollem Mund kritzelt er Grundrisse auf die Servietten und sieht: Auch wenn nicht üppig viel Platz ist, für ihre kleine Familie reicht es. Das Haus ist nicht wirklich alt, keine aufsteigende Nässe im Mauerwerk und auch sonst ist ihnen vom Dach bis zu dem kleinen Keller nichts Beunruhigendes aufgefallen.

„Also kein Bausachverständiger“, sagt er.

„Wenn du meinst. Hast du überhaupt Lust auf Gartenarbeit? O-der doch lieber eine Wohnung?“, fragt Lilly.

„Wenn das mit dem Haus was wird, müssten erst mal sowieso alle ran.“

Karl Winter hatte tags zuvor gemeint, sie sollten gleich an die Tür kommen und klingeln. Wieder an der Gartenpforte sieht er sie offenbar schon durchs Küchenfenster kommen und öffnet die Haustür. „Guten Morgen, kommen Sie rein.“

„Guten Morgen“, wünschen sie auch, setzen sich wieder an den Küchentisch, auf dem Tassen stehen und ein Teller mit Keksen nach dem Rezept seiner Frau.

„Wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen?“, fragt Herr Winter.

„Wir beschäftigen uns nicht alle Tage mit so großen Anschaffungen“, antwortet er.

Karl Winter greift zur Kanne und schenkt Kaffee ein. Der scheint schwärzer als gestern und der erste Schluck bestätigt die Diagnose.

Lilly gießt sich gleich Milch nach und als sie in den zweiten Keks beißt, meint sie genüsslich kauend: „Herr Winter, wenn Sie uns das Haus verkaufen wollen, ist das Rezept für die Kekse aber schon dabei, oder?“

„Heißt das, Sie wollen das Haus nicht ohne Rezept?“

„So ungefähr.“

Jetzt geht alles ganz schnell. Sie haben keine Fragen mehr, es bleibt bei dem Preis und sie erwähnen die Finanzierungsbestätigung. Karl Winter meint, er wolle nicht viel mitnehmen zu seiner Tochter, nur seinen Sessel und Kleinkram, und er wisse nicht, wie lange es dauern würde, bis das Haus ausgeräumt sei. Sie bieten ihm an, selbst auszuräumen. Er solle einfach einpacken, was er wollte, und alles andere stehen lassen. Er ist erleichtert.

„Wie lange sind Sie eigentlich noch in der Stadt?“

„Wir müssen nicht gleich wieder nach Hause.“

Er habe eine gute Bekannte im Notariat, die ihm gerne helfen wolle, und ob sie einverstanden wären, dass er Marianne mal anrufe.

„Warum nicht?“, meint Lilly.

Karl Winter greift zum Telefon und wählt.

„Marianne? Karl hier. --- Gut, mit den Beinen, das wird halt nicht besser. --- Du wolltest mir helfen, wenn ich mein Haus verkaufe. --- Ja, jetzt wird’s ernst. --- Wir sitzen hier in der Küche. --- Ist alles beieinander. --- Ja. --- Gut, bis gleich.“ Dann legt er wieder auf.

„Sie ruft gleich zurück“, sagt Karl Winter und erzählt, er habe in der Haustechnik bei der Stadt gearbeitet, bis er vor fünf Jahren in Rente gegangen sei. Für das Gebäude mit dem Notariat war er auch zuständig, mehr als zwanzig Jahre, und all die Jahre gehörte Marianne dort zum Inventar in den Vorzimmern. Erst hatte er in ihrem Büro einen tropfenden Wasserhahn repariert und dabei einige Worte mit ihr gewechselt. Eigentlich hatte sie ihn ausgefragt, von welcher Firma er komme, wollte seinen Namen wissen und so weiter. Er hatte gesagt, er sei bei der Stadt angestellt und so was wie der neue Hausmeister. Im Seitenflügel gab es eine Kantine, ein Geheimtipp von seinem Vorgänger für die Mittagspause. Wenn es mit der Arbeit passte, war er dort und bald war die Kantine eine Drehscheibe für Reparaturaufträge. Marianne und ihre Kolleginnen erledigten das sozusagen gleich auf dem kurzen Dienstweg. Später hatten sie auch gelegentlich zusammen am Tisch gesessen und über alles Mögliche geredet, ihre Familien, die Sorgen mit den Kindern, Urlaub und so weiter. Als Rentner war er jedes Jahr im Notariat zur Weihnachtsfeier eingeladen worden und hatte beim letzten Mal Marianne erzählt, dass es immer mühseliger würde und er das Haus wohl irgendwann verkaufen müsse. „Karl, wenn du willst, helfe ich dir dabei“, hatte sie gesagt und redete gleich weiter: „Geht aber nur noch bis zum Herbst, dann bin ich auch Rentner. Mein Mann will unbedingt, dass ich gleich aufhöre. Wenn er das mal nicht bereut …“ Daraufhin hatte ihr Chef, der im Vorbeigehen das Gespräch mitbekommen hatte, ihrem Mann die Hand auf die Schulter gelegt und gemeint, er könne sie jederzeit wieder dort abliefern.

Dann klingelt tatsächlich das Telefon. Karl Winter hebt ab.

„Hallo, Marianne? --- Ach, du bist’s. --- Ja, alles wie besprochen. --- Du, Marianne will gleich zurückrufen, ich ruf dich später an. --- Ja, machen wir.“

Es war der Schwiegersohn.

Das Telefon klingelt gleich wieder und Marianne fragt, ob sie alle am nächsten Tag um siebzehn Uhr kommen könnten, dann wäre der Grundbuchauszug auch da. Der Chef habe morgen den Termin dazwischengeschoben. Wenn sie heute alle Unterlagen beisammen hätten, könne es losgehen.

Sie holen Karl Winter am nächsten Tag am Nachmittag ab. Und so ist der Notarvertrag unterschrieben.

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Er war eine Dreiviertelstunde unterwegs. Die Straßenbahn hatte mittlerweile die Fahrbahn gewechselt, die Wohnhäuser drängten sich dichter an die Straße und der Strom der Autos war zäh bis ganz erstarrt, wie die Minen mancher Fahrer, deren Arbeitsbeginn gerade ins Schwimmen geriet. Einer klopfte mit den Daumen rhythmisch auf sein Lenkrad, seine Lippen bewegten sich. Er war allein in seinem Auto wie die meisten anderen auch.

Fritz Hämmerle schaute wie weggetreten zum Fenster hinaus. Als die Bahn aus der Innenstadt fuhr und rasant in die Allee Richtung Polizeipräsidium einbog, kippte ihm im Gedränge der Mann neben ihm gegen die Schulter.

„Entschuldigung.“

„Bitte, bitte“, sagte Fritz Hämmerle und stand schon mal auf, er musste sowieso die Nächste raus. Viele stiegen hier aus und es war in der Menge ein leiser Drang Richtung Tür zu spüren.

Es regnete unablässig, Schirme öffneten sich in einem bunten Gewimmel. Die Bahn fuhr davon und Fritz Hämmerle fasste den Haupteingang an der Südseite des riesigen Karrees gegenüber der Haltestelle ins Auge. Er wollte schnell ins Trockene. Das Polizeipräsidium mit dem Antennenmast auf dem Dach bildete die Ostseite des Karrees.

An der Drehtür staute es sich. Wie dieser mächtige Gebäudekomplex selbst war auch die Eingangshalle mit ihrer hohen Fassade aus Glas riesig. Man meinte, ins Tropenhaus des zoologischen Gartens zu gehen: Pflanzen bis zur Decke, Orchideen wuchsen im Geäst. Es fehlten nur Vogelgezwitscher und das Krokodilbecken, aber es gab Sitzgruppen und geradeaus einen Tresen.

Als er letztens mit Maik Haberland hier hineingegangen war, hatte der hochgeschaut und bemerkt: „Da braucht man ’ne Kettensäge, um diesen Urwald hier wieder hinauszuschaffen.“

Links ging die breite Treppe nach oben, dann die Aufzüge, daneben Informationstafeln mit Dutzenden von Ämtern, Behörden und Dienststellen. Er ging dahinter entlang, vorbei am Sanitärtrakt, stieg die nicht allzu breite Treppe hinab ins Untergeschoß und lief den Gang Richtung Ostflügel, vorbei an Archiven, Lagerräumen und der Haustechnik, bis zur einzigen Tür, die von hier ins Präsidium führte, und zog seine Karte durch den Scanner. Er drückte die Tür auf und war in der Spurensicherung, die sich von hier bis unter das Foyer, den eigentlichen Eingang des Polizeipräsidiums in der Mitte des zweihundert Meter langen Gebäudeflügels, erstreckte. Dort endete die Spurensicherung nach ihren Labors und Büros in ihrer eigenen Tiefgarage für die Einsatzfahrzeuge und dem Bereich für das Untersuchen von PKWs und Kleintransportern.

Er wollte durch die dritte Tür rechts in Maiks Büro, klopfte und probierte die Klinke. „Keiner da“, brummte er und ging eine Tür weiter. „Guten Morgen Kate, wo ist Maik?“

„In der Garage“, bekam er zur Antwort und wollte die Tür wieder hinter sich zuziehen, aber sie rief ihm hinterher: „Warte doch, Frau Micha war eben am Telefon, die suchen dich!“

Er eilte zum Aufzug. Frau Micha war die Sekretärin vom Chef und hieß eigentlich Michaela Krebs. Der Chef hatte irgendwann Frau Micha zu ihr gesagt und seither war es dabei geblieben.

Frau Micha wusste, dass er morgens gelegentlich in der Spurensicherung hängen blieb. Er verkniff sich den Aufzug und nahm drei Stufen auf einmal bis hoch in die Eingangshalle des Präsidiums. Um diese Zeit wären sie genervt, wenn der Aufzug erst ins Untergeschoß fahren würde. Die Tür würde sich öffnen und Fritz Hämmerle im Keller würde sich einem Dutzend Augenpaaren gegenüberfinden: „Na, mal wieder auf Tauchstation? Wohl gleich im Sarg übernachtet“, hätte er dann zu hören bekommen.

Lieber schloss er sich den Leuten an, die noch immer unablässig vom gegenüberliegenden Parkplatz und vom Parkhaus ins Gebäude strömten, und drängte mit ihnen in den Aufzug. Er sah, dass die Stockwerke zwei, drei, vier bereits leuchteten, und drückte noch die Fünf: Kriminaldirektion, K 30, Kapitaldelikte. Ab der vierten Etage war er allein.

Frau Michas Tür stand offen. Er schaltete auf Normalschritt und trat ins Zimmer. „Entschuldigung.“

„Herr Hämmerle, was ist mit Ihrem Handy? Sie fahren doch keine U-Bahn!“ Es interessierte sie aber nicht wirklich, denn sie sprach gleich weiter: „Eine Leiche, liegt wohl schon länger. Die Direktion Nord hat das zu uns durchgereicht.“

Denen wird’s wohl stinken, dachte er.

„Hauptwachtmeister Piper war am Telefon, Polizeistation Eschenweiler.“

Die kannte er und sagte zu ihr: „Da ist nur Urwald. Dann muss ich wohl gleich die Schuhe wechseln.“

„Genau, hat er auch gesagt, unwegsames Gelände.“

„Hat der Piper auch gesagt, wie viele Leute er dran hat?“

„Ja, mit ihm drei.“

Er nahm den Zettel, den ihm Frau Micha reichte, und las: „Wegmüller, Assistentin, 01602 …?“

„Sie sollen sich bei ihr melden“, unterbrach ihn Frau Micha. „Herr Haberland übernimmt die Spurensicherung.“

„Gut“, antwortete er kurz und war schon wieder auf dem Flur, da rief sie ihm nach: „Herr Hämmerle, schalten Sie Ihr Handy ein!“

In seinem Büro schlüpfte er in die Wanderschuhe, fuhr in den Keller zu Maik und fand ihn in der Garage.

„Ausgeschlafen?“, empfing dieser ihn etwas ungehalten.

„Mhm.“ Warum war Maik eigentlich so mürrisch?

Er saß schon im Allrad, einem geländetauglichen Transporter mit sechs Sitzen und dahinter viel Platz für alles, was so gebraucht wurde. Maik sagte: „Der Fotograf kommt gleich.“

„Wen nimmst du noch mit?“

„Was weißt du schon?“

„So gut wie nichts, außer Schutzmasken einpacken und Wanderschuhe anziehen. Letzteres hab ich schon. - Ach ja, und einen Zettel hab ich mit der Telefonnummer von einer Frau Wegmüller, Pipers Assistentin.“

„Mit der Wegmüller hab ich eben gesprochen. Alter Steinbruch, schon lange stillgelegt, die Zufahrt soll schwierig sein, im Bruch kann man aber fast bis zur Fundstelle fahren. Der Förster hat die Leiche heute im Morgengrauen gefunden, das heißt, sein Hund hat sie aus dem Laub gebuddelt. Hoffentlich war der nicht zu eifrig.“

„Und Piper?“

„Der Förster musste ein ganzes Stück zurückfahren, ehe er telefonieren konnte. Piper und seine Leute haben ihn dort getroffen. Die Wegmüller sagt, sie erreicht ihren Chef schon nicht mehr. Der Förster meinte, sie könnten ihr Auto gleich stehen lassen, damit kämen sie nicht weit. Piper ließ einen Mann beim Wagen und ist zum Förster in den Jeep gestiegen. Jetzt fehlt nur noch der Fotograf.“

„Falsch“, kam es von hinten. Sie hatten Rafi gar nicht bemerkt. Er wuchtete seine schwere Umhängetasche ins Auto und fragte: „Wie sieht’s dort aus, brauchen wir noch Leute?“

„Sieht nicht nach viel Arbeit aus“, sagte Maik. „Ich helfe dir. Wir machen aus dieser Sache keinen Betriebsausflug.“ Sein Telefon klingelte und schnitt ihm das Wort ab. Er schaute aufs Display und nahm ab.

„Guten Morgen, Herr Dr. Friedrich. --- Nein, die liegt schon länger und der Hund vom Förster war dran. Es wäre besser, wenn Sie bei der Bergung dabeibleiben. --- Ja, die Zufahrt ist unwegsam. --- Wir fahren jetzt los. --- Eine Stunde, zehn Minuten.“ Dann gab er ihm noch die Nummer von Pipers Assistentin und legte auf. „Der Doc fährt mit seinem Privatauto.“

Auf der Autobahn rief Fritz Hämmerle in Eschenweiler an und sagte Anja Wegmüller, sie wären in einer Stunde da.

Sie antwortete ihm, dass sie noch nichts wüssten, aber ihr Kollege Süß habe eben von zwei Unfällen erzählt aus der Zeit, als er gerade seine Stelle dort angetreten hätte, und er habe kürzlich sein fünfunddreißigjähriges Dienstjubiläum gefeiert. Ein Pilzsucher sei ins Rutschen geraten und abgestürzt und später ein Zwölfjähriger, der mit seinen Freunden stromern gewesen sei. Beide tot. Dann sei ein Zaun gebaut worden und seither habe es keinen Unfall mehr gegeben.

Das Gespräch hatten alle mitgehört und Rafi flapste: „Aha, wir suchen jetzt also nach der Witwe, die noch nicht weiß, dass sie eine ist, und davon überzeugt ist, ihr Mann sei mit der Geliebten in die Südsee durchgebrannt. Dabei ist er aber eben nur bei dem Versuch umgekommen, Pilze fürs Sonntagsessen zu sammeln.“

Maik gab ein eher unwilliges Geräusch von sich, irgendwo zwischen Knurren und Räuspern. Sie waren sofort still. Fritz Hämmerle kannte Maik. Sie waren Freunde, eigentlich seit Fritz Hämmerles erstem Arbeitstag. Er hatte diese Art, auf seine Einsätze zuzugehen oder eben zuzufahren, diese Art, schon dort zu sein, bevor er ankam. Deshalb wollte er kein blödes Gerede und Witze schon gar nicht. Es kam sonst auch nicht oft vor, dass sie zusammen im Auto saßen, doch wegen dieser wilden Zufahrt zur Fundstelle hatte er eine Ausnahme gemacht.

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Endlich stürmt er die Stufen im Präsidium hinauf und wird dann langsamer wegen des beklemmenden Gefühls in seinem Bauch. Er ist fast zwei Stunden zu spät. Dieses einschnürende Gefühl kann er nicht abschütteln. Im fünften Stock findet er Frau Micha. Sie hatten sich beim Vorstellungstermin kurz gesehen. Die Flure sind wie ausgestorben.

„Kommissar Hämmerle, reichlich spät!“ Es klingt entrüstet, vorwurfsvoll.

Was er damals zusammengestammelt hatte, hat er vergessen: Stau, Baustelle, gesperrter Zubringer und wer weiß, was noch.

„Herr Hämmerle, Sie sehen schlecht aus.“ Er sagt nichts. „Ist doch nicht etwa wegen dieses Fehlstarts?“ Wieder kein Wort. „Setzen Sie sich und trinken Sie erst mal einen Kaffee. Inzwischen rufe ich Ihren Chef an. Jedenfalls wollte er das seit zwei Stunden sein. Keine Sorge, ich sage ihm nicht, dass Sie eben beim Kaffeetrinken sind.“

Während sie an der Kaffeemaschine steht, erklärt sie, warum niemand da ist: „Fast alle sind schon seit gestern Abend im Einsatz wegen der Bank in der Bergerstraße, Geiseln, noch keine Entspannung. Ihr Chef ist aber an einem anderen Tatort, wenn ich das richtig mitbekommen habe.“ Frau Micha redet in einem fort. „Ihr Dienstausweis ist bei mir, den bekommen Sie gleich. In die Personalabteilung und die Waffenkammer können sie wohl erst in den nächsten Tagen.“

Während der erste Schluck Kaffee anfängt, für Beruhigung zu sorgen, legt Frau Micha nach: „Ist gerade ausgenommen viel los, Herr Hämmerle. Sie haben’s echt getroffen.“

Sie telefoniert. „Ja, Herr Hämmerle ist jetzt da. --- Nein, die Baustelle am Zubringer.“

Jetzt redet offenbar sein Chef: Harald Scheffer, Hauptkommissar. Er wundert sich, warum die Dienstgrade hier in den Gesprächen irgendwie unter den Tisch fallen, und nimmt sich vor, bei passender Gelegenheit zu fragen, am besten Frau Micha - Frau Micha, das klingt ja schon merkwürdig genug.

„Okay.“ Das ist alles, was sie sagt, ehe sie auflegt. „Ihr Chef will, dass Sie hinkommen, sofort.“ Sie greift zum Telefon und wählt eine kurze Nummer.

„Du, Kate, wann fährt der Leichenwagen zu Schäffer? --- Zehn Minuten? Ich schick dir Herrn Hämmerle runter, er ist neu bei uns, der muss auch mit. ---“ Sie legt auf.

„Sie fahren mit dem Leichenwagen, bevor sie wieder irgendwo in der Stadt stecken bleiben. Nehmen Sie den Aufzug ins Untergeschoß und gehen Sie nach links durch die Stahltür in die Garage. Das Auto können Sie nicht übersehen.“

Zehn Minuten, das geht noch, denkt er und so ist das Erste, was Fritz Hämmerle nach seiner verunglückten Entschuldigungsserenade bereits in der Tür stehend über die Lippen bringt: „Wieso hört man in dieser Etage so selten Dienstgrade und warum sagen alle Frau Micha zu Ihnen?“ Dabei schaut er demonstrativ auf das Türschild. Sie lächelt, bemerkt er. Freut sie sich - weil ihr Patient endlich wieder den Mund aufmacht oder über die Frage selbst?

„Das war er“, sagt sie belustigt und blickt ihrerseits demonstrativ Richtung Chefbüro: Alexander Dietrich, Leiter der K30. Er habe in einer Konferenz gesagt, dass er mit diesen Dienstgraden zu viel reden müsse und es auch nicht nötig sei, dauernd an seinen Dienstgrad erinnert zu werden und damit an die Besoldungsgruppe. Er habe sogar abstimmen lassen. Zuerst habe er nach den Enthaltungen gefragt – es seien viele Hände hochgegangen –, dann nach den Gegenstimmen – keine Hände. Bei der Frage, wer dafür sei, habe nur er die Hand gehoben und dann gesagt: „Also gut, einstimmig angenommen.“

„Elke von der Drofa hat zuerst losgeprustet, so heiter war es seitdem in keiner Sitzung mehr. Ja, und mit meinem Namen hat er ein paar Wochen später angefangen, einfach so, und jetzt ist es, wie es ist. Aber jetzt gehen Sie, sonst bleiben Sie bereits im Haus wieder stecken.“

Auf dem Flur denkt er: ‚Jetzt ist es, wie es ist‘ - scheint ihr aber zu gefallen.

Bartel lenkt den Transporter flott aus der Garage die Auffahrt hinauf auf den Innenring, die Straße im Inneren des riesigen Häusergevierts. Die nächste Einfahrt ist die zur Pathologie. Fritz Hämmerle fragt, wohin es geht. Bartel fällt ihm mürrisch ins Wort, er wisse nur Straße und Hausnummer.

Sie schweigen, bis sie vor dem Absperrband halten. Wieder steigt dieses beklemmende Gefühl in ihm auf. Immerhin hat er sich so weit im Griff, sich nicht in die längliche Edelstahlbüchse hinten im Transporter zu wünschen, atmet durch und steigt über die Absperrung. Er zeigt zum ersten Mal seinen Dienstausweis und sagt zum Uniformierten an der Eingangstür: „Hauptkommissar Schäffer.“

„Treppe hoch rechts“, antwortet der Kollege, tritt zur Seite und weist ihn nach oben.

Das wäre wohl auch gegangen, wenn er ihm seinen Führerschein unter die Nase gehalten hätte.

Welche Treppe?, fragt er sich. Er steht an der rechten Ecke eines alten, vierstöckigen Wohnhauses und sieht die fensterlose Giebelwand hinauf. An dieser Wand ist ein Anbau, etwas zurückgesetzt, mit einem Spitzdach. Er hat drei große Tore - vielleicht für LKWs. Zwischen dem ersten Tor und der Giebelwand steht eine nicht allzu breite Tür offen und dort drin, halb im Dunkel, sieht er die Treppe. Und wenn der Kollege sagt, oben rechts, muss es also in dieses fensterlose, spitze Dach über den drei Toren gehen.

Die eher dämmrige, rötliche Beleuchtung und die Bilder in diesem Treppenaufgang deuten auf den Zugang zu den Geschäftsräumen eines eher leichteren Gewerbes hin und als er vor der einzigen Tür oben rechts ankommt, liest er neben einem Klingelknopf: Rita, und neben einem zweiten: Kitty. Hinter dieser Tür trifft er jetzt gleich seinen Chef und hofft inständig, dass alle sehr beschäftigt sind und von ihm keine ausgedehnten Erklärungen erwarten.

Die Tür ist angelehnt. Er klopft zaghaft - nichts. Langsam drückt er die Tür auf und tritt in einen Vorraum mit niedrigen, runden Tischen, Sesseln, einer kleinen Bar, zwei Stativen mit Scheinwerfern und einem Aluminiumkoffer. Links gegenüber sieht er einen Gang. Der Fransenvorhang ist zur Seite gebunden. Die Türen auf der linken Seite in diesem Flur sind offen und aus der zweiten dringt grelles Licht.

Bisher hat ihn keiner bemerkt und er zögert, ehe er langsam weitergeht. Er verharrt an der ersten Tür, die zu einer ziemlich geräumigen Küche mit einer offenen Tür zum rechten Nebenraum führt. Von dort fällt das gleiche grelle Licht auf die Küchenzeile gegenüber. Die Küche hat eine Dachgaube, vor der ein gedeckter Tisch mit zwei gepolsterten Stühlen steht. Er geht zur zweiten Tür und sieht, als seine Augen sich auf das grelle Licht eingestellt haben, das Opfer. Es liegt auf einem Bett ähnlich dem in seinem eigenen Schlafzimmer, welches den Winters früher gehörte, nur sind die Metallstäbe trist gerade und keineswegs schief und das niedrige Fußteil dient nur dazu, die dicke Matratze zu halten. Die junge Frau ist mit einem Laken zugedeckt. Die Füße ragen rechts und links an den Ecken des Lakens heraus und sind mit Handschellen an dem kurzen Gitter angekettet, ebenso wie die Arme rechts und links am Kopfteil. Um den Hals liegt ein mit silberglänzenden Noppen besetzter Riemen, der im mittleren Stab eingehängt ist. Die Augen sind weit offen und trotz der Starre noch voller Schrecken. Langes blondes Haar wallt nach allen Seiten über das Kopfkissen. Der Kollege im weißen Overall sieht ihn kurz wortlos an und beginnt, die erste der Handschellen zu lösen.

„Guten Tag, Herr Hämmerle.“ Er erschrickt, es ist Hauptkommissar Schäffer, der ihn von hinten anspricht. „Kommen Sie, wir gehen nach vorn.“

Im Vorraum deutet er wortlos auf einen der Sessel. Er setzt sich schräg gegenüber und kommt wider Erwarten umgehend zum Fall:

Die Tote sei Rita Kämpf, sechsundzwanzig Jahre, seit mehr als fünf Jahren an dieser Adresse gemeldet. Die Reinigungskraft, eine Vietnamesin, neunundfünfzig Jahre alt, habe sie kurz nach sieben Uhr gefunden. Der Notruf sei um sieben Uhr elf eingegangen. Die Aussage der Frau sei aufgenommen worden.

Er stellt das Aufnahmegerät auf den Tisch. Das Protokoll sei seine Sache, inklusive Unterschrift. Er legt einen Zettel dazu, auf dem sie ihren Namen, Adresse und Telefonnummer aufgeschrieben hat. Die Angaben seien mit ihrem Personalausweis abgeglichen. Von ihr wüssten sie auch, dass Rita Kämpfs Kollegin Kitty, eine Ungarin, für einige Tage nach Hause gefahren sei, weil ihre Mutter krank sei. Kitty sei seit vierzehn Monaten ebenfalls hier gemeldet. Rita Kämpf habe möglicherweise seit zwei Tagen allein in diesen Räumen gearbeitet. Der Fotograf sei bereits wieder abgefahren, der Pathologe inzwischen auch. Er vermute den Todeszeitpunkt zwischen fünf und sechs Uhr. Sie sei wohl erstickt durch den Halsriemen. Verbindliches gäbe es nach der Obduktion. Die Spurensicherung arbeite noch. Herrn Haberland habe er ja eben gesehen, zwei weitere Kollegen untersuchten die hinteren Räume.

„Herr Hämmerle, ich muss wieder in die Bergerstraße. Die Spurensicherung hat noch eine Stunde zu tun, bleiben Sie solange. Lassen Sie auch die untere Tür versiegeln. Fragen Sie die Hausbewohner nebenan, wer die Garagen unter uns nutzt, parkende Autos … Sie wissen, was zu tun ist.“ Er schreibt eine Telefonnummer auf einen Bierdeckel. „Wenn Sie fertig sind“, sagt er, „rufen Sie hier an. Der Kollege schickt Ihnen einen Streifenwagen. Noch Fragen?“

Er hat keine Fragen und dann ist Schäffer auch schon weg – müde sieht er aus.

Fritz Hämmerle sitzt in sich zusammengesunken in seinem Sessel und fragt sich, ob er für diesen Job überhaupt geeignet ist. Der Anblick der Toten hat ihn sehr getroffen. Im Studium haben sie unzählige Fälle analysiert, sich viele Bilder angeschaut und selbst in der Pathologie hatte er keine Probleme. Aber jetzt schwankt der Boden unter seinen Füßen.

