Читать книгу Privatdetektiv Joe Barry - Todeskuss von Lily Belle - Joe Barry - Страница 5
2. Kapitel
ОглавлениеDas Telefon schrillte, und Privatdetektiv Joe Barry, der Mann, der unter dem Gütezeichen Privatdetektiv Joe Barry der bestgehaßte Mann der New Yorker Unterwelt geworden war, hob den Hörer ab.
„Joe, ich muß dich unbedingt sprechen“, sagte die Sexbombe am anderen Ende der Leitung. Ihre Stimme ließ keinen Zweifel daran, daß sie eine war. Es gibt das gewisse untrügliche Merkmale.
„Tatsächlich?“ sagte er und überlegte. Die Stimme kam ihm bekannt vor, aber wer, zum Teufel, war es?
„Erinnerst du dich denn nicht mehr an mich?“ hauchte sie.
„Wie wär’s mit einem Tip?“
„Silvester 1965.“
„Jane!“ rief er. „O ja, jetzt weiß ich Bescheid. Es war ein rauschendes Silvesterfest.“
Er hatte Jane damals kennengelernt. Ein Freund von ihm, Bill Simons, der bei der Zeitschrift „Daily New Yorker“ Polizeireporter war, hatte eine Silvesterparty veranstaltet, und dort hatte Joe die Schöne kennengelernt. Sie war mit einem Offizier der Home Guard gekommen. Wie hieß der Bursche noch? Richtig, Captain Holmes.
„Wo steckst du jetzt?“
„Ich bin wieder in New York. Ich habe mir eine Wohnung in Brooklyn gemietet, ein hübsches kleines Apartment.“
„Warst du denn weg?“
„Ich war ein Jahr in Los Angeles.“
„und was hat dein Captain dazu gesagt?“
„Holmes? Oh, der war nicht sehr begeistert davon. Aber warum unterhalten wir uns am Telefon. Hast du nicht Lust, auf einen Sprung herüberzukommen? Ich möchte gern meine neue Wohnung einweihen, und kein Mensch ist da. Allein feiert es sich schlecht. Ich habe eine Flasche französischen Champagner da.“
„Klingt nicht schlecht. Wie ist die Adresse?“
„Park Heights 1018“, sagte sie.
„Schön. Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.“
*
Jane wohnte in einem modernen Apartmenthaus in der teuersten Gegend von Brooklyn, mit Blick auf den East River und die Skyline von Manhattan. Sie öffnete ihm, und Joe mußte sein Gedächtnis korrigieren. Er hatte sie als bildhübsch in Erinnerung, aber sie war mehr als das. Sie war eine Schönheit.
Er brachte ein eingewickeltes Paket zum Vorschein.
„Ich habe ein bißchen bei mir herumgekramt“, sagte er, „und zufällig fand ich auch eine Flasche Champagner. Mit zwei Flaschen feiert es sich besser als mit einer.“
„Großartig“, sagte sie. „Es ist nämlich noch ein Gast gekommen.“
„Noch ein Gast?“ Er hob die Brauen. „Erlaubt denn das die Feuerpolizei?“
„Er ist im Wohnzimmer. Geh nur schon hinein. Du kennst ihn. Ich stelle inzwischen den Sekt kalt.“
Jo stieß die Tür auf und blickte erstaunt auf den Mann, der dort in einem Sessel saß. Der Mann trug Zivil, aber er war unverkennbar Offizier. Captain Holmes von der Home Guard.
„Hallo, Mr. Barry.“ Der Captain erhob sich. „Nett, Sie wiederzusehen.“
„Ganz meinerseits.“
Der Captain begann sofort ein Gespräch, aber Joe hatte das sichere Gefühl, daß der Mann etwas auf dem Herzen hatte. Nach fünf Minuten kam es dann auch.
„Übrigens“, sagte der Captain. „Sie sind doch Privatdetektiv. Ich hätte da einen interessanten Fall, zu dem ich gern Ihre Meinung gehört hätte.“
Jo kam sich vor wie ein Klaviervirtuose, den man zum Abendessen eingeladen hat und dem man zum Dessert einen Konzertflügel hinschiebt.
„Vorsicht, Mr. Holmes“, sagte er. „meine Meinung ist nur gegen Honorar zu haben. Und ich bin ziemlich teuer.“
„Sie sind ein Spaßvogel“, sagte der Captain. „Aber jetzt im Ernst … “
„Wo steckt denn Jane?“ fragte Jo.
