Читать книгу Privatdetektiv Joe Barry - Killer kennen keine Gnade - Joe Barry - Страница 5
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ОглавлениеReichlich fünf Jahre waren vergangen. Die vier Bankräuber waren im Zuchthaus von Scranton, Pennsylvania, gelandet. Der Richter hatte sie zu fünf Jahren und fünf Monaten verurteilt. Der Vertreter der Anklage vertrat die Ansicht, einer der vier müsse der Mörder von Dean Kelly, ihrem Anführer, sein, aber er konnte keine Beweise für diese Behauptung erbringen. Die vier Ganoven wurden daher nur wegen Bandenverbrechen verknackt.
Von dem erbeuteten Geld fehlte jede Spur. Der District Attorney ließ nichts unversucht, um herauszufinden, was aus der Beute geworden war. Wenn die vier Ganoven wirklich etwas über Kellys Tod und das Verschwinden der halben Million wußten, dann verbargen sie ihr Wissen meisterhaft. Sie verwickelten sich trotz ständiger Verhöre niemals in Widersprüche und blieben bei ihrer ersten Aussage.
Später, als sie in Scranton saßen, versuchte der Zuchthausdirektor, sie weichzukochen. Aber auch er erfuhr nichts.
Am 30. Januar sollten die Gangster nun entlassen werden. Sie hatten ihre Strafe gemeinsam abgesessen, aber ihre Einstellung zueinander hatte sich im Laufe der Jahre geändert.
Bevor die vier im Kittchen gelandet waren, hatten sie ein Team gebildet. Einer hatte sich auf den anderen verlassen. Sie waren bestens aufeinander eingespielt; ihr Coup in der Bank hatte das gezeigt. Es war alles wie geschmiert gegangen.
Im Zuchthaus hatten sich ihre Beziehungen zueinander verschlechtert. Die vergangenen fünf Jahre hatten sie zu Feinden gemacht. Jeder mißtraute jedem.
Am meisten konzentrierte sich der Haß der anderen drei jedoch auf Marty Jefferson. Ihm gaben sie die Schuld dafür, daß man sie eingelocht hatte. Das gespannte Verhältnis zwischen den ehemaligen Gangstern war schon mehrfach der Anlaß zu einer Schlägerei gewesen. Der Zuchthausdirektor hatte daraufhin die Gefangenen isoliert. Sie sahen sich nur noch selten.
Einen Tag vor der Entlassung ließ der Direktor Marty Jefferson zu sich kommen. Der: Häftling erwartete, daß man ihn, wie so oft in den vergangenen Wochen und Monaten, über den Verbleib des Geldes ausfragen werde. Er sollte sich irren.
„Sie werden sich sicher wundern, daß ich Sie schon wieder rufen lasse“, sagte der Direktor jovial.
Jefferson nickte. Er nickte immer, wenn ihm diese Frage gestellt wurde, obwohl er sich keineswegs mehr wunderte.
„Ich will heute nicht mit Ihnen über das verschwundene Geld reden, sondern über etwas, das Sie allein angeht.“
Jefferson spitzte die Ohren. Welchen Trick mochte der Alte — wie der Direktor allgemein genannt wurde — sich diesmal ausgedacht haben, um ihn zu überlisten. Marty Jefferson beschloß, auf der Hut zu sein. Er warf dem Direktor einen lauernden Blick zu.
Im Plauderton fuhr dieser fort: „In unserem gastlichen Hause gehen merkwürdige Gerüchte um. Haben Sie schon davon gehört?“
Jefferson schüttelte den Kopf. Er kümmerte sich nicht um den Knastklatsch.
„Dann werde ich Ihnen sagen, worum es sich handelt“, sagte der Direktor bedächtig. „Ihre ehemaligen Kumpane Cole Balmer, Jesse Lane und Harvey Cotton scheinen der Ansicht zu: sein, daß Sie es waren, der damals Dean Kelly erschossen und das Geld abgestaubt hat.“
„Ich habe Ihnen doch schon oft gesagt…“, wollte Marty Jefferson einwenden, doch der Direktor winkte ab.
