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Beinahe Odysseus …
ОглавлениеAugust Wilhelm Schlegel kam am 5. September 1767 als eines von zehn Kindern des Pfarrers und Dichters Johann Adolf Schlegel und seiner Frau Johanna Christiane Erdmuthe, geb. Hübsch, in Hannover zur Welt. Sein Studium der Theologie, dann aber vor allem der Klassischen Philologie absolvierte er in Göttingen, u.a. bei Christian Gottlob Heyne und bei Gottfried August Bürger. 1791 bis 1795 war er als Hauslehrer in Amsterdam tätig, von wo aus er für die Göttingischen Gelehrten Anzeigen zu rezensieren begann. Ab 1794 war er auf Schillers Anfrage hin Mitarbeiter von dessen Zeitschrift Die Horen sowie seines Musenalmanachs. Schiller vermittelte ihn auch an die in Jena erscheinende Allgemeine Literatur-Zeitung, wo er enorme Aktivität als Kritiker mit literaturgeschichtlichem, übersetzerischem und kunsttheoretischem Interesse entwickelte.
1795 wechselte er, von Schiller gerufen, nach Jena. Von 1796 bis 1803 war er mit Caroline Böhmer, geb. Michaelis, verheiratet. Nach dem Bruch mit Schiller entspann sich in Jena in den Jahren 1799 bis 1801 eine enge Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit engen Freunden, aber auch dem Bruder Friedrich – die sogenannte Jenaer Frühromantik. Beide Brüder gaben 1798 bis 1800 die maßgebliche Zeitschrift Athenaeum heraus. Zudem war Schlegel seit 1798 außerordentlicher Professor an der Universität Jena, wo er philologische, ästhetisch-literaturgeschichtliche und enzyklopädische Vorlesungen hielt.
1801 bis 1804 verlegte er seine Vorlesungstätigkeit nach Berlin und adressierte dort ein nichtakademisches, zahlendes Publikum – wiederum mit kunsttheoretischen Vorlesungen und solchen zur antiken sowie zur mittelalterlichen und frühneuzeitlichen („romantischen“) Literatur. Gleichzeitig machte er sich als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Italienischen und Spanischen einen Namen, vor allem mit den Dramen Shakespeares und Calderóns.
Eine Lebenswende provozierte die Begegnung mit der international renommierten Schriftstellerin Germaine de Staël, der er sich zwischen 1804 und 1817 als Hauslehrer ihrer Kinder und als Gesprächspartner in literarischen Fragen widmete – auf ihrem Anwesen in Coppet bei Genf wie auch auf Reisen. Sie vermittelte ihm 1808/09 eine weitere, vielbeachtete und nun auch in vielen Sprachen im Druck erscheinende Vorlesungsreihe über die Geschichte des Dramas. Nach der Lektüre dieser Vorlesungen sprang in vielen europäischen Ländern der Funke der Begeisterung für die eigene nationalsprachliche Kultur und deren Ursprünge über.
1812 floh Schlegel zusammen mit Madame de Staël über Russland nach Schweden, wo er auf ihre Vermittlung hin Sekretär des schwedischen Kronprinzen Bernadotte wurde. Nicht nur begleitete er diesen bis 1814 im Kampf gegen die französischen Truppen, Schlegel verfasste auch erfolgreich antifranzösische Publizistik.
Erst nach Madame de Staëls Tod ging Schlegel 1818 nach Deutschland zurück, um eine Professur für Literatur und schöne Künste an der neu gegründeten preußischen Universität Bonn anzutreten. In dem ihm noch bleibenden Vierteljahrhundert vermittelte er noch einmal sehr erfolgreich sein literarisches und ästhetisches Wissen, doch begründete er zugleich die Indologie, also die Wissenschaft vom Sanskrit, in Deutschland. Schlegel starb im Alter von knapp 78 Jahren in Bonn.
Wer heute über August Wilhelm Schlegel schreibt, muss sich rechtfertigen. Es mag sich der Verdacht erheben, es handle sich bei ihm um keine so herausragende Persönlichkeit, als dass man ihrer noch im 21. Jahrhundert gedenken müsste. Das Zeittypische an ihm, die Strömungen, die sich in ihm kreuzen, sind jedoch allemal eine Biographie wert.