„Sie muß gleich kommen. Also, zu meinem Fall. Sie haben doch sicher von dem Einbruch in ein Vorratslager der Home Guard gehört, bei dem Gangster mit einem raffinierten Trick rund zweitausend Gewehre entwendeten? “
„Ja“, sagte Joe, „die Zeitungen sind voll davon. Irgendein Kollege von Ihnen hat da nicht gerade eine rühmliche Rolle gespielt.“
„Dieser Kollege“, bekannte der Captain, „bin ich selbst.“
„Sie?“ Joe beäugte den Captain interessiert. „Dann vergessen Sie, was ich eben gesagt habe.“
„Sie haben ja recht“, sagte Holmes finster. „Meine Vorgesetzten denken genauso. Diese Geschichte wird vermutlich meine Karriere ruinieren. Zwölf Jahre lang bin ich jetzt Offizier der Armee, ohne mir auch nur einmal die Weste zu bekleckern. Und jetzt diese Geschichte.“
„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, sagte Joe. „Woher sollten Sie wissen, daß dieser angebliche Colonel falsch war?“
„Sie kennen die Details des Falles? Dann wissen Sie auch, daß meine Vorgesetzten mich vom Dienst suspendiert und einen Untersuchungsausschuß eingesetzt haben, der den Fall klären soll.“
„Es war ein eindeutiger Verstoß gegen die Dienstvorschriften, sämtliche Posten abzuberufen“, sagte Joe. „Aber ich glaube nicht, daß man Ihnen daraus einen Vorwurf machen kann. Sie hatten einen klaren Befehl, und Sie mußten den Colonel angesichts der Umstände für echt halten. Ich würde mir an Ihrer Stelle keine Sorgen machen.“
„Ich bin nicht so optimistisch“, sagte der Captain. „Um die Wahrheit zu sagen, ich stecke in einer scheußlichen Klemme. Und ich will ganz offen zu Ihnen sein: Jane hat diese kleine Feier arrangiert, damit ich Ihnen meinen Fall vortragen kann.“
„Sie werden lachen“, sagte Joe trokken, „das habe ich bereits gemerkt.“
„Ich kenne Ihre Preise“, sagte Holmes. „Es ist völlig ausgeschlossen, daß ich die bezahle.“
„Darum geht es nicht“, gab Joe dem Offizier zu verstehen. „Sie sind an der falschen Adresse. Was Sie brauchen, ist ein guter Anwalt.“
„Die Home Guard hat mir für das Disziplinarverfahren schon einen Verteidiger gestellt. Er scheint ein tüchtiger Anwalt zu sein.“
„Na, sehen Sie“, sagte Joe. „Vertrauen Sie getrost auf ihn.“
„Mit Vertrauen ist es in meinem Fall nicht getan“, sagte Holmes langsam und drückte seine Zigarette aus. „Ich habe mir nämlich ein Ziel gesetzt. Ich möchte dieses Verbrechen aufklären.“
„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun“, warnte Joe. „Soviel ich weiß, hat die Regierung einen Sonderausschuß eingesetzt.“
„Stimmt. CIC bearbeitet den Fall.“
„Und das sind hartgesottene Kriminalisten. Mit denen können Sie sich nicht messen.“
„Vielleicht nicht. Aber ich habe ein paar Beobachtungen gemacht und daraufhin eine Theorie aufgestellt. Und wenn die stimmt, steht uns allerhand bevor.“
In diesem Augenblick öffnete Jane die Tür.
„Joe, für dich ist jemand am Telefon. Captain Roller oder so ähnlich. Hast du denn gesagt, daß du zu mir fährst?“
„Ja“, sagte Joe, „ich arbeite gerade an einem Fall, und da muß ich ständig erreichbar sein.“ Er ging ins Nebenzimmer, nahm den Hörer auf und meldete sich.
Das unverkennbar kratzige Organ Tom Starrs meldete sich. Captain Rowlahd war Chef der Mordkommission Manhattan und zugleich Jos ältester Freund.
„Hör zu“, sagte der Captain. „Wir sind deinem Tip nachgegangen und haben die Kings Brothers in Long Island aufgespürt. Sie haben sich in einem Haus verbarrikadiert und ballern aus allen Rohren auf uns.“
Die Kings Brothers hatten einen großen Juwelenraub ausgeführt, und Joe hatte den Fall im Auftrag einer Versicherungsgesellschaft übernommen.
„Bist du jetzt in Long Island?“ fragte Joe.
„Ja. Der Attorney hat Tränengas angefordert, aber ich würde es begrüßen, wenn du erst einmal mit den Burschen sprechen würdest. Vielleicht verzichten sie dann auf ein Feuerwerk.“
„Okay“, sagte Joe. „Ich komme sofort hinaus.“
„Mußt du weg?“ fragte Jane durch die offene Tür.
„Ja“, sagte Joe. „Tut mir leid. Schlagen Sie sich Ihre Theorie aus dem Kopf, Captain. Sie begeben sich auf ein heißes Pflaster. Überlassen Sie das Feld den Experten.“
*
Die Kings Brothers beschäftigten ihn bis zum frühen Morgen. Dann kapitulierten die Gangster, und Joe konnte den Fall abschließen. Es war eine heiße Jagd gewesen.