„Es geht nicht darum, was ich glaube oder was die Polizei glaubt. Es geht um etwas ganz anderes. Ich bin erstaunt, daß Sie das noch nicht begriffen haben. Ihr Freund Jesse Lane hat überall verbreitet, Sie hätten das Geld. Dieses Gerücht ist lebensgefährlich für Sie. Wehn erst einmal draußen in Gahgsterkreisen durchsickert, Sie befänden sich im Belitz von einigen hunderttausend Dollar, dann werden diese Brüder nicht lange fragen, ob die Geschichte stimmt oder nicht. Man wird Ihnen auf den Fersen bleiben, wie Aasgeier werden sie hinter Ihnen her sein und Sie bei passender Gelegenheit aus dem Wege räumen, um an Ihre vermeintliche Beute heranzukommen.“
Daher weht also der Wind. Nun wußte Marty Jefferson auch, was sein Hintermann vorhin beim Rundgang gemeint hatte, als er von interessanten Gerüchten und viel Kies faselte.
„Ich habe das Geld wirklich nicht!“ knurrte Marty wütend. „Jesse ist ein gemeiner Lügner, wenn er das behauptet. Aber was soll ich tun? Vielleicht eine Sondermeldung ans Schwarze Brett heften: ,Ich, Marty Jefferson, erkläre feierlich, keine halbe Million zu besitzen …‘“ Er winkte ab. „Keiner würde mir glauben.“
„Ganz recht“, pflichtete der Direktor ihm bei. „Und deshalb möchte ich Ihnen helfen. Sie sollen Gelegenheit bekommen, sich klammheimlich in Sicherheit zu bringen. Sie und Ihre drei Kumpels sollten morgen vormittag entlassen werden. Ich gebe Ihnen einen Vorsprung von vier Stunden vor den anderen. Bereiten Sie sich darauf vor, daß Sie schon morgen früh um acht Uhr entlassen werden. Ich rate Ihnen, keinem etwas davon zu sagen. Lassen Sie alle bei dem Glauben, daß Sie erst mittags 'rauskommen.“
Marty Jefferson nickte. Auf einmal freute er sich nicht auf die Freiheit, auf Clivia, seine Braut, die auf ihn wartete. Er würde draußen keine Ruhe finden. Sie würden ihn wieder hetzen. Doch diesmal war es nicht die Polizei, die er fürchtete, sondern es waren Gangster, die keine Skrupel kannten.
Der Direktor schärfte Marty Jefferson noch einmal ein, nicht über ihr Geheimabkommen zu sprechen, dann drückte er auf einen Knopf unter der Schreibtischplatte. Ein Aufseher erschien und brachte den Häftling in seine Zelle zurück.
Für Marty Jefferson sollte eine unruhige Zeit beginnen Wenn er gewußt hätte, was ihn draußen erwartete, dann hätte er vielleicht den Direktor um Schutzhaft gebeten. Aber es fehlte ihm an Phantasie und Erfahrung, um sich das tödliche Spießrutenlaufen ausmalen zu können, das man mit ihm veranstalten würde.
Die Ampel für die Fußgänger wechselte von „Go“ auf „Stop“. Der Fußgängerstrom, der sich über die Straße wälzte, riß ab.
Einige schienen jedoch farbenblind zu sein. Sie betraten trotz des roten Stop-Zeichens den Zebrastreifen. Der Polizist, der an der Straßenecke den Verkehr regelte, bedachte sie mit einem mißbilligenden Blick. Die Verkehrssünder beeilten sich, Anschluß an den Pulk vor ihnen zu bekommen.
Der Polizist hob den Arm, um den Verkehr für die Wagen freizugeben. In diesem Augenblick trippelte ein Mädchen über.den Zebrastreifen.
Sie würdigte den Cop keines Blickes und stöckelte über die Straße. Offenbar hatte sie es sehr eilig.
Der Polizist vergaß, seinen Arm wieder herunterzunehmen. Sein Gesicht überzog sich mit Zornesröte. Dann verließ er seinen Posten und trabte hinter dem Mädchen her.
