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2. Kapitel

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Der Himmel über New York war grau wie ein Arbeitsbeginn am Montagmorgen; dazu lag Schneematsch auf den Straßen. Die Autos ließen zu beiden Seiten Schlammfontänen aufsteigen. Es war ein Tag, der nur den Inhabern chemischer Reinigungen Freude machte.

Jo Walker, der Mann, der unter dem Namen Kommissar X bekannt geworden war, stand am Fenster seines Appartements in der Gun Hill Road 234. Jo hatte an diesem Morgen zufällig frei. Wenn das wirklich mal passierte — im Jahr durchschnittlich dreimal — pflegte spätestens um elf das Tetefon zu läuten.

Jo wandte sich um und sah mißtrauisch auf den weißen Kasten. Dann peilte er die Tür an. Er hatte vor, ins Plaza zu fahren und dort ein paar Freunde zu treffen.

Als er die Türklinke in der Hand hatte, erwischte ihn das Telefon.

Jo nahm resigniert den Hörer ab.

„Hallo?“

„Spreche ich mit Mr. Walker?“

„Das tun Sie!“

„Mein Name ist Clayton, von Clayton und Anderson.“ Der Anrufer sang den Namen wie einen Psalm herunter.

Jo überlegte kurz und hatte sofort den richtigen Anschluß. Clayton und Anderson gehörte das teuerste Juweliergeschäft in Long Island. Die Firma war so exklusiv, daß sie keinerlei Schaufenster und Reklame hatte. Sie residierte in einem hundertfünfzig Jahre alten Landhaus.

„Wo brennt’s, Mr. Clayton?“ fragte Jo.

Die Stimme des Juweliers überschlug sich fast.

„Man hat mir heute morgen einen meiner wertvollsten Steine gestohlen. Ich bin fassungslos, Mr. Walker; es handelt sich um einen Diamanten im Wert von zehntausend Dollar. Dabei habe ich keine Ahnung, wer es war und wie es geschah. Ich weiß nur, daß der Stein weg ist. Sie müssen sofort kommen.“

Jo überlegte einen Augenblick.

„Habe ich nicht schon mal für Sie gearbeitet?“

„Ja“, sagte Clayton. „Das ist schon ein paar Jahre her. Damals wurden mir Diamanten im Wert von hunderttausend Dollar geraubt. Also, können Sie kommen?“

Jo sah auf die Uhr.

„Ich bin um elf bei Ihnen.“

Er legte auf und verließ das Haus.

Draußen blies ein frischer Wind vom East River. Die Silhouette von Manhattan war in dem Grau kaum auszumachen.

Jo holte den 190 SL aus der Garage und nahm Kurs auf Long Island. Normalerweise schaffte er die Strecke in einer halben Stunde, aber in Corona geriet er in eine Verkehrsstockung, die ihn fünfzehn Minuten kostete. Als er den Wagen vor dem Haus des Juweliers abstellte, war der SL mit einer grauen Schlammschicht bedeckt.

Jo stellte den Kragen hoch und durchquerte den Park. Der Wind war stärker geworden.

Mr. Clayton erwartete ihn in der Tür. Der Juwelier war klein und zierlich. Er hatte graues, gescheiteltes Haar und lebhafte Augen.

„Furchtbar nett, daß Sie bei dem Wetter gekommen sind“, sagte er und gab Jo die Hand.

„Wo käme ich hin, wenn ich nur bei schönem Wetter arbeiten wollte“, erwiderte Jo und sah sich um.

Das Landhaus war noch ganz altes Neu-England: holzgetäfelte Wände, geschnitzte Marmorkamine, Stuck an den Decken. Clayton führte ihn in den Verkaufsraum.

Der Raum war vergleichsweise schlicht ausgestattet. Ein paar zierliche Sessel. An einer Wand unter einer Reihe von alten Stichen zwei Verkaufsvitrinen. Was dort im Lampenlicht blitzte, war allerdings nur mit sechsstelligen Zahlen abzutaxieren.

Clayton öffnete eine der Vitrinen und nahm ein Tablett heraus. Es zeigte eine Kollektion Diamanten.

„Hier lag der Stein, der größte von allen. Er ist verschwunden“, sagte der Juwelier erregt.

Jo betrachtete nachdenklich die Sammlung.

