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1. Der Aufklärer und Philologe
ОглавлениеWie Angela Merkel, Joachim Gauck, Gudrun Ensslin und Friedrich Nietzsche oder auch Gottfried Benn wuchs Schlegel in der lutherisch geprägten frommen Hausgemeinschaft des Pfarrhauses auf. Ihre Jugend verbrachten diese Pfarrerskinder alle im Windschatten der Dorf- oder Stadtkirche, zwischen Hausandacht und Glockenläuten – ungemein privilegiert, was den Zugang zur Kultur ihrer jeweiligen Zeit auch über Bibellektüre und Theologie hinaus betrifft. Lesen zählte zu ihren frühen Leidenschaften. Sie waren Kinder eines sicherlich wortgewaltigen, jedermann im Ort wohlbekannten und angesehenen, gar mächtigen Mannes – eines Mannes, der seine Studierstube zu Hause hatte und dort auch Gemeindeglieder empfing, von dem Vorbildlichkeit in der gottgefälligen Lebensführung erwartet und der gern um Rat gefragt wurde. Einer, der lehrend, redend, auch repräsentierend immerfort tätig war und aus seiner beruflich festgelegten Rolle nie so recht herauskam. Insbesondere waren er selbst und seine Familie ständig sichtbar, wurden von der ganzen Gemeinde beobachtet. Man kann davon ausgehen, dass die wesentlichen Kennzeichen, die das Pfarrhaus im 19. Jahrhundert charakterisieren, auch auf Schlegels Elternhaus zutrafen:
Seinen Bewohnern erscheint […] ihr familiäres Leben als Theater. Als spielten sie ihr privates Leben anderen vor, als führten sie ihre Ehe für andere, erzögen ihre Kinder für andere, als inszenierten sie die intimen Szenen des Familienlebens für andere; kurz: als führten andere Regie im Glashaus, so stellt sich der Pfarrfamilie ihre eigene Welt dar, jene bürgerliche Lebenswelt, die sich das klassische bürgerliche Theater als Spiegel ihrer selbst schuf und die Puppenstube als Miniatur ihres Lebenskreises. (Steck, 110)
Dies lässt an manche Schlegel-Charakteristik denken, in der er als eitler, aufgeblasener Poseur erscheint. – Hatte er einfach von Kindesbeinen an gelernt, in der Öffentlichkeit zu stehen und dabei eine stets repräsentative Haltung zu bewahren? Man war herausgehoben, sollte sich aber nicht allzu sehr absondern, ohne sich freilich mit den Gemeindegliedern gemein zu machen. Das Pfarrhaus war ein kardinaler Ort des gebildeten und ob seiner Bildung selbstbewussten Bürgertums. Hier wurde nicht nur gebetet und in der Bibel gelesen, hier wurde auch gemeinschaftlich musiziert, der Pfarrgarten bestellt, hier gedieh die Winkelgelehrsamkeit manch eines verkannten Genies. Und es war ein Ort der sozialen und kulturellen Stabilität, ein Fels in der Brandung auch in unruhigen Zeiten.
Im 18. Jahrhundert waren das protestantische Pfarrhaus und die Universität ganz zwangsläufig auch Orte der Aufklärung. Ob orthodoxe oder pietistische Strömungen der Theologie: gestritten wurde zunehmend vor dem Hintergrund eines sich verdiesseitigenden Menschenbildes. Zugleich professionalisierte sich die im 18. Jahrhundert an Bedeutungs- und Ansehensverlust laborierende Universität. Dass sich der Pastorensohn August Wilhelm Schlegel im Alter von 19 Jahren für ein Studium an der nur wenige Jahrzehnte zuvor gegründeten Landesuniversität in Göttingen entschied, ist nicht verwunderlich. Die soziale Prägung im residenzstädtischen Pfarrhaus und an der Reformuniversität des 18. Jahrhunderts machte Schlegel zu einem Aufklärer, der vieles von dem früh Erworbenen nie ablegte oder verleugnete.