„Sie!“ Er setzte seihe Trillerpfeife an die Lippen.
„Meinen Sie mich, General?“ Das Mädchen sah sich um und warf dem Cop einen Blick zu, der Stahl zum Schmelzen gebracht hätte.
Der Cop war nicht aus Stahl. Niedlicher Käfer, stellte, er fest, dann wurde er wieder dienstlich.
„Sie sind eben bei Rot über die Kreuzung gelaufen!“
„So? Das ist mir gar nicht aufgefallien.“ Sie lächelte. Der Verkehrsregler wurde nervös. Er vermied, der Kleinen ins Gesicht zu blicken, und starrte irritiert auf ihre Beine. Was er da sah, brachte ihn noch mehr aus der Fassung. Wie magnetisch angezogen, wanderte sein Blick über ihre schlanken Fesseln zu den Knien, die der Faltenrock freigab.
Das Mädchen beobachtete ihn amüsiert. Als ihr die Zeit zu lang wurde, räusperte sie sich.
„Was habe ich falsch gemacht?“ Der Polizist blickte auf. Sein Gesicht war immer noch rot.
„Ist schon in Ordnung, Miß“, murmelte er, machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte eilig an seinen Posten zurück.
Das Mädchen warf ihm einen spöttischen Blick nach. Dann setzte sie ihren Weg fort. Sie hatte es nicht mehr weit. Fünf Minuten später trat sie durch das Portal eines großen Bürohauses.
Es störte sie nicht, daß die Männer, die hinter ihr gingen, die Bewegungen ihrer Hüften mit den Augen verfolgten. Sie hatte sich daran gewöhnt.
Der Pförtner, der vorn am Portal stand, nickte ihr zu. „Guten Morgen, Miß Vanderbild!“ Seine Augen schienen an ihr festgenagelt. Er rührte sich erst, wieder, als sie in einem der sechs Aufzüge verschwunden war. Er beneidete die Männer, die neben ihr im .Lift standen.
Clivia Vanderbild fuhr mit dem Schnell-Lift in den 45. Stock. Hier arbeitete sie als Privatsekretärin von Derrik Fuller, dem Inhaber der Fuller Company.
„Na, Clivia, da sind Sie ja. Ich habe schon auf Sie gewartet.“ Fuller sagte das nicht etwa in vorwurfsvollem Ton. Er gehörte nicht zu den Chefs, die eine Verspätung ihrer Angestellten für eine Todsünde halten.
„Ein Cop hat mich aufgehalten. Ich bin bei Rot über die Straße gelaufen.“ Damit war die Sache für das Mädchen erledigt und für ihren Chef auch.
„Kommen Sie doch gleich mal zu mir ins Büro!“ rief er ihr zu, bevor er in seinem Zimmer verschwand.
Einige Minuten später saß Clivia ihm gegenüber.
„Ich möchte mich noch einmal mit Ihnen über Ihren Verlobten unterhalten. Ich glaube, ich habe einen Job für ihn. Ich habe gestern abend noch mit einem Geschäftsfreund gesprochen.“ . Das Mädchen warf ihrem Chef einen Blick zu, der mehr sagte als Worte.
„Danke, Mr. Fuller. Ich wollte sowie so noch mit Ihnen darüber reden. Marty kommt morgen zurück.“
Er nickte. „Ich weiß. Der Mann, von dem ich sprach, wird ihm trotz seiner Vorstrafe einen Job geben. Marty kann von Glück reden, daß er Sie als Fürsprecherin hat. Wer stellt schon einen entlassenen Zuchthäusler ein? Sie wissen ja, wie schwer selbst Sie es hatten, bevor Sie bei mir anfingen. Ein selbstgefälliges Lächeln erschien auf seinem hageren Gesicht.
„Sie haben recht, Mr. Fuller. Ich würde heute noch nach einem Job suchen, weil die Leute keine Gangsterbraut einstellen wollten.“
Derrik Fuller schüttelte den Kopf. Er konnte offenbar nicht verstehen, daß jemand ein Mädchen wie Clivia vor die Tür setzte, nur weil ihr Verlobter an einem Bankraub beteiligt gewesen war.