„Hatten Sie heute früh Besuch von Kunden?“ fragte er.

Clayton nickte.

„Es waren zwei Käufer da. Ein Herr und eine junge Dame.“

„Erzählen Sie“, sagte Jo.

„Der Herr kam etwa um neun Uhr. Er machte einen ausgezeichneten Eindruck.“

„Kennen Sie seinen Namen?“

„Er nannte sich Miller. Er behauptete, ein guter Freund von John Reston zusein. Mr. Reston ist ein alter Kunde unserer Firma. Er wohnt hier in der Nähe.“

,,Ist das der Stahlfabrikant?“

Clayton nickte.

„Da der Besucher sich auf Reston berief und auch sonst einen guten Eindruck machte, hatte ich keinen Grund, ihm zu mißtrauen. Er sprach davon, ein Kollier in Auftrag geben zu wollen und ließ sich die Diamanten zeigen. Ich legte das Tablett vor ihm auf den Tisch. Dann wollte er etwas anderes sehen. Ich drehte mich um und holte ein anderes Tablett. Ein paar Minuten später fiel mir auf, daß der größte Diamant fort war. Ich war natürlich sehr erregt“.

„Verständlich“, brummte Jo.

„Ich fragte sofort nach dem Diamanten“, fuhr Clayton fort und tupfte sich mit einem seidenen Tuch über die Stirn. „Der Kunde empörte sich daraufhin und verlangte, ich sollte die Polizei holen. Aber das wollte ich nicht. Schließlich bot er eine Leibesvisitation an. Um Ärger zu vermeiden, ging ich darauf ein. Ich wollte die Polizei nicht ins Spiel bringen. Der Name der Firma leidet durch derartige Aktionen, das habe ich vor drei Jahren erlebt!“

„Sie fanden natürlich nichts“, sagte Jo.

Clayton nickte.

„Es steht eindeutig fest, daß Miller den Diamanten nicht bei sich hatte. Natürlich war er gründlich verärgert, aber was sollte ich tun? Er erklärte, er würde nie wieder bei mir kaufen. Möglicherweise ist Reston jetzt auch verärgert.“

„Das glaube ich kaum“, meinte Jo, der bereits einen bestimmten Verdacht hatte.

„Aber wo ist der Stein? Ich bin ganz sicher, daß er vor Millers Besuch auf dem Tablett lag. Mir ist die Sache einigermaßen rätselhaft.“

„Sie hatten noch eine Kundin heute vormittag, sagten Sie?“

„Ja, eine junge Dame. Sie ließ sich einiges zeigen, aber sie kaufte nichts.“

„Wie sah sie aus?“

„Gut!“ Clayton lächelte matt. „Ein klares, etwas blutleeres Gesicht, wie man es auf alten Bildern sieht. Hellblondes Haar. Schlicht gekleidet. Sie muß aus sehr vermögendem Haus stammen. Ich habe einen Blick für so etwas. Wenn man dreißig Jahre lang Juwelier in Long Island ist, kann man die Leute einschätzen.“

„Ihren Namen kennen Sie nicht zufällig?“

„Nein.“

Jo schnippte sich eine Chesterfield aus der Packung und strich gedankenvoll mit der Hand über die Verkaufsvitrine. Sie war aus kostbarem Holz gefertigt; oben war eine dicke Glasscheibe eingelassen. Die Steine ruhten auf blauem Samt.

„Haben Sie eine Vorstellung, wo mein Diamant hingekommen ist?“ erkundigte Clayton sich ungeduldig.

Statt einer Antwort bückte Jo sich und sah sich die Vitrine von unten an. Gleich darauf tauchte er wieder auf.

„Sie sind auf den Kaugummitrick hereingefallen, Mr. Clayton“, sagte er. „Eigentlich ist das ein alter Hut. Sollte Ihnen nicht passieren!“

„Kaugummitrick?“ wiederholte Clayton verständnislos.

„Ihr erster Kunde, der sich Miller nannte, hat den Stein gestohlen. Während Sie sich abwandten, klebte er ihn mit einem Kaugummi unter die Vitrine. Dann konnte er in aller Ruhe den Empörten spielen und sich durchsuchen lassen. Eine halbe Stunde später kam seine Partnerin und holte in einem unbeobachteten Augenblick den Stein unter der Vitrine hervor. Dieser Trick ist schon seit langem aus der Mode, weil die meisten Juweliere ihn kennen.“

„Aber mir ist er neu“, platzte Clayton heraus.