Schließlich steht er auf und geht zurück. Die Scheinwerfer sind aus und Herr Haberland packt eben die Plastiktüten mit den Handschellen in einen Koffer. Rita liegt auf dem Bett, das weiße Tuch reicht ihr über die Schultern, die Hände sind auf dem Tuch zusammengelegt, die Augen geschlossen, das blonde Haar ruht auf dem weißen Kissen.

„Fritz Hämmerle, wenn ich richtig gehört habe?“, beginnt Maik Haberland.

„Ja.“ Mehr kann er nicht sagen.

„Kommen Sie rein. Wir sind hier fertig.“ Und weil Fritz Hämmerle die Augen offenbar nicht von der Toten abwenden kann, spricht er weiter: „Ich war wütend auf den, der sie so zur Schau gestellt hat, darum hab ich sie so hingelegt. Mit Wut im Bauch macht man Fehler.“

Er kann darauf nichts erwidern, hält inne, weil ihn so viel ungewöhnlich persönliche Offenheit erstaunt. Er gewinnt neuen Halt, weil er fühlt, nicht mehr allein zu sein.

Maik Haberland hält den Beutel mit diesem Gürtel, den sie um den Hals hatte, noch in den Händen und sieht ihn fragend an. Er will mehr wissen und geht zu ihm. Der Riemen ist aus schwarzem Leder, knapp drei Zentimeter breit.

Dann zeigt er ihm diese silbernen Noppen. „Sehen Sie sich das an“, sagt er. „Die sind wie zwei Zentimeter flach und gerade ansteigende spitze Hakennasen. Und hier die Schnalle dazu, es ist ja eigentlich keine Schnalle, die Nadel fehlt. Der Riemen hat auch keine Löcher, sondern nur diese Noppen. Um den dünnen runden Steg der Schnalle ist eine dünne Hülse, die sich leicht drehen kann. Die Gürtel in früheren Zeiten hatten öfter so ein Röllchen.“ Er führt es ihm vor, fädelt den Riemen in die Schnalle, rollt die Schnalle so eine Hakennasennoppe hoch und dann rastet sie ein.

„Sehen sie sich das an, das Röllchen kann nicht wieder zurück. Der Riemen liegt um den Hals, jetzt wird gezogen, das kleine Röllchen rastet hinter der Noppe ein und kann von allein nicht wieder zurück. Dann die nächste Schräge, und schnapp. Es sind zwei Hände nötig, um das wieder zu lösen, besonders wenn der Riemen richtig straff sitzt. Ihre Hände waren aber mit den Handschellen gefesselt und der Freier hatte kein Interesse, den Riemen wieder zu lösen. Ob dieser Riemen hier im Schrank war? Zweifelhaft. Den wird es sehr wahrscheinlich auch kein zweites Mal geben.“

„Hat er den mitgebracht?“

„Vielleicht“, Maik Haberland blickt plötzlich zum Bett. „Der Riemen war angehängt. Falls sie in Panik geraten ist und sich abrupt bewegt hat, könnte sie sich den Riemen auch selbst enger gezogen haben. Vielleicht war der Freier schon gar nicht mehr da.“

„Was gibt es von diesem Freier?“

„Fingerabdrücke. Die Reinigungskraft hat tags zuvor alles gründlich gesäubert, nirgends Staub. Und seine DNA war im Mülleimer.“ Den Riemen verstaut er sorgfältig. „Jetzt noch die Küche.“

ˆˆˆˆˆˆˆ

„Wir sind alle beieinander.“ Nach der langen Stille erschreckten alle und schauten zu Maik. „Ein schwarzer SUV folgt uns, wird der Doc sein. Die nächste Ausfahrt müssen wir raus.“

Sie hielten auf die Kette der Berge zu, dunkelgrüne Nadelwälder, durchzogen von den rostroten Strähnen der Buchen. Dort oben verborgen lag Eschenweiler. Noch fuhren sie eben dahin, vorbei an abgeernteten Maisfeldern, gelben Stoppelfeldern und frisch gepflügten braunen Flächen. Grüne Weiden mit grasenden Kühen folgten, dann ein Hof. Es wurde zusehends hügelig und unversehens verschluckte sie der Wald. Die Straße folgte dem Fluss bis zu einer Spitzkehre, die sie den Hang hinauftrieb, gefolgt von weiteren Kehren bis ganz nach oben, wo der Wald aufhörte und in einer weitgezogenen Senke Eschenweiler unter ihnen lag. Dicke Wolken eilten dahin. Die Sonne fand gelegentlich eine Lücke und der Lichtfleck huschte über die Dächer und die Berghänge. Dort irgendwo war der Steinbruch. Maik fuhr zielsicher zur Polizeistation. Er war wohl auch nicht das erste Mal hier.

Anja Wegmüller lief ihnen eilig entgegen ans offene Fenster. „Hallo. Wachtmeister Süß ist ihr Lotse.“

Er kam hinter ihr her, musterte die Autos und knurrte: „Damit kommen wir hoch. Wo soll ich einsteigen?“

Fritz Hämmerle machte den Beifahrersitz frei und setzte sich nach hinten. Der etwas korpulente Wachtmeister stieg ein und sagte, während er den Gurt über seinen Bauch zog: „Links, dann über die Hauptstraße bis zum Sägewerk.“

Wenig später ging es an den Holzlagerplätzen des Sägewerkes vorbei.

„Jetzt wieder links“, führte er sie durch Eschenweiler und sagte nebenbei: „Hier im Umkreis wird niemand vermisst und auch die umliegenden Hotels und Pensionen haben wir heute Morgen bis auf zwei erreicht. Es gibt keine Gäste, die, ohne sich abzumelden, weggeblieben sind. Wir wissen auch nichts über fremde Autos, die schon länger abgestellt sind.“

Sie fuhren unterhalb der Hangsiedlung entlang, danach zwischen Viehweiden hindurch und dann einen Abzweig rechts hinauf. Die Böschungen an der schmalen Straße wurden zusehends höher und steiler, auch als sie wieder im Wald waren. Später hielten sie am Straßenrand hinter Pipers Dienstwagen.

Wachtmeister Süß meinte, der schwierigste Teil seien die ersten fünfzig Meter, die würde er den Fahrern vorher lieber zeigen.

Dr. Friedrich schälte sich aus seinem SUV. Er war ein großer Mann, der selbst bei diesem Auto den Kopf einziehen musste.

Wachtmeister Süß ging zu ihm und wiederholte anscheinend seine Rede von eben. Beide gingen um das Auto herum und tauchten unter den ausladenden Ästen einer großen Buche hindurch. Sie kamen kurz darauf zurück und der Doc stieg mit besorgtem Blick ein und parkte um. Die Auffahrt verbarg sich genau dort, wo er gehalten hatte.

Er kam zurück und fragte den Wachtmeister: „Ist das die einzige Zufahrt?“

„Nach der nächsten Kurve ist ein ausladender Platz, dort sind die Ruinen der ehemaligen Verladeeinrichtung. Die Steine wurden in Loren vom Steinbruch heruntergefahren, es gab eine Seilbahn mit Gleisen. Die vollen Loren zogen die leeren wieder nach oben. Die Anlage wurde nach der Stilllegung abgebaut und die gesamte Trasse ist über die Jahrzehnte vollständig zugewachsen. Im Stadtarchiv hängen einige alte Bilder. Es gibt nur noch diesen Weg.“

Während seiner Rede standen schließlich alle bei ihm und hörten zu. Maik Haberland sagte mehr zu sich selbst: „Dann schauen wir uns den mal an.“

Bald darauf sah Pipers Mann, der bei den Fahrzeugen blieb, niemanden mehr. Der Trupp ging die ersten steilen Meter hinauf. Laub war dick gefallen und in der ersten Kurve endete eine vom Wasser gegrabene Rinne, die sich inmitten des Weges in leichten Mäandern herabwand bis in diese Kurve, hier den Weg verlies und in einen Graben mündete.

Maik Haberland blieb stehen, zog die Stirn kraus, blickte den Weg hinauf, dann nach unten, und wieder hinauf, den Fahrspuren vom Auto des Försters folgend. Er wusste, wie er fahren musste, und stieg mit den anderen weiter. Offenbar hatte es kürzlich geregnet, denn fast alles Laub war es aus der Rinne gespült worden. Jetzt war sie trocken. Stellenweise sahen sie die Autospur vom Förster, durch deren Mitte die Rinne verlief.

Als die Steigung deutlich geringer wurde, sagte Wachtmeister Süß, es seien von dort noch ungefähr sechshundert Meter bis zum Bruch.

„In Ihrem Auto ist doch noch ein Platz frei?“, fragte der Doc Maik Haberland. „Ich würde das hier doch lieber lassen.“

„Okay“, sagte Maik. „Steigt ihr hier ein, ich gehe runter und hole das Auto.“

„Bringen Sie doch bitte die Tasche aus meinem Kofferraum mit“, rief der Doc Maik Haberland nach, der bereits auf dem Weg war.

Unten in der Kurve blieb er stehen, dort, wo die ausgewaschene Rinne nach links die Fahrspur zerschnitt, fand eine Steinplatte, die er an dieser Stelle in die Rinne versenkte, und verschwand.

Der dichte Wald hörte auf, als sie die Sohle des alten Steinbruchs erreichten. Sie hielten auf den Jeep des Försters zu und stellten das Auto daneben. Schließlich waren alle miteinander bekannt und Herr Wagner, der Förster erzählte, gegen halb sieben sei er hier hochgefahren, sein Hund sei in die Felsblöcke gesprungen und habe Laut gegeben. Er sei ihm nachgeklettert und habe den Hund, als er den Arm gesehen habe, sofort zu sich gerufen und sei nach unten gefahren fast bis zur Straße, wo das Handy wieder Empfang habe.

„Sind Sie oft hier?“, fragte Fritz Hämmerle.

„Der Steinbruch liegt in meinem Revier, ich komme aber nur einmal im Jahr hier hoch, immer um diese Zeit, und das auch nur, weil mein Vorgänger in der Brunstzeit hier ein verendetes Reh gefunden hat, abgestürzt. Ist aber nie wieder was passiert. Wild gibt es hier nicht, nur einige Vögel nisten in den Felswänden.“

„Man kann bis auf wenige Meter an die Fundstelle heranfahren“, sagte Piper eher ungeduldig.

Bis auf den Fotografen und Herrn Wagner gingen alle zur Fundstelle. Maik blieb erst zurück und sagte leise zu Rafi: „Bitte wieder einige extra.“ Als er schon wieder am Gehen war, rief er lauter: „Kommt dann mit dem Transporter nach.“

Der Förster hatte es dennoch gehört und fragte ungläubig ebenso leise: „Extra?“

„Aufnahmen, die nicht unbedingt in die Akte müssen“, erklärte Rafi locker und zog eine Kamera aus seiner Tasche. „Die beiden Kollegen brauchen sie manchmal.“

Er begann zu fotografieren: ein Bild vom Eingang in den Steinbruch, dann die Felswände zu beiden Seiten, eins in den Bruch hinein. „Der Fund macht Ihnen zu schaffen, nicht wahr?“

„Mein Hund entdeckt da hinten diesen Mann und …“ Der Förster stutzte. „Wieso sage ich Mann? Vielleicht ist’s ja auch eine Frau.“

Was sollte Rafi dazu sagen?

Inzwischen liefen die sechs durch die breite Schlucht, die vor langer Zeit nach und nach in den Berghang gesprengt worden war. Rechts standen ausgewachsene Salweiden, die im Geröll siedelten, und dicht hinter ihren kahlen Zweigen ragte die Wand weit hinauf senkrecht empor. Die Schatten der auf Mittag zugehenden Sonne lagen darauf und leckten bereits an ihren Füßen. Der Hirschholunder trug seine kleinen roten Beerentrauben. Die niedrige Wand gegenüber ragte kaum über das davorliegende Geröll. Dort leuchteten im Gesträuch die orangeroten Früchte der Pfaffenhütchen in der Herbstsonne.

Die Sohle des Steinbruchs führte sie jetzt näher an die hohe Wand bis dorthin, wo am Morgen der Jeep des Försters gestanden hatte. Dort lag vor der senkrechten Wand ein Wall kantiger Felsbrocken. Herr Pieper zeigte hinauf zu den großen Brocken, bei denen der Hund anschlagen hatte.

Maik Haberland und Fritz Hämmerle stiegen die wenigen Schritte nach oben und sahen in einer Kuhle mit reichlich Laub ein Stück grünen Ärmel mit einer Hand in einem Lederhandschuh. Sie hörten den Transporter starten.

„Rafi fotografiert zuerst“, sagte Maik.

Dr. Friedrich war ihnen nachgegangen und stand bei ihnen. „Herr Haberland, wir machen das zusammen.“

Maik sah die Wand empor zu den Ästen, die über die Felskante ragten. Von dort oben tanzten einige rostrote Blätter herab.

„Okay“, erwiderte Maik, „gehen wir zum Auto, der Fotograf schickt uns sowieso gleich hier weg. Overalls, Handschuhe, Masken. Wohin mit dem Laub? Vielleicht in Säcke? Dann sehen wir weiter.“

Fritz Hämmerle redete mit Piper, sie wollten den Förster wieder fahren lassen.

Dr. Friedrich hängte sich seine große, wohl recht schwere Tasche über die Schulter und Maik trug einen Behälter mit allem, was sie brauchten. Die beiden weiß gekleideten Männer stiegen hinter den großen Stein.

Piper zog seine Zigaretten aus der Tasche und ging mit Wachtmeister Süß in den hinteren Teil des Bruchs. Fritz Hämmerle blieb im Umkreis der Fundstelle und kletterte zwischen den Felsbrocken umher. Er hörte das Rascheln der Plastiksäcke, in die das Laub gefüllt wurde, und konnte gelegentlich verstehen, was die beiden redeten. „Drei bis vier Wochen“, meinte der Doc, „eher vier. Es ist erst seit zwei Tagen wieder wärmer, davor war es lange ausgesprochen kühl.“

Hämmerle entdeckte die Ecke eines Holzwürfels und schob etwas Laub beiseite. Es war die Ecke eines Spankorbes aus richtigem Holz. Aus dem Gartenschuppen seines Großvaters kannte er solche, innen mit reichlich Erdbeerflecken. Damals hatte er beim Ausräumen geholfen, nachdem sein Opa gestorben war.

Fritz Hämmerle ließ den Korb im Laub stecken. Das ist Maiks Arbeit, sagte er sich, und kletterte weiter. Manchmal schien er auf dürre Äste zu treten, die sich unter dem Laub versteckten und mit dumpfem Knacken zerbrachen. Er war in der Nähe der weißen Overalls und wollte sehen, wie weit die beiden waren. Er stieg durch die Felsbrocken und blieb zuletzt noch an einem verzweigten Ast hängen, den er schon ungehalten aus dem Laub ziehen und beiseite werfen wollte. Er hatte dessen Ende, oder auch seinen Anfang, der so dick war wie sein kleiner Finger, schon in der Hand und stutzte.

Der Ast war nicht morsch und auch nicht irgendwie glatt abgebrochen. Es war ein Ast, der von einem lebendigen Baum abgerissen worden war mit einem Fähnchen aus Holz und Rinde. Der Abriss war ergraut, ganz frisch war er also nicht mehr. Er ließ ihn wieder los und wollte auch das lieber Maik zeigen, der gleich hinter dem nächsten Felsbrocken mit dem Doc arbeitete.

Maik tauchte zwischen den Felsblöcken auf und rief nach Rafi, der im Auto saß und eben die Aufnahmen auf seinen Laptop übertragen hatte. Dann sah er sich nach Fritz um, der ihn fragte, ob er einen Moment Zeit hätte. Maik wäre Rafi im Moment eh nur im Weg und stieg zu ihm. Fritz zeigte ihm den Zweig und sagte: „Sieht aus wie abgerissen, aber wie ist der hierhergekommen?“

Maik begann, das Laub beiseitezuräumen. „Den ziehen wir nicht einfach so aus den Blättern, hilf mir mal mit dem Laub.“

Maik hob schließlich den Ast heraus und als er die letzten festklebenden Blätter abgezupft hatte, sah er sich um und sagte: „Salweide ist es nicht, Hirschholunder schon gar nicht.“ Dann schaute er die Wand nach oben. „Könnte von einer Buche sein. Die scheinen da oben zu wachsen. Hier unten im Bruch sind keine.“

Fritz Hämmerle sagte nichts dazu.

Maik griff unter seinen Overall und kramte etwas hervor, das sich nach dem Aufklappen als Lupe entpuppte. Er sah sich damit am Zweig eine Stelle an: „Fritz, sieh dir das an und sag mir, was das ist.“ Er gab ihm die Lupe und hielt ihm die Stelle vor die Nase.

„Wenn ich sehe, was du siehst, dann ist es ein Stück abgerissenes Leder oder etwas Ähnliches.“

„Sieht so aus“, sagte Maik. „Dann muss der Ast ins Labor, aber wie machen wir das? In den großen Säcken ist Laub.“

„Frag den Doc. Vielleicht hat der was.“

„Frag du ihn“, bat Maik.

Er stieg durch die Felsbrocken hinab zu Dr. Friedrich und kam mit einer Folie zurück. Maik wollte Fotos von dem Ast und der Stelle, wo er gelegen hatte, und sagte es Rafi, der wohl an der Fundstelle eben fertig geworden war.

Fritz Hämmerle wartete, bis die Fotos gemacht waren, und gab Maik die Folie. Der schlug den Zweig ein und brachte ihn zum Auto.

Der Doc und Piper trugen die Mulde mit Haube an die Fundstelle. Fritz Hämmerle stand neben dem Toten und sah zwischen den braunschwarzen Flecken der Blätter, die sich beim Verwesen auf dem Gewebe der Kleidung gebildet hatten, einen grünen Stoff, Jacke und Hose. Die Fersen der knöchelhohen Schuhe ragten nach oben, der Kopf war bedeckt von vielen Laubresten.

Ein metallener Aufschlag hinter ihm ließ Hämmerle zusammenzucken. „Mann, müsst ihr mich so erschrecken?!“

Piper und der Doc waren ins Straucheln geraten und hatten unsanft die Leichenmulde auf den Steinen abgesetzt.

Der Doc hockte sich neben die Leiche und sagte: „Der Anzug ist aus Kunstfaser und deshalb nicht verrottet. Ist nicht kompliziert. Herr Haberland und ich bringen das zu Ende.“

Fritz Hämmerle ließ die beiden arbeiten und stieg zum Auto hinunter.

Wachtmeister Süß hatte ihm vom hinteren Teil des Bruchs nichts zu berichten.

„Wieso liegen hier diese großen Steine“, fragte er ihn, „und nach hinten raus diese Massen, die die gesamte Sole zugeschüttet haben?“

„Sehen Sie die Bohrlöcher?“, antwortete der Wachtmeister und deutete auf die Wand. „Jeden halben Meter eins, von oben bis unten durchgehend. Die haben damals die gesamte Wand vorbereitet, mehr als fünf Meter dick, dreißig Meter hoch und mit einer einzigen Sprengung die gesamte Länge runtergeholt. Das war Arbeit für ein Jahr. Vor der Stilllegung haben sie die großen Steine nicht mehr verarbeitet und hier abgelagert und nach hinten raus liegt noch alles wie nach dem Sprengen.“

Die beiden an der Fundstelle waren fertig und trugen ihre Taschen zum Auto. Maik holte mit Pipers Mann die verschlossene Mulde und sie schoben sie in den Allrad. Dann standen alle im Kreis. Fritz Hämmerle sah zu Dr. Friedrich, der neben ihm stand, seinen Blick erwiderte und sagte: „Der Tote muss umgehend in die Kühlung.“

„Also sollten wir gleich fahren“, stellte Fritz Hämmerle fest.

„Ja.“

„Was haben wir noch zu tun?“, fuhr er fort und blickte in die Runde. „Der Zweig war gleich links oberhalb vom Fundort und rechts steckt noch der Korb im Laub.“

„Welcher Korb?“, fragte Maik erstaunt.

„Ein Spankorb“, erklärte er und wies in die Richtung. „Guckt dort oben mit einer Ecke aus den Blättern.“

„Den sollten wir uns noch ansehen, mehr Zeit bleibt uns sowieso nicht. In der Dämmerung können wir nicht weitermachen, wir müssen morgen noch mal her.“ Zum Doc gewandt sagte Maik: „Es dauert vielleicht eine Viertelstunde bis zwanzig Minuten. Haben wir die noch?“

„Ja, schon, wenn’s nicht mehr wird. Dann lauf ich schon mal zu meinem Auto und fahre los.“

„Wenn wir morgen weitermachen, müssen wir dann sichern?“, fragte Fritz Hämmerle Herrn Piper.

„Wird nicht nötig sein, wäre auch sehr aufwendig. Bis jetzt hat die Presse keinen Wind bekommen. Ich hoffe jedenfalls, dass sie nicht schon unten steht. Also keine Informationen nach draußen, bis Sie hier fertig sind.“

„In der linken Hosentasche war eine einfache Geldbörse“, sagte Maik, „nur für Kleingeld und Scheine, mehr als zweihundert Euro, sonst nichts, kein Ausweis oder irgendwas anderes.“

Fritz Hämmerle wandte sich an Piper: „Wenn Ihre Frau Wegmüller nichts gefunden hat, haben wir nicht den geringsten Anhaltspunkt, wer der Tote ist.“

Piper zuckte nur mit den Schultern und da keiner mehr etwas sagen wollte, beschloss er: „Also geht es morgen weiter, wie besprochen.“

„Erst den Korb“, sagte Maik und wandte sich an Rafi: „Du kommst am besten gleich mit.“

Dieser fotografierte die herausschauende Ecke des Korbes, dann machte er Bilder von der Position. Maik legte den Korb frei und es war bereits so düster, dass Rafi den Blitz verwendete.

Sie bemerkten beim Herausnehmen des Korbes einen fast verrotteten Pilz, der an den Holzspänen klebte. Maik hielt ihn Rafi passend vors Objektiv und steckte den Korb in den Beutel.

Maik fuhr seinen Transporter vom Steinbruch zur Straße. Fritz Hämmerle wäre lieber dort ausgestiegen, wo sie zuvor eingestiegen waren, und das letzte Stück gelaufen. Er stemmte seine Füße gegen das Bodenblech und fasste nach dem Griff über der Tür.

Unten angekommen stöhnte er vor Erleichterung leise auf. Auf Maiks amüsierten Blick reagierte er nicht und sagte zu Piper, bevor der zu seinen Leuten ins eigene Auto stieg: „Wir melden uns morgen Vormittag, wenn wir im Präsidium abfahren.“

Niemand redete im Auto. Rafi saß hinten, seinen Laptop auf den Knien und arbeitete an seinen Aufnahmen. Maik fuhr, wohl erschöpft nach vorn gebeugt, mit den Unterarmen auf dem Lenkrad.

Es gibt auch nichts zu reden, sann Fritz Hämmerle vor sich hin. Der dort hinten in der Edelstahlbüchse verrät uns nichts, hatte nicht mal ’ne Brieftasche einstecken, aber die kann ihm auch aus der Tasche gefallen sein, als er abgestürzt ist. Sieht ja ganz aus nach Tod beim Pilzesuchen, wie vor 35 Jahren. Eine Brieftasche zwischen den Steinen und unter dem Laub ist wie eine Nadel im Heuhaufen zu suchen. Sollten wir gleich Leute mitnehmen, die die Unmengen Laub wegräumen? Nein, das lassen wir tunlichst, vorerst. Morgen früh also als Erstes in die Pathologie und dann müssen wir hoch auf die Steilwand.

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Maik Haberland löscht die Scheinwerfer und verharrt in der Küchentür. Das kleine Fenster der Dachgaube lässt wenig Tageslicht herein. Er drückt die Schalter neben der Tür für die Hängelampe über dem Tisch und die Deckenleuchte. Das ist ihm hell genug.

Die Küche ist neu und weinrot, die Arbeitsplatte eine Kugelgranitimitation, ein hoher Schrank neben der Tür zum Flur mit Kühlschrank, dann Edelstahlbecken, Spülmaschine, Herd mit Dunstabzugshaube, auch in Edelstahl. Keine Hängeschränke. Die Kaffeemaschine am Ende der Arbeitsplatte sieht richtig teuer aus. Maik Haberland öffnet den Kühlschrank: das typische Geräusch klappernder Flaschen in den Türfächern, Bier, Wodka, Mineralwasser, ein Wein, halb leer, mit flüchtig aufgestecktem Korken. Er nimmt die Flasche heraus und liest das Etikett gerade so laut, dass Fritz Hämmerle es hört, der in der Tür stehen geblieben ist und zusieht, eher aber im Nacken die Frau spürt, die noch hinter ihm liegt.

„Ungarisch“, sagt Herr Haberland und stellt sie zurück. Dann öffnet er alle Schränke und Schubladen, schaut in den Abfallbehälter und meint: „Keine leeren Flaschen, keine benutzten Gläser. Viel Alkohol scheint nicht im Spiel gewesen zu sein, eher Mineralwasser und Kaffee.“

Sie hören Schritte im Flur. Seine beiden Kollegen sind an der Tür. „Wir sind fertig“, sagt der eine und Maik Haberland antwortet: „Gut, dann packt ein, geht aber erst runter – Bartel sitzt noch hinter seinem Lenkrad – und bringt Rita zum Auto. Bartel soll dann gleich fahren.“

Die beiden gehen zum Treppenhaus und Maik Haberland zurück in den Nebenraum. Das Licht aus der Küche fällt scheu auf die tote Frau. Er geht zu ihr, fasst dann das Laken und deckt sie ganz zu.

Er kommt wieder in die Küche und schließt die Tür hinter sich. Dann steht er vor dem Tisch am Fenster und sagt: „Eine Kaffeetischromanze: rosa Tischdecke, an jedem Platz eine große Blümchentasse, Blümchen auf der Untertasse, Frühstücksbrettchen aus Teakholz, passendes Schneidbrett mit dem Rest von einem Baguette, Kaffeesahne, Butterglocke, ein Glas Erdbeermarmelade. Einer von beiden war nicht hungrig, das Messer ist unbenutzt, keine Brösel. Der andere scheinbar sehr, sogar auch auf dem Fußboden unter seinem Platz sind Brösel.“

„Wenn das der Rest von einem ganzen Baguette ist, war’s ein üppiges Frühstück für eine Person.“

„Durch die Fingerabdrücke wissen wir, wer von beiden gegessen hat, und der Pathologe wird es uns auch sagen.“ Er schaut in die Tassen. „Der Kaffeerest in der Tasse am Platz ohne Brösel ist vollständig eingetrocknet, der in der anderen nicht. Bald gibt es keinen Unterschied mehr. Wir fotografieren das besser.“

Er läuft in den Flur, die Verschlüsse des Alukoffers klicken. Dann kommt er zurück und fotografiert ausgiebig.

„Und wie ist das hier abgelaufen?“

Maik Haberland stöhnt und antwortet schließlich, ohne vom Tisch aufzuschauen: „Aus der einen Tasse wurde zuletzt etliche Zeit vorher getrunken und aus der anderen vielleicht zu der Zeit, als Rita nebenan langsam starb. Aber wie kann man da sicher sein? Das wird nie als Beweis taugen.“

„Haben wir bis jetzt überhaupt was? War es Mord oder nicht?“

Maik Haberland scheint nichts sagen zu wollen. „Ist das jetzt Ihr Fall, Herr Hämmerle?“

„Wäre ein bisschen viel für den ersten Arbeitstag. Ich soll im Umfeld noch recherchieren, hat der Chef gesagt, und das Protokoll mit der Reinigungskraft anfertigen.“

Maik Haberland sagt auch dazu nichts und geht seinen Leuten entgegen, die mühsam versuchen, die Mulde vom engen Treppenhaus hereinzubekommen.