„Sie sagten, er werde morgen entlassen? Hm, bringen Sie ihn vorerst nicht hierher. Ich gebe Ihnen noch Bescheid, wann er sich bei meinem Geschäftsfreund vorstellen kann.“
„Danke, Mr. Fuller. Ich werde es Marty ausrichten.“ Das Mädchen spürte den prüfenden Blick ihres Chefs und ahnte, was kommen würde, als er sich räusperte.
„Clivia, ich verstehe einfach nicht, daß ein Mädchen wie Sie sich zu einem Burschen hingezogen fühlt, der fünf Jahre wegen Bankraubes gesessen hat.“ Wie oft hatten sie schon darüber gesprochen, aber er kam immer wieder auf dieses Thema zurück. Clivia seufzte.
„Das können Sie eben nicht verstehen, Chef. Ich habe Marty Jefferson vor sechs Jahren kennengelernt. Damals ging es mir nicht gut. Er hat mir wieder Mut gemacht und über die Krise, die ich damals durchmachte, hinweggeholfen. Natürlich hatte ich keine Ahnung, daß das ,große Geschäft', von dem er immer sprach, ein Bankeinbruch war.“
„Aber jetzt wissen Sie es! Trotzdem haben Sie weiter zu ihm gehalten.“
„Das ist nun einmal so. Ich glaube, Marty braucht mich jetzt genauso, wie ich ihn damals gebraucht habe.“
„Sie müssen es wissen. Ich will ja nur Ihr Bestes“, sagte er in väterlichem Ton. Der Blick, den er dabei auf ihre Knie warf, war aber nicht väterlich. Clivia schien es nicht zu bemerken.
„Mr. Fuller, ich habe noch eine Bitte an Sie: Darf ich morgen wegbleiben? Ich möchte Marty in Scranton abholen.“
„Meinetwegen. Wann kommt er denn ’raus?“
„Um zwölf Uhr. Ich wollte mit dem Zug hinfahren.“
Damit war das Gespräch beendet, und Clivia Vanderbild ging an ihre Arbeit. Während sie sich um die eingegangene Post kümmerte, waren ihre Gedanken bei Marty Jefferson, dem Mann, von dem seine Kollegen glaubten, er habe sie um eine halbe Million Dollar betrogen.
Wenn sie geahnt hätte, welche Gewitterwolken sich über dem Haupt ihres Verlobten zusammenballten, dann hätte sie sicher nicht mehr ruhig sitzen können.
Scranton, 30 Januar, 8 Uhr morgens.
Das kleine eiserne Seitentor der Haftanstalt wurde geöffnet. Der Mann im einfachen, etwas altmodischen Straßenanzug sah sich blinzelnd um. Hinter ihm erschien die breitschultrige Gestalt eines Uniformierten.
„Alles Gute, Jefferson“, sagte Leutnant Jackson, um dann mürrisch hinzuzufügen: „Ich hoffe, Sie niemals wiederzusehen. Sie haben Glück gehabt, daß der Direktor so milde mit Ihnen verfahren ist. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätten Sie die letzte Nacht in der Dunkelheit geschlafen, damit Ihnen die Lust am Wiederkommen vergeht.“
Jefferson drehte sich um. „Leutnant, ich wünsche Ihnen nur, daß Sie nicht eines Tages aufwachen und ein Messer in Ihrem Rücken finden. Die Boys im Bunker sind höllisch scharf auf Ihre Haut.“
Der Leutnant lachte nur. Dann schloß er das große Tor. Marty Jefferson setzte sich mit seinem Bündel unter dem Arm in Bewegung.
Das Zuchthaus lag etwas außerhalb von Scrarton. Schräg gegenüber vom Haupttor befand sich eine kleine Kneipe. Der Wirt lebte hauptsächlich davon, Zuchthausbesuchern, Anwälten und Aufsehern heiße Hamburger oder Dosenbier zu verkaufen. Auf diese Kneipe steuerte Jefferson zu.