Sie transportierten die Gangster in die Centre Street, und Joe blieb noch, bis die völlig übermüdeten Beamten die erste Vernehmung abgeschlossen hatten. Es war fünf Uhr morgens, als er nach Hause fuhr. Captain Holmes hatte er völlig vergessen.
Es war schon ziemlich hell. Der Himmel war wolkenlos. Der Tag versprach schön zu werden. Die Straßen waren wie ausgestorben. Für eine kurze Weile war die Riesenstadt am Hudson zur Ruhe gegangen.
Jo stellte den Mercedes vor dem Haus ab und betrat das Gebäude. Die Gun Hill Road war menschenleer. In der Halle brannte noch die Beleuchtung. Er warf einen Blick zum Glaskasten des Hausmeisters hinüber. Die Kabine war leer.
Der Fahrstuhlknopf leuchtete rot. Jemand mußte also unterwegs sein. Joe löste den Rufkontakt aus und wartete. An der Skala konnte er sehen, daß der Lift in der vierten Etage stand — dort, wo auch seine Wohnung war. Jetzt verschwand die beleuchtete vier und die drei leuchtete auf, dann die zwei, die eins. Automatisch glitten die Türen auseinander.
Jo sah, daß jemand im Lift war, und blieb stehen, um dem Mann Platz zu machen. Der trug einen Mantel und hatte den Kopf gesenkt. Der Hut verdeckte sein Gesicht vollkommen.
Jetzt machte er einen Schritt vorwärts und kam ins Taumeln. Joe faßte zu und fing den Mann auf. Dabei verrutschte der Hut, und Joe konnte das Gesicht des anderen sehen.
Es war Captain Holmes.
„Holmes!“ rief er. „Was ist passiert?“
Der Captain versuchte zu sprechen, aber er brachte kein Wort heraus.
„Holmes!“ rief Joe noch einmal. Er spürte, wie der glatte Mantelstoff durch seine Finger rutschte. Er konnte den Mann nicht halten. Der Captain glitt zu Boden. Joe spürte, wie er die Muskeln anspannte, als wolle er sich noch ein letztes Mal aufbäumen. Er beugte sich über den liegenden Mann.
„Holmes!“ rief er. „Wer war es?“
Mühsam bewegte der Captain seine Lippen. Ganz dicht mußte Joe sein Ohr heranbringen, um die gehauchten Worte zu verstehen. Zwei waren es nur.
„Lily Belle“, stöhnte Holmes. Dann bäumte er sich auf und sackte in sich zusammen.
Jo spürte, daß seine Hände feucht waren. Er sah sie an. Sie waren rot von Blut.
Er sah Holmes an. Sah den Messergriff, der aus seinem Rücken ragte.
Sah, daß Holmes tot war.
In diesem Augenblick glitten die Türen des Fahrstuhls zusammen, und der Lift setzte sich aufwärts in Bewegung. Joe sah, wie die Lichtpunkte auf der Skala nach oben wanderten, bis wieder die Vier aufleuchtete. Dann erlosch das Licht.
Seine Gedanken arbeiteten mit der Schnelligkeit eines Computers. Es war klar, daß Holmes zu ihm gewollt hatte. Der Mörder hatte ihn verfolgt und in der vierten Etage, unmittelbar vor Jos Wohnung, zugeschlagen.
Irgendwie hatte Holmes es noch geschafft, in den Lift zu kommen und abzufahren, ehe der Mörder das verhindern konnte. Vermutlich hatte er das Messer geworfen, als Holmes gemerkt hatte, daß Joe nicht zu Hause war und wieder nach unten fahren wollte. Dann hatte der Mörder auf den Liftknopf gedrückt — eine ganz natürliche Reaktion. Und das ließ nur einen Schluß zu.
Der Mörder war noch im Haus.
Jo zögerte keine Sekunde. Er holte seinen Schlüssel aus der Tasche und blockierte den Fahrstuhl. Daß er einen Schlüssel zum Lift hatte, entsprach einer Privatabsprache zwischen ihm und Mac, dem Hausmeister. Der Hausbesitzer wußte nichts davon.
Damit war dem Mörder dieser Fluchtweg versperrt. Im nächsten Augenblick stürmte Joe die Treppen empor. Das Apartmenthaus in der Gun Hill Road 234 war zum Glück übersichtlich gebaut. Sämtliche Flure ließen sich vom Treppenhaus aus überblicken. Natürlich bestand die Möglichkeit, daß der Killer in einer der Wohnungen Unterschlupf gefunden hatte, aber Joe hielt das für unwahrscheinlich. Er kannte sämtliche Bewohner des Hauses seit Jahren.