„Ich schau mir noch die hinteren Räume an“, sagt Fritz Hämmerle. „Was ist da eigentlich?“

„Rechts sind nur fensterlose Speicher unter den Dachschrägen, links sind ein weiterer Arbeitsraum und noch zwei Zimmer, die Wohnräume der beiden.“

Fritz Hämmerle geht in das nächste Zimmer.

ˆˆˆˆˆˆˆ

„Hallo, Fritz! Schläfst du wieder mit offenen Augen wie ein Karnickel? Also echt!“

„Waas?“

„Dein Handy vibriert, hast es in der Ablage liegen lassen.“

„Ach so.“ Er sah auf sein Telefon. „Ist Dr. Friedrich. Ich stelle laut, wenn ihr wollt.“ Er nahm ab. „Hämmerle hier.“

„Wie lange fahren sie noch?“, hörten sie den Pathologen.

„Zwanzig Minuten, wenn’s auf dem Zubringer nicht staut“, sagte Maik.

„Herr Haberland, kommen Sie dann kurz zu mir wegen der Kleidung?“

„Okay.“

Fritz Hämmerle steckte das Handy wieder ein. Er hatte Maik nie erzählt, dass er sich an seine erste Zeit in der K30 wie an einen Film erinnern konnte. Nur Lilly gegenüber hatte er einmal damit angefangen, das war schon länger her, aber die hatte wohl gerade nicht zugehört. In dieser heftigen ersten Zeit bei der K30 hatte er sich als psychologisches Weichei entpuppt, nahezu untauglich für diesen Beruf. Gerade in diesem Moment damals, als Maik und seine Leute dabei gewesen waren, in der Hangstraße zusammenzupacken, und er sich vorgestellt hatte, wie die Eingangstür versiegelt würde, sie alle wegführen und er allein mit einer Telefonnummer auf einem Bierdeckel, einem Diktiergerät und einem Zettel in der einen Jackentasche und einem Notizbuch in der anderen vor dieser Tür stehen würde, hatte es ihm die Eingeweide wieder zusammengezogen. Und dieses Gefühl hatte an diesem ersten Arbeitstag schon oft - viel zu oft – gehabt. Er hatte sich damals die Zimmer hinten im Gang gar nicht mehr angesehen. Er war in das erste hineingegangen, hatte sich in den Sessel fallen lassen und versucht, den Nebel aus seinem Schädel zu vertreiben.

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„Herr Hämmerle, wollen Sie die Siegel hierbehalten?“, ruft Maik Haberland in den Flur und holt ihn aus seinem Trübsinn.

„Ich komme“, ruft er zurück und quält sich aus seinem Sessel. Wo soll er die Siegel auch hinpacken?

Sie machen dicht, steigen ein und fahren alle weg.

Er steht verlassen auf der Straße und starrt die Tür an. Nach einer Weile wandert sein Blick an der Fassade des Wohnhauses nach oben: An zwei Fenstern bewegen sich die Gardinen.

Das Haus mit seinen vier Etagen ist alt, hat hohe, nicht allzu breite Fenster mit Steingewänden und Schlussstein. Das Parterre hat halbmondförmige Oberlichter. Es gibt keinen Ausgang auf diese recht schmale Nebenstraße. Es führt auch kein Fußweg am Haus entlang, nur auf der anderen Seite der Straße vor einer mannshohen Natursteinmauer, die dem steilen Hang Halt gibt. Dort wächst hohes Gebüsch, über das weiter oben eine Reihe ebenso alter Wohnhäuser ragt, deren einzige direkte Verbindung nach hier unten wohl nur eine schmale Treppe ist, die die Stützmauer durchschneidet. Diese Stufen sind wie ein Gewölbe mit hohem Gehölz überwachsen, akkurat freigeschnitten zu einem grünen Tunnel.

Auf der anderen Giebelseite des Wohnhauses kriecht ebensolches Gebüsch an der Wand hinauf. Ein Stück weiter entdeckt Fritz Hämmerle einen Trampelpfad durch das wirre Gehölz nach unten, auf dem er zur darunterliegenden Straße gelangt, vor eine weniger hohe Front ebenso alter Reihenhäuser auf der anderen Straßenseite. Er geht nach rechts und steht ein Stockwerk tiefer vor der Haustür. Sie ist in der Mitte, links neben dem Wohnhaus eine Reihe Tore für PKWs und darüber die großen verstaubten Fenster der drei LKW-Garagen. Die Gauben im Dachgeschoss über den Garagen sind von der Traufe verdeckt.

Die Haustür ist nicht abgeschlossen. Mit der Klinke in der Hand liest er in der Türleibung die zweireihigen Schilder neben den Klingelknöpfen. An den untersten beiden steht nichts, wahrscheinlich für die Fenster zu beiden Seiten der Haustür, darüber für jede der vier Etagen zwei Namen und oben noch einer, vielleicht für das Dachgeschoss des Wohnhauses. Er geht hinein, fängt im ersten Stock an und klingelt aufs Geratewohl.

Der Westminster Gong verhallt, ohne dass jemand öffnet, ebenso beim zweiten Versuch. Dann versucht er die Wohnungstür auf der rechten Seite - auch nichts. Er ist bereits an der Treppe nach oben, als sich die Tür öffnet.

„Ja, bitte?“

Klingt verschlafen, denkt Fritz Hämmerle. Er geht zurück, zieht seinen Dienstausweis und sagt: „Entschuldigen Sie die Störung. Kommissar Hämmerle, ich hätte einige Fragen.“

„Mhm, kommen Sie.“ Der Mann lässt ihn hinein, öffnet die Tür zum Wohnzimmer und sagt: „Suchen Sie sich einen Platz.“

Fritz Hämmerle sieht im Vorbeigehen im Flur eine dunkelblaue Uniform hängen mit einem Security-Aufnäher. Er geht zwischen Sitzgruppe, Schrankwand und abgestandenem Zigarettenrauch hindurch zu einem der zwei Fenster und blickt durch die vergilbten Stores auf die Häuserfront gegenüber und die unendlich lange Reihe Autos an der Bordsteinkante. Dass die Welt schon auf der anderen Seite eines Wohnhauses doch gleich so anders aussieht.

„Kaffee?“, fragt es von nebenan.

„Ja, gerne.“

Wenig später steht der Kaffee auf dem Couchtisch.

„Herr Krämer, las ich an der Tür.“

„Ja, Johannes Krämer. Stört es Sie, wenn ich rauche?“

„Nein“, lügt Fritz Hämmerle und sieht schon wieder seine Frau die Nase rümpfen, wenn er denn irgendwann nach Hause kommt.

Herr Krämer legt die Gauloises und das Feuerzeug neben die Kanne und holt zwei Tassen aus der Schrankwand.

„Sahne, Zucker?“

„Ja, beides.“

Herr Krämer sinkt mit seinem schwarzen Jogginganzug auf die Couch.

„Hab ich Sie eigentlich geweckt?“, versucht es Fritz Hämmerle ganz direkt.

„Ja, haben Sie. Ich bin beim Sicherheitsdienst, Nachtschicht, früher nannte man den Nachtwächter.“

„Entschuldigen Sie.“

„Macht nichts, Sie sind meinem Wecker eben zuvorgekommen.“ Er zündet sich eine Zigarette an, rutscht im Sessel nach vorn und gießt mit ausgestrecktem Arm Kaffee ein. Die Zigarette hängt im Mundwinkel, die Augen sind zugekniffen wegen des Rauches und er fragt nuschelnd durch den Kaffeedampf: „Weshalb sitzen Sie hier bei mir auf der Couch?“

„Kennen Sie die beiden, die über den Garagen wohnen?“

„Wie lange lebe ich jetzt hier? Fünfzehn Jahre? Vor sechs Jahren hat er das vermietet, hat nicht lange gedauert, bis ich gemerkt hab, was da los ist.“

„Hat Ihnen das vorher niemand gesagt?“

„Nö, als ich dem Vermieter das vorgehalten hab, hat er ganz schön rumgeeiert, aber ich hab’s auf sich beruhen lassen. Die Miete ist ausgesprochen günstig und hier auf dieser Seite des Hauses hat man so gut wie nichts damit zu tun. Manchmal gerät ein Neukunde in die falsche Straße und irrt verschämt hier vor der Haustür rum. Einem hab ich im Vorbeigehen gesagt: ‚Eine Straße weiter.‘ Der hat nur genickt und ist umgedreht. Was ist eigentlich los?“

„Frau Kämpf ist gestorben.“

„Ach was! Überdosis?“

„Wir haben noch so gut wie nichts und müssen wissen, wer zuletzt dort gewesen ist, parkende Autos und so. Wann sind Sie heute früh gekommen?“

„Gestern Abend gegen halb acht bin ich zur Bushaltestelle an der Hauptstraße gelaufen und bin heute früh zehn nach halb sieben auf dem gleichen Weg wiedergekommen. Wie gesagt, auf dieser Seite kriegt man von dort hinten nichts mit, das ist bei den Wohnungen mit Fenstern zur Rückseite anders.“

„Sicherlich“, antwortet Fritz Hämmerle und erinnert sich an die schwankenden Gardinen. „Wem gehört das Haus?“

„Hermann wohnt ganz oben, Hermann Wetterer.“

„Also ist Ihnen nichts aufgefallen?“

„Nein, alles wie sonst, auf dem Weg von der Bushaltestelle sind zwei Autos von gegenüber weggefahren, vielleicht waren es auch drei und Rainer ist mir auf der Treppe entgegengekommen in seiner Zimmermannskluft. Hat’s früh immer sehr eilig, zwei Stufen auf einmal, da reicht es nur für ein kurzes Hallo.“

„Wohnt er über Ihnen?“

„Nein, im Vierten, zusammen mit seiner Freundin.“

„Wie ist das mit den Wohnungen hier?“

„In jeder Etage gleich, eine kleine auf dieser Seite, wie meine, und die andere hat mehr Zimmer. Rainer hat die kleine auf dieser Seite.“

„Und nebenan? Es hat niemand geöffnet.“

„Nebenan wohnt Marcella mit ihren drei Jungs, da geht’s munter zu. Als sie hier einzogen sind, gingen die noch in den Kindergarten, jetzt sprießt dem Großen schon der Bart. Kann sein, sie kommen jeden Moment, ist so ihre Zeit, zumindest die Mutter und der Kleine.“ Er bemerkt den fragenden Blick des Kommissars. „Manchmal bin ich drüben und pass auf die Jungs auf, jetzt kaum noch, sind halt schon groß. Als sie einzogen sind, war das Kinderzimmer Wand an Wand mit meiner Wohnung und ich konnte nach der Nachtschicht nicht schlafen – unmöglich. Ich hab geklingelt. Marcella hat geöffnet und alle drei Jungs hingen an ihrer Hosennaht, Rockzipfel wäre nicht zutreffend gewesen. Als sie dann wusste, worum es ging, hat sie mich reingebeten. Also sind wir über Umzugskartons in die Küche gestiegen und haben Kaffee getrunken. Am Ende hab ich ihr geholfen, das Kinderzimmer auf die andere Seite zu räumen, jetzt ist das Treppenhaus dazwischen.“

Herr Krämer trinkt von seinem Kaffee und Fritz Hämmerle überlegt, was er eigentlich von dem gesprächigen älteren Nachtwächter noch wissen will, ohne den gemütlichen Plausch bei Kaffee und Zigarette länger auszudehnen. Hat er wirklich so wenig Interesse an dem Treiben auf der anderen Seite, wie er vorgibt?

„Leben Sie schon immer allein hier?“, hätte er lieber nicht fragen sollen. Die Kaffeetasse klebt an Herrn Krämers Lippen, die wenigen heiteren Fältchen in seinen Augenwinkeln verziehen sich, fast unmerklich sinkt er in sich zusammen und lässt die Schultern hängen. Dann trinkt er entschlossen, fast hastig in kurzen Schlucken seinen Kaffee aus, setzt vehement die Tasse ab und in der erstarrten Stille scheppert es. Die Ellbogen auf den Beinen, die Hände zum Knäul verschränkt stöhnt er leise auf, sieht Fritz Hämmerle an und fragt: „Kurzfassung?“

Aus dem Treppenhaus sind Kinderstimmen zu hören. „Falls Sie mit Ihren Fragen zu Marcella wollen, sie sind jetzt da.“

„Später“, sagt er nach kurzem Zögern, die Geschichte interessiert ihn doch.

„Ich war auch Polizist, Streife, hatte ’ne Freundin und wir waren an den freien Tagen oft mit unseren Motorrädern unterwegs. Dann kam Josephine und wir haben geheiratet. Ich bin später ab und zu allein gefahren, wenn ich den scharfen Wind um die Nase brauchte. Später, Josephine war schon in der achten Klasse, da passierte es, ein bisschen Sand in der Kurve und ich bin über die Leitplanke geflogen, Rückgratverletzung. Ich konnte nach einem halben Jahr wieder laufen, wurde aber nicht wieder richtig, vor allem sind die Schmerzen geblieben. Beruf weg, Rente mit vierzig, hab das nicht verkraftet und an meiner Familie ausgelassen, jahrelang. Sie sind dann gegangen, beide. Danach bin ich erst richtig in ein schwarzes Loch gefallen. Es hat später noch mal eine Operation gegeben. Ich hab beim Sicherheitsdienst angefangen und bin in diese Wohnung gezogen, seither hat sich nichts geändert.“ Er lehnt sich zurück, den Arm auf der Sofalehne, und sieht Fritz Hämmerle an.

Der sagt erst einmal nichts, dann fragt er: „Und die Schmerzen?“

„Nur noch, wenn das Wetter umschlägt.“

„Und Ihre Familie?“

„Nichts, ich weiß nicht mal, wo sie jetzt wohnen.“

„Das ist hart.“

„Sie sagen es.“

Hat er Herrn Krämers Leid wieder aufgewühlt? Es tut ihm leid, Herr Krämer tut ihm leid. Er wünscht ihm sehr, dass er drüber hinwegkommt, trinkt den Kaffee aus, bedankt sich und Herr Krämer bringt ihn zur Tür, schweigend in seinen Kümmernissen versunken und vielleicht auch ein bisschen enttäuscht.

Marcella öffnet bereits, als er den Finger noch auf dem Klingelknopf hat. Vielleicht war es der gleiche Tisch, an dem sie mit ihrem Nachbarn vor Jahren in der Küche gesessen hat, an dem er sie nun befragt. Ob ihre Hosen auch noch die gleichen sind?

Marcella antwortet auf seine Frage: „Halb sieben geht es unter der Woche bei uns los und nachts krieg ich nichts mit. Mein Großer hat sein Zimmer auch nach hinten raus und kommt früh sowieso nicht aus dem Bett. Die Jalousien sind beim Frühstück unten, auch in der Küche, wenn es draußen noch duster ist.“

„Ist Ihr großer Sohn zu Hause?“

„Nein, er kommt irgendwann später.“

Das klingt wie eine sorgenvolle Mutter. Vielleicht sollte er ihn auch befragen, falls er doch sehr viel weniger schläft, als sie mitkriegt. „Hat er ein Handy?“

„Ja, Sie können ihn anrufen.“ Sie greift nach Stift und Zettel, schreibt und schiebt ihn über den Tisch. Die Nummer steckt er in sein Notizbuch und geht wieder.

Als die Tür eine Etage höher aufgerissen wird, nachdem er, das Gesicht vor dem Türspion, geläutet hat, sieht er durch den Spalt, den der massige Körper zum Türrahmen freilässt, den Zipfel eines rosa Bademantels verschwinden. Der Bauch ist ihm so sehr viel näher als der Kopf und zieht den ersten Blick auf sich - wie peinlich!

„Na, habt ihr den Laden da drüben endlich ausgeräuchert?“, dröhnt es aus dem glatzköpfigen Gesicht.

„Kommissar Hämmerle. Sie sind ja bereits auf dem Laufenden, wie ich höre, Herr Meier. Wir suchen Zeugen, die vergangene Nacht etwas gesehen oder gehört haben“, versucht er, es kurz zu halten.

Hätte er nicht, sagt er, und Fritz Hämmerle belässt es dabei. Den würde er, wenn nötig, lieber ins Präsidium beordern mit seinem überspannten Unterhemd, das es nicht bis in die Hose schafft und die Vertiefung freigibt, in der sich irgendwo tief drinnen der Nabel verbirgt, und dem rotem Gesicht, den unterlaufenen, aggressiv dreinblickenden Augen und der Fahne, die ihm entgegenschlägt.

Die Wohnung nebenan lässt er aus, um schnell mehr Abstand zu Herrn Meier zu bekommen. Der vergrößert sich unweigerlich, weil in der dritten Etage niemand da ist.

In der vierten öffnet ihm Frau Klotz. Sie erzählt schon auf dem Weg zu den Sesseln davon, wie das Absperrband am Eingang gezogen und der Sarg ins Auto geschoben wurde. Auch ihn hätte sie gesehen. Er hofft, dass sich ihr Interesse an dem Treiben auf der Straße auch nachts regt.

Sie antwortet auf seine Frage: „Wissen Sie, ich bin froh, seit einem halben Jahr wieder durchschlafen zu können.“

„Was hatte Sie bisher daran gehindert?“

„Wissen Sie, als das jüngste unserer vier Kinder ausgezogen war, haben wir meinen Vater bei uns gepflegt. Und die letzten Monate, bevor er starb, musste ich auch nachts zu ihm. Da hörte ich schon mal eine Autotür klappen oder auch ein Auto losröhren. Davon wache ich sonst nicht auf und mein Mann auch nicht, er hört nicht mehr so gut. Mein Mann kommt in einer Stunde von der Arbeit.“

„Seit wann sind Sie heute wach?“

„Seit sechs. Wir frühstücken zusammen, bis er geht. Die normalen Autos, die so vorbeifahren, hört man hier oben kaum, das war früher noch anders. Wenn Hermann mit seinen LKWs los ist, da konnte man sich den Wecker sparen.“

„Sie meinen Herrn Wetterer?“

„Ja, er hatte damals noch sein Fuhrgeschäft. Wissen Sie, unsere Kinder waren noch klein, als er das Haus gekauft hat. Ich hab mich mit seiner Frau gut verstanden. Gisela und ich, wir haben uns oft getroffen, die Männer waren manchmal auch dabei, Hermann allerdings eher selten, der war immer unterwegs. Und als die Kinder in der Schule waren, bin ich oft zu ihr ins Büro drüben über den Garagen gegangen. Zwischen den Telefonaten blieb schon Zeit für einen Kaffee. Gisela war, glaub ich, der Dreh- und Angelpunkt, sie hat nicht nur allen Schriftkram und die Buchführung erledigt, sie hat wohl auch die Touren für die zwei Fahrer und ihren Mann geplant.“

„Und weiter?“

„Wir haben nie über unsere Ehen gesprochen, aber die beiden haben wohl mehr miteinander telefoniert als direkt miteinander gesprochen. Immer ging es nur um die Firma. Am Wochenende hat er dann noch Umzüge gemacht oder er ist mit dem Schraubenschlüssel unter seinen Lastern rumgekrochen. Dann hat sie sich einfach zurückgezogen, gesagt, das hätte nichts mit mir zu tun, und ist schließlich einfach gegangen. Das ist jetzt sieben Jahre her. Ja, und ein Jahr später hat er die Büroräume vermietet.“

„Hat Herr Wetterer denn kein Büro mehr gebraucht?“

„Wissen Sie, ein paar Monate nachdem Gisela weg war, hörte er auf. Hat wohl gemerkt, dass es ohne Gisela nicht ging. Sie saß am Lenkrad, die anderen fuhren, den Eindruck hatte ich. Er ist übrigens zu Hause. Hören Sie die Schritte?“

„Reden Sie noch miteinander?“

„Wissen Sie, mit den Damen da drüben hat er sich schon was eingebrockt. Sein Hausmeister ist auch ausgezogen. Jetzt macht er das selbst und in dem alten Haus ist immer was. Reden tun wir schon, wir müssen es ihm ja sagen, wenn was kaputt ist, ansonsten nur belangloses Zeug.“

„Kennen Sie die zwei Frauen da drüben?“

„Wissen Sie, ich komme schon lange nicht mehr hinters Haus. Die Kinder sind früher oft im Gebüsch nebenan und gegenüber am Hang rumgestromert. Mein Großer war auch manchmal bei Hermann in den Garagen. Die beiden haben sich gut verstanden. Nein, ich kenne sie nicht, sehe sie nur zuweilen in ihr schickes Auto steigen.“

„Steht das jetzt auch unten?“

„Ja.“ Frau Klotz steht auf und geht ans Fenster. „Ja, es steht unten.“ Er geht zu ihr „Da, der Weiße.“

Der BMW ist ihm schon aufgefallen.

„Und die anderen drei Autos?“

„Wissen Sie, uns geht’s ja gut, wir haben eine von den Garagen, aber die von der anderen Straßenseite weichen manchmal hierher aus, wenn sie keinen Parkplatz mehr finden.“

„Sie sind ihnen nie begegnet?“

„Wissen Sie, es gibt keine Tür hinten raus. Manchmal sonntags bei schönem Wetter wandern mein Mann und ich hinten die Treppe hoch zur Schönen Aussicht. Das Essen dort schmeckt sehr gut.“

„Eine Gaststätte?“

„Ja, Hermann hat’s da einfacher, der geht von unten über eine Treppe direkt in seine LKW-Garagen und von da kann er auch gleich zum Mietekassieren in sein ehemaliges Büro. Dauert meist eine Stunde, das Geldzählen.“

Ach, die einfühlsame Frau Klotz wird sarkastisch, denkt Fritz Hämmerle und findet, dass es Zeit ist, zu Herrn Wetterer zu gehen.

An der Tür zu Rainers Wohnung zögert er. Vielleicht später, beschließt er, steigt ins Dachgeschoss und steht einem mittelgroßen, durchaus kräftigen Mann in der Tür gegenüber mit graumeliertem Dreiwochenbart, der bis ins oben offene, beigebraun karierte, dicke Flanellhemd hineinwächst, und schütterem, kurz geschnittenem Haar.

„Hat der Meier aus dem Zweiten schon wieder Ärger gemacht?“, ist das Erste, was er sagt, nachdem Fritz Hämmerle sich vorgestellt hat, und bittet ihn herein.

Herrn Meier findet dieser im Moment nicht wirklich wichtig und hakt nicht nach. Er kommt gleich zur Sache: „Frau Kämpf ist gestorben.“

Die Farbe weicht aus Herrn Wetterers Gesicht und zwischen fahl gewordenen Lippen presst er hervor: „Gestorben? Wie?“

Fritz Hämmerle ist überrascht: „Können wir noch nicht sagen, wir müssen aber den Kunden finden, der gegen Ende der Nacht gegangen ist.“

„Ja, und Kitty?“

„Ist wohl für ein paar Tage zu ihrer Mutter gereist.“

„Sagt wer?“

„Sagt die Reinigungskraft, die sie gefunden hat.“

„Frau Le Thi Kim?“

„Ja.“

„Ich muss an die Luft.“

„Wollen wir runtergehen?“

„Nein, nein, kommen Sie.“

Er folgt ihm durch den Flur in die andere Richtung, wo es taghell wird. Dort beginnt eine Glasfront und Herr Wetterer geht nach rechts durch die Glastür. Fritz Hämmerle läuft ihm nach und bleibt in dieser Tür wie angewurzelt stehen. Ihn blendet die Abendsonne über dem Bergrücken, der sich von links weit hinter dem Giebel nach Westen schiebt. Orangerot berührt sie eben den bewaldeten Saum, der sich schier zu entzünden scheint, gefolgt von einer Wolke, an deren dunklen Wölbungen dünne purpurne Bordüren hängen. Vor der Sonne steht die dunkle Silhouette von Herrn Wetterer und scheint zu brennen, wie die Ränder des Mondes bei einer Sonnenfinsternis. Langsam zur Brüstung gehend entdeckt er nach und nach am von Schatten eingehüllten Berghang immer mehr Häuser inmitten der Bäume, teils altehrwürdige Villen mit Erkern und Türmchen. Näher bei Herrn Wetterer sieht er mehr von der Stadt, deren Häuser sich den Berg hinab immer dichter drängen, bis sie sich im weiten Tal schließlich in den Himmel erheben: Hochhäuser in gebührendem Abstand zum altehrwürdigen großen Dom, dennoch können sie ihm von oben aufs Dach sehen. Der Schatten schiebt sich langsam über die Dächer hinunter ins Tal und die Sonne wird milde und verliert langsam ihre Unerbittlichkeit.

„Wie lange sind Sie nicht mehr unten gewesen?“

„Warum fragen Sie nicht gleich, wo ich heute Nacht war?“, antwortet Herr Wetterer mit erstickender Stimme und klingt ziemlich gereizt.

Das hat er nicht gewollt, er wollte das Gespräch nicht festfahren, bevor es überhaupt angefangen hat. Außerdem muss er sich eingestehen, in den letzten Augenblicken wirklich nicht bei seiner Arbeit gewesen zu sein. „Entschuldigen Sie Herr Wetterer, ich hatte eben vergessen, weshalb ich hier bin.“

„Sie meinen, wenn es geregnet hätte, wäre es Ihnen nicht so gegangen?“

„Wäre vielleicht auf das Gleiche rausgekommen, weil ich Ihnen nicht bis hierher gefolgt wäre.“

Wetterer schaut ihn an und sagt lange nichts, nachdem er wieder zur Sonne sieht, bis er schließlich meint: „Also gut, Rita ist tot und ich bin vielleicht der Erste, den Sie vor sich haben, der mit ihr zu tun hatte - bis auf Frau Le.“

„Sie haben recht.“

„Und Sie werden mir nicht erzählen, was Sie heute früh vorgefunden haben. Ich will’s jetzt auch nicht wissen, aber Sie suchen ihren letzten Kunden, vielleicht den Täter, also komme ich nicht umhin, Ihnen die Geschichte zu erzählen.“

„Sieht so aus.“

„Um es gleich vorwegzunehmen: Ich bin zwei Tage nicht mehr unten gewesen, kein Mieter hat mich wegen irgendwelcher Reparaturen angerufen. Gibt sonst manchmal ’ne ganze Menge zu tun.“

Wenn er jetzt noch behauptet, dass der Kühlschrank auch noch nicht leer und der Termin fürs Mülltonnenrausstellen erst übermorgen ist, dann hak ich ein, denkt Fritz.

„Es ist jetzt sieben Jahre und zwei Monate her, da verschwand meine Frau. Wir haben wie immer sehr zeitig gefrühstückt – war eigentlich jedes Mal ’ne Dienstbesprechung –, dann ging’s in die Garagen. Klaus und Nico, unsere beiden Fahrer, kümmerten sich um ihre Autos, und dann war ich am Abend der Letzte, der wieder einrückte. Viele Jahre schon kam ich fast immer zuletzt.