Dass Schlegel als namhafter Repräsentant der Romantik zugleich auch Aufklärer gewesen sein soll, mag auf den ersten Blick irritieren. Der scheinbare Widerspruch löst sich jedoch auf, wenn man berücksichtigt, dass die Frühromantik, der er angehörte, mitunter als „etwas Drittes zwischen den beiden großen Epochen“ betrachtet wird, vielleicht „mehr die Fortsetzung des einen oder der Beginn des anderen“ (Fulda/Kerschbaumer/Matuschek, 7). Zu bedenken ist auch, dass ‚Aufklärung‘ kaum mehr als ein Hüllbegriff ist, der die langsame Verdiesseitigung des Lebens im 18. Jahrhundert bezeichnet: die Hinwendung der Europäer zur Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Kultur wie auch zu klassifizierenden Methoden bei der Beschreibung von Natur und Kultur.
Die Künste wurden zum Medium der Erprobung dieser Verdiesseitigung. Im frühen 18. Jahrhundert wurden ihnen pädagogische Zielsetzungen zugewiesen, während sie sich im zweiten Drittel des Jahrhunderts bereits wieder von diesen Fremdbestimmungen zu emanzipieren begannen, um dann zur Jahrhundertwende ihre Autonomie zu postulieren. Bei aller Absage an unmittelbare Zweckhaftigkeit wies die Kunst doch jederzeit über sich hinaus, half höchste Werte zu begründen, nicht nur ‚das Schöne‘ selbst, sondern die Nation und das Volk, die ‚Revolution‘ (oder eine von mehreren denkbaren), ‚Universalität‘ und Geschichtlichkeit. Mit der ‚Poesie‘ als Medium der Integration alles Heterogenen zu einem Ganzen und insbesondere einem selbstreflexiven Denkgestus der ‚unendlichen Annäherung‘ war der Weg von der Aufklärung zur Romantik gebahnt und beschritten.
Hannover im 18. Jahrhundert
Im Übergangs- und Konkurrenzbereich verschiedener aufklärerischer Strömungen ist Schlegels Jugend angesiedelt, war sein Vater (und mehr noch sein früh verstorbener Onkel) auch literarisch und publizistisch tätig. Vorbilder in der Familie waren also genugsam vorhanden. Gelehrsamkeit und Künstlertum als Pfarrerstugenden lassen sich bis zum Ahnherrn und Urbild Luther selbst zurückverfolgen.
Beides zusammen verkörperte auch August Wilhelm Schlegel, der Dichter und Philologe. Der Lieblingssohn seiner Mutter Johanna Christiane Erdmuthe Schlegel, geb. Hübsch (1735–1811), bewahrte sich allerdings noch weitere Pfarrerstugenden. Zu denken ist daran, dass der später als Professor in Bonn jahrzehntelang allein lebende Schlegel dort stets ein offenes Haus führte. Daneben zeugt sein privater Briefwechsel von seinem Verantwortungsbewusstsein, vom Gefühl der Zugehörigkeit zu seinen Geschwistern und zu deren Familien.
Nicht nur Juristen und Pfarrer traten in Schlegels Familie auf, doch sind sie häufig vertreten. Großvater Friedrich Schlegel (1689–1748) war Kirchenjurist. Er trug die Titel eines Stiftssyndikus und Appellationsrates in Meißen, einem bis in Napoleons Zeiten reichsunmittelbaren Gebiet, das sich allerdings seit der Reformation auf den Dom und dessen Umland beschränkte. Schlegels Vater wuchs also in Meißen auf, und ihm, dem strenggläubigen Lutheraner, gelang eine mustergültige Karriere, wie Roger Paulin hervorhebt: „Ein für das 18. Jahrhundert typischer Karriereweg entwickelte sich, auf dem sich Poesie und Kritik, Kanzel und Studierstube nicht immer im stabilen Gleichgewicht befanden.“ (Paulin, 18) Nach einer sorgfältigen Schulbildung an der Landesschule Pforta bei Naumburg studierte er Theologie in Leipzig, kam zeitweilig als Lehrer nach Pforta zurück, um zunächst in Zerbst, dann in Hannover als Pastor tätig zu sein, ehe er weitere Sprossen der Karriereleiter erklomm. 1775 wurde er Pastor und Superintendent an der soeben erbauten Neustädter Hof- und Stadtkirche, deren Sprengel den Hof einschloss.
