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8Vom Reichtum
ОглавлениеZurück aus Berg und Tal, zurück im flachen Land.
Ich war ein paar Tage bei meinem Finanzberater. Das klingt sehr bedeutend, und es ist auch nicht falsch. Trotzdem suche ich, seitdem wir uns kennen, immer wieder einmal nach einem anderen Wort, war aber bisher mit keiner Alternative zufrieden.
Ich war also bei Manuel Hertz. Manuel hat sich vor vier Jahren eine kleine nachgemachte Bauhausvilla in die Hügel des Hochtaunus bauen lassen, an den Rand von Kronberg. Für den Preis, den er allein für das Grundstück bezahlt hat, hätte ich vermutlich mehr alte Zollhäuser kaufen können, als es an den deutschen Grenzen überhaupt gibt. Manuel hat sich dort zur Ruhe gesetzt, wie er immer wieder betont. Er muss das auch betonen, weil er die Aura einer ständigen, gerade noch gezügelten Nervosität, die ihn umgibt, noch immer nicht ganz abgelegt hat. Zur Ruhe gesetzt bedeutet zunächst nur, dass er nicht mehr als Investmentbanker für die Bank arbeitet, für die er zwölf Jahre unterwegs war, und sich jetzt stolz Privatier nennen darf, wie ich auch. Manuel ist heute fünfundvierzig, und er sagt:
»Mit vierzig musst du es geschafft haben und abhauen können, sonst bist du fünf Jahre später tot. Oder in der Edelpsychiatrie. Oder musst jeden Tag ins Fitnessstudio. Im Übrigen habe ich keine Lust, mich lebenslang beschimpfen zu lassen, weil ich Banker bin.«
Immerhin hat er Fortschritte gemacht. Selbstverständlich war ich auch diesmal Gast in seinem Haus, nicht zum ersten Mal, und ich sah, dass er länger schlief als früher und nun nicht mehr sofort nach dem Aufstehen über alles informiert sein musste. Auch machte er nicht mehr dauernd den Eindruck, als müsse er in fünf Minuten eine wichtige Entscheidung treffen. Aber noch immer spürte man die Unruhe in seinem Inneren, und eines Nachts hörte ich ihn im Halbschlaf laut aufschreien und dann wimmern.
»Ich habe wieder mal geträumt, dass ich ruiniert bin«, erzählte er am nächsten Morgen beim Frühstück, als ich ihn danach fragte.
»Absurd.«
»Nein, gar nicht absurd. Das ist bei sehr reichen Leuten ein Standardtraum.«
»Ich bin doch auch reich«, sagte ich, »ich träume so etwas nicht.«
»Du bist nicht reich, du hast ein ganz gutes Auskommen. Was Reichtum ist, davon hast du gar keine Ahnung. Und das ist dein Glück.«
Manuel habe ich gegen Ende meiner Nomadenjahre kennengelernt, kurz, bevor ich das Haus in Granderath entdeckte. Das war in Ostende an einem sehr trübgrauen Dezemberabend bei zehn Grad plus. Damals logierte ich im achten Stock eines jener monströsen Hochhäuser an der Promenade. Stürmische Tage, für diesen Abend und die Nacht war sogar eine Orkanwarnung ausgesprochen worden. Die Ostender Straßen waren reichlich leer. Die Stadt hing in einer Warteschleife. Der Weihnachtstourismus hatte noch nicht begonnen.
Ich war früh essen gegangen, nachdem ich auch diesmal den ganzen Tag in meiner Ferienwohnung verbracht hatte, wie schon die Tage zuvor. Ich hatte wenig Lust, nach draußen zu gehen und ebenso wenig Lust, überhaupt etwas zu tun; also lag ich überwiegend im Bett und sah fern, bis es mir – sehr schnell – zu viel wurde; dann döste ich einfach. Wenn ich genug gedöst hatte, schaltete ich den Fernseher wieder an. Solche Zustände der Lustlosigkeit, Langeweile und Lähmung kenne ich seit meiner frühen Jugend und weiß, dass man dagegen nicht ankämpfen oder sich zusammenreißen kann, sondern abwarten muss, bis sie vergehen. Man muss aufpassen, dass man nicht in katatone Starre verfällt oder in Mutismus, also geht man wenigstens zum Essen einmal am Tag nach draußen, um eine Bestellung aufgeben und ein bisschen sprechen zu müssen. Oder man kauft sich, wie ich es am Tag zuvor gemacht hatte, in einem Sportgeschäft vier Tischtennisschläger und ein Sechserset Bälle dazu. Beides lagert jetzt, immer noch originalverpackt, in meinem Schuppen hinterm Haus.