An diesem Abend fand ich einen Zettel auf dem Küchentisch: ‚Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr.‘ Darunter noch ein halbes Dutzend Passwörter für die PCs. Dann stand da noch: ‚Frachtpapiere wie immer. Paul kann einspringen‘, mit Telefonnummer. Das war der Aushilfsfahrer. Und zuletzt: ‚Den Transporter bring ich dir in den nächsten Tagen zurück.‘ Ihr Zimmer war leer und der Transporter stand zwei Tage darauf wieder da, der Schlüssel im Briefkasten, ihre Handynummer war nicht mehr belegt.“ Er hält inne, sieht nach einer Weile wieder zu ihm und sagt: „Sie wollen nicht wirklich wissen, was die Tage darauf los war.“

„Sie meinen mit Ihnen?“

„Ach, nach mir hat niemand gefragt, außer mitleidige Blicke oder: ‚Scheiße, Alter.‘ Nein, mit mir konnte ich mich nicht beschäftigen, ich musste sehen, dass das Geschäft nicht gleich den Bach runtergeht.“

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Die Verschlüsse von Rafis Tasche schnappten zu und Maik nahm die Abfahrt zur Pathologie, das Tor war offen und der Rollwagen für die Mulde stand bereits an der Seite.

„Laden wir noch den Sarg auf den Wagen?“

Fritz Hämmerle nickte Maik zu und auch Dr. Friedrich redete nicht, während er die Tür zu seinen Gefilden weit öffnete. Er hielt den Wagen fest und sie beide luden den Sarg auf. Maik verschwand mit dem Doc und dem Wagen und die Tür fiel gedämpft ins Schloss.

Er wird wohl versuchen, schon mal die Handschuhe mitzunehmen, dachte Fritz Hämmerle und ging mit Rafi zum Aufzug. Dort bekam er von ihm wie immer einen Stick mit den Aufnahmen. Das lief so, seitdem er ihn einmal drum gebeten hatte.

Er ließ sich auf seinen Stuhl fallen und zog sein Handy, Kurzwahl eins.

„Hallo Dani, ist Mama da? --- Nimm dir inzwischen was zu essen. --- Wirst schon was finden. --- Ach, sie kommt gerade? Sag ihr ’nen Gruß. Es wird spät.“

Der Junge kriegt einen Bass, merkte er, durchs Telefon fiel ihm das besonders auf, und dann kam so eine Art schlechtes Gewissen, auch wenn Lilly nun endlich da war, um kurz vor acht. Sie überließen Daniel viel zu oft sich selbst, und das schon seit drei Jahren, als Lilly plötzlich ihre Praxis übernommen hatte. Ja, das hatte vieles verändert, Chef von fünf Leuten sein und alles drum herum. Die Liste mit ihren eigenen Überstunden wanderte unweigerlich in den Papierkorb.

Er schaltete seinen Computer ein, steckte den Stick hinein und sah sich die Bilder an. Eines von der Wand im Steinbruch ließ er stehen. So hatte er sie nicht gesehen. Wo hatte Rafi für dieses Foto gestanden? Er musste gegenüber ein ganzes Stück hochgestiegen sein. Er zoomte die Abbruchkante näher heran. Die Wand erhob sich dreißig Meter senkrecht bis zu dieser Kante. Von dort gab es einen über die gesamte Länge gleich breiten Streifen knotigen Gehölzes, der als ziemlich steiler Hang anstieg. Anschließend begann der Wald aus hohen Buchen. Er wollte sowieso noch zu Maik. Sie sollten vielleicht jemanden mitnehmen, der fürs Klettern ausgebildet war. Eigentlich brauchte er ihn aber nicht zu fragen, Maik machte das sowieso selbst. Es blieb nicht aus, sie mussten sich das dort oben näher ansehen. Er griff zum Telefon und hatte Anja Wegmüller am Apparat.

„Hämmerle hier. Sind Sie weitergekommen?“ Er stellte das Telefon gerne laut, auch wenn er allein war.

„Der Chef und Wachtmeister Süß sind auf dem Weg nach Riedbach. Der Wirt vom Adler hat seit einigen Tagen auf dem Wanderparkplatz am Hochmoor immer wieder das gleiche Auto am gleichen Platz gesehen und niemand weiß, wem es gehört.“

„Riedbach?“

„Der kleine Ort liegt oberhalb des Steinbruchs. Vom Hochmoor gibt es einen Weg, der nicht weit von der Steilwand entlangführt. Am Hochmoor steht eine Sperrscheibe.“

„Und die Vermisstenmeldungen?“

„Nichts Passendes im Einzugsbereich. Drei bis vier Wochen, sagt der Chef, liegt die Leiche dort?“

„Die Zeit stammt vom Pathologen.“

„Nur ein Mann, zweiundvierzig, eins dreiundsiebzig groß, ist seit fünf Wochen vermisst gemeldet und könnte in das Zeitfenster passen.“

„Dieser Mann ist zu klein, Dr. Friedrich wird uns spätestens morgen früh einiges sagen können.“

„Suchen wir besser erst weiter, wenn er geliefert hat.“

Während er auflegte, stand er auf und griff nach seiner Jacke, die über dem Nachbarstuhl hing und eben auf den Boden rutschen wollte. Während ihm, den rechten Arm bereits im Ärmel und mit dem linken hinter sich den Einschlupf suchend, einfiel, dass er den Computer noch ausschalten musste, und das gleichzeitig mit der Rechten in Angriff nahm, spannte schließlich die Jacke über den Schultern mit einem hoffnungslos eingestülpten Kragen.

Er merkte, dass er eben wieder einmal dabei war, sich komplett zu verheddern, ließ locker, stellte sich vor seinen kleinen Spiegel und sortierte die Jacke. Er wollte nach Hause. Aber zu Maik musste er schon noch mal, der morgen sicher nicht ausgeschlafen sein würde.

„Kate, wo ist Maik?“

„Nebenan.“

Maik saß vor seinem Mikroskop und leise rauschte der Abzug. Er schaute kurz auf und dann wieder durch das monströse Gerät. „Dieser kleine Abriss stammt tatsächlich vom rechten Handschuh, sind viele Kratzspuren auf der Innenseite. Am linken ist nichts.“ Er packte die Handschuhe wieder ein und verschloss den Beutel sorgfältig. „Sollte mich nicht wundern, wenn Kate an dem Ast noch mehr gefunden hat.“

„Du Maik, da oben über der Wand ist es steil. Willst du das wirklich allein machen? Du musst gar nicht so grinsen, du Draufgänger!“ Früher wäre er beleidigt gewesen.

„Wenn’s dich beruhigt, wir haben Klettergürtel da und Seile. Kannst ja auch den Süß in Eschenweiler anrufen. Der kennt sich bestimmt auch dort oben gut aus.“

„Nimm das Zeug halt mit!“

„Du willst nach Hause? Der Doc hat vielleicht schon was.“

„Hast ja recht, ich geh noch rüber. Nehmen wir morgen wieder den Allrad?“

„Müssen wir wohl, wenn du nicht den Doc fragen willst, ob er uns sein Auto borgen will.“

Das Lächeln auf Fritz Hämmerles Gesicht wirkte so erschöpft, wie er sich nach diesem Tag fühlte.

Dr. Friedrich ging mit ihm nicht zur Leiche, sondern in sein Büro. Dafür war er ihm dankbar und noch während er dabei war, sich zu setzen, sagte er: „Männlich, eins achtundachtzig groß, um die fünfundachtzig Kilo.“

Auf dem Schirm sah er das Röntgenbild eines Kopfes im Profil. Dr. Friedrich bot ihm den Stuhl neben sich an, griff sich einen Stift und zeigte auf das Bild. „Schädelbasisbruch, Trümmerfraktur, sehen Sie?“ Er wies auf die Stelle seines Bildschirms. „Diese Verletzung führt sofort zum Tod.“

„Wir nehmen an, dass er abgestürzt ist, dreißig Meter freier Fall.“

„Die Fraktur ist mittig auf dem Schädel. Er müsste genau kopfüber aufgetroffen sein. Es ist schon anzunehmen, dass während des Sturzes die Muskulatur im Halsbereich angespannt ist – dreißig Meter freier Fall?“

Er hielt jedoch inne, klang irgendwie nicht so richtig überzeugt und fügte nach einer Weile hinzu: „Dieses Röntgenbild lieferte uns ein erstes Ergebnis, das allein lässt noch keinen endgültigen Schluss zu.“

Sie schwiegen, bis der Doc sich entschlossen mit seinem Stuhl umdrehte und aufstand. „Mehr kann ich Ihnen im Moment nicht sagen. Der Zustand des Toten erschwert die Untersuchungen.“

„Wir fahren morgen früh wieder nach Eschenweiler.“ Fritz sah Dr. Friedrich fragend an.

„Schauen Sie, bevor Sie fahren, in Ihr Postfach. Dann bekommen Sie zumindest noch sein Alter.“

Fritz Hämmerle war froh, die weiße Nüchternheit dieses Raumes mit dem schmalen Fensterband aus Milchglas unter der Decke verlassen zu können. Er fragte sich, wie der Mann, den er sehr schätzte und der doch so unnahbar war, wohl wohnte. Er wusste nichts von ihm, außer dass er diesen großen SUV fuhr.

Er nahm die Drehtür und stemmte die Hände in die Jackentaschen. Es war kühl. Die Sterne über der Stadt standen fahl am Himmel, der nie richtig dunkel wurde. Von der Allee draußen näherten sich die Lichter der nächsten Bahn. Er rannte, sprang außer Atem in den letzten Wagen und ließ sich auf einen Sitz fallen. Der Hut auf dem grauen, glatten Haar direkt vor ihm schwankte in sanftem Mäandern hin und her. So könnte er in der Bahn nie schlafen, war aber schon geneigt, es dem Mann, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, gleichzutun, doch Hermann Wetterer hielt ihn davon ab.

ˇˇˇˇˇˇˇ

Sie stehen nebeneinander an der Brüstung seiner großen Dachterrasse. Die halbe Sonne über dem Waldsaum schickt ihre letzten Strahlen, die ihnen wie pulsierend entgegenrollen, dann entschwindet sie. Es ist still. Der Schatten kriecht über die Brüstung. Ein Streif Rot bleibt am Himmel, dort, wo sie untergegangen ist, daneben Orange, ein trübes Gelb, ein Hauch Grün und das blasse Blau verliert sich schließlich in der Dunkelheit. Auch die purpurnen Wolkenhäufchen dunkeln sich ein. Unten startet ein Auto, aber die Dachtraufe versperrt den Blick auf die Straße.

„Seit wann kennen Sie Rita Kämpf?“

„Seit dem Herbst davor.“

„Vor was?“

„Bevor meine Frau wegging, im November, also zehn Monate vorher.“ Er hält inne, als scheue er sich, es zu erzählen, und sieht ihn an. Aber bevor Fritz Hämmerle ihn auffordern kann weiterzureden, fährt er fort: „Ich war wie immer unterwegs, schon viele Stunden am Steuer, es war trübe und es nieselte, der Scheibenwischer stand auf Intervall. Im Augenwinkel huschte eine Lichtreklame, so ein rotes Herz, vorbei. Das kam ja ab und zu vor, aber diesmal packte es mich plötzlich, fordernd brannte es sich in die Leere des Fahrertrotts. In dem Moment bemerkte ich eine große Lücke, bremste und parkte ein. Es steckte kein starker Drang dahinter, nichts Unerbittliches. Ich meinte, jeden Moment auch wieder losfahren zu können, tat es aber nicht. Es war die perfekte, reale Illusion, Nähe, Wärme, Begierde. Nach wenigen Wochen wartete ich schon auf eine Tour, die wieder dort vorbeiführen würde. Und sie kam auch, mit einem kleinen Umweg.“

„Ja, und Ihre Frau?“

„In den letzten Jahren allein hier oben hatte ich viel Zeit, darüber nachzudenken. Wir hatten das Fuhrgeschäft und was sie alles wie aus dem Handgelenk gemacht hat, merkte ich erst, als sie nicht mehr da war. Den Ersatzfahrer musste ich Vollzeit einstellen und ich saß am Schreibtisch. Trotzdem brauchte ich noch jemanden fürs Büro, das hat die Personalkosten fast verdoppelt. Wie meine Frau das gemacht hat, weiß ich nicht, es hat mich nie gekümmert. Ich hab’s einfach nicht gemerkt.“

„Das war Ihre gemeinsame Arbeit - und sonst? Hab ich das richtig mitbekommen, Sie hatten jeder ein eigenes Zimmer?“

„Wir hatten uns gegenseitig mit unserem Schnarchen um den Schlaf gebracht. Es ging nicht anders.“

„Und das Ehebett ist sozusagen auf der Strecke geblieben.“

Er schüttelt kaum merklich den Kopf.

Was will er damit sagen? Liege ich daneben?, fragt sich Fritz Hämmerle. Oder will er nicht weiterreden? Ist das alles nicht so schwarz–weiß? Oder er billigt mir keine Berechtigung zu, solche Fragen zu stellen. Damit hat er in gewisser Weise wohl sogar recht.

„Haben Sie Kinder?“

„Nein, meine Frau hatte einen dreizehnjährigen Sohn, als wir uns kennenlernten. Sie war siebzehn, als sie Mutter wurde, und er ist größtenteils bei ihren Eltern auf dem Hof aufgewachsen, war kein Typ für die Stadt: Traktoren, Kühe, Felder, das ganze Programm. Wir sind auch nicht richtig warm geworden miteinander. Ist später nach Neuseeland gegangen und züchtet Schafe, hat auch Familie dort. Sie war drei Wochen zur Taufe da. Das Bild mit dem Enkel im Taufkleid und den Eltern stand auf ihrem Schreibtisch. Würde mich nicht wundern, wenn sie jetzt bei ihrem Sohn ist.“

Es ist klar, diese Ehe ist ein ziemliches Paket und er hat ihm nur den Deckel gelupft, mehr nicht, dessen ist Hämmerle sich sicher. Ach, lassen wir’s, denkt er, aber mit ihm und Rita Kämpf, das kann er sicher nicht auf sich beruhen lassen.

Herrn Wetterer fröstelt. „Ich zieh mir was drüber. Oder gehen wir rein?“

„Wir können gern draußen bleiben.“

„Ja, solch eine Terrasse mit diesem Ausblick gleich neben dem Wohnzimmer gibt es nicht von der Stange. War auch der Grund, warum ich nicht gleich alles verkauft habe.“

„Verstehe ich.“

Dann geht er.

Fritz Hämmerle ist gefangen vom Anblick der Stadt. Sie strotzt in der Dunkelheit vor Kraft, als wäre die Haut von den Adern gezogen, emsig durchfurcht von unzähligen Lichtkegeln, geleitet von den Bernsteinketten der Straßenbeleuchtung. In den Berghängen flackert sie dünn durch die Bäume und hält die hell erleuchteten Villen beieinander. Er hat Herrn Wetterer nicht kommen gehört, der einfach wieder neben ihm steht.

„Sie haben dann recht schnell aufgehört mit Ihrer Firma.“

„Da kam viel zusammen. Vor allem hatte ich Mühe mit der Logistik. Ich kannte nur wenige unserer Auftraggeber persönlich und in diesem Geschäft macht man Fehler nur einmal, dann fahren andere. Meine Frau kannte sie alle. Ich erinnere mich im Nachhinein nicht, dass sie auch nur einmal irgendwas falsch gemacht hat. Ich wollte es nicht so weit kommen lassen, bis alle Rücklagen aufgefressen sind, konnte mir nicht vorstellen, dass eine Insolvenz Spaß macht. Jetzt bin ich Rentner. Es ging schnell, Nico und Klaus haben ihre Autos gleich in ihre neuen Firmen mitgenommen. Kann ich sie noch mal sehen?“

Diese Frage platzt in Fritz Hämmerles Überlegungen, wie er das Gespräch, das ja eigentlich eine Vernehmung sein sollte, wieder auf Frau Kämpf bringen könnte. Wieso hat er sie hierhergeholt? Er will sie sehen. Warum eigentlich nicht, vielleicht ist es besser, das Gespräch nach der Identifizierung, die eigentlich nicht nötig ist, im Präsidium fortzusetzen.

„Das kann ich nicht allein entscheiden, Sie sollten sich zur Verfügung halten, bleiben Sie in der Stadt. Geben Sie mir Ihre Telefonnummern und Ich rufe sie morgen an. Wir reden im Präsidium weiter.“

Herr Wetterer schreibt neben seinem Telefon zwei Nummern auf einen Zettel und reicht ihm die Notiz.

Fritz Hämmerle notiert ihm seine. „Sie können mich jederzeit anrufen.“

„Okay, wissen Sie“, fragt Herr Wetterer, „wann Kitty zurückkommt?“

„Nein, aber die Tür ist versiegelt.“

„Es ist ihre Wohnung, wo soll sie hin? Ich könnte einen Zettel an die Tür kleben.“

„Sie haben von Kitty keine Telefonnummer?“

„Leider nicht.“

„Also machen Sie das und rufen Sie mich an, wenn sie zurück ist.“

Sie geben sich an der Tür die Hand, die andere steckt er ein und bemerkt in der Jackentasche das Aufnahmegerät. Ach ja, Frau Le sollte ich mir wenigstens heute noch anhören.

Eine Treppe tiefer läutet er bei Rainer. Er ist wieder zu Hause und seine Freundin steht im Mantel im Flur und will gehen.

Rainer habe, da sie erst nach Mitternacht von der Arbeit gekommen sei, seine Freundin nicht einmal gehört.

Sie sei Kellnerin in der Schönen Aussicht und müsse jetzt los, sagt sie. Eigentlich habe sie heute frei, aber die Kollegin, die sonst die Abendschicht mache, könne nicht.

Er begleitet sie hinunter. Als beide das Haus verlassen, sagt sie: „Ich gehe meistens zu Fuß hinterm Haus die Treppe hoch.“

„Sind Sie heute Nacht auch diesen Weg gelaufen?“

„Ja.“

„So ganz allein diese Treppe herunter mitten in der Nacht, haben Sie keine Angst?“

„Ist nicht so ’ne Gegend, wo man Angst haben müsste, ist auch gut beleuchtet.“

Sie gehen den Weg zurück, den Fritz Hämmerle zuvor durchs Gebüsch nach unten gelaufen war. Hinterm Haus an dieser Treppe, die sie durch die Steinmauer eben den Hang hinaufsteigen will, fragt er: „Haben Sie heute Nacht jemanden gesehen?“

„Gesehen hab ich niemanden, nur ein Auto stand direkt vor dem Eingang.“

Er lässt sie nicht weiter. „Welche Marke?“

„Ich kenn mich nicht aus. War ziemlich flach, hatte so ein massiges Hinterteil … An die runden Rücklichter erinnere ich mich, drei auf jeder Seite, und blau war er.“

„Das Kennzeichen, können Sie sich an das Nummernschild erinnern?“

„Hab ich nicht drauf geachtet. Herr Kommissar, ich muss jetzt aber wirklich los. Morgen Mittag hab ich dann ausgeschlafen.“

Und ohne eine Antwort abzuwarten, steigt sie in die Treppe hinauf, die wirklich hell beleuchtet ist.

Wo steckt bloß der Bierdeckel?, fragt er sich. Er kramt in seinen Taschen, findet ihn und wählt.

„Hämmerle hier, Hauptkommissar Schäffer meint, Sie würden mich zum Präsidium bringen? --- Sie wissen …? --- Fünf Minuten? --- Danke.“

„Hat der Schäffer tatsächlich Bescheid gesagt“, murmelt er ins Dunkel, während er das Telefon wieder einsteckt.

Flach, bulliges Heck, drei runde Rücklichter, blau: Klingt exotisch, ist nicht aussichtslos für jemanden, der sich auskennt. Wer kennt sich aus? Er jedenfalls nicht. Er müsste Scheffer fragen, aber die dürften noch alle in der Bergerstraße festhängen, sonst hätte er sich schon gemeldet. Nicht einmal seine Nummer hat er. Ihm wird flau und er setzt sich auf die Treppenstufen.

Durch die Fugen der Tore schimmert Licht und es öffnet sich eine kleine Tür in der Mitte des ersten großen Tores: Herr Wetterer.

Er heftet einen Zettel an die versiegelte Tür und fragt, als Fritz Hämmerle bei ihm angelangt: „Ist das in Ordnung so?“

Fritz Hämmerle liest: „Geschlossen. Bewohner bitte beim Vermieter melden. Sie hat Ihre Nummer?“

„Ja.“

Fritz wendet sich zur offenen Tür. „Ich würd da gern mal reinschauen.“

„Kommen Sie.“ Sie gehen in die Garagen. Drinnen steht ein Wohnmobil am anderen. „Die gehören Leuten mit Eigentumswohnungen in der Innenstadt, alle sechsstellige Summen wert.“

„Sind die bei Ihnen eingemietet?“

„Mit Wartungsvertrag, immer einsatzbereit, stehen halt nur hier und bringen sehr wenig Publikumsverkehr. Das letzte hinten hat dieses Jahr noch keine Sonne gesehen.“

„Und Sie haben einen Zugang vom Haus?“

„Ja, hier hinunter in die Parterrewohnung, die ist meine Hausmeisterwerkstatt.“

Draußen hält ein Auto.

„Ich muss jetzt los, also bis morgen.“

Die Kollegen von der Streife sind nicht sehr gesprächig. Hängt wohl auch mit der Bergerstraße zusammen, wer weiß, wie lange die schon am Stück im Einsatz sind. Er nimmt das Diktiergerät aus der Tasche. Das Headset seines Handys passt. Er bemerkt den Blick des Fahrers im Rückspiegel. Der denkt sicher, er zieht sich jetzt Songs rein.

Frau Le hat nichts zu erzählen, was er nicht schon wusste.

Am Haupteingang bedankt er sich fürs Abholen.

Die K30 ist noch immer wie ausgestorben, aber Frau Micha ist noch da und mustert ihn. „Kaffee?“

Jetzt merkt er, dass er den ganzen Tag noch nichts gegessen hat, und will eigentlich nach Hause. „Vielen Dank, aber ich bräuchte eigentlich meinen Chef.“

„Den werden Sie in der Bergerstraße nicht mal ans Telefon bekommen.“

„Ich sollte dringend einen Fachmann für Autos sprechen.“

„Den finden Sie unten neben der Spurensicherung. Herrn Haberland haben Sie ja schon kennengelernt, oder?“ Frau Micha hat schon das Telefon in der Hand. „Kate, ist dein Chef da? --- Ich schick dir den Neuen runter.“ Sie legt auf. „Den Weg kennen Sie ja.“

Er geht in sein Zimmer, legt das Diktiergerät auf den Bierdeckel, findet schließlich seinen Autoschlüssel in der sonst noch völlig leeren Schreibtischschublade, hängt sich die Tasche über die Schulter und fährt ins Untergeschoß zu Maik Haberland.

„Herr Hämmerle, hier ist die Liste ihrer Gesprächsverbindungen.“

Es liegt ein Handy auf dem Tisch.

„Ist das Rita Kämpfs Handy?“

„Ja, nach dem vierten Klingeln schaltet sich der Anrufbeantworter ein. Es sind mehrere Buchungsanfragen eingegangen. Sie bekommen einen Abzug.“

„Eine Bewohnerin des Hauses hat mir einen PKW beschrieben, der um zwei Uhr nachts vor dem Eingang gesehen wurde.“

„Das macht Richard Gerber, KFZ-Labor. Er ist sicher auch noch da.“ Er wählt eine Kurzwahl. „Dauert oft eine Weile, bis er rangeht. --- Hallo, Richard, bist du noch drüben? --- Ich schick dir Kommissar Hämmerle, ist neu in der K30. --- Ja, seit heute.“

Er zeigt ihm den Weg. „Durch die Garage und dann die nächste Stahltür.“

Hier unten herrscht noch geschäftiges Treiben, auch Haberlands Leute, die er am Tatort kurz gesehen hat, bemerkt er durch eine offene Tür bei der Arbeit. Die Garage ist nicht mehr so leer wie am Morgen, der Leichenwagen steht ebenfalls wieder an seinem Platz.

Der Mann in der schwarzen Kombi begrüßt ihn lächelnd durch seinen kurz gehaltenen schwarzen Vollbart. Das lange Haar ist im Nacken zusammengebunden, zweifelsohne ein Unikat bei der Polizei. Er bietet ihm in seinem engen Büro einen Stuhl an.

Nachdenklich schreibt er die kurze Beschreibung auf und murmelt sie leise in seinen Bart: „Flach, bulliges Heck, drei runde Rücklichter, blau. Fällt mir auf Anhieb nichts ein, aber da geht was. Nur von den Typen, die sich auskennen, habe ich keine Nummern.“

„Es ist die einzige wirkliche Spur.“

„Gut, ich fahre jetzt. Wie kann ich Sie erreichen?“

Fritz Hämmerle ruft seine Nummer auf dem Handy auf.

ˆˆˆˆˆˆˆ

Die Bahn hielt an der Endhaltestelle und er blieb sitzen. Wenn sie durch die Wendeschleife kreischte, war es im Wagen weniger laut. Er mochte es nicht, wenn das beißende Geräusch unbändig durch den Wald jagte, stieg nach der Schleife aus und hörte nur das Sirren des Autobahnzubringers.

Eine Viertelstunde hatte er bis nach Hause zu laufen - zu Hause. Die Beine gingen nicht mehr so leicht und heute tat er es mit dem Laub ab, welches nass und schwer vom Regen an den Füßen klebte. Vielleicht ist Lilly ja noch nicht da. Was hat sich da eingeschlichen zwischen uns? Dazwischen? Nein, das trifft es nicht, wieso dazwischen, wenn es innen rumort? Vielleicht fühlt es sich eher an wie Schimmel im Bauch, der sich schleichend nach oben ausbreitet. Wenn sich dort nun der graue Filz festsetzt …

Andererseits gab es da den letzten Sonntagabend, sie waren zusammen gewesen und hatten schließlich erschöpft nebeneinander gelegen. Das ist es doch. Was hast du eigentlich?, sagte er sich und ihm war, als läge sie noch bei ihm.

Er legte einen Schritt zu und jedes Mal nach dem Marsch durch den dunklen Wald musste er blinzeln, wenn die Straßenlaterne vor ihrem Haus ihm ins Gesicht schien. Sie leuchtete auch auf das Auto in der Einfahrt. Wie immer würde der Schlüssel stecken, wie immer würde er es in die Garage fahren und dann ins Haus gehen. Die Hand, die sich zur Haustür hob, war auch schon mal leichter.

Lilly stand an der Garderobe mit Daniels Jacke, die er vielleicht irgendwo hatte fallen lassen. Der Begrüßungskuss war Standard – schon traurig, wenn einem dafür so ein Wort wie Standard in den Sinn kam. Immerhin gab es ihn noch.

„Willst du essen? Ich wollt gerade abräumen.“

„Ja, ich hab heute noch nichts im Bauch.“

„Heut früh hattest du’s aber nicht eilig.“

„Man weiß halt nie, was kommt.“

Daniel kam auch an den Tisch. Was war es heute, Mathe oder Taschengeld? Er freute sich trotzdem, wenn er kam. Die Zeiten, als Dani noch klein war, gerne in seiner Nähe war und sie zusammen viel unternommen hatten, waren halt vorbei. Er hoffte auf Mathe, da ging echt noch was.

Es war Mathe!

„Soll ich zu dir nach oben kommen?“

„Okay.“

Lilly sah schlecht aus, nein, nicht wirklich schlecht, so konnte man das nicht sagen, im Gegenteil. Sie hatte eben Augenringe. Wenn er sie so sah, war es wohl eher ein Fehler gewesen, als sie vor drei Jahren die Praxis übernommen hatte.

„Läuft’s nicht rund?“, fragte er.