Bereits der junge August Wilhelm dürfte mit Menschen des Hannoveranischen Hofes in Berührung gekommen sein, ihr Verhalten beobachtet haben. Das Kurfürstentum Braunschweig-Lüneburg (inoffiziell auch: Kur-Hannover) wurde damals in Personalunion mit Großbritannien regiert, Residenzstadt des Kurfürstentums war Hannover. Vater Schlegel war also an prominenter Stelle tätig; mit weiteren Aufgaben als Generalsuperintendent zweier hannoverscher Diözesen betraut, blieb er in der Hauptstadt, wo seine Kinder ihre gesamte Jugend verbrachten.
Drei von sechs Geschwistern wählten wiederum das Pfarrhaus zum Lebensraum. Moritz und Johann Karl Fürchtegott wurden Pfarrer, die Schwester Henriette Pfarrersfrau. Der jüngsten Schwester Charlotte gelang mit ihrer Heirat die Annäherung an höchste Kreise. Ihr Mann war der Dresdner Hofwirtschaftssekretär und spätere zweite kursächsische Hofmarschall Ludwig Emanuel Ernst, beider Tochter die von ihrem Onkel August Wilhelm hochgeschätzte und von ihm auch finanziell unterstützte Malerin Augusta von Buttlar.
Als Pfarrerssohn entstammte August Wilhelm väterlicherseits einer in Sachsen beheimateten, zutiefst bürgerlichen Familie. Doch dies ist nur die halbe Wahrheit, wenn es um genealogische Einflüsse geht. So hatten seine Vorfahren den Adelstitel geführt, um dessen Restituierung sich August Wilhelm und sein Bruder Friedrich dann in der Epoche der Restauration erfolgreich bemühen sollten. Das von August Wilhelm später geführte Wappen der „Schlegel von Gottleben“ zeugt davon; der „Schlägel“, das Werkzeug, von dem die Familie ihren Namen ableitete, ist darin sichtbar. Als Bonner Professor unterzeichnete er stets mit „vSchlegel“, was ihn aus der staatlich examinierten bürgerlichen Gelehrtenkaste im Kollegium noch einmal hervorhob.
Familienwappen Schlegel von Gottleben
Keineswegs finden sich nur Pfarrer und brave Stubengelehrte unter seinen Ahnen. Von der väterlichen Seite her stammte er von Lucas Cranach ab, der nicht allein für die Ikonographie des Luthertums eine herausragende Rolle gespielt hatte. Mit ihm als gemeinsamem Ahnherrn waren die Schlegels entfernt auch mit Goethe verwandt. Ein weiterer das Philistertum transzendierender Einfluss war Schlegel offenbar bereits in die Wiege gelegt worden. Die ihm nachgesagte Unstetigkeit (und vielleicht auch Abenteuerlust) scheint zumindest auch seinem Bruder Karl August eigen gewesen zu sein. 1782 ging er als Soldat im Auftrag der Ostindischen Kompanie nach Madras und starb dort 1789. Der früheste erhaltene Brief an August Wilhelm kam von diesem Bruder. Das Schreiben datiert vom 26.6.1782, August Wilhelm war noch keine 15 Jahre alt.
Der Vater Johann Adolf Schlegel war zeitlebens in seinen Nebenstunden schriftstellerisch tätig; er verkörperte das im 18. Jahrhundert noch gängige Bild des gelehrten Dichters. Allein schon über seinen Vater kam der junge Schlegel also in Kontakt mit dem Denken der Aufklärung. Der beliebte Pastor gab nicht nur in 15 Bänden seine Predigten heraus, sondern veröffentlichte auch geistliche Lieder und Fabeln. Es handelte sich – ganz im Sinne der Aufklärung – um geistliche und weltliche Texte, in denen eine moralische Nutzanwendung im Zentrum stand und die sich potenziell an ein breites Publikum richteten, bei weitem nicht nur an Gebildete.