An diesem Abend wehte der Wind mich von der Promenade weg in eine Kneipe in der Ostender Altstadt, nur wenige Häuser von meinem früheren Hotel entfernt. Man kann dort Kleinigkeiten essen, von Calamares mit Tartar über Austern und ein sogenanntes Trappistenbrot mit Käse bis zu einem ausgewachsenen Steak. Vor allem aber kann man zwischen Hunderten von Biersorten wählen. Die Einrichtung hat jenen warmen Braunton und jene Fülle, die schon dem Eintretenden signalisieren, dass er gern für immer hierbleiben und die Welt vergessen möchte.
Es kann dort sehr voll und laut sein, war aber an diesem frühen Dezemberabend nur schwach besucht. Ich entschied mich für das Trappistenbrot und ein passendes Trappisten-bier von Westmalle; schließlich hatte ich bisher den ganzen Tag geschwiegen. Zwei Tische weiter saß ein Mittdreißiger in einem sehr feinen taubenblauen Anzug vor einem leeren Glas und starrte vor sich hin. Die Art, wie er starrte und dabei halb in sich zusammengesunken war, zeigte mir, dass er schon viele Stunden hier saß und sich über den weiteren Verlauf des Abends keine Gedanken machte. Er wurde noch einmal beliefert, während ich aß, diesmal mit einem Winterbier der Brasserie Dubuisson, denn der junge Mann versuchte wohl, in der Bierkarte so weit wie möglich zu kommen, und ich sah den leicht besorgten Blick des Wirts, als er die Flasche und das neue Glas brachte, begleitet von dem kleinen Bierhappen, der in Belgien üblich ist. Der Gast bemühte sich jedoch, sich zusammenzureißen, richtete sich leicht auf und warf dem Wirt einen irgendwie entspannten, ja freundlichen Blick zu. Dann sackte er wieder halb in sich zusammen, schien aber vom Stadium, da der Kopf auf die Tischplatte sinken würde, noch weit entfernt.
Mir war sofort klar, dass der junge Mann dort kein Gewohnheitstrinker war, sondern an diesem Abend nach und nach einen großen aktuellen Kummer ersäufen wollte. Ihm war die Welt nicht trübgrau eingefärbt wie mir in diesen Tagen, ihm war sie ein Schmerz in grellen Farben, der betäubt werden musste. Der Betäubung würde morgen unweigerlich der große Kater folgen.
Von Menschen, die offensichtlich leiden, halte ich mich in der Regel fern, weil sie mich vor passivem Mitleiden völlig hilflos machen. Aber es gab und gibt immer wieder einzelne Anlässe, bei denen dieser Schutzmechanismus aussetzt und ich nicht anders kann, als mein Mitleid aktiv werden zu lassen. Ulrich Goergen hat einmal vermutet, ich hätte nach meiner Entlassung aus der Politik vielleicht zu viel Schopenhauer gelesen, das sei aber nicht schlimm. Das war wieder einer dieser Ich-kann-nur-Ironie-Sätze, der, wie das Meiste von Uli, ins Schwarze traf – beinahe. Nur in der Reihenfolge, im Verhältnis von Ursache und Wirkung, täuschte er sich. Ich war schon Mitleidsethiker seit meiner Kindheit, und Mitleid ist alles, was ich bis heute von der Ethik verstehe.
Es wäre dennoch nichts weiter passiert, wenn der Gast am übernächsten Tisch nicht plötzlich mit seinem Blick an mir hängengeblieben wäre, mich fixiert und in durchaus noch verständlichem Deutsch genuschelt hätte:
»Komm mal rüber, ich geb’ einen aus. Ja, du!«
Später hat Manuel mir erzählt, dass er mich sofort als Deutschen erkannt habe, woran, das wisse er nicht. Vielleicht, sagte er, weil er selbst ja nur ein halber sei, wegen seiner elsässischen Vorfahren. Und ich erzählte ihm, dass es mir ebenso gegangen und ich keineswegs überrascht gewesen sei, als ich seinen genuschelten Satz hörte. Ich fühlte mich auch nicht bedrängt, ich hatte kein unangenehmes Gefühl gegenüber dem, was jetzt unweigerlich folgen würde, ich spürte, dass jetzt wenigstens meine Lähmung vorbei war, und ich stand folgsam auf und kam rüber. Derlei unangestrengte Vertrautheiten gelingen vielleicht nur in solchen Lokalen mit ihrer weichen, fast mütterlichen Fülle, auch wenn die Bedienung zumindest an diesem Tag ausschließlich männlich war.