Er hatte Clivia nicht von seiner vorzeitigen Entlassung benachrichtigen können. Sie würde ihn erst gegen Mittag abholen.
Er setzte sich an den Tresen und sah sich unbehaglich um. Er war der einzige Gast in dieser Pinte. Der Wirt im angegrauten Kittel, der hinter der Theke stand, kam herbei.
„Was darf's sein, Sir?“
„Kaffee“, brummte Jefferson.
Der Keeper ging zu seiner Kaffeemaschine. „Mit Milch?“ fragte er.
„Ich habe einen Kaffee bestellt, zum Teufel! Sie fallen mir auf den Wecker mit Ihrer Fragerei.“
Der Keeper wußte Bescheid. Er kannte diese Art von Kunden, die ihre ersten Schritte in die Freiheit unternahmen. Die Leute waren meist mürrisch und unsicher. Wortlos stellte er den Kaffee vor den entlassenen Sträfling hin. Dann beschäftigte er sich wieder mit seinen Gläsern.
Marty Jefferson angelte sich eine Zeitung und las. Ihm kam alles noch so neu und ungewohnt vor. Jede einzelne Bewegung war ihm fremd.
Er wollte hier auf Clivia warten. Hoffentlich gelang es ihm, sie zu sprechen, ohne daß die anderen etwas davon erfuhren. Immer wieder sah er auf seine Armbanduhr.
Es waren noch zwanzig Minuten bis zwölf Uhr. Vom Fenster der Kneipe aus konnte Marty den weiten Platz vor dem Zuchthauskoloß überschauen.
Dann sah er Clivia. Sie ging langsam auf das große Tor zu. Jefferson schlug seinen Mantelkragen hoch und zog den Hut in die Stirn. Er. warf dem Keeper eine Münze hin und verließ den Laden.
Clivia erkannte ihn nicht gleich, als er auf sie zukam. Doch dann strahlte sie ihn an.
„Marty, wie froh ich bin!“
Jefferson drückte ihre Hand. Dann zog er sie rasch mit sich fort. „Wir müssen schnell weg von hier. Komm!“
Sie hatte sich das Wiedersehen offenbar anders vorgestellt, aber sie sagte nichts. Sie wußte, daß er ihr alles erklären würde, sobald er sich etwas beruhigt hatte.
Schweigend gingen sie nebeneinanderher. Schließlich raffte sich Marty Jetrferson zu einer vagen Erklärung auf: „Die anderen werden um 12 Uhr entlassen. Ich hatte einen angemessenen zeitlichen Vorsprung, aber den habe ich verschenkt, weil ich auf dich warten wollte. — Darling, sie sind hinter mir her. Wir müssen auf schnellstem Wege nach New York, damit ich untertauchen kann.“
Clivia sah ihn verstört an. „Ich verstehe nicht …“
„Ich erkläre dir später alles“, sagte Jefferson.
Das Mädchen war mit dem Zug gekommen. Sie wußte auch, wann der nächste zurück nach New York ging. Fahrkarten für sich und Marty hatte sie bereits besorgt.
„Du gehst jetzt vor und steigst in den Zug ein!“ entschied Marty. „Ich komme später nach. Wir treffen uns dann im Zug.“
Clivia spürte, daß Marty vor irgend etwas Angst hatte. Er war sehr blaß, und seine Augen flackerten.
Sie trennten sich in der Nähe der Central Station von Scranton. Marty Jefferson verschwand in einer Nebenstraße.
Zehn Minuten später saß Clivia im Zug. Sie hatte ein leeres Abteil, gefunden. Sie war froh darüber, denn sie wollte sich ungestört mit Marty unterhalten. Es waren nur noch wenige Minuten bis zur Abfahrt. Besorgt blickte sie aus dem Fenster auf den Bahnsteig. Marty war nirgends zu sehen. Wenn er nicht bald käme, würde er den Zug nicht mehr erwischen.