Johann Adolf Schlegel
Die Generation von Schlegels Vater – und mehr als für Johann Adolf gilt dies für den früh verstorbenen Bruder Johann Elias (1719–1749) – steht für einen folgenreichen Bruch mit dem in der Literatur der Frühaufklärung herrschenden Rationalismus, der wiederum mit dem Namen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) verbunden ist. Die älteren Brüder Schlegel gehörten dem nach einer Zeitschrift benannten Freundeskreis der „Bremer Beiträger“ an, die auf der Grundlage der Philosophie Christian Wolffs von den bisherigen Maximen eines Dichtens nach festen Regeln und einer strengen Rationalität des Produzierens wie des Lesens Abschied nahmen und sich stattdessen für den Wert der Einbildungskraft als Grundlage der Poesie aussprachen.
Die etwa zeitgleich in den 1740er Jahren erschienenen Schriften der Schweizer Literaturtheoretiker Bodmer und Breitinger stellten dann endgültig den Enthusiasmus, die dichterische Einbildungskraft, in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Dies wurde wegweisend: Der Furor poeticus galt nun als Garant echter literarischer Erzeugnisse, nicht der brav nach Anleitung vor sich hin dichtende Stubengelehrte. Analog wurde die Rezeptionsseite bewertet: Ästhetische Qualität schrieb man denjenigen Kunstwerken zu, denen es gelingt, den Lesenden auf einer sinnlichen Ebene zu erreichen, unabhängig von der Verstandeswirkung. Bei Johann Adolf waren bereits Keime des Künftigen erkennbar. So sprach er sich für die Gleichwertigkeit von Vers und Prosa aus und schätzte zum Beispiel Fabeln nicht nur wegen ihrer eindeutigen ‚Moral‘, sondern wegen ihrer Fähigkeit zur tendenziell mehrdeutigen Allegorisierung.
Sein Bruder Johann Elias, der heute bekanntere Schlegel dieser Generation, schlug ebenfalls frühzeitig einen Berufsweg ein, welcher ihn näher an seine Leidenschaft, das Dichten, herantrug. Nach einem Jurastudium war er Privatsekretär des sächsischen Gesandten in Dänemark und übernahm 1748, ein Jahr vor seinem Tod, eine Professur an der dänischen Ritterakademie in Sorø. Der innovativere der beiden Schlegel-Brüder war bereits während seines Leipziger Studiums in Kontakt mit Gottsched gekommen, verfasste mit Canut noch ein Trauerspiel, das den Regeln des französischen Klassizismus folgte, war aber zugleich der Erste, der in deutscher Sprache die Qualitäten des späterhin von seinem Neffen erfolgreich ins Deutsche übertragenen Shakespeare hervorhob. In seinen theoretischen Äußerungen zum Trauerspiel betonte er die Bedeutung der dramatischen Charaktere und die Darstellung ihrer Leidenschaften. Damit war er eine Übergangsinstanz zwischen Gottsched und Lessing. Indem er die Nachahmung der Natur im Kunstwerk als potenziertes Abbild begriff, begann er das im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr in Misskredit geratende und in der Romantik vollends ausgesetzte Gebot der Naturnachahmung, der Mimesis, bereits in Zweifel zu ziehen.
Wohin wir auch blicken im Hause Schlegel: Man war dort über die aktuellen kunsttheoretischen Debatten informiert und beteiligte sich daran. Die künftigen literarischen Theoretiker August Wilhelm und Friedrich (der 1772 zur Welt kam) sogen dies alles gleichsam mit der Muttermilch auf.
August Wilhelm besuchte bis 1786 das traditionsreiche Lyceum. Die Schwerpunkte dort lagen eindeutig auf den klassischen Sprachen, aber auch auf Geschichte, Theologie und Mathematik. Seine Neigung zu den Sprachen, zu Metrik und Rhetorik wurde dort und während seines anschließenden Studiums in Göttingen gefestigt.