„Sandras Junge ist krank, wir haben nicht alle Behandlungstermine abfangen können.“

„Wenn ihr so viel zu tun habt, stell doch noch jemanden ein. Du kannst auf die Dauer nicht massieren für mehr als eine volle Stelle und alles drum herum auch noch regeln.“

„Weiß ich doch und ich suche auch nicht erst seit gestern. Es gibt auch schon jemanden, einen ehemaligen Leistungssportler, umgeschult, die Ärzte haben ihm nach einer Verletzung geraten aufzuhören. Er war im Sommer schon zwei Wochen da, konnte allerdings nicht gleich bleiben. Aber nächste Woche fängt er richtig an. Eine Drohne in unserem Bienenschwarm ist ganz was Neues.“

Als sie nach dem Umzug in dieser physiotherapeutischen Praxis neben der Klinik für Sportmedizin angestellt war, hatte er sich diese durchtrainierten Körper vorgestellt, wie sie fast nackt der Reihe nach auf den Massagebänken lagen - nein, er war nicht eifersüchtig, wirklich nicht, oder redete er sich das nur ein? Mehr wunderte er sich, wieso gerade er, wenn er sich nach dem Duschen flüchtig aus dem Augenwinkel im Spiegel sah. Durchtrainiert war diese Gestalt im Spiegel bestimmt nicht. Hämmerle, und warum fällt dir das ein, wenn deine Frau gerade sagt, dass sie demnächst einen Leistungssportler im Team haben?

„Es gibt Lachsscheiben, isst du doch so gern.“

„Die können bis morgen warten.“

Auf dem Weg in die Küche vibrierte sein Telefon. Es war Maik. Er fragte, ob er ihn morgen früh zu Hause abholen solle, sie müssten sowieso fast bei ihm vorbei und sie wären ja nur zu zweit. An sein Postfach käme er auch von zu Hause aus ran, falls der Doc etwas schicken sollte, und für ihn sei das natürlich in Ordnung.

„Mike holt mich morgen früh ab. Wir fahren hier auf die Autobahn.“

„Wann kommt er?“

„Hat er nicht gesagt, kann schon sein, dass er uns vom Frühstück aufscheucht, kennst ihn ja.“

„Er kriegt einen Kaffee.“

„So wird’s nicht laufen.“

„Ihr steckt wohl wieder mal mitten im Geschäft?“

„Dani wartet, ich muss jetzt hoch.“

„Geh nur, ich wasch noch schnell ab.“

Später hörte er sie nebenan in ihr Büro gehen, das vorher das Gästezimmer gewesen war.

Als sie fertig waren, stand er auf und sagte zu Daniel: „Geh nicht so spät schlafen“, sah aber beim Türschließen aus dem Augenwinkel, wie er sich die Kopfhörer über die Ohren zog.

Er ging gleich durch die Nebentür. „Warum überlässt du das nicht deinem Steuerbüro?“

„Weil ich sonst die Übersicht verliere, und die machen das auch nicht nur aus purer Freundlichkeit. Vielleicht wenn die Kredite für die neuen Geräte abbezahlt sind.“

Er hatte schon so eine Art schlechtes Gewissen, ihr meistens bloß mit Ratschlägen zu kommen, statt ihr zu helfen. Beim einzigen Versuch war er allerdings mit der Diagnose: Nicht geeignet, weggeschickt worden.

Und dieses sogenannte schlechte Gewissen, das er da hatte, war verdächtig nicht der reine Ausbund von Selbstlosigkeit. Er war ein wenig gekränkt oder fast ein bisschen beleidigt, weil sie nach so einem langen Tag eher völlig erschöpft ins Bett sank. Oder flüchtete sie sich in die Arbeit?

„Wie lange hast du noch zu tun?“

„Weiß nicht.“

Er ging hinunter und zappte durch die Sender, war aber in Gedanken mit Maik und Wachtmeister Süß, der wohl mitkommen würde, oberhalb der Wand und kraxelte herum, bis er sich kurzerhand ins Schlafzimmer an den PC verzog. Nein, der Doc hatte nichts geschrieben. Er würde morgen früh noch einmal nachsehen. Wer weiß, wie lange der heute noch in seinem Verlies zubringt …

Der Handywecker holte ihn ungehalten lautstark aus dem Schlaf, es dauerte viel zu lange, bis er missmutig die Taste traf und endlich Ruhe war. Er hatte fest geschlafen und war von den anschwellenden Tönen nicht gleich aufgewacht.

Lilly ging schon Daniel wecken, dem man die Bettdecke wegziehen muss, weil er sonst nicht aufwachte. Der PC dümpelte im Ruhezustand dahin und zeigte eine Nachricht von ein Uhr dreißig vom Doc: Fünfundsechzig Jahre ist er alt geworden.

Er ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine ein und deckte den Tisch. Lilly sah er um den Türpfosten schleichen, sie hatte wohl zu lange in ihrem Büro zugebracht oder schlecht geschlafen oder beides. Sie ging geradewegs zur Kaffeemaschine und drehte die Kaffeestärke hoch.

Die Türglocke schrillte barbarisch aggressiv und fuhr ihnen bis in die Glieder. Jetzt waren sie wirklich munter.

Lilly fuhr erschrocken herum. „Der soll’s mal nicht übertreiben! Jetzt kommt er um den Kaffee nicht herum.“ Sie ging zur Tür.

Bei ihr traute sich Maik nicht zu widersprechen. Er langte dann sogar in den Brötchenkorb und schwieg eher. Das wunderte Fritz Hämmerle und er tat es damit ab, dass er sich auch nicht vorstellen konnte, was sie dort oben nun wirklich wollten. Wie sollten sie dort noch mehr finden nach vier Wochen und Unmengen von Laub alles begruben, ist doch skurril, und wenn er an die Wand dachte, wurde ihm sowieso schon mulmig.

„Hätte ich fast vergessen, Grüße von meiner Frau“, das war für Lilly.

„Wie geht‘s ihrem Fuß?“

„Ist wieder okay.“

„Sie hat noch zwei Behandlungen offen, kann ich mich erinnern.“

„Ja, hat sie gesagt.“

„Sie hat bei uns in der Praxis angerufen. Eins eurer Kinder wäre krank geworden?“

„Ja, unsere Kleine. Ein Darminfekt, sie war fast vierzehn Tage nicht in der Schule.“

„Sag ihr ebenfalls Grüße. Sie kann trotzdem noch kommen, das Rezept ist noch gültig. Oder ich ruf sie einfach an.“

Sie wollte ihr ab und zu etwas Gutes tun mit ihren vier Kindern und einem Mann, mit dem man bei diesem Job nicht wirklich rechnen konnte. Auch wenn sie sich dann den verspannten Rücken vornahm und nicht den Fuß.

„Wo bleibt eigentlich Dani? Ist er wieder …?“

Die Holzstufen knarrten und er kam. „Morgen“, knurrte er in seinen flaumigen Bartansatz und ließ sich auf den Stuhl fallen, wohl hoffend, am nahenden Wochenende wieder richtig ausschlafen zu können, mindestens bis Mittag. „Hallo, Maik, hat Oli erzählt, wir wollen heute nach der Schule auf die Mountainbike-Strecke? Wieso sitzt du hier eigentlich mitten in der Nacht?“

Die Sorgen von Fritz und Lilly wegen Daniel waren groß, als er noch in die Grundschule ging und sich lieber in sein Zimmer verkrochen hatte. Nach dem Schulwechsel zur fünften Klasse war das anders geworden. Er musste dadurch zwar weit fahren, aber er fand Anschluss: Oliver, Maik Haberlands Ältester, wurde sein bester Freund, der aus der entgegengesetzten Richtung ebenso lange aus dem eingemeindeten Dorf zur Schule unterwegs war und die Parallelklasse besuchte. Aber dass er sich mit Olivers Vater duzte, hatten sie noch nicht mitbekommen. Na ja, er war ja auch oft dort.

„Oli hat gestern Abend noch an seinem Rad rumgeschraubt und hat’s erzählt. Vergesst die Helme nicht. Fritz, hast du denen in Eschenweiler gesagt, wann wir kommen?“

„Nein, wir rufen von unterwegs an.“

Sie standen beide auf, einfach so. Daniel erschrak fast ein wenig. Sie entschuldigten sich wegen der Küchenarbeit, die sie den beiden überließen, und waren schon zur Tür raus.

Die Luft war lau, so gar nicht typisch für die Jahreszeit. Fritz Hämmerle nahm seine Mütze ab und lies sich den Wind durchs Haar streifen. Zu gern wäre er nicht ins Auto gestiegen.

Maik saß am Steuer und startete den Motor. Er schob sich auf den Beifahrersitz, die Tür fiel ins Schloss und er wusste, das war das letzte laute Geräusch die nächste Zeit. Maik fuhr nicht schnell und wechselte auf der Autobahn höchstens wegen eines LKWs die Spur. Er fuhr wie auf Autopilot, wohl in Gedanken schon über der Wand in den Seilen hängend, die Hämmerle beim Einsteigen auf den Rücksitzen liegen gesehen hatte.

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Richard Gerber schießt mit seiner Flunder, die sicher nicht sein Dienstwagen ist, aus der Tiefgarage. Wer weiß, wo er hinwill. Der Anruf wird nicht allzu lange auf sich warten lassen.

Fritz selbst fühlt sich wie ausgehöhlt. Nicht zu glauben, es ist sein erster Tag und er hat nicht mal mit seinem Chef geredet. Er geht zurück zu Maik Haberland, der die Handschellen untersucht und nicht aufsieht, aber ihn bemerkt hat und, ohne den Blick von seiner Arbeit zu heben, sagt: „Wir sind noch nicht durch. Die Pathologie ist auf der anderen Seite, einfach gerade aus.“

„Jetzt noch nicht, der Chef wird morgen hoffentlich wieder da sein.“

„Vielleicht, die Bergerstraße ist ein dickes Ding“, entgegnet Maik Haberland und nimmt sich die nächste Tüte aus dem Behälter.

Trotz der Empfehlung, in die Pathologie zu gehen, will Fritz Hämmerle nach Hause, und überlegt, wie er hier heruntergekommen ist: Von der Straße durch den Haupteingang ins Foyer und dann mit dem Aufzug. Also ebenso zurück.

Der Parkplatz ist fast leer. Wo ist das Auto bloß, wo ist der Golf? Unendlich weit ist er heute Vormittag gelaufen, nein, gerannt. Es ist zum Verzweifeln. Wo ist er? Dieses Gefühl vom Morgen, dieses schneidende Gefühl im Gedärm, macht sich wieder breit. Hier ist das Auto jedenfalls nicht, da drüben bei den Pappeln ist er über die Bahngleise gerannt. Dort läuft er hin und dann weiter, irgendwie. Nach Ewigkeiten sieht er seinen alten Golf. Er rutscht hinters Steuer und bleibt einfach sitzen.

Schließlich startet er Navi und Auto und biegt eine knappe Stunde später zu Hause in die Einfahrt. Es ist dunkel. Zum Schein der Straßenlaterne gesellt sich das flackernde Licht des Fernsehers aus dem Fenster. Die Autotür fällt zu. Eine Brise weht durch die nahen Buchen. Er setzt sich einen Moment auf die Stufen, hört dem Wind zu und es beruhigt ihn.

Lilly kommt ihm im Flur entgegen und er merkt, wie sie ein wenig erschrickt, und fragt: „Daniel schläft schon?“

„Ja. Wie war’s? Du siehst nicht gut aus, wirklich gar nicht gut.“

Der Fernseher ist aus und die Tischlampe taucht das Zimmer in anheimelndes Licht. Sie versinken in die Polster und er redet, zuerst von seiner verzweifelten Fahrt und der Suche nach einem Parkplatz. Die Sorgenfalten auf Lillys Stirn glätten sich ein wenig, als er von Frau Micha erzählt. Dann weiß er nicht weiter. Er kann nicht einfach so davon berichten und wie soll er auch reden von den Anblicken, die ihm so sehr zusetzen? Hat er ein paar Seminare verpasst? Wie soll er das jetzt machen? Er würde ja gerne vieles mit seiner Frau teilen, aber das geht wohl nicht. Auch das setzt ihm zu. Schließlich liegen sie beieinander, ihre Wärme beruhigt ihn und am Morgen ist diese Wärme seine erste Erinnerung, dieses Gefühl, in das er so gern versinkt.

Am Frühstückstisch suchen sie eine andere Strecke. Er ist pünktlich und erkennt die K30 nicht wieder, so viele Leute wuseln durch die Gänge, mit übermüdeten Gesichtern, aber irgendwie froh. Frau Micha erzählt es ihm: Sie haben die Geiselnahme in den frühen Morgenstunden zu Ende gebracht, ohne Verletzte, aber jeder Menge Arbeit für die Traumapsychologen.

„Ihr Chef will Sie sehen“, sagt sie. Er guckt fragend und sie fügt hinzu: „Von Ihrem Zimmer aus drei Türen weiter, auf der anderen Seite.“

Er eilt in sein Büro, stellt die Tasche auf den Stuhl und wirft die Jacke darüber. Sein Handy meldet sich. Es ist Richard Gerber.

„Sieht nicht schlecht aus. Bin gerade auf dem Weg in die Zulassung. Oder wollen Sie das selbst machen?“

„Nein, es sollte schnell gehen.“

„Ich rufe wieder an.“

Der Chef hat Augenringe. „Guten Morgen Herr Hämmerle, haben Sie wenigstens geschlafen heute Nacht? Wie steht’s?“

Er hört zu, ohne zu unterbrechen, aber Fritz Hämmerle ist sich nicht sicher, ob er tatsächlich zuhört, weil ihm die Augen zufallen. Als er schließlich mit dem Anruf von Richard Gerber endet, steht sein Chef auf und geht zum Fenster in die Sonne.

„Wir wissen also nicht, ob es Mord war oder die Folge von Panik. Reden Sie mit dem Pathologen. Wie hat sich dieser ominöse Riemen so weit zugezogen? Machen Sie das mit Herrn Haberland.“ Er wendet sich um. „Wann ist Herr Wetterer hier?“

„In einer Stunde.“

„Gehen Sie mit ihm in die Pathologie und vernehmen Sie ihn danach. Wir brauchen mehr Klarheit über sein Verhältnis zu Rita Kämpf. Den Sohn von dieser Frau im ersten Stock – wie heißt sie doch gleich?“

„Marcella … Der Nachname fällt mir jetzt nicht ein.“

„Den sollten Sie befragen, das sehe ich auch so. Und vergessen Sie Frau Le nicht, nicht nur wegen des Protokolls, das kann auch warten. Reden Sie mit ihr. Die Leute kriegen viel mit, halten es aber für nicht so wichtig.“

„Was mache ich, wenn Herr Gerber anruft?“

„Dann müssen Sie los, aber nicht allein. Ich habe nur im Moment niemanden … Wenn es so weit ist, gehen Sie zu Frau Micha, sie wird Ihnen jemand mitgeben. Haben Sie schon Ihre Waffe?“

„Nein.“

„Das schaffen Sie noch, bevor Herr Wetterer kommt. Herr Hämmerle, mir ist klar, es ist nicht in Ordnung, Sie so ins kalte Wasser zu werfen, aber wir konnten uns es alle nicht aussuchen.“

„Verstehe ich.“

„Morgen früh sehen wir, ob wir ein Team brauchen.“ Das Telefon in der Hand sagt er: „Frau Micha gibt Ihnen das Dokument für die Waffenkammer.“

Er verschwindet, schließt leise die Tür und ist überrascht, als Frau Micha ihm sagt, wo er hinmuss, und wiederholt verblüfft: „Unter dem Innenhof?“

„Mit dem Aufzug ganz nach unten, gleich links“, erklärt sie. Fritz Hämmerle hätte eher angenommen, hinter dieser Blindmauer, an der er schon vorbeigegangen ist, wäre der Sanitärbereich.

Er geht hinter dieser Mauer einige Stufen hinunter, muss einen Taster drücken und wird abgeholt. „Kommissar Hämmerle?“

„Ja.“

„Ihren Ausweis bitte.“

Dann steht er am Tresen und kommt sich fast wie im Hotel vor, nur ohne Schlüsselbrett. Er schiebt dem Kollegen mit den stark ergrauten Schläfen das Formular hinüber und bekommt im Gegenzug die Waffe.

„Halfter oder Gürteltasche?“

„Halfter.“

„Die ist übrigens was Besonderes, ist die vom alten Chef. Hat sie nie benutzt, nicht mal im Schießstand. Kann mich nicht erinnern, dass er jemals hier war. Wollen Sie sie probieren? Der Stand ist frei.“

Nicht nötig, will er sagen, weil er die von der Ausbildung kennt, aber er ist neugierig auf den Schießstand hier unten, selbst wenn er sich blamiert. „Ja, jetzt gleich?“

„Wie gesagt, er ist frei. Zehn Schuss?“

„Die Hälfte reicht.“

Der Kollege bleibt neben ihm und sieht zu, wie er die Patronen ins Magazin drückt. Er trifft tatsächlich zwei auf die Scheibe, ein Schuss geht fast ins Schwarze – na ja, wenigstens kein Totalausfall.

„Der Schießstand ist täglich besetzt, Dienstag und Donnerstag auch bis einundzwanzig Uhr.“

War da nicht eben ein mitleidiger Unterton herauszuhören? Er verschwindet schnell, bevor er hier noch rot wird. Vielleicht sollte er doch mehr trainieren.

Im Foyer meldet sich sein Handy mit einem verpassten Anruf. Herr Wetterer kann wohl nicht warten. Es war aber Richard Gerber.

In seinem Zimmer angekommen ist er außer Atem und ruft zurück. „Hallo, Herr Gerber. In der Waffenkammer ist ein Funkloch.“

„Es kommen nach der Beschreibung zwei infrage, das sind aber jetzt nur die in der Stadt und den angrenzenden Landkreisen.“

„Sagen Sie mir die Halter, ich schreibe mit.“

„Ivan Swoboda, Haydnweg 8.“

„Wo ist das?“

„Randgebiet im Westen und der zweite: Hubert Kessler, Am Kreuz 10, auch in der Stadt. Wo das ist, weiß ich nicht.“

„Danke.“ Er legt auf und schaltet den PC ein.

Das Festnetztelefon erschreckt ihn, es klingelt das erste Mal und es ist laut. Die Anmeldung ist in der Leitung, sehr ungehalten, weil sie wieder einmal die Hausanschlüsse der neuen Kollegen nicht mitgeteilt bekommen hat.

„Herr Wetterer hat einen Termin bei Ihnen?“

„Ja.“

„Holen Sie ihn bitte hier ab, danke.“

Kann nur am Haupteingang sein, denkt er und geht bei Frau Micha vorbei.

„Ich kann Ihnen nicht sagen, wer mit Ihnen kommt. Ihr Vorgesetzter ist gerade beim Chef.“

„Bin eben auf dem Weg in die Pathologie, komme gleich wieder.“

Er geht zum Aufzug und als sich dessen Türen schließen, beruhigt er sich, wenigstens ein wenig. Er begrüßt Herrn Wetterer und fährt mit ihm die eine Etage nach unten.

„Kommissar Hämmerle?“, empfängt ihn Dr. Friedrich.

„Sie kennen mich schon?“

„Sie wurden gestern am Tatort erwartet.“

Etwas verlegen antwortet er: „Widrige Umstände“, und weist gleich, weil er sich darüber nicht ausbreiten will, auf Herrn Wetterer. „Der Eigentümer des Hauses in der Hangstraße.“

Der Hausherr führt sie den Flur entlang und bittet sie, an der Tür zu warten.

Herr Wetterer klappert in der Jackentasche nervös mit seinem Schlüsselbund, so hört sich es jedenfalls an, und blickt stumpf geradeaus auf die Tür.

Kurz darauf öffnet die sich und sie betreten den Raum.

Im kalten, grellen Licht scheint ihr blondes Haar fahl. Sie ist zugedeckt bis ans Kinn.

Herrn Wetterers Schritte werden zaghaft und die Hände verschränken sich. Unbeweglich steht er neben ihr, selbst die Augenlider sind starr. Seine Augen werden feucht.

Du hast ihr das nicht angetan, denkt Fritz Hämmerle.

Hermann Wetterer sieht sie unentwegt an, scheint aber auch weit weg, als wolle er sie zurückholen. Dann reißt er sich unvermittelt zusammen, blickt zum Doktor und tritt zurück, während dieser sie wieder zudeckt. Dr. Friedrich hat wohl unbeabsichtigt kurz ihren Hals aufgedeckt. Hermann Wetterer erschrickt.

„Was ist passiert, Herr Hämmerle? Sagen Sie es mir“, drängt er im Aufzug.

„Wir wissen es noch nicht wirklich“, versucht er abzulenken.

Sie sind auf dem Weg in sein Zimmer, als ihn Frau Micha durch ihre offene Tür zu sich ruft. Bevor er zu ihr geht, sagt er: „Warten Sie bitte kurz, Herr Wetterer. Dort sind Stühle, setzen Sie sich.“

Er geht in ihr Büro, schließt die Tür hinter sich und Frau Micha erklärt ihm: „Richard Gerber wird mit Ihnen kommen, hat Herr Scheffer gesagt, aber nur für heute. Er wartet auf Sie.“

„Wo?“

„Unten.“

Er geht mit Herrn Wetterer in sein Zimmer. Das Gespräch mit ihm muss er verschieben. Verhör würde er es ohnehin nicht mehr nennen. Aber ist er sich wirklich schon so sicher? Und während er an seinem Schreibtisch die Adressen einsteckt, sagt er zu ihm:

„Ich will Sie noch etliches fragen, wir müssen das aber leider verschieben. Ist es Ihnen recht, wenn ich zu Ihnen nach Hause komme? Ich rufe Sie an.“

„Wie Sie wollen.“

Fritz Hämmerle bringt ihn zur Anmeldung, verabschiedet sich und nimmt gleich die Treppe nach unten.

„Was ist denn bei euch da oben los?“, empfängt ihn Richard Gerber. „Muss ich jetzt schon auf eure Einsätze?“

„Hängt wohl mit der Bergerstraße zusammen.“

Richard Gerber geht voraus zu seinem Auto.

„Sie wollen mit Ihrer Flunder fahren?“

„Sagen Sie nicht Flunder zu meinem Auto.“

„Und falls wir einen der Herren gleich mitnehmen müssen?“

Durchaus missmutig sieht er zu einem Dienstwagen. „Wollen Sie fahren?“

„Nein, ich kenne die Stadt noch nicht.“

„Wen zuerst? Der Haydnweg liegt näher.“

„Gut, also zuerst Herr Swoboda.“

Richard Gerber fährt wirklich die schnellste Strecke. Er krallt sich im Beifahrersitz fest – oh, das ist wirklich nicht sein Ding, noch nie gewesen. Selbst von seiner Frau wird er dafür gelegentlich mitleidig belächelt.

Jetzt drosselt Gerber das Tempo.

„Hier muss der Haydnweg gleich rechts abzweigen.“ Sie sind mitten in einem Industriegebiet. „Wie kommen die dazu, hier eine Straße nach dem Komponisten zu benennen?“

Die Hausnummer ist eine KFZ-Werkstatt mit einem Platz voller gebrauchter Autos ohne Kennzeichen, alle Marken durcheinander. Eines der großen grauen Rolltore steht halb offen. Unter der Hebebühne ist ein Bärtiger in einer ebenso grauen Kombi beschäftigt.

Der Bärtige hat bemerkt, wie sie beide nahezu gleichzeitig das Auto rechts hinten in der Halle entdecken. Es ist rot.

„Der ist nicht zu verkaufen“, sagt der Bärtige. „Gehört dem Chef.“

„Gibt es noch so einen bei Ihnen?“

„Ganz bestimmt nicht.“

„Schade. Dürfen wir ihn trotzdem mal anschauen?“

„Bitte schön.“

Sie zwängen sich durch die Autos. Richard Gerber ist begeistert. „Der war immer schon rot, wir können weiter.“

Jetzt nimmt er den Außenring mitten durchs Grün, von der Stadt ist nichts zu sehen. Der Ring ist voll und er lässt sich treiben, wenn auch missmutig, denn er hätte die Karre sicher gerne ausgefahren.

„Ist es weit?“, fragt Fritz Hämmerle schließlich.

„Zwanzig Kilometer auf dem Ring und dann noch drei vielleicht, es ist eine Randsiedlung, fast alles Einfamilienhäuser.“

Diese Häuser beginnen, sobald der Wald aufhört. Sie scheinen alle wie ausgestorben, die Leute sind arbeiten, die Kinder in der Kita. Gerber fährt fünfzig.

„Als ich das letzte Mal hier war – ist schon etliche Jahre her –, da grasten Pferde auf der Weide.“

Wenig später sind manche Hecken so hoch gewachsen, dass nur noch die Dächer zu sehen sind und ab und zu ein Baum, der über den First hinaus wächst. Dann erscheint das erste Bauernhaus mit seinen kleinen Fenstern zwischen dem restaurierten Fachwerk. Jetzt sind sie im ursprünglichen Dorf, in dem vielleicht vor siebzig Jahren noch der Mist neben dem holprigen Kopfsteinpflaster lag und sonntags die Glocke die Bauern in die kleine Kirche rief.

Nach dieser Kirche fährt Richard Gerber nach rechts. „Jetzt noch bis zur Hausnummer zehn.“

Die entpuppt sich als Neubau. Sie sind sprachlos, einerseits weil sie sich fragen, wer wohl mitten im alten Ortskern diesen Neubau genehmigt hat, und andererseits weil die Garage offen steht, aus der ihnen das blaue Hinterteil des Autos entgegengrinst. Es fehlt nur noch Herr Kessler.

„Er könnte hinten raus flüchten“, sagt Fritz Hämmerle angespannt. „Holen wir noch einen Streifenwagen?“

„Wenn der Dreck am Stecken hat, schrecken ihn Uniformen und Polizeiautos bloß auf. Die Sicht nach hinten ist frei. Außerdem haben die niemanden, wenn ich schon mitmusste, aber versuchen wir es. Ich fahr erst mal hier weg, wir fallen auch so schon zu sehr auf.“

„Sie rufen besser selbst an, mich kennt noch niemand.“

Herr Gerber telefoniert und Fritz Hämmerle behält das Haus im Auge.

„Sie schicken noch zwei Kollegen.“

Dann geht alles sehr schnell. Es kommt jemand aus dem Haus und verschwindet in der Garage. Sie kommen im letzten Moment vor der Ausfahrt zum Stehen. Der Mann spring aufgebracht aus dem Auto und stürmt wütend auf sie zu, fasst sich aber sofort, als er den Dienstausweis vorgehalten bekommt.

„Kommissar Hämmerle, das ist mein Kollege Gerber. Herr Kessler?“

„Ja.“

Der Mann hat sich im Griff, verblüffend schnell schaltete er um, als wären sie sein Termin. Nahezu beiläufig fragt er: „Weshalb sind Sie hier?“

„Dieses Auto hat vorletzte Nacht in der Hangstraße vor dem Eingang des Bordells geparkt.“

„Und warum sollte ich, wenn es denn so gewesen wäre, über solche absolut privaten Angelegenheiten sprechen?“

„Weil die einzige anwesende Prostituierte am Morgen unter ungeklärten Umständen tot aufgefunden wurde.“

„Was, Rita ist tot?“

So direkt hatten sie das nicht erwartet. Jeder hört das Vibrieren von Gerbers Handy, und während er abseits das Gespräch annimmt, sagt Fritz Hämmerle: „Sie verstehen, wir haben einige Fragen. Vielleicht verschieben Sie Ihre Fahrt und fahren Ihr Auto wieder in die Garage, unseres sollte weg von der Straße.“

„Ja, ich fahr wieder rein. Ist es wirklich Rita?“

Richard Gerber telefoniert im Auto, Herr Kessler fährt vor und Fritz Hämmerle winkt seinem Kollegen, der das Handy eben wieder einsteckt und den Wagen ein Stück in die Einfahrt lenkt.