In ihren Einzelheiten musste ich mir die Geschichte durch angestrengtes Zuhören nach und nach zusammensetzen, weil Manuel sie in der typischen Manier des Betrunkenen erzählte, der alles auf einmal sagen will. Eins begriff ich aber sofort. Ihm war das Banalste und Schmerzhafteste zugleich zugestoßen; er war verlassen worden. Das befeuerte mein Mitleiden noch einmal besonders, da es sich um etwas Bekanntes handelte. Wie bekannt das war, bekam ich erst im Laufe des späten Abends und der beginnenden Nacht heraus – die Kneipe hat bis zwei Uhr nachts geöffnet –, denn irgendwann begriff ich, dass Manuels Freundin nicht bloß gegangen war, wortlos oder im Gegenteil nach einer großen Abrechnung, einer vorwurfsgesättigten Wortkaskade, sondern dass sie einfach verschwunden war, als er sie abends zum Essen abholen wollte, und dass sie verschwunden blieb. Er hatte an ihrer Tür einen Zettel vorgefunden, auf dem es hieß, sie wohne hier nicht mehr und sei jetzt in London, und dann: Bitte such mich nicht, es wäre nicht schön, mich zu finden.
Immerhin mehr, als Sonja zustande gebracht hat, dachte ich und erinnerte mich daran, dass ich damals an meinem Geburtstag, als ich vor ihrer Tür stand, keinen Zettel gefunden hatte, sondern mir ein Flurnachbar mitteilen musste, sie sei ausgezogen. Diese Geschichte erzählte ich Manuel in diesem Augenblick nicht, auch noch nicht am nächsten Tag, als er langsam aus seinem Kater auftauchte. Ich bekam in dieser Nacht noch soviel heraus, dass er eigentlich doch nach London gewollt hatte, nicht aber wie üblich mit einem Flieger (Manuel benutzte natürlich dieses Wort), auch nicht mit dem Eurostar, sondern mit der guten alten Fähre nach Ramsgate, die es damals noch gab. Er konnte mir auch am nächsten Tag nicht sagen, warum er diesen Weg gewählt hatte. Ich vermute, weil er in Wahrheit Angst davor hatte, seine Freundin zu finden; schließlich hatte sie ihn davor gewarnt. Für Manuel, das habe ich später herausgefunden, sind Frauen eigentlich aliens. Jedenfalls war er zu spät gekommen und dann in der Kneipe gelandet, und weil er sich nicht einmal ein Hotel gesucht hatte, schlief er danach seinen Rausch im Gästebett meines Ferienappartements aus.
Das war der Beginn einer wunderbaren Verlässlichkeit. Seitdem sehen wir uns wenigstens einmal im Jahr, um meinen Vermögensstand zu besprechen. Ein paarmal hat er mich auch zu gemeinsamen Kurzurlauben eingeladen. Zwei Tage, drei Tage, höchstens vier; mehr war nie möglich, weil Manuel spätestens dann wieder von seiner Bank gebraucht wurde. Meine Versuche, mich wenigstens halbwegs zu revanchieren, wurden immer abgewehrt, und jetzt habe ich ja auch gelernt, dass ich gar nicht reich bin. In der Tat schmelzen die Bestände und Rücklagen nicht unbedingt, aber das Sonja-Komplott als Geldquelle sprudelt naturgemäß von Jahr zu Jahr spärlicher. Ich stehe aber nicht vor dem Ruin, wie er mir erklärt hat, und wir haben eine Strategie entwickelt, damit das so bleibt.
»Und du hast ja auch immer noch das Haus. Obwohl es nicht gerade eine Filetlage ist. Mehr was für Spinner. Irgendwann werde ich dich da mal besuchen«, sagte Manuel, bevor er zum Abschied winkte und ich mich auf den Weg durch deutsches Mittelgebirge machte. Von der Autobahn aus glänzten die Wälder lieblich in der Septembersonne, mehr ist dazu nicht zu sagen. Unten in den Tälern schien es trotzdem stellenweise nachtdunkel. Bei Koblenz wechselte ich die Rheinseite, von Bonn hielt ich mich fern. Ich wurde immer schneller, mein Auto roch schon den heimischen Stall.
Zurück in die Ebene. Links von mir drohte noch eine Weile die Voreifel, dann begann endlich das flache weite Land. Ich machte einen kleinen Abstecher und verließ die Autobahn danach bei Niederkrüchten, des Namens wegen. Ich war gerade achtzehn, als ich mich in das niederrheinische Ü verliebt hatte, das vermutlich in keiner Geschichte der deutschen Lautverschiebungen vorkommt. Jüchen. Süchteln. Niederkrüchten. Um nur die schönsten Namen zu nennen. Da will ich später mal hin, sagte ich mir damals.
Von Niederkrüchten aus, in dem es überraschend hügelig war, fuhr ich über Brüggen nach Hause. Als ich an meinem Haus ankam, sah ich gerade noch, wie Martin Taubert mit dem Fahrrad wegfuhr. Ich hupte nicht, weil ich allein bleiben wollte. An meiner Tür hing ein Zettel, windfest an allen vier Ecken mit Tesafilm befestigt.
Ruf mich mal an. Es gibt was Neues.