Die Hannoversche Landesuniversität Georgia Augusta war gerade einmal 50 Jahre alt, galt aber bereits als die beste im deutschsprachigen Raum überhaupt. Im Unterschied zu vielen, zumal den nicht wenigen im Laufe des Jahrhunderts heruntergekommenen deutschen Universitäten zog Göttingen nicht nur Landeskinder an; auch viele Landesfremde wählten die Georgia Augusta zum Ort ihrer Studienabschlüsse. Der Anteil an Adeligen war sehr hoch. In einer von Zensur geprägten und doch längst zu aufgeklärter Freiheit der Meinungsäußerung drängenden publizistischen Öffentlichkeit war die offiziell gewährte vollkommene Lehrfreiheit segensreich. Göttingen war ein Ort, an dem sich freie Rede, Eleganz und Common sense begegneten. Beispielhaft war auch die Zivilisierung der studentischen Lebensformen, die nicht nur durch von oben organisierte Universitätsfeste, sondern auch durch Lesegesellschaften vorangetrieben werden sollte. Es verwundert also nicht, dass die Göttinger Universität schon frühzeitig als Vorbild wahrgenommen wurde und als die Universität der Aufklärung galt.
Friedrich Schlegel: Jugendbildnis
Schlegel immatrikulierte sich 1786 an der Theologischen Fakultät und blieb für damalige Verhältnisse lange an der Universität, fünf Jahre, ehe er dann 1791 für vier weitere Jahre als Hauslehrer in Amsterdam tätig war.
Natürlich studierte Schlegel nicht nur oder auch nur vorwiegend den Fächerkanon der Theologie, er tummelte sich vielmehr zunehmend in der Philosophischen Fakultät, die vor allem für die Grundlagen des weiteren Studiums zuständig war. Als Adept der Göttinger historischen Schule nahm er die aufklärerische Maxime von der „Zusammengehörigkeit alles Wissens und seiner Interdependenz“ (Paulin, Kosmos, 16) zur Kenntnis. Dieser Gedanke war ein wichtiges Erbgut der Aufklärung, das die Romantiker, und namentlich der ältere Schlegel-Bruder, sich zu eigen machten: „sie sind in einer Hinsicht auch Enzyklopädisten oder befassen sich mit der Systematisierung alles Wissens.“ (ebd.)
Es ist davon auszugehen, dass August Wilhelm die Göttinger Universitätsjahre gut nutzte, wie er auch sein Leben lang unentwegt auf geistigem Gebiet produzierend oder lehrend tätig war. Die Nachricht seines Biographen Paulin, der Student habe zwischenzeitlich auch einmal eine Auszeit genommen und den Harz besucht, darf man mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen. Ein literarischer Bezirk war es – einige Jahre nach Goethes Besuch dort und einige Jahre vor dem Tiecks – in jedem Fall. Wir dürfen uns Schlegel nicht als müßigen Menschen vorstellen. Freizeit war in seinem Leben nicht vorgesehen. Was bei den Gebildeten auch Zerstreuung auslösen sollte, machte er, wie wir sehen werden, zum Gegenstand seines Berufs.
Aufklärung und Philologie – mit diesen beiden Stichworten sind die Einflüsse des Göttinger Studiums wohl am besten umschrieben. Wichtigster Mentor war der 1729 geborene Professor für Poesie und Beredsamkeit Christian Gottlob Heyne. Hinter der Bezeichnung seiner Professur verbirgt sich zunächst ein Appell an die Eigenproduktivität der Studenten auf den Gebieten der Dichtung und der Rhetorik. Der seit 1763 in Göttingen tätige Heyne, der frühzeitig auch Sekretär der Göttinger Akademie der Wissenschaften wurde, begriff jedoch sein Fach als Forum der Systematisierung des Wissens seit der Antike mittels strenger, intersubjektiv nachvollziehbarer Methodik. Sein wichtigster Schüler, Friedrich August Wolf, gilt als der eigentliche Begründer der Klassischen Philologie, einer vormaligen Hilfswissenschaft, die durch Wissenschaftler wie Heyne und Wolf in den Rang einer satisfaktionsfähigen universitären Disziplin aufrückte.
Zwei Jahre lang lebte Schlegel in Heynes Haus und wurde sein wichtigster studentischer Helfer bei einem seiner großen Editionsprojekte, nämlich bei der Anfertigung des Registers zu einer großen Vergil-Ausgabe. In jener Zeit lernte Schlegel auch Wilhelm von Humboldt kennen, mit dem er nicht nur sprachtheoretische Interessen teilte, sondern in späteren Jahrzehnten auch bildungspolitische Vorstellungen.