Die Französische Revolution, die Philosophie des Idealismus und Goethes literarisches Schaffen seien die wichtigsten Tendenzen der Zeit um 1800 – dies jedenfalls behauptete einer der Vordenker der Romantik, August Wilhelms jüngerer Bruder Friedrich Schlegel, in der von beiden gemeinsam herausgegebenen Zeitschrift Athenaeum. Tatsächlich sind damit einige der wichtigsten Einflüsse auf die Generation der deutschsprachigen Romantiker überhaupt benannt.
Die Jenaer Frühromantik setzte in einem Zeitalter der Kriege den teils leidvollen Erfahrungen des Umbruchs und der existenziellen Unsicherheit etwas Neues entgegen. Indem sie sich der Spekulation und Literaturkritik zuwandte und neue Formen des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens erprobte, gelangte sie zu einem neuen Verständnis der Poesie, zu einer Durchdringung der literarischen Öffentlichkeit sowie zu neuen Kommunikationsformen, die auch über die engen politischen Grenzen hinaus wirksam wurden.
Die Französische Revolution hatte nicht nur überkommene politische und alltagsweltliche Strukturen in Frage gestellt, sie hatte über Jahrzehnte hin ein Europa der Kriege, aber auch des intensiven geistigen Austauschs geschaffen. Die Philosophie Immanuel Kants und seiner Nachfolger hatte das Augenmerk auf die Möglichkeitsbedingungen von Erkenntnis und auf die Forderung nach einer autonomen Kunst gelenkt. Schon der junge Goethe hatte als erster deutschsprachiger Autor ‚Weltliteratur‘ produziert – was damals nur bedeuten konnte: er hatte der deutschen Literatur in ganz Europa Geltung verschafft. Seine frühen Texte schienen in unerhörter Weise direkt aus dem Erleben heraus entstanden zu sein; die Wirkung auf die Gebildeten unter seinen Zeitgenossen war immens. Die geistige Revolution, die sich in der Literatur also schon längst angedeutet hatte, erschien den Romantikern begrüßenswerter als die politische, die ein Vierteljahrhundert lang neben befreienden auch verheerende Auswirkungen zeitigte.
In seiner 1820 erschienenen Vorrede zur Biographie seiner langjährigen Freundin Germaine de Staël erwähnt Schlegel deren Todestag, der zufällig auf den Tag des Sturms der Pariser Bevölkerung auf die Bastille fiel, also den 14. Juli, den heutigen französischen Nationalfeiertag. Aus der Rückschau ist das Urteil des Dreiundfünfzigjährigen eindeutig: Madame de Staël starb „an einem in der Geschichte der neueren Zeit verhängnißvollen Jahrestage“ (B VIII, 203). Spuren der Abneigung gegen dieses Verhängnis durchziehen auch viel früher schon die umfangreiche Korrespondenz Schlegels. In einem Brief an Sophie Bernhardi vom 20. September 1805, kurz bevor der Krieg dann tatsächlich nach Deutschland getragen wurde, schreibt er, es werde „bald wieder ganz Europa in Flammen“ (Krisenjahre I, 233) stehen. Angesichts der politischen Wirren konnten ihm auch Künste und Wissenschaften als nichtig erscheinen. Die Perspektive hatte sich jedoch verschoben. Europa zeichnete sich nicht etwa nur am Horizont als politischer Aktionsraum ab, sondern man fand sich, vorläufig machtlos, mitten darin wieder, in einem Hexenkessel. Bruder Karl August Moritz Schlegel entwarf in einem Brief des Jahres 1810 ein doppeltes Europa: ein ideales vergangenes und vielleicht zukünftiges, daneben ein durch Kriegsereignisse erschüttertes der Gegenwart. Visionen von Vergangenheit und Zukunft entwerfen – das war romantisches Terrain:
[W]as wird endlich aus unserm armen unglücklichen Europa und aus den Zurückbleibenden werden, die an ein glückliches Zeitalter und an eine bessere Ordnung der Dinge gewöhnt sind? Es bleibt ihnen bey den traurigen Umgebungen der Gegenwart und bey den schon trüben Aussichten auf die Zukunft, nichts als das Leben in der Vergangenheit. Doch höre ich noch immer eine Stimme mir zurufen: es wird und muß anders werden! Alles, was ein gebildetes Zeitalter in einem ganzen Welttheile gewährt und geleistet hat, läßt sich nicht durch die Ereignisse weniger unglücklicher Jahre so ganz auf einmal vernichten. (Krisenjahre 2, 147)
August Wilhelm Schlegel vermochte auch die nachrevolutionäre Ordnung des Wiener Kongresses von 1814/15 nicht zu schätzen, die für Jahrzehnte ein Europa der politischen Restauration festschrieb. Als Professor der neu gegründeten Universität Bonn war er ab 1819 von den Karlsbader Beschlüssen direkt betroffen, die die Meinungsfreiheit an so gefährlichen Orten wie Universitäten bedeutend einschränkten. Die Obrigkeit fürchtete Studenten wie Professoren. Schlegel spielte damals mit dem Gedanken, aus Protest seine Professur aufzugeben. Er blieb ein Kind der Revolutionsära und starb doch erst mitten im langen, bürgerlichen 19. Jahrhundert.
Dabei war er selbst ein Revolutionär, auf eine wohl sehr deutsche Weise, vom Schreibtisch aus. Was wir heute noch ‚Romantik‘ nennen, begann nach einer Vorgeschichte im 18. Jahrhundert mit der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft eines Freundeskreises, der sich in Jena im Umkreis der Universität des Herzogtums Sachsen-Weimar und damit in räumlicher Nähe zum hochverehrten Goethe versammelt hatte. August Wilhelm Schlegel war von jenen Intellektuellen, die etwa durch Heinrich Heine in dessen polemischer Abrechnung Die romantische Schule von 1833 unter ‚Romantik‘ rubriziert wurden, zu Lebzeiten und weit darüber hinaus einer der einflussreichsten und doch zugleich einer der am wenigsten gewürdigten. Nicht zuletzt seit Heine, der ihn verspottete, ist er gar einer der umstrittensten.
Doch lässt sich der ältere der Brüder Schlegel nicht in die gängigen Raster des Romantikers einordnen: Weder als Novellenautor oder Romancier noch als Märchensammler ist er hervorgetreten, und nur bedingt hat er sich als Lyriker und Dramatiker ausgezeichnet. Seine Verdienste beruhen vielmehr auf der prägnanten Formulierung und Vermittlung historischen Wissens und ästhetischer Werte in Rezensionen und Vorlesungen, auf Übersetzungen und Editionen der Zeugnisse fremder Kulturen und auf der – als solcher erst zu definierenden – ‚eigenen‘ Kultur. Zu seinen Leistungen zählen auch die Erforschung des Sanskrit und der weltweite Austausch mit Gelehrten und Fachkollegen.
Er war der am wenigsten provinzielle der romantischen Autoren. Sein Lebensweg führte ihn in zahlreiche Länder Europas, in die Niederlande, nach Frankreich, England, Schweden, Italien und in die Schweiz. Er war also ein Weitgereister in Sachen Künste und Wissenschaften, zeitweilig auch in Sachen Diplomatie und politische Publizistik. Sein lange nomadisch zu nennendes, beruflich wie privat eher unstetes Dasein wies erst seit seiner Berufung nach Bonn mit 51 Jahren einige Kontinuität auf. Inzwischen hatten sich die Zeitläufte beruhigt, nicht unbedingt zum Besten, wie wir wissen.