„Ich glaub, ich hab den schon mal gesehen“, flüstert Richard Gerber seinem Partner zu, der sich jetzt klar wird, dass das allein nicht zu schaffen ist. Er hätte doch, bevor sie hierherfuhren, schon mal die Personalien checken können. Frau Micha hätte das bestimmt für ihn gemacht. Er wusste doch – das muss er sich eingestehen –, dass er keineswegs nur auf einer vagen Spur war. Das muss er jetzt nachholen, setzt sich ins Auto und telefoniert.

„Frau Micha, bitte. --- Kessler, Am Kreuz 10 – haben wir da was? --- Ja, auf mein Handy.“ Das hätte ihm wirklich eher einfallen müssen.

Jetzt können sie Kessler nicht länger warten lassen, der dasteht wie aus dem Ei gepellt, obwohl Hämmerle nicht klar ist, welche Spezies Federvieh dieses Ei wohl gelegt haben könnte. Was sind das für Schuhe, die unter der eng geschnittenen elfenbeinfarbenen Hose hervorblitzen? Schlangenleder? Vielleicht auch noch echt. Dünnes, längeres, etwas rötliches Haar umrahmt ein aalglattes Gesicht, die Farbe scheint aber nicht echt zu sein, dazu ein khakifarbenes Jackett auf weißem Shirt.

„Herr Kommissar …?“

„Hämmerle.“

„Entschuldigen Sie, die Stunde im Büro kann ich streichen, aber danach sollte ich da sein.“

„Wo sollten Sie sein?“

„Mir gehört das Casino am Innenring.“ Jetzt weiß Gerber, woher er ihn kennt. „Wir können in den Wintergarten.“

Herr Kessler geht voraus. Die Jalousien verschwinden ohne Geräusch. Mit einer Geste bedeutet er ihnen, auf einer üppigen Sitzgarnitur aus weißem Leder Platz zu nehmen, in die sie sich ein wenig scheu einsinken zu lassen.

Hämmerle bleibt auf der Kante sitzen, die keine Kante ist, mit den Ellbogen auf den Knien, und beginnt: „Herr Kessler, wenn ich Sie richtig verstanden habe, stand Ihr Auto vorgestern in der Hangstraße 22.“

„Die Hausnummer weiß ich nicht, ist mir nie aufgefallen.“

„Sind sie öfter bei den beiden Damen gewesen?“

„Gelegentlich, ich kann mich nicht erinnern.“

„Sie waren also vorgestern Nacht dort. Und wann das letzte Mal davor?“

„Vor drei Wochen etwa, so genau kann ich das nicht sagen.“

„Wie spät war es, als Sie ankamen?“

„Um Mitternacht bin ich am Casino los, eine knappe halbe Stunde Fahrt, also kurz vor halb eins. Bin bis zum Morgen geblieben. Es wurde schon knapp, ich wollte Frau Le, oder wie die heißt, nicht über den Weg laufen, die macht da sauber.“

„Frau Le hat sie dann auch gefunden, sie war bereits tot.“

„Wieso tot?“

„Sie ist durch den Riemen, der um ihren Hals lag, erstickt. Sie konnte ihn nicht lösen, weil sie noch angekettet war.“

„Aber das haben wir nicht das erste Mal so gemacht. Frau Le war immer pünktlich und wenn es knapp war, hat diese Frau das gemacht.“

Nicht zu fassen, der hat sie hängen lassen! Fritz Hämmerle fragt:

„Haben Sie den Riemen bei Frau Kämpf festgezogen?“

„Ja, sie mochte diese Würgespiele. Das war für sie der Bio-Kiff, das Ohnmächterli. Ich hab vorgestern, wie auch das Mal davor, den Riemen wieder gelockert.“

Sie nehmen Kessler nicht fest. Er bleibe in der Stadt und sei durchgängig auf seinem Handy erreichbar, versichert er.

Richard Gerber ist das schnelle Fahren vergangen. Wortlos schleicht er durch die Straßen und hält an einem Imbiss. Sie sitzen vor ihrer Wurst und dann sagt er schließlich: „Herr Kommissar, wenn sie mich fragen, der Fisch ist so schlüpfrig und schleimig, der muss nicht mal zappeln, um uns zu entgleiten und gemütlich davonzuschwimmen.“

„Sieht so aus. Sind Würgespiele eine Straftat oder sind sie es nicht?“

Sein Nebenmann schweigt und fährt schneller, es zieht ihn wieder zu seinen Autos.

Fritz Hämmerle ist unsicher. Was war im Sumpf dieser Nacht in der Hangstraße gelaufen, was nur? Er fühlt sich wie auf schwankendem Grund, wie das erste Mal als Junge auf dem Trampolin, über das er auf allen vieren gekrochen war. Sie haben Kessler laufen gelassen, weil er beteuert hat, den Riemen wieder gelockert zu haben. Hat er denn überhaupt nichts gelernt? War das jetzt alles falsch? Hätten sie ihn festnehmen sollen? Er muss endlich zu seinem Chef, Bergerstraße hin oder her.

Was treibt einen Menschen wie Kessler dazu, so was zu brauchen? Es widert ihn an. Rita war ein Profi, sie wusste, wann es gefährlich wird, richtig gefährlich. Würgespiele? Nein, keine Würgespiele! Sich auf diese Weise und in einem solchen Szenario einen Kick zu verschaffen, das konnte sie wirklich nicht gewollt haben, auch für viel Geld nicht. War es nur das Geld und sie hatte die Kontrolle verloren? Oder war es doch anders?

Wie will man diesem Kessler das Gegenteil beweisen? Er muss mehr über Rita Kämpf erfahren. Herr Wetterer war es nicht, bestimmt nicht. Auch wenn es noch ein kleines Zeitfenster gab, bevor Frau Le kam, in dem er es hätte tun können. Wann Kessler genau gefahren ist, hat er nicht gesagt. Wenn er Frau Le besucht, sind einige Fragen zu stellen - zum Beispiel: Hat sie diese Utensilien auch alle gereinigt? Weiß sie, was alles in den Schränken war? Wie gut kennt sie die Frauen?

Und Kitty: Niemand weiß, wo sie in Ungarn zu Hause ist, die beiden haben lange Zeit im Spitzdach über den Garagen zusammengewohnt und -gearbeitet. Gibt es irgendeine Möglichkeit, sie zu erreichen?

Richard Gerber neben ihm am Steuer hat mit der Sache abgeschlossen. Er musste für diesen einen Einsatz aushelfen und kann sowieso nichts mehr machen. Sie passieren die Schranke und biegen in die Abfahrt zu den Garagen. Fritz Hämmerle hat es eilig, bedankt sich bei ihm und verschwindet in die Spurensicherung.

„Kommen Sie“, begrüßte ihn Maik Haberland. „Frau Kämpfs Handy liegt eingeschaltet beim Elektroniker, Kitty hat sich gemeldet, hören Sie sich das an.“

„Rita, bist du da? Geh ran! Rita? Warum gehst du nie ran? Meine Mutter ist schlimm krank, ich kann nicht weg. Ich kann sie nicht allein lassen. Warum gehst du nicht ran?“

„Fünfmal hat sie es versucht, ehe sie auf die Mailbox gesprochen hat. Es ist eine Festnetznummer in Ungarn, die Adresse kennen wir auch.“

„Wir haben ihren letzten Kunden. Richard Gerber hat das Auto gefunden. Dieser Freier, Kessler heißt er, ist ein elend schlüpfriger Bursche. Wie weit sind Sie?“

„Wir haben noch andere Fingerabdrücke, vor allem die von Kitty, nehmen wir an, weil es die gleichen sind wie in ihrem Zimmer. Sie sind viel in der Küche, auch auf zwei von den Handschellen.“

„Und der Riemen?“

„Kaum was zu machen. Wir brauchen die Fingerabdrücke von der Reinigungskraft und von diesem … wie heißt er, Kessler?“

Fritz Hämmerle stammelt irgendetwas, während er überlegt, wie er die Panne ausbügeln kann.

Maik Haberland schmunzelt. „Ihr habt Scanner bei euch oder Sie nehmen die Folien.“ Er schiebt ein paar davon gleich über den Tisch.

Peinlich, peinlich. Er verlässt die Pathologie und versucht es bei Frau Micha.

Die bisher so freundlich engagierte Frau ist genervt. „Ach ja, Ihr Anruf, Herr Hämmerle … ich konnte so schnell nichts für Sie tun. Die Bergerstraße …“

Er schafft das nicht. Panik, Lähmung, Schwindel, die Fingerabdrücke vergessen. Diese Beklemmung im Bauch, er hat sie schon wieder.

Er geht in sein Zimmer und telefoniert. Kessler geht sofort ran. Er könne erst morgen Mittag kommen.

„Das Casino liegt auf meinem Weg, ich halte bei Ihnen, dauert nicht lange.“

Er sagt das, obwohl er noch gar nicht weiß, wo Frau Le wohnt und ob sie überhaupt zu Hause ist. Wo hat er den Zettel, den ihm der Chef über den Tisch geschoben hat, auf dem auch die Telefonnummer steht? Er hatte ihn zum Aufnahmegerät gelegt und er kann nur in einer der vielen Schreibtischschubladen stecken, die er der Reihe nach aufreißt. Er fängt am falschen Ende an und findet den Zettel in der letzten, eilt zu den Aufzügen und wartet fiebernd. Es dauert ihm zu lange und er eilt zur Treppe, hört auf der ersten Stufe, wie die Tür des Fahrstuhls aufgeht, rennt zurück und bekommt gerade noch den Fuß dazwischen. Bloß gut, dass ihn jetzt keiner gesehen hat.

Der Einlassdienst vom Casino, ein auf freundlich getrimmter Bodyguard, dem das Jackett über der Schulter spannt und in dessen linkem Ohr ein Platinring matt schimmert, geleitet ihn zum Büro seines Chefs, der im gleichen Moment ankommt und ihn irgendwie zu freundlich begrüßt.

Er rätselt, wie diese Absprache eben gelaufen ist. Dieses gleichzeitige Ankommen vor der Bürotür war kein reiner Zufall.

Freundlich bittet Kessler ihn in sein Büro und schließt die offenbar schalldichte Tür. „Wie kann ich helfen?“

„Wie kann ich helfen?“, so ein Schleimer, denkt Hämmerle und weiß, wenn er ihm jetzt in die Karre fährt – und er verspürt den zwingenden Drang dazu –, vermasselt er es. Nachdem er sich gesetzt hat, sagt er: „Herr Kessler, Sie werden verstehen, dass wir bisher den Todesfall nach der üblichen Routine abgearbeitet haben. Nach unserem Gespräch letztens bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, Sie um Ihre Fingerabdrücke zu bitten, aber die Kollegen bestehen darauf, sie wollen ihren Bericht schreiben, und da ich sowieso in Ihrer Richtung unterwegs war …“

„Ja, kein Problem, wie wollen wir das machen?“

Er zieht die Folien aus der Tasche. „Ganz unbürokratisch. Ich rolle Ihnen alle zehn Finger der Reihe nach hier drauf ab.“

Kessler quält sich hoch, kommt um seinen monströsen Schreibtisch und schiebt dabei die Manschetten etwas hoch. „Also wie?“

Fritz Hämmerle zeigt es ihm und die Abdrücke sind bald erledigt. Gleichwohl meint er zu spüren, wie Kesslers Atem sich verändert und sich ein leichtes Pressen einstellt. Ist es für ihn jetzt doch eine Demütigung, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen? Er steht seitlich neben Kessler, rollt ihm die Finger der Reihe nach auf die Folie und sieht ihn nicht, hat aber das Gefühl, er springt ihm gleich ins Genick.

„Das war’s schon, vielen Dank. Wenn Sie mich entschuldigen, ich sollte gleich weiter.“

Kessler verschwindet in einer Nische und antwortet, während er wohl seine Hände wäscht: „Ich will sie nicht aufhalten. Jon bringt sie wieder raus.“

„Ach, Herr Kessler, fast hätte ich’s vergessen, wir brauchen auch noch einen DNA-Abgleich. Hier ist noch so ein Stäbchen.“

Kessler tut auch das, wortlos, aber er lässt galant durchblicken, dass es ihm jetzt reicht.

Fritz Hämmerle rutscht aufatmend in seinen Autositz und murmelt: „Kessler, diese Masche hältst du nicht durch, es ist völlig wider deine Natur.“

Aber er gesteht sich ein, wohl eher danebenzuliegen. Er muss diese Masche jetzt durchziehen, das wird Kessler klar sein.

Er ändert im Navi das Ziel und bezweifelt, sich jemals ohne dieses Teil in dieser großen Stadt zurechtzufinden.

Zu Frau Le dauert es eine halbe Stunde, und wenn er von dort über den Außenring fährt, hätte er es nicht weit bis nach Hause. Also erledigt er das noch, wird schon nicht so lange dauern. Und heute kein Präsidium mehr.

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Als sie aus dem Wald herauskamen, schien ihnen die frühe Sonne ins Gesicht. Sie leckte den Tau der Herbstnacht von den Dächern. Dieser stieg behäbig auf, kräuselte sich himmelwärts und verschwand im Licht. Wenn es so windstill blieb, würde es richtig warm werden.

Autos kamen ihnen entgegen, oft recht schnell. Sie alle waren wohl unterwegs in die Kreisstadt und schon spät dran für die Arbeit. Die anderen arbeiteten im Sägewerk, den Gasthöfen und Pensionen, bei den wenigen Handwerkern oder im Laden, der sich, so klein er war, Supermarkt nannte.

„Wir sollten endlich anrufen“, sagte Fritz Hämmerle.

„Bringt das jetzt noch was? Sind doch gleich da.“

„Wir haben gestern gesagt, wenn wir losfahren, rufen wir an, und die lieben Kollegen hätten vielleicht doch gern eine Vorwarnung.“

„Der Markt hat schon auf, wir könnten noch Proviant fassen, falls wir länger dort oben sind.“

Maik fuhr auf den Parkplatz und telefonierte, während Fritz Hämmerle im Gehen eine Münze für den Wagen suchte, und am Wurstregal fast den Wachtmeister umrempelte, der in der gleichen Absicht hier war.

Wieder draußen begrüßte ihn Maik: „Ihre Frau Wegmüller ist beunruhigt, weil Sie noch nicht da sind.“

„So schlimm wird’s nicht sein. Sie trinkt ihren Kaffee morgens gern auch mal allein.“

„Sie kommen mit uns, nehme ich an, geht sowieso nicht anders.“

Süß kam gleich zur Sache: „Wenn dieser Mann, den wir nicht kennen - oder wissen sie inzwischen, wer er ist?“

„Nein, leider nicht.“

„Also, nehmen wir an, er war tatsächlich in den Pilzen, dann kannte er diese Stelle. Die Pilzgänger parken am Hochmoor oben in Riedbach. Die sind mit ihrem Korb nicht aufs Klettern aus und nehmen eher nicht den steilen Pfad, der unterhalb vom Steinbruch abzweigt.“

„Sie wollen sagen, wir machen das ebenso.“

„Ja.“

„Wie kommen wir nach Riedbach?“

„Mit dem Auto von hier dreißig Kilometer.“

„Luftlinie ist das ein Katzensprung. Sind wir nicht schneller zu Fuß?“

„Sie schon.“

Jetzt hakte Maik Haberland ein: „Wir wissen nicht, was wir alles brauchen, ein Pilzkorb wird vielleicht nicht reichen. Können wir vom Hochmoor aus noch weiter heranfahren?“

„Ja, für die Touristen gibt es die Sperrscheibe und der Förster kennt keine Gnade. Mit Ihrem Auto kommen wir fast bis hin. Treffen wir uns also an der Station, das geht alles nicht ohne meinen Chef und Anja Wegmüllers Kaffee.“

Den Kaffee sparten sie sich auf, bis sie wieder zurück waren. Piper beschloss mitzufahren und sie gingen zum Auto.

Wachtmeister Süß trug tatsächlich einen Pilzkorb.

„Wollen Sie die Szene nachspielen?“, fragte Maik Haberland.

„Bestimmt nicht, aber in der Zeit, in der sie mich nicht brauchen, wird der Korb voll, Sie werden sehen.“

„Sie sind einer von denen“, bohrte Maik Haberland weiter, „die illegal durch den Zaun gehen?“

„Illegal nicht, unser vorvorletzter Chef hat mich nach den zwei Todesfällen mit der Kontrolle beauftragt, ohne Befristung. Anfangs bin ich durch das Tor gegangen, aber seit der Schlüssel weg ist – wann war das, vielleicht vor einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahren? -, blieb nur das Loch im Zaun.“

„Du hast nie einen Bericht über diese Kontrollen geschrieben“, kam es von seinem Chef.

„Sollte ich das?“

„Zumindest wollen wir wissen, wie viel Pilze du im Korb hast.“

Damit wich wenigstens etwas von dem Frust. Sie wussten alle nicht so recht weiter. Anja Wegmüller kam mit dem Telefon angerannt und holte ihren Chef zurück.

„Tut mir leid“, sagte er und stieg wieder aus.

Sie fuhren um den Berg herum, vorbei an der Auffahrt zum Steinbruch und den verfallenen Ladeeinrichtungen, kamen durch mehrere Orte und waren fast in der Kreisstadt des benachbarten Landkreises, als der Wegweiser nach Riedbach auftauchte.

„Eschenweiler liegt schon abgeschieden, aber Riedbach ist noch viel schlimmer, wie ein Adlerhorst über dem Wald, und dazu noch das Hochmoor“, sagte der Wachtmeister und redete weiter, als das erste große Holzhaus zwischen den Fichten auftauchte: „Hier ist die alte Försterei.“ Sie kamen aus dem Wald heraus und nun wuchsen auf beiden Seiten lange Reihen Jungpflanzen verschiedener Bäume. „Die gehören zur Baumschule. In der Baumschule und im Forstbetrieb arbeitet halb Riedbach.“

„Und die andere Hälfte?“

„Rentner. Einer von denen, Alwin Osterwald, hat in seinem Haus die Naturschutzstation. Er ist einundachtzig und macht das seit eh und je. Seine Enkelin hat sich bei ihm eingenistet und macht das vielleicht weiter. Dann gibt es noch den Adler mit vielen Fremdenzimmern und einem halben Dutzend Blockhütten im Wald. Das war’s dann auch schon. Einige fahren neuerdings vielleicht auch in die Stadt.“

„Kennen Sie sich überall so gut aus?“

Der Wachtmeister lachte. Hatte er schon mal gelacht?

„Nach der Polizeischule bin ich aus Eschenweiler nicht rausgekommen. Hier oben wohnten bis vor zehn Jahren noch meine Schwiegereltern und den Pfad nach Riedbach gab es vor vierzig Jahren auch schon.“

„Ach, so war das. Wie viel Paar Schuhe?“

„Schuhe?“

„Wie viele haben Sie durchgelaufen?“

„Ach, das meinen Sie. Keins, wir mussten schnell heiraten und wohnen seither in Eschenweiler.“ Mittlerweile hatten sie das Gasthaus passiert. „Hier rechts haben meine Schwiegereltern gewohnt und danach kommt nur noch Alwins Haus, also das der Osterwalds.“

Links waren noch Felder der Baumschule und rechts ein langgezogener Parkplatz mit nur drei PKWs. Die Autos standen sozusagen fast im Hochmoor.

Der Frühnebel hielt sich dort. Wipfel abgestorbener Bäume ragten gespenstisch über das weiße Meer und ließen sich von der Sonne trocknen. Durch den Nebel waren die runden Umrisse von Weidenbüschen zu erahnen, wie im Moor halb versunkene große Murmeln.

Der Weg wurde holprig, der Wald dicht und düster, die Stämme der Fichten drängten gegen den Weg, ihre Wipfel weit über ihnen. Dünne Sonnenstrahlen fielen durchs Gehölz und brachten hier und da die braune Rinde zum Leuchten. Dunst quoll gemächlich durch dieses Licht. Am Ende dieses Tunnels aus alten Fichten wurde es hell. Dort standen Buchen mit ihren hellgrauen Stämmen. Sie fuhren auf einem Teppich rostroter Blätter.

Hier begann der Zaun und Maik Haberland hielt am Tor, das verschlossenen war mit einer rostigen Kette.

„Wie gesagt, der Schlüssel ist verschwunden“, sagte der Wachtmeister. „Weiter vorn ist das Loch.“ Sie fuhren, bis der Weg sich nach links vom Zaun entfernte. „Das Auto lassen wir hier.“

Maik lächelte, als er Wachtmeister mit seinem Korb ausstieg. Er selbst trug Seil und Gürtel.

Dann stiegen sie durch das Loch im Zaun und das dicke Buchenlaub hinab. Die übrigen dürren rostroten Blätter in den Zweigen hinderten nicht den Blick ins Nichts, das an der senkrecht in die Tiefe abfallenden Wand begann. Er erinnerte sich an das Bild von Rafi auf seinem Bildschirm, wie er die Abbruchkante heranzoomte, diese letzten ziemlich steil abfallenden Meter vor der Wand, die durch das niedrige Gehölz schon zu erahnen waren.

Hier standen sie jetzt mit den großen Buchen im Rücken. Ab hier fiel es wirklich schon steil ab und es wuchs dieses dichte, knotige Gestrüpp. Sie gingen nach links. Wenn hier jemand den Halt verlöre, würde er im Gestrüpp mit Sicherheit hängen bleiben.

Maik, der als Erster ging, rutschte plötzlich ab. Blitzschnell griff Süß zu. Fritz Hämmerle stand wie angewurzelt da und wurde blass. Die beiden saßen schließlich erschrocken auf dem Boden und Maik schaute den Hang hinauf. „Ich habe zum Steinbruch geguckt und bin in diese Rinne getappt. Hier fließt sicher Wasser, wenn es viel regnet. Da, wo das Laub die losen Kiesel tückisch zudeckt, ist man schnell reingetreten. Wie aus dem Nichts wegzurutschen … Ich fass es nicht, aber hier kann man wirklich abstürzen.“

„Wir sind hier über der Fundstelle“, sagte Wachtmeister Süß, „ungefähr jedenfalls.“

„Gibt es noch mehr solche Stellen?“, fragte Maik. „Gehen wir noch ein Stück und sehen nach.“

„Ich kann es allein erkunden und sie beginnen hier“, bot Süß an. „Das Gestrüpp hört nach meiner Erinnerung erst am Ende des Steinbruchs auf.“

Fritz Hämmerle schaute auf sein Handy. „Hier oben gibt es Empfang. Rufen Sie uns an, falls Sie noch weitere solche Stellen finden.“

Wachtmeister Süß nickte, nahm seinen Korb und ging.

Maik stieg in den Klettergürtel und zeigte Hämmerle, wie er ihn sichern sollte. Und damit hatte er dann zu tun, denn Maik trat auf halber Strecke in diesem Bachbett eine Lawine aus Geröll und Laub los, die in die Tiefe polterte. Maik hing im Seil, er hätte sich sonst kaum halten können.

Als Maik fast wieder nach oben geklettert war, heftete sich sein Blick auf eine junge Buche. Er suchte sich dort einen festen Tritt und zog aus seiner Innentasche einen Plastikbeutel.

„Du hast das Ende von dem Ast abgeschnitten und eingesteckt?“

„Ja, vorsichtshalber. Vergiss nicht, mich festzuhalten, ich bin noch nicht oben.“ Er hielt das Stück Holz an den Baum. „Das passt genau, der Ast ist von hier. Er ist vielleicht ebenso abgerutscht wie ich, hat versucht, sich festzuhalten, und konnte sich den Ast greifen, aber der Ast riss ab und dann gab’s kein Halten mehr.“

Maik packte das Stück vom Ast wieder ein und sagte, während er den Gürtel ablegte: „Wir machen einen Abdruck. Das Zeug dafür ist aber im Auto.“

„Wir müssen also nach oben und dann wieder runter?“

Maik nickte, griff zum Handy und erklärte es dem Wachtmeister, der seinerseits auch noch etliches zu erzählen hatte.

„Es gibt keine weiteren solchen Stellen, sagt er. Er kommt dann direkt zum Auto. Man kann einfach nirgendwo abstürzen, außer hier.“

„Also brauchen wir nur noch den Namen des alten Herrn und dann ist der Fall abgeschlossen“, sagte Fritz Hämmerle.

„Sieht so aus.“

Als sie das zweite Mal zum Auto kamen, war Wachtmeister Süß schon da, den Korb voller Pilze. „Ich weiß, wir haben Marschverpflegung dabei, trotzdem schlage ich vor, in Riedbach zum Adler zu gehen. Da kocht der Chef und macht uns die Pilze.“

Maik blickte skeptisch in den Korb. „Herr Süß, sind Sie sich sicher?“

„Ich sammle schon vierzig Jahre Pilze und wir hatten in der Familie noch keine Ausfälle, alle haben mitgegessen. Aber ich kann Sie beruhigen, es ist ein spezielles Angebot vom Adler, die Pilze der Gäste auch zuzubereiten und der Wirt ist anerkannter Pilzsachverständiger.“

„Fritz, du bist der Chef. Es ist grade mal zehn.“

Fritz Hämmerle fragte: „Was meinen Sie, Herr Süß, die Leute, die hier oben wegen Pilzen unterwegs sind und von außerhalb kommen, wie wahrscheinlich ist es, dass die im Adler wohnen?“

„Die meisten wohnen dort.“

„Im Einzugsgebiet wird niemand vermisst, also könnte der verunglückte Pilzsucher ein Gast von weiter her sein. Sehen wir uns die Gästelisten des Adler an.“

Fritz Hämmerle sah in die Gesichter seiner beiden Mitstreiter und selbst Maik schien nichts dagegen zu haben, er selbst sowieso nicht, also fuhr er fort: „Es spricht demnach nichts dagegen, die Pilze währenddessen in der Pfanne brutzeln zu lassen.“

Wachtmeister Süß wurde im Adler mit großem Hallo begrüßt. „Was, du bist im Dienst und hast ein Korb voll Pilze? Suchst du einen schuldigen Giftpilz?“

Das hatten sie nicht bedacht. Wenn sie jetzt in der Gaststube plauderten, war es mit der Geheimhaltung wohl vorbei.

„Weißt du, Paul“, sagte Wachtmeister Süß zum Wirt, „die Pilze sind uns über den Weg gelaufen. Wir wollen wirklich bei dir essen, wenn sich’s schon mal so ergibt. Wir können aber erst mal in dein Büro gehen, um die Pize anschauen, und meine Kollegen müssen mit. Das ist eine Fortbildung. Es würde sie nebenbei auch beruhigen. Sie trauen meinen Pilzkenntnissen nicht.“

Der Wirt schien zu ahnen, dass er gebraucht wurde, nach dieser ungewöhnlich langen Rede seines alten Bekannten, ließ sich aber nichts anmerken und scherzte: „In dem Fall müssen wir zuerst über das Honorar für diesen Pilzkurs verhandeln“, und ging voraus.

Wachtmeister Süß flüsterte Fritz Hämmerle zu: „Paul hält dicht.“

Der nickte zustimmend, denn auch er wollte diesen Mann einbeziehen.