Heyne war in methodischer Hinsicht Schlegels Vorbild. Er erarbeitete erstmals die systematischen und historischen Grundlagen für das künftige Fach Klassische Philologie, nachdem sich seine Vorgänger vor allem darauf beschränkt hatten, Funde und Materialien zusammenzutragen. Er nutzte „Kunstarchäologie, Mythologie, Recht und Verfassungslehre, Numismatik, ja sogar die Etruskologie“ (Schindel, 19) zur Erschließung der antiken Literatur, die Schwerpunkt seiner philologischen und hermeneutischen Bemühungen war. Bei Heyne wurden wissenschaftliche Arbeitstechniken erprobt, wie sie Schlegel später auf die klassische und die von ihm so genannte romantische Literatur anwandte. Aber auch Heynes Enzyklopädik wie seine Vorlesungen zu Geschichte und Kunstgeschichte waren von diesem Geist geprägt. Zum Studium der Geschichte gehörte für ihn die begleitende Erforschung volkskundlicher, mythologischer und literarischer Quellen, selbstverständlich auch die Sprachgeschichte – und dies alles in vergleichender Absicht. Von diesem Ansatz war Schlegel noch in seiner späteren Zeit als Bonner Professor überzeugt.
In Schlegels Göttinger Studienprogramm enthalten war außerdem der Unterricht im Spanischen und im Italienischen – auch dies eine Vorbereitung auf das Leben eines Gelehrten, der sich später intensiv den Literaturen Europas widmen sollte. In Göttingen steckte der junge Schlegel also viele seiner künftigen Interessengebiete ab. So kam er über Heynes Vergil zu Dante, dessen Göttliche Komödie er während seiner Studienzeit in Teilen übersetzte und über die er einen seiner frühesten Aufsätze schrieb. Diese Veröffentlichungen sind mit zwei zeitweiligen Mentorpersönlichkeiten verbunden, zu denen er später ambivalent bis ablehnend Stellung bezog: Gottfried August Bürger und Friedrich Schiller.
Gottfried August Bürger
Bürger (1747–1794), seit 1789 außerordentlicher Professor an der Göttinger Universität, war für den späteren Lyriker und Metriker Schlegel deshalb von besonderer Bedeutung, weil er ihm den Weg zu eigenen Publikationen bahnte. In einem Brief aus dem Jahr 1789 bezeichnete Bürger seinen Studenten Schlegel als „meinen poetischen Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe“ (Strodtmann, 210).
Heute noch bekannt ist Bürger vor allem für seine im Geiste spätaufklärerischer Subversivität geschriebenen Prosatexte und Gedichte. Sein Münchhausen, der (freilich als Lügner gekennzeichnete) Superman des 18. Jahrhunderts, hat bis heute ‚überlebt‘. Sozialkritische Gedichte wie das provokative Der Bauer. An seinen Durchlauchtigen Tyrannen oder die nicht nur rhetorisch brillante, dabei metrisch strenge und in jeder Hinsicht populäre Schauerballade Lenore waren ihrer Zeit weit voraus und verweisen auf die literarische Epoche, in der Schlegel später dann selbst mitzureden hatte.
Von Bürger lernte Schlegel, wie man Sonette schrieb, Bürger hatte Macbeth und Teile von Homers Ilias übersetzt, zunächst in Jamben, dann – wie der erfolgreichere Johann Heinrich Voss – in Hexametern. In Bürgers Umkreis fasste Schlegel literarisch Fuß. Die konstruierte, kalkulierte und artifizielle ‚Natürlichkeit‘ und Popularität, die Bürger praktizierte, galt ihm wie auch so manchen Romantikern als erstrebenswert: Volkstümlichkeit aus höchster intellektueller Anstrengung heraus. Für die Quadratur dieses Kreises war jedoch unter den Frühromantikern kaum jemand zu gebrauchen. Hatte der junge Ludwig Tieck eher die Befähigung, große Textmengen ‚naiv‘ zu produzieren, so gelang es den Brüdern Schlegel kaum jemals, mit ihren poetischen Erzeugnissen den Eindruck von Leichtigkeit zu erzeugen. Beabsichtigt war dies von ihnen aber allemal.