Der Beamte auf dem Bahnsteig gab die Abfahrt frei. Da sah Clivia einen Mann aus der Bahnhofshalle kommen. Es war Marty.
Der Zug hatte sich schon in Bewegung gesetzt, Sie winkte ihm, konnte aber nicht erkennen, ob er sie gesehen hatte. Im letzten Augenblick sprang er auf den letzten Wagen auf.
Kurze Zeit später saß er neben ihr im .Abteil.
„Ich glaube, ich habe sie abgeschüttelt“, sagte er.
„Wen?“ fragte sie verwundert.
„Die anderen drei. Wenn sie mich verfolgt haben, dann bin ich ihnen entkommen. Ich bin als letzter in den Zug eingestiegen. Die Gesichter der Burschen möchte ich sehen, wenn sie feststellen, daß ich ihnen entwischt bin.“
Das Mädchen sah ihn von der Seite an. Er hatte sich verändert in den fünf Jahren. Er war nicht mehr der unbekümmerte Junge, der sich um nichts Sorgen zu machen schien.
Sie sprachen wenig in der nächsten Viertelstunde. Marty saß zusammengekauert in seiner Ecke. Er kramte nervös in seinen Taschen.
„Suchst du etwas?“ fragte Clivia.
„Meine Zigaretten. Ich habe mir vorhin in der Pinte welche gekauft. Ich muß sie liegengelassen haben.
Sie stand auf. „Soll ich dir eine Pakkung aus dem Speisewagen holen?“
„Das wäre lieb von dir.“ Er lächelte zum erstenmal.
Sie nickte ihm zu und verließ das Abteil. Marty Jefferson blickte an ich herunter. Er sah nicht gerade vornehm aus. Neben Clivia, die ein schickes Chanel-Kostüm trug, kam er sich vor wie ein Landstreicher neben der Herzogin von Windsor.
Die Elektrolek summte eine Steigung hoch. Schlagartig wurde es dunkel im Abteil. Der Zug war in einen Tunnel eingefahren. Die Leute von der Northern Railroad hatten offenbar vergessen, das Licht einzuschalten.
Es war still. Nur das Rattern der Räder war zu hören. Draußen und drinnen war es stockdunkel.
Plötzlich spürte Marty Jefferson einen leichten Luftzug. Die Abteiltür war geöffnet worden.
„Bist du es, Darling?“ fragte Marty Keine Antwort. Marty ging auf die Tür zu, um sie wieder .zu schließen. Er nahm an, daß sie von selbst aufgegangen war.
Er hatte gerade seine Hand auf den Griff der Schiebetür gelegt, als jemand seinen Arm packte und ihn aus dem Abteil zerrte.
Eisiges Entsetzen packte ihn. Er taumelte wie betrunken auf den Gang hinaus.
Sie hatten ihn also doch erwischt. Er konnte sich einfach nicht erklären, wie sie das geschafft hatten.
Verzweifelt riß Marty sich los und stolperte den Gang entlang. Hinter sich hörte er die huschenden Schritte des anderen.
Dann war Marty am Ende des Wagens angekommen. Es war immer noch stockdunkel, sonst hätte er die Tasche vielleicht gesehen, die quer auf dem Gang stand. Als er das Hindernis bemerkte, war es schon zu spät. Er stolperte und fiel hin.
Bevor er sich wieder erheben konnte, war der andere über ihm. Wie eine eiserne Klammer legten sich zwei Hände um seinen Hals.
Marty spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Sein Atem ging röchelnd. Er versuchte, sich zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Ihm war, als sei die Dunkelheit durchsichtig geworden. Rote Nebel wallten vor seinen Augen.
Dann spürte er nichts mehr.
Als der Verfolger merkte, daß sein Opfer keine Lebenszeichen mehr von sich gab, ließ er von ihm ab. Er packte ihn am Kragen und schleifte ihn an die Tür.
Er stieß die Abteiltür auf und beförderte den bewußtlosen Jefferson mit einem Tritt nach draußen. Martys Körper schlug auf dem Trittbrett auf, dann verschwand er im Dunkel des Tunnels.