Der Wirt griff im Vorbeigehen eine Edelstahlschüssel und drückte sie dem Wachtmeister in die Hand, während er schon mal einen Blick in den Pilzkorb warf. Als er die Tür zu seinem geräumigen Büro geschlossen hatte, fragte er: „Sie wollen also wirklich Pilze zu Mittag?“

„Ja, diesmal muss es nicht auf die Schnelle irgendwo eine Pommesbude sein.“

„Dann sollten die Pilze schleunigst in die Küche.“

Er nahm Stück für Stück mit dem entsprechenden Kommentar heraus und als er den letzten in der Hand hatte, sagte er: „Die sind vom Steinbruch. Um diese Zeit wachsen die nur dort.“

„Paul, wir brauchen deine Hilfe.“

„Dachte ich mir schon. Ich bring die Pilze nur schnell unserer neuen Köchin, die macht das besser als ich. Kaffee?“

Die drei schauten sich kurz an. „Ja gern.“

Als er zurückkam, erzählten sie ihm, dass es offenbar wieder einen Unfall gegeben hatte, aber der Tote sei unbekannt, er habe keine Papiere bei sich gehabt und im weiteren Umkreis werde niemand vermisst, auf den die Beschreibung gepasst hätte.

Der Wachtmeister überlegte weiter: „Vielleicht war er hier über Jahre im Urlaub, so gut, wie der sich auskannte – du weißt schon, das Loch im Zaun –, und die meisten Gäste wohnen bei dir. Kann auch ein Einzelgänger gewesen sein.“

Woraufhin der Wirt kommentierte: „Und ihr seid euch sicher, dass ihn nicht seine Frau über die Kante geschubst hat?“

Jetzt rührte sich Fritz Hämmerle: „Wir kommen nicht weiter, solange wir nicht wissen, wer er ist. Er ist eins achtundachtzig groß, etwa fünfundsechzig Jahre alt, plus/minus, hatte einen grünen Trachtenanzug an und war bis vor vier Wochen noch am Leben. Vielleicht sagt der Pathologe noch, was er zuletzt gegessen hat.“

„Ich erinnere mich an viele meiner Gäste, besonders an die schrägen Vögel. Nein, vor vier Wochen war niemand da, auf den die Beschreibung passt, aber wenn ihr die Gästelisten wollt …“

„Ja.“

„Kein Problem, die letzten drei Jahre sind auf dem PC, die Jahre davor bei der Buchhaltung abgelegt. Die müssen wir sowieso zehn Jahre aufheben.“

„Drei Jahre reichen uns erst mal.“

Er schiebt sich hinter seinen Computer und griff eine leere CD aus einer Vorratsbox: „Reicht das so?“

„Auf jeden Fall.“

„Und er hatte überhaupt nichts dabei?“

„Nein, rein gar nichts, außer Geld. Seine Papiere kann er auch beim Sturz verloren haben, ist aber unwahrscheinlich und dazu wären sie unter dem Laub kaum zu finden.“

„Habt ihr einen Job! Das wär nichts für mich“, beendete der Wirt den Wortwechsel mit Fritz Hämmerle und fragte in die Runde: „Wo wollt ihr essen?“

„Bei diesem Wetter auf der Terrasse“, sagte Süß.

„Zu ungemütlich, die ist schon in den Winterschlaf gelegt. Wie wär’s mit dem Wintergarten, wenn ihr schon nicht in die Gaststube auf die Ofenbank wollt?“

„Was meinen Sie?“, fragte Wachtmeister Süß seine Kollegen.

„Sie sind hier zu Hause, wir lassen uns überraschen“, meinte Fritz Hämmerle.

Der Wirt stand auf, steckte die Scheibe in eine Hülle und gab sie ihm. Sie verschwand in Fritz Hämmerles Jacke.

„Ich gehe inzwischen in die Küche. Anselm bringt euch hin.“

Wegen der Pilze im Mund und fehlender Neuigkeiten verlief das Essen ohne viele Worte.

Der Wirt fragte, ob es geschmeckt hätte, und erhielt allseits wohlige Bestätigung.

„Einen Kaffee? Geht aufs Haus.“

Sie lehnten sich zurück und nickten. Er nahm elegant das Geschirr, alles auf einmal, und kam mit Kaffee zurück.

„Anselm, wann warst du zuletzt bei uns hier oben? Ist schon lange her.“

„Letztes Jahr, man wird halt nicht jünger. Bei dir hat sich einiges getan, wenn ich an die einsame Schaukel im letzten Jahr denke.“

„Jetzt gibt es einen großen Spielplatz bis in den Wald hinein, hat sich schon rumgesprochen. Übers Wochenende soll’s so schön bleiben. Wir werden die Terrasse wieder auspacken müssen. Die Mountainbiker kommen bestimmt auch, etliche mit dem Bus, der oft die Gepäckfächer voll mit Rädern hat.“

„Das gab’s doch früher nicht, oder?“

„Der Radsportverein aus der Stadt hat eine Strecke angelegt. Es geht die Berge runter und dann rollt man bis in die Stadt.“ Der Wirt bemerkte wohl, wie die beiden anderen unruhig wurden. „Sie müssen wohl wieder?“

„Ist nicht gerade der kürzeste Weg ins Präsidium. Die Pilze waren sehr gut. Vielen Dank, auch für die CD.“

„Bitte, bitte, gute Fahrt. Anselm, grüß deine Frau.“ Er winkte die Kellnerin herbei und verabschiedete sich.

Sie bezahlten und die milde Luft schlug ihnen entgegen, als sie den Adler verließen. Es war außergewöhnlich warm für diese Jahreszeit. Wachtmeister Anselm Süß – sie hatten noch nie einen Anselm kennengelernt – telefonierte.

„Ja. --- Wir fahren jetzt. --- Ja, in Riedbach.“

Es war Anja Wegmüller und dementsprechend war der vom Morgen aufgeschobene Kaffee schon vorbereitet und dazu gab es Original Eschenweiler Apfelstrudel, als sie eintrafen. Sie waren noch satt, wollten aber nicht unhöflich sein.

Fritz Hämmerle berichtete vom Steinbruch und von der Gästeliste, und meinte dann, die Suche ausweiten zu wollen.

Trotz Pilzen und Apfelstrudel war es noch recht zeitig und Fritz Hämmerle dachte, Maik würde nach der Völlerei gleich einschlafen und öffnete ihm die Cola, die im Seitenfach stand.

„Stimmt wohl doch, dass Pilze schwer verdaulich sind“, sagte er, wollte die Cola aber nicht.

Fritz Hämmerle trank ausgiebig, auch ihm lag das Essen richtig schwer im Magen. Man hätte fast meinen können, der Wirt hätte etwas übersehen. Es zog ihm alles zusammen, vielleicht sollte Maik vorsichtshalber auf dem nächsten Parkplatz halten. Es ging ihm wirklich gar nicht gut.

Aber es war nichts im Vergleich zu dem, in was er sich damals, ohne es zu merken, immer tiefer hineinmanövriert hatte, bis dann schließlich alles zusammengebrochen war. Die Erinnerung daran war schwammig, wie eine beschlagene Brille, er sah nichts. Wenn er nur daran dachte, wurde ihm schon schlecht.

Die Autobahn zog sich und als der nächste Parkplatz auftauchte, ging es ihm wieder besser. Er dachte an den Besuch bei Frau Le, diese kleine, zarte Frau, in deren vom Leben gegerbtem Gesicht so viel Güte lag.

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Er ruft sie nicht an, fährt einfach hin.

„Sie wollen sicher zu meiner Mutter“, meint die Frau an der Tür, der er sich eben vorgestellt hat. Sie tritt zur Seite und bittet ihn mit einer Geste herein. Kinder streiten heftig und durch die offene Zimmertür fliegt ein Pandabär in den Flur. Die Frau hebt ihn auf, geht in das Zimmer der Kinder und schließt die Tür hinter sich. Es wird still. Die Frau kommt wieder, gefolgt von einem Mädchen, barfüßig und mit ebenso schwarzer Mähne wie ihre Mutter. Mit dem Finger im Mund mustert es ihn neugierig, bevor es von der Mutter ins Zimmer zurückgeschoben wird.

„Bitte warten Sie ein wenig.“

Er steht vor der Garderobe und entdeckt nichts, was einem Mann gehören könnte. Wo sind die Männer hier?, fragt er sich. Es ist sauber, anders als im Treppenhaus, in dem es streng riecht.

Aus dem hinteren Zimmer kommt Frau Le, begrüßt ihn, freundlich und scheu, und bittet ihn in ihr Zimmer.

In der Tür steht er vor den Reisstrohmatten und will instinktiv die Schuhe ausziehen. Sie hält ihn davon ab und bittet ihn, sich zu setzen.

Frau Le erinnert ihn an ein Bild, das er in einer Zeitschrift gesehen hat: Frauen auf dem Reisfeld. Ein ebensolches gerade fallendes Gewand trägt sie, und auf dem Schrank entdeckt er den typischen flachen Hut, den die Menschen auf dem Bild alle aufhatten. Ob sie den, wenn sie Sehnsucht hat, aufsetzt? So sehr er mehr über dieses Schicksal wissen will, fragt er doch nicht nach.

„Sie haben Frau Kämpf gefunden.“

„Ja.“

„Und sie lebte nicht mehr.“

„Ja.“

„Es war ihr normaler Arbeitsbeginn?“

„Jeden Tag um diese Zeit, montags nicht. Die Frauen sehe ich meistens nicht. Sie schlafen in ihren Zimmern und am Sonntag lag der Lohn auf dem Tisch.“

„Immer?“

„Lohn, immer.“

„Die Frauen, kennen Sie sie gut?“

„Nicht so gut. Als Kitty neu war, haben wir paarmal zusammen gefrühstückt. Manchmal kamen sie auch aus ihren Zimmern ganz müde, gingen zum Klo und in die Küche zum Kühlschrank, da redeten wir auch. Vor vier Tagen waren sie beide angezogen, ein Koffer stand im Flur und sie sagten, ich soll mit ihnen essen, Mama von Kitty ist krank und sie fährt nach Hause. Sind zum Bahnhof gefahren. Rita war noch nicht zurück, als ich fertig war.“ Sie kämpft mit den Tränen. „War das letzte Mal.“

„Rita hatte einen Riemen um den Hals. Sie haben schon Kommissar Scheffer berichtet, Sie hätten Frau Kämpf zweimal losgemacht. Erzählen sie mir, wie das war.“

Alle Freundlichkeit weicht, sie sieht entsetzt aus, die Hände verkrampfen, die Knöchel treten weiß hervor. Sie müht sich, die Fassung wiederzugewinnen.

„Ja“, sagt sie, „war auch um ihren Hals im Sommer, zweimal, sie rief mich gleich, als ich zur Tür hereinkam, sagt, wie ich Handschellen aufschließen muss. Diesen Riemen hat sie dann selbst abgemacht und weggeworfen. Sie weinte sehr, als ich den Kaffee auf den Tisch stellte und wir in der Küche saßen, sie weinte und weinte. Ich fragte Rita: Warum? - Warum machst du das? Sie steht auf, geht in ihr Zimmer, kommt gleich zurück und hatte die Hand voller Geld. Viel Geld. Sie zieht fünfzig heraus und gibt mir den Schein. Ich wollte dieses Geld nicht. Rita hat gesagt: Von diesem Monster war in deinem Umschlag am Sonntag auch Geld. Sie hat mich weggeschickt, habe nicht gearbeitet.“

„Und das zweite Mal?“

„Vier Wochen später, er fuhr gerade los, als ich kam.“

„Haben Sie ihn gesehen?“

„Nein, nur das Auto. Es war blau und laut.“

„Haben Sie all die Sachen in den Schränken auch sauber gemacht?“

„Ja, einmal in der Woche.“

„Diesen Riemen auch?“

„Der war nicht immer da, erst dreimal davor.“

Die Fingerabdrücke hätte er fast vergessen und es tut ihm leid, sie auch noch damit zu belästigen. Er steckt die Folie ein und sagt, dass er wegen des Protokolls wiederkommen muss.

Sie verabschieden sich und er steigt die vielen Stufen wieder hinunter. Von wegen Bio-Kiff, wieso sollte sie derart weinen nach einem für sie angeblich so schönen Erlebnis. Wie soll er Kessler nur drankriegen? Ihm fällt nichts ein, einfach gar nichts, und das bringt ihn fast um.

Es steht ihm ins Gesicht geschrieben, als er nach Hause kommt. Lilly sieht es und kann ihre Sorge schlecht verbergen, sie kümmert sich um ihn, doch er sitzt am Küchentisch und sieht durch sie hindurch. Wie ist sie tatsächlich gestorben, wie nur?

Lilly weicht nicht von seiner Seite, sucht seine Nähe.

Er liegt starr da, den Blick an die Decke des dunklen Schlafzimmers gerichtet. Mit beiden Händen fasst er das Eisengestänge des Ehebettes, zieht sich ein Stück weiter aufs Kopfkissen und schläft schließlich ein.

Am Morgen fühlt er sich zerschlagen, aber es geht. Sein Chef ruft an, als er noch unterwegs ist. Er soll zu ihm kommen. Das Autofahren strengt an, heute besonders, und er verliert wieder die Wettfahrt mit der Bahn nebenan auf ihren Gleisen.

Hauptkommissar Scheffer sieht auch nicht sehr frisch aus, holt aber aus seinem neuen Mitarbeiter alles heraus, was er bisher gemacht hat. „Herr Hämmerle, Sie sind schon fast durch“, versucht er, ihn zu loben.

„Wir stecken aber fest, wenn’s auch nur noch ein Schritt ist.“

Sein Chef schweigt und ordnet die Vorhänge.

Heute weiß Fritz Hämmerle, wenn Scheffer nachdenkt, tut er manchmal unnütze Dinge, sitzt am Schreibtisch und malt Strichmännchen, richtig lebendig und viel zu schade für den Papierkorb, oder zupft, wie eben, an Vorhängen, wo nichts zu zupfen ist.

Er tritt vom Fenster weg und setzt sich zu ihm an den Tisch.

„Der Pathologe wird uns nichts Neues bringen. Kessler und sein Casino sehen wir uns genauer an.“

„Razzia?“

„Nein, jetzt nicht, dafür haben wir zu wenig, und diesen Neigungen scheint nur er selbst nachgegangen zu sein, mit seinem Casino hat das nichts zu tun. Wir nehmen es uns trotzdem vor. Aber das macht Sven Papke.“ Er greift zum Telefon. „Kommst du kurz hoch? --- Dauert nicht lange.“

Sven Papke ist klein, untersetzt, kurzes Haar, perfekt rasiert, nicht unbedingt schlank. Es ist jemand, den man leicht übersieht. Andersherum ist das Gegenteil der Fall: Den kleinen Augen, die ein wenig zusammengekniffen wirken, scheint nichts zu entgehen.

„Wenn ich recht verstehe“, bemerkt er, nachdem er zugehört hat, „gibt es noch nichts zu lesen.“

„Die Spurensicherung ist noch nicht fertig“, sagt Fritz Hämmerle. „Warum hat eigentlich Dr. Friedrich noch keinen Bericht geschrieben?“

„Sven, du nimmst dir Kessler vor, Finanzen, alle seine Geschäfte. Aber er darf nichts davon mitbekommen.“

Sie reden noch kurz und als Sven Papke wieder weg ist, sagt der Chef zu ihm: „Herr Hämmerle, Sie gehen nach unten. Warten Sie, wir gehen zusammen. Fragen Sie Maik Haberland und Dr. Friedrich, ob wir kommen können, sagen wir, in einer Viertelstunde.“

Fritz Hämmerle überlegt auf dem Weg in sein Zimmer, in dem er in den zwei Tagen kaum war, ob er so was wie eine Telefonliste gesehen hat oder wie er sonst an die Nummern kommt, und ist noch am Suchen, als sein Chef schon in der Tür steht. Er solle wegen der Hausapparate zu Frau Micha gehen, sagt er und ruft gleich selbst an.

Im Aufzug fragt er seinen Chef: „Was machen wir mit Hermann Wetterer?“

„Er wollte wissen, wie sie gestorben ist. Das hat er Sie doch gefragt auf dem Weg von der Pathologie?“

„Hat er.“

„Dann sagen Sie es ihm, ausführlich. Er mochte sie, vielleicht sogar mehr als das, also wird er sie gut kennen, so lange, wie das schon ging. Wir sollten mehr über Rita Kämpf wissen, und mehr über Wetterer. Diese Kitty, rufen Sie sie an. Und Herr Hämmerle, vielleicht sind die beiden Damen nicht selbstbestimmt ihrem Job nachgegangen und Hermann Wetterer ist doch ihr Zuhälter. Kann auch sein, es gibt noch andere, die in dem Geschäft drinstecken und absahnen. Ihnen ist klar, wenn die beiden selbstständig waren, wie Sie mir sagten, dann gehören sie zu dem weitaus kleineren Teil der Prostituierten, bei denen das tatsächlich zutrifft.“ Sie sind im Untergeschoss angekommen, die Türen gleiten auf, der Chef hält den Fuß dazwischen. „Lassen Sie sich von der Romanze, die Wetterer Ihnen auftischt, nicht gleich einwickeln.“

Fritz Hämmerle nickt und sie gehen zur Spurensicherung.

Maik Haberland erwartet sie schon und setzt sich mit den beiden an den Tisch. Fritz Hämmerle schiebt ihm kommentarlos die Fingerabdrücke von Kessler und Frau Le zu.

Scheffer kommt gleich zur Sache: „Kessler sagt, er war von null Uhr dreißig bis gegen sechs bei ihr. Genau kann er sich nicht erinnern, sagt er. Sie haben Kaffee getrunken und auf Wunsch von Rita Würgespiele gemacht, sagt er.“ Er hält inne. „Wollen wir Dr. Friedrich gleich mit einbeziehen? Wir sind bei ihm angemeldet, also gehen wir.“

Dr. Friedrich hört sich alles an und sagt schließlich: „Der Riemen hat ein deutliches Mal hinterlassen. Andere Würgemale gibt es nicht. Also, Hämatome finden sich am Hals in der Breite des Riemens, weitere an den Hand- und Fußgelenken von den Handschellen und leichte an der Innenseite der Oberschenkel. Spermaspuren auf Brust, Bauch, Gesicht und im Magen. Die Hämatome an den Gelenken sind zum Teil offen, stellenweise leicht blutend, keine Drogen, Alkohol: null Komma zwei.“

„Was hat sie gegessen? Auf dem Tisch standen Kaffeetassen, Baguette und Aufstriche.“

„Kaffee hat sie in den zwei Stunden vor dem Todeszeitpunkt nicht getrunken, Baguette hat sie auch nicht gegessen, aber relativ viel Chips einige Stunden zuvor.“

„Die Tüte war im Abfall“, sagt Maik Haberland.

„Keine inneren Verletzungen, auch nicht vaginal oder anal. Dort war auch kein Sperma.“

„Kessler sagt, er hätte den Riemen auch dieses Mal wieder gelockert. Er hat gefrühstückt, bevor er ging, während sie nebenan festhing. Also bliebe nur eine panische Reaktion.“

„Sind Sie sich“, fragt der Chef Maik Haberland, „mit Ihrer Analyse des Frühstückstisches sicher?“

„Stimmt doch mit dem Ergebnis von Dr. Friedrich überein. Rita Kämpf hat während Kesslers Anwesenheit nichts gegessen und in den letzten Stunden nichts getrunken.“

Der Chef sagt: „Wir gehen noch mal alle Details durch, jeder für sich. Wann kommt Ihr Bericht?“, wendet er sich an Dr. Friedrich.

„Morgen.“

Sie stehen alle auf, Maik Haberland geht Richtung Spurensicherung, die Übrigen zum Aufzug.

Fritz Hämmerle kommt nicht damit klar, er sieht nicht nur ratlos aus, er ist fertig, und Scheffer merkt es. „Kopf hoch, Hämmerle, wir kriegen Kessler. Haben Sie eigentlich die Bilder?“

„Ja“, gibt er gepresst von sich, mittlerweile vor seiner Tür angekommen, unschlüssig, ob der Chef ihn da jetzt reingehen lässt.

„Schicken Sie sie mir rüber.“

„Ich hab die Zugänge noch nicht.“

„Ach ja, keine Telefonliste, keine Zugänge. Sie kommen schon noch an, Herr Hämmerle.“

Er geht mit zu ihm ins Zimmer, schreibt seine Zugänge auf und schiebt sie Fritz Hämmerle hin, der seinen PC hochfährt. „Das Programm ist ein anderes als an der Akademie.“

Es wird eine Einführungsstunde, an deren Ende nicht nur die Bilder verschickt sind, er fühlt sich auch ein bisschen mehr angekommen.

„Fahren Sie doch noch mal in die Hangstraße. Wenn Kessler schon nicht sagt, wann er weggefahren ist, kann sich vielleicht im Haus jemand genauer erinnern.“

„Laut genug ist es. Das Röhren seines Autos liegt mir noch vom Besuch bei Kessler in den Ohren.“

„Wie gesagt, gehen Sie zu Wetterer und konfrontieren Sie ihn. Haben wir schon die Verwandten von Rita Kämpf?“

„Noch nicht.“

„Die zuständige Abteilung ist über der Spurensicherung. Paul Gräz heißt der Kollege. Kann gut sein, die Eltern wissen nichts von der Arbeit ihrer Tochter.“

„Müssen wir ihnen das so genau erzählen?“

„Jetzt finden wir sie erst mal und dann sehen wir weiter.“

ˆˆˆˆˆˆˆ

Sie passierten die Schranke am Präsidium ins Innere des Karrees und fuhren hinab in die Tiefgarage auf einen der Parkplätze der Spurensicherung. Fritz Hämmerle sah sich im Auto um, fand aber nichts, was er vergessen haben könnte. Die CD war in der Jackentasche.

Maik nahm die Kamera und den Abdruck vom Baum.

Sie sahen sich kurz an und jeder ging seiner Wege, Maik verschwand im Gang und er im Aufzug. Im ersten Stock machte er einen Zwischenstopp, weil er noch schnell zu Paul Gräz wollte. Sie waren ja heute nicht all zu spät dran.

Paul Gräz kam ihm im Mantel entgegen, kehrte um und fuhr den PC in seinem Zimmer wieder hoch. Sie brachten die bundesweite Suche auf den Weg.

„Ich bekomme es gleich, wenn was reinkommt.“

„Wie immer also.“

„Ist es so schlimm? Na ja, wie fast immer.“

Paul Gräz hatte den Mantel erst gar nicht ausgezogen. Sie gingen, er zum Parkplatz, Fritz Hämmerle fuhr nach oben.

Auf dem Weg vom Aufzug in sein Büro kam eben sein Chef, Alexander Dietrich, aus Frau Michas Tür. „Herr Hämmerle, kommen Sie doch bitte zu mir.“ Doch das Bitte klang nicht wie eine Bitte. Mit einem Blick auf den Stapel Papier in seiner Hand fuhr er fort: „Sagen wir, in einer Viertelstunde.“

Er ließ sich im Büro auf seinen Stuhl fallen und versuchte, abwesend die Schnürsenkel seiner Bergschuhe zu lösen. Das ging nicht, irgendwie zogen sich die Knoten nur fester.

„Was mag Alex bloß haben?“, überlegte er laut. Nicht dass ihn das übermäßig beunruhigte. Er hatte ihn wirklich lange nicht mehr zu sich geholt, es lief alles über Frau Micha. Machte er sich wieder Sorgen um ihn? Dass er überhaupt noch hier war in der K30, überhaupt noch Polizist war, nachdem er nach seinen ersten Wochen hier schließlich in der Klapse gelandet war, verdankte er Alexander Dietrich. Aus der Psychiatrischen Klinik wieder zurück, hatte er ihn zu seinem persönlichen Assistenten gemacht und das war er heute noch. Die erste Zeit hatte er vorwiegend mit allem möglichen Papierkram zugebracht. Geht denn dieser verflixte Knoten endlich auf? Wo ist denn der Stick mit den Bildern? Der lag doch gestern noch hier auf dem Schreibtisch, fragte er sich - sein Blick blieb an der Uhr hängen, die dort stand. Ihr leises Ticken schien sich auf seinen Hals zu übertragen oder war das nur sein Puls? Die Hände fühlten sich vom feuchten Laub klebrig an. Hatte er sich wirklich seit dem Steinbruch noch nicht wieder die Hände gewaschen? Er verließ sein Büro Richtung Waschbecken und verbrauchte reichlich Papierhandtücher.

Der Gedanke, im Vorbeigehen kurz bei Frau Micha reinzuschauen, weckte einen Anflug von schlechtem Gewissen, es gab ja nichts Konkretes. Aber allein schon ihre Nähe hätte ihn wie schon am ersten Tag beruhigt.

Er riss sich zusammen und ging zu seinem Chef, der ihn umgehend – im wahrsten Sinne des Wortes, denn er kam um seinen Schreibtisch herum – nach Eschenweiler fragte. Sie setzten sich an den Tisch und er berichtete ihm.

Offenbar zweifelte er auch nicht an einem Unfalltod, so dass faktisch die Ermittlungen beendet waren und wechselte schnell das Thema.

„Herr Hämmerle, ich hatte Besuch von der Personalabteilung, sie hätten in den letzten drei Jahren ganze fünf Tage Urlaub genommen, jedenfalls den Urlaubsscheinen zufolge. Ist das so?“

„Könnte hinkommen.“

„Herr Hämmerle, Sie sind mein Assistent seit Ihrem Zusammenbruch damals und ich habe viel an Ihrem Privatleben Anteil genommen, manchmal mit dem Eindruck, mich zu sehr einzumischen. Muss ich mir wieder Sorgen machen?“

„Nein, ich glaube nicht.“

„Sie arbeiten seit drei Jahren faktisch durch. Keiner hat es gemerkt und ich muss mir vom Personalchef anhören, meine Leute zu überfordern.“

„Nein, mir geht es gut.“

„Scheffer hat mich letztens schon zum zweiten Mal gefragt, ob er Sie wiederhaben kann. Das will was heißen.“

„Er hat mich auch angesprochen.“

„Und was haben Sie ihm gesagt?“

„Gar nichts, nur mit den Schultern gezuckt.“

„Ihm wäre das mit Ihrem Urlaub sicher nicht entgangen.“

„Ist das Ihr einziges Problem mit mir?“ - Das war sehr direkt und er fragte sich: War es jetzt unverschämt?

„Ja, es ist das Einzige. Sie sind gut platziert, ich will nichts ändern. Aber Sie haben Familie. Wieso nehmen Sie keinen Urlaub? Obwohl mich das eigentlich nichts angeht, aber in Anbetracht der Schwere des Vergehens.“

Fritz Hämmerle war erleichtert. Wenn sein Chef Witze machte, war das für ihn kein Problem. Obwohl, zu Hause würde es ganz bestimmt eins, mindestens eins.

„Meine Frau hat vor drei Jahren ihre Praxis übernommen.“

„Das hatten Sie mir erzählt.“

„Sie hat bisher durchgearbeitet und in den fünf Tagen Urlaub habe ich beim Umbau der Praxis geholfen.“

„Das sagt so gut wie alles, aber auch wieder nichts.“ Fritz Hämmerle sah ihn wohl doch etwas hilflos an. „Herr Hämmerle, Sie haben ab Montag sechs Wochen Urlaub. Ihr jetziger Fall liegt auf Eis, bis Paul Gräz die Identität ermittelt hat. Mit Ihrem Teil sind Sie fertig, ich will Sie hier die nächsten sechs Wochen nicht sehen.“

„Der Fall ist so gut wie abgeschlossen, kann ich vielleicht doch diesen kleinen Rest noch selbst erledigen? Paul Gräz ruft mich an, wenn er ihn gefunden hat.“

„Machen Sie die Akte so weit fertig und bringen Sie sie zu Frau Micha. Erledigen Sie diesen kleinen Rest, wenn Sie wollen.“

„Dieser Rest geht gut von zu Hause.“

„Herr Hämmerle, passen Sie auf sich auf, und auf Ihre Familie. Ihr Sohn ist jetzt wie alt, vierzehn?“

Sein Chef gab ihm eher zurückhaltend die Hand, nicht wie im Schraubstock. Nie würde diese Hand einen in die Knie zwingen.