Schon 1787 erntete der noch nicht zwanzigjährige Student August Wilhelm Schlegel seine ersten akademischen Lorbeeren, als er den Preis der Göttinger Philosophischen Gesellschaft mit seiner im Jahr darauf in Hannover veröffentlichten lateinischen Dissertation De Geographia Homerica Commentatio gewann. Mochte es sich weitgehend nur um eine Auflistung geographischer Daten handeln, so war es doch Schlegels erste Publikation, mit der er sich in eine lange Familientradition einreihen konnte. Sein Stolz geht aus einem der frühesten erhaltenen Briefe überhaupt hervor, den er zusammen mit seinem wissenschaftlichen Debut dem verehrten Braunschweiger Shakespeare-Übersetzer Johann Joachim Eschenburg am 15.2.1788 zusandte:
So wenig ich mir schmeicheln darf daß Sie sich meiner noch erinnern da ich nur auf wenige Augenblicke das Glück hatte, Sie hier in Göttingen zu sehn, und nachher, als ich mich vorigen Sommer einige Tage in Braunschweig aufhielt, Sie grade auf einer Lustreise begriffen waren; so sehr macht es mir die Verehrung, die ich für Sie hege, und die so dauerhafte freundschaftliche Verbindung in der mein Vater mit Ihnen steht, zur Pflicht, den ersten Versuch, mit dem ich in der schriftstellerischen Welt aufzutreten wage, auch Ihnen zur Beurtheilung darzulegen. Von den Zwecken dieser Abhandlung dem Geschichtschreiber, Geographen und künftigen Commentator des Homer vorzuarbeiten, brauche ich Ew. Wohlgebohrnen, als einem Kenner der Alterthumswissenschaften, nichts zu sagen. Möchte ich bald im Stande seyn durch ein Werk von mehr Bedeutung, dem Beyspiele meines Vaters und meiner Onkel nachzueifern, und mir den Beyfall der mir so verehrungswürdigen Freunde meines Vaters zu erwerben! (Körner 1930, 5f.)
Bemerkenswert ist, dass sich bereits der Göttinger Student mit der Attitüde eines jungen Gelehrten an einen erfahrenen Professor wendet. Diese Attitüde stimmt damit überein, dass er zeitlebens – und auch lange bevor er das Amt eines Hochschullehrers innehatte – als Gelehrter wahrgenommen wurde. Das mag an seinem Habitus, an seinem profunden Wissen oder an der Universalität seiner Gelehrsamkeit gelegen haben, vielleicht auch an seiner Art zu schreiben. Dies jedenfalls lässt sich aus dem Lob herauslesen, das Caroline de la Motte-Fouqué ihm 1806 zukommen lässt: „Lieber Freund Sie sind ein wahrhafter Stern in der Gelehrtenwelt, an Feinheit und adlichen Sitten. Man darf neben Ihnen keinen andren sehen.“ (Krisenjahre 1, 344)
Tatsächlich legte Schlegel lebenslang auf das ‚Handwerk‘, die Basiskompetenzen des Wissenschaftlers, großen Wert. So machte er später noch als Bonner Indologe seinem schärfsten Konkurrenten, dem in Berlin tätigen Franz Bopp, mangelnde klassische – sprich: philologische – Ausbildung zum Vorwurf, als dieser – anders als Schlegel – bei seinen Sanskrit-Studien einen sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt setzte. 1829 schrieb Schlegel an Johannes Schulze, der eine leitende Stellung im preußischen Kultusministerium innehatte und großen Einfluss auf die Besetzung von Lehrstühlen ausübte, über Bopp:
Ich schenke ihm gern sein schülerhaftes Latein und seine kauderwelschen Übersetzungen ins Deutsche; aber er ist wirklich schwach in der Interpretation, und zur philologischen Kritik hat er vollends kein Talent. Dieß kommt von dem Mangel an classischer Bildung. Am meisten Werth haben seine grammatischen Arbeiten. (Körner 1930, 484)
Von der Pike auf erlerntes philologisches Handwerk war für Schlegel eine unerlässliche Grundkompetenz für das, was er zu seiner Zeit natürlich noch nicht ‚Geisteswissenschaften‘ nannte.