„Hier können Sie sehen, wo der Diamant angeklebt war.“ Jo drückte seine Zigarette aus. „Ihre junge Dame aus vermögendem Haus ist die Partnerin eines Gangsters, Mr. Clayton. Das hätten Sie wahrscheinlich nicht für möglich gehalten.“

„Nein“, sagte der Juwelier. „Und ich habe mir immer auf meine Menschenkenntnis etwas eingebildet. Was schlasen Sie nun vor, Mr. Walker?“

Jo zuckte die Achseln.

„Da ist nicht viel zu machen. Vielleicht erkennen Sie den Burschen wieder.“

„Aber wie?“

„Ich könnte mal ins Police Headquarter fahren und mir die Fotos der einschlägigen Gauner besorgen. Die meisten sind dort registriert. Vielleicht haben Sie Glück und erkennen den Burschen wieder. Aber sicher ist das nicht. Sind Sie wenigstens versichert?“

„Natürlich.“

„Nun ja“, meinte Jo und griff nach seinem Hut. „Ich rufe Sie wieder an, Mr. Clayton. Vielleicht haben wir sogar Glück und finden Ihren Diamanten wieder.“

„Hoffentlich“, sagte der Juwelier und brachte Jo an die Tür. „Jedenfalls beruhigt es mich, daß Sie sich um die Sache kümmern. Ich werde sofort die Anzeige erstatten; das muß ich, sonst bekomme ich den Schaden nicht ersetzt. Natürlich ist es nicht gut, wenn eine Firma wie Clayton und Anderson mit der Polizei zu tun hat, aber was will man machen?“

Jo verabschiedete sich und fuhr in die Stadt zurück.

Er maß dem Fall keine besondere Bedeutung bei. Dieser schien weder kompliziert noch gefährlich.

Daß das ein Irrtum war, sollte Kommissar X bald erkennen.

Am frühen Nachmittag klingelte das Telefon. Es meldete sich Clayton.

„Hören Sie, Walker, es ist etwas Unglaubliches passiert“, ächzte der Juwelier. „Ich habe den Burschen wiedergetroffen.“

„Den Diamantendieb?“

„Ja. Ich war gerade auf dem Rückweg vom Headquarter. Am Times Square lief er mir über den Weg.“

„Was haben Sie gemacht?“

„Ich habe ihn verfolgt. Wenn ein Polizist in der Nähe gewesen wäre, hätte ich ihn verhaften lassen. Aber bei diesem Wetter ist es wie verhext. Kein Uniformierter weit und breit. Und wenn ich mal falsch parke, ist gleich ein halbes Dutzend da.“

„Wo ist der Mann jetzt?“ erkundigte Jo sich.

„Ich bin ihm bis in die 7. Avenue gefolgt. Er ist im Lincoln Building verschwunden. Ich habe dort gesehen, wie er in den Lift stieg und in die zwölfte Etage fuhr. Konnte ich an den Lichtknöpfen erkennen.“

„Wo sind Sie jetzt?“

„Im Lincoln Building, unten in der Halle.“

„Okay“, sagte Jo, „ich bin in zehn Minuten bel Ihnen.“

Die Strecke von Bronx über die Triborough Bridge nach Manhatten war Jos Hausstrecke; er hätte sie im Schlaf fahren können. Sein spinatgrüner SL hielt auf diesen fünf Meilen seit Jahren den Streckenrekord.

Nach genau zehn Minuten steuerte er auf den Parkplatz des Lincoln Building.

Er stemmte seine einsachtzig in die Höhe, überquerte den Parkplatz, wobei er den Pfützen auswich, und betrat die Halle. Suchend sah er sich um. Von Clayton war nichts zu sehen.

Das Lincoln Building war in den Dreißiger Jahren entstanden. Es beherbergte im wesentlichen Büros und ein paar feudale Wohnungen in den oberen Stockwerken.

Jo ging zum Glaskasten des Portiers.

„Erinnern Sie sich an einen Gentleman, der vor zehn Minuten hier telefonierte? Klein, graues Haar, gut angezogen?“

Der Mann legte die Zeitung fort.