Der junge Heine (um 1820)
Noch 1815 hatte er seinem Freund, dem Bildhauer Friedrich Tieck, geschrieben:
Seit wir uns zuletzt sahen, habe ich mich in ganz Europa umhergetrieben, an Höfen, in Feldlagern, in der großen Welt, und wo nicht? Ich kann mich fast als den vielgewanderten Ulysses betrachten, der vieler Menschen Städte gesehen und ihre Gemüther erkannt hat. (Krisenjahre 2, 301)
Sich mit Odysseus zu vergleichen bedeutete auch, diese Reisen – möglicherweise in Maßen – als Irrfahrten zu begreifen, die nicht eigentlich notwendig und wünschenswert gewesen wären. Und in der Tat fährt Schlegel fort: „Eine daurende Verbesserung meiner Lage hat mir meine politische Thätigkeit nicht geschafft […]. Für jetzt führe ich wieder nach wie vor das Leben eines unbesoldeten und unabhängigen Gelehrten.“ (Krisenjahre 2, 302) Es vergingen weitere drei Jahre, bis sich dies änderte.
Friedrich Tieck: Bronzeplakette von August Wilhelm Schlegel (1827)
Als Mensch blieb Schlegel distanziert. So wirkte er zumindest auf viele Mitmenschen zu Lebzeiten; heute ist er erst recht nicht leicht einschätzbar. Wir kennen beinahe 5.000 Briefe, die von ihm geschrieben oder an ihn gerichtet sind, doch auch sie verraten nicht allzu viel über die Emotionen des Privatmannes oder gar über ein ‚Privatleben‘. Sein Biograph Roger Paulin kommt nach vielen Jahren der Beschäftigung mit Schlegel zu dem Ergebnis: „Bei aller Vielseitigkeit der geistigen Interessen hat sein Leben doch allzu viele lose Enden zu bieten.“ (Paulin, 2) Weitgehend lernen wir ihn als Schreibenden und Lehrenden kennen, erst in zweiter Linie über die Wirkung, die von ihm ausging. Doch er entfaltet sie bis heute.
Auch wenn nicht jeder den Namen des Übersetzers kennt, so entstammt doch der prägnante Satz „Sein oder Nichtsein; das ist hier die Frage“ nicht irgendeiner, sondern Schlegels Hamlet-Übersetzung, die bis heute die bekannteste und immer noch die meistgelesene ist. Die Vorstellung von einer Weltgeschichte der Literatur und überhaupt eine Praxis vergleichender Literaturgeschichtsschreibung ist ohne ihn nicht zu denken. Revolutionäres hat er auch auf einem exotischen Feld geleistet, dem der Indologie. Er ging als einer der Ersten daran, die Schriftzeichen des Sanskrit, das zu den frühesten überlieferten indogermanischen Sprachen zählt, im Druck darzustellen. Die in seinem Auftrag hergestellte Sanskrit-Drucktype ist bis heute nicht überholt.
Dies sind sehr unterschiedliche Belege für Schlegels Nachleben. Die Romantiker haben ähnlich wie ihr Idol Goethe dieses Nachleben sorgfältig geplant – soweit dies eben möglich war. Sie bauten ihren Vorsprung gegenüber ihren Gegnern in der literarischen Öffentlichkeit auch dadurch aus, dass sie frühzeitig begannen, sich selbst historisch zu werden und eine romantische Erinnerungskultur auszubilden. Schlegel hat sich daran ganz selbstverständlich beteiligt.
Dieses Buch will August Wilhelm Schlegels Lebens- und Schaffensweg ausgehend von der modernen Vielfalt seiner Lebensrollen und den wechselnden Schwerpunkten seines Wirkens nachzeichnen, das auf einer universell zu nennenden Gelehrsamkeit gründete. Die Kapitelreihung folgt zwar grundsätzlich der Chronologie; sie will aber Thema für Thema auch auf Kontinuitäten und die Wiederkehr von Mustern, nicht nur auf Entwicklungen in Schlegels Leben und Schaffen hinweisen.
Als einer der Anstifter einer geistigen Revolution, die ihren Fluchtpunkt zwischen dem Nationalen und dem Internationalen immer wieder neu ausrichtete, und als gewissenhafter Verfasser einflussreicher Bücher, besonders als akademischer Lehrer, als Begründer einer wissenschaftlichen Disziplin war er einzigartig. Das Unnahbare, seine Maskeraden und Rollenspiele hat man ihm gern vorgeworfen. Den mondänen Gelehrten werden wir kennenlernen, als Mensch wird uns Schlegel ein Rätsel bleiben.