Jedenfalls schloss er ein wenig Frieden mit dieser Aussicht auf die sechs Wochen Urlaub. Er ließ sich auf den Stuhl an seinem Schreibtisch fallen. „Den Rest darf ich also noch machen“, sprach er zu sich selbst. „Also suchen wir die Reste zusammen: Paul Gräz ruft mich an, das läuft. Maik und Dr. Friedrich sollen ihre Berichte gleich an Frau Micha geben. Mehr ist nicht.“ Ich fahr runter zu Maik und dem Doc, beschloss er, die sind sicher noch da.

„Sechs Wochen Urlaub, du Glücklicher“, empfing ihn Maik. „Da machen wir gleich mal einen Familienausflug nach Riedbach am Wochenende.“

„Soll das ein Witz sein?“

„Durchaus nicht. Sieh dir das doch nur an!“ Er zeigte ihm das Bild auf seinem PC.

„Kenn ich, die Wand vom Steinbruch ist ein schöner Desktophintergrund.“

„Ja, hab ich auch gedacht, aber dann fiel mir auf, dass da was nicht stimmt.“

„Was soll da nicht stimmen?“

„Es gibt nur eine Stelle, an der man abstürzen kann. Haben wir gestern festgestellt.“

„Ja, und?“

„Und da kommt Wasser vom Berg.“

„Jetzt, wo du das sagst, an der Felswand ist eine Spur zu sehen.“

„Die Spur verläuft senkrecht, und jetzt zeig mir, wo der Tote gelegen hat.“

„Ist ein bisschen daneben, sieht jedenfalls auf dem Bild so aus.“

„Und was sagt uns das? Wir müssen noch mal hin!“

„Meinst du? Aber ich habe Zwangsurlaub.“

„Wer zwingt dich?“

„Die Personaler haben mitgekriegt, dass ich drei Jahre fast keinen Urlaub genommen habe. Da hat mich Alex einfach die nächsten sechs Wochen vor die Tür gesetzt.“

„Alex?“

„Ja.“

„Und wer hat den Fall jetzt?“

„Wie wir auch geht Alex von einem Unfall aus. Wenn der Tote einen Namen hat, muss er nur noch zur Beerdigung freigegeben werden und darum darf ich mich noch selbst kümmern.“

„Mit Urlaubsschein?“

„Er hat’s, glaub ich, so gemeint.“

„Das passt doch mit dem Familienausflug. Das Wetter wird schön, unsere Jungs kriegen wir mit den Mountainbikes, meine Kleinen haben den Spielplatz vom Adler, unsere Frauen wollten sich sowieso mal wieder treffen und deine Lilly muss an die Luft, sie versauert sonst in ihrer Praxis.“

„Und im Büro.“

„Es dauert nicht lange. Die üppige Steinlawine, die ich in der Rinne losgetreten habe, ist bestimmt zu sehen. Die Steine haben sich nicht alle im Laub verkrochen.“

„Und du meinst, unsere Frauen sind nicht sauer, wenn sie mitkriegen, dass es eine verkappte Dienstreise ist.“

„Sie werden so tun, haben aber bestimmt nichts dagegen, uns eine Weile los zu sein.“

„Besser, wir sagen es ihnen gleich. Sie würden den Braten sowieso riechen und dann …“

Aber Maik ging gar nicht darauf ein. „Wir nehmen den Pfad von Riedbach runter zum Steinbruch, von dem der Wachtmeister erzählt hat. Ich denke, in drei Stunden sind wir wieder am Gasthof, wenn wir stramm laufen. Tut uns bestimmt gut.“

„Versuchen wir’s. Samstag um neun bei uns?“

„In Ordnung. Ist von euch nur eine gute Stunde, zeitiger brauchen wir nicht los.“

„Ich gehe noch in die Pathologie. Die Akte soll ich Frau Micha übergeben. Dein Bericht geht also auch gleich zu ihr. Morgen bin ich noch da, falls noch was ist.“

„Na denn … Urlaub – da könnt ich ja glatt neidisch werden.“

Dr. Friedrich öffnete. Auf dem Tisch vor seinem Büro lagen etliche Beutel.

„Hier ist die Kleidung, gut verschlossen, die Jacke, die Hose. Die übrigen Stücke sind aus Naturfaser, davon ist nicht viel übrig.“

„Ich kann das noch rüber in die Spurensicherung bringen.“

„Wenn Sie das machen wollen?“

„Mach ich.“

„Ich will die Untersuchungen abschließen. Wissen Sie inzwischen, wer er war?“

„Nein, wissen wir noch nicht.“

„Also kein Name auf dem Bericht.“

„Leider nicht.“

„Das Röntgenbild vom Kopf hatte ich Ihnen schon gezeigt, zur Todesursache ist nichts hinzugekommen. Sonst ist alles ohne Befund, keine Drogen, kein Raucher. Der sonstige Gesundheitszustand zum Todeszeitpunkt ist nur bedingt nachzuvollziehen. Knochen und Gelenke sind dem Alter entsprechend in gutem Zustand.“

„Also war er noch munter unterwegs?“

„Ist anzunehmen. Vorerkrankungen, bis auf eine, nicht feststellbar, beziehungsweise nicht mehr feststellbar.“

„Was hatte er?“

„Orchiektomie rechts.“ Fritz Hämmerle blickte ihn fragend an. „Er hatte nur einen Testikel. Dem Narbengewebe nach zu urteilen, wurde der andere operativ entfernt. Des Weiteren eine Lymphadenektomie durch den Bauchraum. Diese umfangreiche Operation lässt auf ein Karzinom schließen.“

„Akut?“

„Nein, ich habe nichts gefunden, der vorhandene Testikel war gesund, allerdings vergrößert.“ Wieder ein fragender Blick. „Mindestens doppelt so groß wie normal.“

„Wieso?“

„Das kann ich Ihnen nicht beantworten. Er könnte die Erkrankung aber als junger Mann bekommen haben.“ Wieder ein fragender Blick und eine leicht genervte Antwort: „Herr Hämmerle, falls dieses Detail jemals für diesen Fall relevant werden sollte, ziehen wir besser einen Urologen hinzu. Wenn Sie wollen, auch Professor Sörensen von der Uniklinik persönlich.“

„Wir müssen es ja nicht gleich übertreiben.“

„Denk ich auch.“

„Ihren Bericht bitte an Frau Micha.“

„Reicht morgen?“

„Eilt nicht.“

Der Doc ist dermaßen rational, richtig unnahbar, oder hat er mir jetzt mit seiner Reaktion gar neugieriges, affektives Interesse an diesem Detail unterstellt?, dachte er.

Jetzt stand er an dem Tisch mit den Kleidungsstücken und dachte zudem: Und der Doc ist ein penibler Perfektionist.

Die halb verrottete Kleidung war exakt zusammengelegt und obenauf lag das Revers der grünen Trachtenjacke mit den dicken Eichenlaubornamenten, elfenbeinfarben mit strukturierter Oberfläche, wie die eines Hirschgeweihs, braun touchiert. Die Knöpfe waren auch wie aus Hirschhorn gefertigt. Sie zogen den Blick durch die glatt gezogene Klarsichtfolie auf sich.

Er packte die Beutel übereinander, den mit der Jacke obendrauf, und nahm den Stapel mit beiden Händen. Dr. Friedrich öffnete ihm die Tür und sie verabschiedeten sich.

Er lief den Gang entlang, den Beutel mit dem Eichenlaubrevers vor der Nase. In den wechselnden Lichtreflexionen der hellen Deckenlampen, die in diesem langen Flur alle fünf Schritte installiert waren, sah er einen feinen Riss an der Spitze des einen Eichenlaubblattes. Ist da etwas abgebrochen?, fragte er sich. Dann ist es aber sehr gerade abgebrochen, und wieso klebt das noch dran?

Er legte den Stapel auf einen Rollwagen, der an der Seite stand, und fasste diesen Zipfel durch die Folie hindurch. Er wunderte sich, dass der nicht zu bewegen war, ruckelte, zog schließlich und hatte einen Stick in der Hand - einen Stick! Verblüfft öffnete er den Beutel. Es stank. Er nahm den Stick heraus und verschloss den Beutel schnell wieder. Er hielt tatsächlich einen USB-Stick in der Hand, er konnte es kaum glauben. Er hatte schon die kuriosesten Designs gesehen, Schlüsselanhänger, Nagelfeilen, aber so etwas noch nicht. Er ließ ihn in ein Tütchen fallen, das er in der Tasche hatte, und beschleunigte seine Schritte Richtung Spurensicherung.

Maiks Tür war verschlossen. Kate war jedoch noch da.

„Wo ist Maik?“

„Schon nach Hause.“

„Gerade erst?“

„Nein, ist schon ’ne Weile weg.“

Er wollte ihn nicht zurückholen. Das hatte bis morgen Zeit.

„Ich lass dir das da. Ist die Kleidung von dem Mann aus dem Steinbruch. Die hat mir der Doc eben mitgegeben. Gib sie ihm morgen.“

Sie nahm ihm den Stapel ab und er machte sich auf den Heimweg. Morgen noch und dann sechs Wochen nicht mehr. Er saß in der Bahn und nickte sogleich ein, bis ihn ein Martinshorn wieder weckte. Sie waren erst in der Innenstadt. Er dachte wieder an den Fall Kessler und biss sich daran fest. Die Erinnerung bereitete ihm immer noch heftiges Unbehagen, aber er kam nicht davon los.

ˇˇˇˇˇˇˇ

Er sitzt schon viele Tage an seinem Schreibtisch, wie viele weiß er nicht mehr. Er steckt einfach fest.

Die anderen sollten sich auch noch mal mit dem Fall beschäftigen, aber keiner rührt sich, nicht einmal sein Chef.

Auch der zweite Besuch bei Hermann Wetterer bringt nicht wirklich etwas. Er klingelt an seiner Wohnungstür - nichts -, klingelt noch einmal, erst dann sind Schritte zu hören, die Tür geht auf. Herr Wetterer sieht wirklich schlecht aus. Schweigend gehen sie zum Balkon.

Es ist feucht, Nebelschwaden drängen sich durch die Hochhäuser gegen den Berghang, kämmen durch die Wipfel der Bäume, streichen um die Zinnen der alten Villen den Hang hinauf und huschen über den Berg. Sie stehen an der Brüstung.

Hermann Wetterer hört sich mit ausdruckslosem Gesicht die Einzelheiten von Ritas Hinscheiden an, die er ihm erzählt, ohne ein Detail auszulassen. Er bezweifelt, ob er wirklich zuhört.

„Warum erzählen Sie mir das alles?“

„Sie haben mich selbst darum gebeten auf dem Weg aus der Pathologie.“

„Hab ich das?“

„‚Wie ist sie gestorben?‘ Das haben sie gefragt.“

„Wer ist der Mann, der bei ihr war?“

„Kann ich Ihnen nicht sagen. Herr Wetterer, Sie kannten Rita Kämpf gut, Sie haben sie in ihr Haus geholt, sozusagen mit Ihrer Firma, trotz der Turbulenzen, die sie hier und wahrscheinlich auch im Umkreis ausgelöst haben.“

„Von denen mit der Stadtbezirksverwaltung ganz zu schweigen“, fügt er sarkastisch hinzu. „Sie wären hier nicht das einschlägige Viertel in dieser Stadt und wollten es auch nicht werden. Wahrscheinlich war ich der Erste.“

„Sie müssen doch damit gerechnet haben.“

Er antwortet nicht, steht einfach da, starr, kurzer gepresster Atem, der sich in kleinen Nebelschwaden von seinem Mund löst. In seinen grauen Haaren hängt eine Wolke winziger Wassertropfen. Sie glänzen kalt.

Fritz Hämmerle befürchtet, mit seinen Schilderungen das Gegenteil bewirkt zu haben. Statt mehr zu erfahren, verschließt der Mann sich völlig und hegt wohl eher den Wunsch, sich einfrieren zu lassen, samt seinem aufwühlenden Leid. Er lässt sich nichts anmerken, aber es kriecht ihm aus allen Poren. Er hat auch die Warnung seines Chefs nicht vergessen, sich von dieser Romanze nicht einwickeln zu lassen, aber was will er machen? Er beschließt, Sven Papke zu bitten, seine Recherche auf Hermann Wetterer auszuweiten.

„Herr Wetterer, wollen wir nicht reingehen?“

„Wenn Sie meinen.“ Abrupt geht er voraus in sein Wohnzimmer.

Fritz Hämmerle bemerkt die halb leere Karaffe. Der goldgelbe Inhalt scheint hochprozentig zu sein.

„Keine Angst, die steht schon lange so da.“ Er hat die Sorge seines Besuchers gesehen, setzt sich auf die Couch, das trübe Licht von den großen Fenstern der Terrasse im Rücken, und bietet ihm den Sessel gegenüber an.

Man kann zusehen, wie die glänzenden Tautropfen in seinem Haar langsam verschwinden. Er steht kurz auf, zieht die feuchte Jacke aus und legt sie neben sich über die Lehne.

Fritz Hämmerle schweigt, er hat schon zu viel geredet und schaut durch die Fenster den Nebelschwaden hinterher, die vorbeiziehen.

Sein Gegenüber beugt sich zur Karaffe und fragt mit einem Blick, ob er ihm etwas anbieten darf. Er schüttelt kurz und entschieden den Kopf und schaut weiter hinaus.

Hermann Wetterer hängt seinen Erinnerungen nach, die Ellenbogen auf seinen Knien, die Hände verschränkt, der Kopf gebeugt. Lange geht das so, bis er sich plötzlich anlehnt, den Arm auf die Sofalehne legt und sagt: „Alles in mir sträubt sich bei der Vorstellung, dass sie sich auf so was eingelassen haben soll.“

Wieder folgt ein langes Schweigen. „Ich spüre jetzt noch ihre Hände auf meinem verspannten Rücken. Dann lagen wir da und redeten über alles Mögliche. Immer öfter fuhr ich hin. Die Umwege, die ich in Kauf nahm, wurden länger und sonntags nahm ich den Transporter. Den habe ich jetzt noch, keinen PKW.“

Das passt schon mal nicht zum Zuhälter, denkt Fritz Hämmerle, die fahren meist dicke, protzige Autos.

Herr Wetterer redet weiter: „Anfangs glaubte ich, es gäbe auch von ihrer Seite Zuneigung. Meine ist bis heute geblieben, trotz der Ernüchterung, und das schmerzt. Das war der Grund, weshalb ich sie schließlich hergeholt habe. Ja, das Haus sollte auch abgerissen werden und ich konnte es nicht mit ansehen, den bröckelnden Putz, die ausgetretenen Stufen. Aber eigentlich hatte ich gehofft, wenn ich dem Treiben aus der Nähe zusehen muss, vielleicht loslassen zu können. Sie hätte sich nie entschlossen, ihr Leben mit mir zu teilen. Ich gehöre zu diesen alten Säcken, die einen jungen, schönen Leib verwechseln mit Anmut und Wärme, Witz und Fantasie. Der Leib kriegt mit dem Alter Falten, das andere nicht, wenn’s gut läuft.“

Mensch, Wetterer, du warst schon einsam, bevor dir deine Rita starb.

ˆˆˆˆˆˆˆ

Was war aus Hermann Wetterer geworden? Er kam ihm ab und zu wieder in den Sinn und er hatte auch überlegt, ihn zu besuchen. In diesem letzten Gespräch war seine Absicht gewesen mehr über Rita Kämpf zu erfahren und er wusste bis heute nicht, ob ihm das wirklich gelungen war. Sven Papke hatte sich Hermann Wetterer vorgeknöpft und nichts gefunden, außer klamme Konten und normale Mieteinnahmen, von denen er lebte. Er war nicht Ritas Zuhälter geworden. Die Miete war fest, nach Mietspiegel, und er hatte wahrscheinlich bezahlt wie zuvor.

Hämmerle fragte sich vielmehr, wieso das gemeinsame Leben mit seiner Frau zerbrochen war. Plötzlich hatte er viel Zeit für seine Rita, die gar nicht seine war. Hätte er diese Zeit auch für seine Frau gehabt? Sie hatten ihre Firma zusammen betrieben, und sonst? Hatte er nicht mehr gefunden, was er meinte zu brauchen. Was war alles geschehen, um die Gemeinsamkeiten zu zerreiben, sie zu zerbröseln und durch die Maschen fallen zu lassen?

Warum interessierte ihn das eigentlich immer noch, nach sieben Jahren? Weil er mit seiner Lilly auf dem gleichen Weg war, schleichend, unerbittlich, hilflos? Er tat sich selbst leid. Vielleicht suchte er in den scheinbar immer gleichen Geschichten den Anker, der die hilflos umherflatternden Gedanken zusammenhielt. Ach, ist doch alles Mist!, schimpfte er, stand vehement und trotzig auf, sprang aus der Bahn und pflügte rasant und gnadenlos durch das Laub, die Hände in die Taschen gestemmt.

Dort fühlte er den Beutel mit dem USB-Stick, versteckt am Kragen einer Trachtenjacke. Maik sieht doch sonst alles. War er mit halb verrottetem Laub verklebt und dieses ist beim Doktor abgefallen?

Was bringt einen Menschen dazu, ihn so zu verstecken? Was ist da drauf? Er dachte an nichts anderes mehr, lief schneller. Sein Dienstlaptop war im Präsidium und sein privater stand unter dem winzigen Tisch im Schlafzimmer. Dahin zog er sich zurück, wenn er zu Hause einen Computer brauchte.

Gerade ging flackernd die Straßenlaterne an, wie sie das immer tat. Lilly war noch nicht da und Daniel auch nicht.

Mit Schuhen und Jacke eilte er schnurstracks hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Während der Computer quälend langsam hochfuhr, untersucht er den USB-Stecker dieses merkwürdigen Sticks: keine Korrosion, kein Dreck. Also was sollte ihn noch daran hindern, das Ding da jetzt anzuschließen? Er gab noch sein Passwort ein und dann ging es los. Er schob den Mauszeiger auf das Kästchen Weiter und wollte es schon anklicken, als er stutzte. Bei vielem, was er am PC getan hat, tauchten diese zwei Kästchen auf: Weiter und Abbrechen. Man drückte auf „Weiter“, weil man weiterwollte, deswegen saß man hier, das war die Routine. Aber auf einem Stick eine solche Abfrage? Wenn Bilder oder Videos drauf waren, öffnete sich das Fotoprogramm oder die Mediathek oder es kam eine Liste der Daten, die darauf waren. Aber so eine Abfrage? Was sollte das?

Er zog ihn noch mal heraus und steckte ihn wieder hinein – das gleiche Ergebnis. Nein, er wollte nichts machen, auf gar keinen Fall, ja nichts kaputtmachen. Er wusste, dass er eigentlich keine Ahnung hatte von diesem elektronischen Zeug, er war manchmal verzweifelt hilflos. Sogar zu Hause hatte ihm Daniel mit seinen vierzehn Jahren mehr als einmal geholfen. Er beschloss, den Stick Maik zu bringen - hatte er ja sowieso vorgehabt.

Schnell packte er alles wieder ein und sah zu, schnell wieder nach unten zu kommen, sonst würde er sich wegen der Schuhe wieder was anhören müssen.

„Du kommst von oben“, empfing ihn Lilly und er stöhnte. „Das Licht ist eben im Schlafzimmer ausgegangen und du hantierst mit deinen Schnürsenkeln. Und wer macht am Ende den Dreck weg?“

Sie schleuderte ihre Schuhe in die Ecke, griff sich demonstrativ den Staubsauger, ging wütend nach oben und saugte.

„Ich mach’s schon.“ Er ging ihr hinterher, aber sie wollte nicht und er trollte sich mit eingezogenem Kopf in die Küche.

Vielleicht käme sie an den Tisch, sie hatte bestimmt noch nicht gegessen. Er begann, laut klappernd den Tisch zu decken: Teller, Besteck. Wo ist eigentlich Daniel?, fragte er sich. Wenn er jetzt Urlaub hätte, könnte er sich ja mehr um ihn kümmern.

Mit dem Wochenendausflug brauchte er jetzt gar nicht zu kommen. Kann sein, dass Daniel bei Oliver ist, dann wird Maik die Jungs ins Boot holen. Mal sehen, wie das läuft.

„Du hast wieder nur deinen Käse aus dem Kühlschrank genommen!“, hielt sie ihm vor.

Er sprang zum Kühlschrank und holte den Camembert.

Sie aßen schweigend.

„Mein Chef hat mich in Urlaub geschickt, sechs Wochen.“

„Schön für dich. Dann hast du endlich Zeit, die Schuhe gleich zu wechseln.“

„Was hältst denn du als dein eigener Chef von Urlaub?“

„Tse!“ Es klang schnippisch, aber er merkte, wie es in Resignation umschlug. „Ich muss noch ins Büro.“

„Kann ich dir helfen?“

„Kümmere dich um die Küche und der Flur hat es auch nötig. Hast du denn überhaupt Zeit?“

„Ja, bin schon fast im Urlaub.“

Er musste wohl schon geschlafen haben und hatte nicht mitbekommen, wann sie schließlich ins Bett kam.

Er wachte vor dem Wecker auf und stellte ihn aus. Sie lag ihm zugewandt neben ihm. Gern hätte er ihr die Strähne aus der Stirn gestrichen.

Er ging leise hinaus ins Bad. Dieses ungeliebte Rasieren dauerte immer eine Weile. Er erweckte die Kaffeemaschine zum Leben und deckte für zwei. Er hörte sie auf der Treppe, sie ging zur Maschine und startete ihren Kaffee, nahm ihn und setzte sich. Sie war noch im Schlafanzug.

„Warum eigentlich?“

„Was meinst du? Den Urlaub?“

„Ja.“ Sie schlürfte ihren Kaffee.

„Die haben gemerkt, dass ich seit der Woche Praxisausbau keinen mehr genommen habe, das sind fast drei Jahre. Der Chef hat mich faktisch rausgeschmissen.“

„Der Dietrich? Sechs Wochen?“

„Ja, sechs Wochen.“

„Habt ihr grad nichts zu tun?“

„Sah zumindest gestern Mittag noch so aus, als ich beim Chef war.“

„Wie hört sich das denn an?“

„Es gibt noch einen Rest Arbeit wegen eines Unglücksfalls. Den darf ich noch abschließen.“

„Von zu Hause aus?“

„Ja, das geht.“

„Du hast gesagt, zumindest gestern Mittag bei Dietrich hätte es so ausgesehen, und heute?“

„Ist eine Recherche dazugekommen.“

„Eine Recherche?“

„Ich bin heute noch im Präsidium und dann ist Wochenende.“

„Du und Wochenende?“

„Sei doch nicht gleich wieder so sarkastisch. Außerdem bist du auch oft in deiner Praxis oder im Büro.“

Sie schlürfte schneller.

„Also, ich muss los“, sagte er und ging. Im Flur drehte er sich noch mal um. Sie stand wieder an der Kaffeemaschine. Er berührte sie. „Wir reden heute Abend weiter. Urlaub, Zwangsurlaub, das ist neu.“

Er wollte sie küssen, sie hielt ihm ihre Wange hin. Er nahm das Angebot an – immerhin –, und lief los.

Er hatte die Hand in der Jackentasche und ständig den Beutel mit dem Stick zwischen den Fingern und musste ein ums andere Mal mit dem Kopf schütteln.

Er nahm den Haupteingang. Sonst blickte er nach oben, auf die seltsamen Gewächse, die er nicht beim Namen nennen konnte. Nicht mehr lange, dann würden sie über ihm zusammenwachsen. Heute eilte er hindurch und selbst die Dame am Tresen sah ihm verwundert nach.

Er stand vor Maiks abgeschlossener Tür. Er ist doch sonst immer schon da.

Kates Tür stand auf.

„Guten Morgen …“

Sie fiel ihm ins Wort: „Er ist schon weg mit der gesamten Truppe, Scheffer hat ihn geholt, volles Programm. Auch guten Morgen übrigens.“

„Also …“

Sie ließ ihn wieder nicht weiterreden: „Hast recht, kann dauern. Macht nicht den Eindruck, als ob ich dir helfen könnte. Auch nicht für den dienstlichen Teil?“

Er ließ sich bei ihr auf den Stuhl fallen.

„Du wächst fest, wenn du hier auf ihn warten willst“, fuhr sie fort.

Er reagierte nicht. Was sollte er denn jetzt bloß machen?

Sie legte nach: „Du kannst mir aber helfen, wenn du sonst nichts zu tun hast.“

Kate gab auf, zog ihren Kittel über und fing an.

Ich gehe gleich selbst zum Elektrotechniker, entschied er, stand abrupt auf und sagte: „Er soll mich anrufen, wenn er zurück ist.“

Der Elektrotechniker und IT-Spezialist, dessen Mutter ihn Alfons nannte, war bei allen als Alf bekannt und Hämmerle fragte sich, wer eigentlich sein Chef war, während er klopfte.

„Ja?“

„Guten Morgen.“

„Man ist noch nicht richtig da und schon kommt Kommissar Hämmerle.“

Er legte ihm das Tütchen auf den Tisch. „Kannst du anfassen, ohne Handschuhe.“

Alf nahm den Stick heraus. „Hornimitation. Hab ich schon mit echtem Hirschhorn gesehen.“ Fritz sah ihn ungläubig an. „Ja, du glaubst nicht, was es alles gibt. Hast du den schon mal reingesteckt? Was ist damit?“

„Es kommt eine Anzeige, die mich stutzig gemacht hat.“

„Stutzig?“

„Keine Ahnung, ich wollte nichts kaputtmachen.“

Er schloss ihn an und es zeigte sich das gleiche Bild wie bei Hämmerle zu Hause. Selbst Alf fuhr schon mit dem Zeiger auf Weiter. „Das ist ungewöhnlich, du hast recht.“

Jetzt huschten seine Finger in rasendem Tempo über seine Tastatur und über zwei weitere Bildschirme liefen endlose Zeilen, mit denen Hämmerle überhaupt nichts anfangen konnte. Ohne sich von seinen Bildschirmen abzuwenden, sagte Alf: „Setz dich, wenn du ein bisschen Zeit hast.“

„Danke.“

Alf schien ihn gar nicht mehr wahrzunehmen. Die Wanduhr ihm gegenüber schob ihre Zeiger unablässig weiter.

Es verging fast eine halbe Stunde, bis er schließlich ungläubig mit dem Kopf schüttelnd auf dem mittleren Bildschirm den Zeiger auf Abbrechen schob und es anklickte. Meer und Palmen und ein Strand, an dem wenig bekleidete Menschen flanierten, wurden sichtbar.

„Kommissar Hämmerle, du hast dein Urlaubsvideo gerettet, ich glaub es nicht. Wenn wir auf ‚Weiter‘ geklickt hätten – und ich hätte das ja auch fast getan –, wäre der Stick unwiederbringlich gelöscht worden. Wer es nicht weiß, fällt mit hoher Wahrscheinlichkeit drauf rein und alles ist weg. Man muss auf ‚Abbrechen‘ klicken, um an den Inhalt zu kommen.“

Hämmerle

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