„Der ist mit dem Lift nach oben gefahren.“

„Danke“, sagte Jo. Hoffentlich hatte Clayton nicht versucht, auf eigene Faust Detektiv zu spielen.

Er fuhr in die zwölfte Etage. Auf dem langen Gang stöckelten ein paar Mädchen mit Aktenordnern an ihm vorbei. Clayton war nicht zu sehen.

Jo ging an den Glastüren vorbei und sab sich die Aufschriften an. Zwei Anwälte waren hier, ein Filmverleih und eine Exportgesellschaft. Drei Türen enthielten nur Namen ohne Berufsangabe.

Der Teufel mochte wissen, wo Clayton, steckte.

Jo zündete sich eine Zigarette an und überlegte. Nach Claytons Angaben war dieser Miller in die zwölfte Etage gefahren. Dann hatte der Juwelier telefoniert.

Wenn Clayton anschließend nach oben gefahren war, war es unwahrscheinlich, daß er wußte, in welchem Büro der Mann verschwunden war. Er hätte natürlich überall nachsehen können, aber das sah ihm nicht ähnlich.

Blieb die Möglichkeit, daß der Mann wieder aufgetaucht war, das Haus verlassen hatte und Clayton ihm gefolgt war.

Jo stieg wieder in den Lift und fuhr nach unten. Kommissar X war in New York bekannter als, mancher Filmstar. Gelegentlich hatte das seine Vorteile, aber meistens brachte es nur Ärger.

„Suchen Sie jemandem, Sir?“ fragte der Boy eifrig.

Jo nickte.

„Ich bin hier mit einem Mann verabredet.“

„Ist das so ein kleiner, grauhaariger?“

„Hast du ihn gesehen?“

„Er lief vorhin aufgeregt in der Halle hin und her. Dann verschwand er im Lift.“

„Hier?“

„Nein, drüben im Selbstfahrer.“

Sie waren inzwischen unten angekommen, und Jo stieg aus. Der Boy starrte neugierig hinter ihm her.

Er bereute, kein Autogramm verlangt zu haben.

Jo schlenderte auf die andere Seite der Halle. Hier war ein kleiner Lift mit Selbstbedienung. Jo drückte auf den Rufknopf.

Nach zwei Minuten versuchte er es noch einmal. Der Lift kam nicht.

Der Portier verließ seinen Glaskasten und kam zu Jo.

„Warum nehmen Sie nicht den anderen?“

„Weil ich diesen will!“

„Der scheint kaputt zu sein“, brummte der Portier und deutete auf die Schalttafel. „Steht seit zehn Minuten im Keller.“

Jo wurde sofort mißtrauisch.

„Kann ich mal unten nachsehen?“

„Mann“, sagte der Portier, „für Reparaturen gibt es einen Hausmeister. Oder sind Sie zufällig Mechaniker?“

„Ich bin Edison persönlich“, sagte Jo ungedüldig. Um das Verfahren abzukürzen, holte er seine Lizenz heraus.

„Privatdetektiv“, sagte er kurz. „Ich habe das Gefühl, hier stimmt was nicht.“

Der Portier machte ein verdutztes Gesicht.

„Wie kommen Sie darauf?“ fragte er. Aber Jo hatte sich schon in Bewegung gesetzt.

Er lief die Treppe hinunter. Der portier ächzte hinterher und schwang den Schlüsselbund.

Vor ihnen öffnete sich ein schmaler Gang mit Lattenverschlägen auf beiden Seiten. In den Verschlägen stapelte sich, was sich in dreißig Jahren an Gerümpel anzusammeln pflegt.

Jo lief den Gang entlang und bog um die Ecke. Vor ihm malte die offene Tür des Fahrstuhls ein helles Viereck in das Halbdunkel.

Walker verlangsamte das Tempo. Hier kam er auf jeden Fall zu spät.

Clayton war im Lift zusammengesunken. Man hätte meinen können, er sei ohnmächtig geworden, aber da war der dunkle Fleck auf seinem Mantel, genau in Höhe des Herzens. Nein, ohnmächtig war der Juwelier nicht.

Er war tot.

Privatdetektiv Joe Barry - Heiße Dollars

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