Auf dem anderen Gleis brauste ein Gegenzug heran.
Clivia Vanderbild sah sich suchend um. Von einem vorbeikommenden Schaffner erfuhr sie, daß der Speisewagen am Ende des Zuges sei.
Sie hatte zwei Wagen passiert, als es plötzlich dunkel wurde. Der Zug fuhr in einen Tunnel.
Sie blieb stehen, wo sie gerade war. Sie traute sich nicht, im Dunkeln weiterzugehen. Es vergingen nur einige Minuten, dann war der Zug wieder aus dem Berg heraus.
Clivia beeilte sich, weiterzukommen. Sie hatte den Speisewagen fast erreicht, als der Zug seine Fahrt verminderte, um dann in einen Bahnhof einzufahren. Paterson hieß die Station. Es stiegen nur wenig Leute aus.
Als sich der Zug wieder in Bewegung setzte, befand Clivia sich auf dem Rückweg zu ihrem Abteil. Sie hatte eine Packung Lucky Strike in der Hand.
Dann hatte sie das Abteil erreicht.
„Hier sind deine …“ Erst jetzt bemerkte, sie, daß das Abteil leer war. Sie blickte suchend auf den Gang hinaus. Nichts. Sicher war Marty in den Waschraum gegangen und würde gleich wiederkommen.
Als er nach einer Viertelstunde immer noch nicht da war, wurde Clivia unruhig. Sie ging ins Nachbarabteil und fragte, ob jemand Marty gesehen habe.
Aber niemand konnte ihr helfen. Die Leute, “die sie ansprach, zuckten bedauernd die Achseln.
Der Zug hatte bereits die Außenbezirke von New York erreicht. Die Sachen, die Marty bei sich gehabt hatte, lagen noch im Abteil.
Clivia rannte durch den Zug und fragte jeden, der ihr über den Weg lief, nach Marty Jefferson. Niemand hatte ihn gesehen. Es sah ganz so aus, als sei Marty nicht mehr im Zug. Sollte er in Paterson ausgestiegen sein? Aber dann hätte er doch sicher seine Sachen mitgenommen. Warum hätte er auch vorzeitig aussteigen sollen?
Sein seltsames Verhalten fiel ihr ein. Sie hatte es für Verfolgungswahn, für eine Art Zuchthauskoller gehalten. Aber vielleicht waren die Leute, vor denen er sich so fürchtete, doch im Zug aufgetaucht, und Marty war heimlich ausgestiegen?
Clivia war noch immer unschlüssig, was sie tun sollte, als der Zug in der Bronx-Station einlief.
Sie packte Martys Sachen zusammen und verließ den Zug. Auf dem Bahnsteig wartete sie, bis der letzte Reisende ausgestiegen war. Marty Jefferson war nicht darunter.
Clivia Vanderbild überlegte. Sollte sie die Polizei verständigen? Doch das war sicher nicht in Martys Sinne. Sie beschloß, Derrik Fuller, ihren Chef, anzurufen. Sie ging in die nächste Telefonbox und wählte seine Nummer.
Sie wartete eine Minute, aber niemand meldete sich. Nur das Tuten des Freizeichens war in der Leitung. Sonst .war Fuller immer um diese Zeit im Büro. Ausgerechnet heute war er unterwegs. Es schien sich alles gegen sie verschworen zu haben.
Und dann entsann sich Clivia eines Mannes, der Marty kannte und von Berufs wegen dazu berufen schien, ihr einen Rat zu geben. Nervös blätterte sie im Branchenverzeichnis des Telefunbuchs. Dann hatte sie seine Nummer. Wahrscheinlich war er nicht gut auf Marty zu sprechen. Möglicherweise erinnerte er sich auch gar nicht mehr an den kleinen Ganoven.
Es dauerte nur einige Sekunden, dann meldete sich der Teilnehmer.
Clivia fiel ein Stein vom Herzen, als er zusagte, sich mit ihr im Wartesaal der Bronx-Station zu treffen.