Das Handwerkszeug zur Erforschung des Sanskrit erwarb sich Schlegel ab 1814 konsequent selbst. Den Anstoß gab das romantisch zu nennende Bestreben, den Ursprüngen der Sprachen und der Sprache überhaupt auf die Spur zu kommen. Obwohl eingeräumt wurde, dass sich der göttliche Ursprung durch schnöde Forschung niemals ganz ermitteln lasse, so wollte man ihm durch vergleichende Sprachgeschichtsschreibung eben so nahe wie möglich kommen. Mit dem Studium des Sanskrit hatte sein Bruder Friedrich zwar vor ihm begonnen. Aber August Wilhelm erwies sich als zielstrebiger und als systematischer, wollte er doch eine etymologische Herleitung auch der germanischen Sprachen aus dem Sanskrit unternehmen. Zu Recht also spricht Héctor Canal in seinen gleichnamigen Studien zu August Wilhelm von „Romantische[r] Universalphilologie“.
Nach dem Tod seiner späteren Gefährtin, der Madame de Staël, im Jahr 1817 nahm Schlegel wieder sein Leben als Philologe auf, das sich in seiner Askese von seinem Göttinger Studium kaum wesentlich unterschieden haben dürfte. Der amerikanische Besucher George Ticknor berichtete von seinem Tagesablauf im Jahr 1817, also kurz vor dem Wechsel an die Universität Bonn:
Schlegel gestaltet seinen Tagesablauf so, dass er für seinen Erfolg als Mann der Wissenschaften ebenso mitverantwortlich ist wie für den als Mitglied der Pariser Gesellschaft. Er wacht um vier Uhr morgens auf und lässt sich, statt aufzustehen, seine Kerze bringen und liest fünf oder sechs Stunden, schläft anschließend noch zwei Stunden, steht dann auf und arbeitet bis zum Abendessen um sechs Uhr. Von da an bis um zehn Uhr ist er ganz Weltmann und Angehöriger der Gesellschaft, er schäumt über vor amüsanter Konversation. Aber um zehn betritt er wiederum seine Studierstube und arbeitet bis Mitternacht, um mit demselben Ablauf erneut zu beginnen. (Ticknor, 107)
Und so blieb der penible Schlegel ein Leben lang auch, aber bei weitem nicht nur der Philologe, der er in Göttingen geworden war. Als in den 1840er Jahren die Berliner Akademie eine neue Gesamtausgabe der Werke Friedrichs II. von Preußen vorbereitete und Schlegel, der vielleicht prominenteste noch lebende Vertreter der Schönen Wissenschaften in seiner Generation, im Französischen ein Stilist von hohen Graden, darum gebeten wurde, beratend tätig zu sein und eine gehaltvolle Einleitung beizusteuern, produzierte er auf vielen Seiten lange Listen von Konjekturen. (Dabei handelt es sich um durch die gegebenen Handschriften nirgendwo gerechtfertigte Eingriffe des Editors in die hinterlassene Textsubstanz.) Schlegel lag also daran, die Sprachfehler des verstorbenen Königs auszumerzen, die er der Nachwelt nicht zumuten wollte. Er wollte Friedrichs Texte ‚verbessert‘ publiziert sehen. Heutiges philologisches Gewissen würde so etwas nicht zulassen, und schon damals opponierte das Herausgebergremium gegen diese Art von Selbstherrlichkeit. Ob es Schlegel primär um Korrektheit ging oder eher um ein Politikum, ist die Frage: Könige durften wohl kein fehlerhaftes Französisch an den Tag legen. Der große König, dies könnte auch Schlegels Motiv für die geplante Philologen-Manipulation gewesen sein, sollte auch im 19. Jahrhundert einen von menschlichen Fehlleistungen unbefleckten Auftritt haben.