In der vierten Etage hielt er inne und sah sich um. Es war nichts Verdächtiges zu bemerken. Im Haus herrschte Stille. In der Gun Hill Road 234 gab es keine Frühaufsteher.
Jo stieg weiter empor und erreichte die Dachetage. Auch hier war nichts Verdächtiges festzustellen. Er stieg die eisernen Sprossen hoch, die auf das Flachdach führten. Der Zugang zum Dach war mit einer Luke verschlossen, die normalerweise verriegelt war.
Beide Riegel waren zurückgeschoben. Joe holte seine Automatik aus der Schulterhalfter, entsicherte die Waffe und stemmte den Lukendeckel vorsichtig auf.
Draußen war es hell. Er konnte einen Teil des Daches überblicken, die Lüftungsschächte, die Aufbauten der Klimaanlage. Der Blick wanderte über die Nachbardächer auf die imposante Skyline von Manhattan.
Jo wußte, daß man von dem Dach aus über die Feuerleiter nach unten gelangen konnte. Aber dabei konnte man von der Straße aus gesehen werden.
Er stieß den Deckel vollends auf und machte einen Hechtsprung auf das Dach. Er landete in der sicheren Deckung eines Lüftungsschachtes.
Seine Vorsicht war berechtigt. Im gleichen Augenblick knallte es hinter ihm. Der scharfe Knall eines Schusses zerriß die morgendliche Stille. Die Kugel prallte an einer Metalleiste ab und schwirrte mit häßlichem Singen davon.
Jo hob vorsichtig den Kopf. Der Killer war auf der anderen Seite des Daches, hinter dem Fahrstuhlaufbau. Und das hieß, daß er in der Falle saß. Denn von dort aus gab es keine Möglichkeit, zu entkommen. Der Abstand zum Nachbargebäude betrug etwa fünf Meter. Ein geübter Springer mochte das unter normalen Umständen schaffen, aber hier kam erschwerend hinzu, daß das Nachbarhaus etwa einen Meter höher emporragte und praktisch kein Anlauf möglich war.
Der Bursche hatte Pech gehabt.
Jo hob seine Waffe und jagte in rascher Folge drei Schüsse hinüber. Er hatte genau auf die Kante des gemauerten Aufbaus gezielt, und die Putzbrokken mußten dem Killer um die Ohren fliegen.
„He!“ schrie er. „Wie wär’s mit Verhandlungen? Du sitzt in der Falle. Besser, du ergibst dich.“
Ein wütender Feuerhagel war die Antwort. Joe ging in Deckung, während die Querschläger wie wütende Hornissen über das Dach schwirrten.
„Das würde ich an deiner Stelle bleiben lassen!“ riet ihm Joe lautstark. „Mit dom Lärm weckst du ja die ganze Gegend auf. Die Gegend hier ist ziemlich dicht besiedelt. Und das nächste Polizeirevier ist gleich um die Ecke.“
Er wartete, aber der Gangster sagte nichts.
„Die Cops werden mit Panzerwesten anrücken!“ fuhr Joe fort. „Und bis dahin sorge ich dafür, daß du nicht entkommen wirst. Du kannst dir deine Chancen selbst ausrechnen. Wie wäre es also mit einer Kapitulation?“
Wieder knallte es. Joe hatte mitgezählt. Achtmal hatte der Gangster bis jetzt gefeuert.
„Ich an deiner Stelle würde aufgeben!“ schrie Joe. „Vor dem Schwurgericht sind deine Chancen besser als hier auf dem Dach. Du hast zehn Sekunden Zeit, dann hole ich dich!“
Wieder knallte es, zum neunten Male, und dann kam ein charakteristisches Klicken. Der Killer hatte sein. Magazin leergeschossen.
Jo zögerte keine Sekunde, Mit einem Satz war er auf den Beinen und hechtete vorwärts. Er erreichte den etwa mannshohen Aufbau und schwang sich hinauf. Dann lief er die wenigen Schritte bis zur gegenüberliegenden Kante.
Und jetzt sah er den Killer. Es war ein schmächtiger, noch ziemlich junger Bursche im hellen Trenchcoat, der fieberhaft damit beschäftigt war, ein neues Magazin in seine Waffe einzuschieben.
Jo hielt dicht neben ihn und drückte ab. Die Kugel schlug neben dem Killer auf das Dach. Zementstaub überrieselte ihn.
„Wirf die Kanone weg!“ schrie Joe. „Das Spiel ist aus!“
Der Killer sah auf, und für Sekunden blickte Joe in sein Gesicht, sah den gehetzten Ausdruck des Mannes. Mit einem Fluch schleuderte der Gangster die Waffe weg und wandte sich um. Instinktiv erriet Joe, was er vorhatte.
„Stehenbleiben!“ schrie er. „Das ist Selbstmord!“
Aber der Killer hörte nicht auf ihn. Mit wenigen Schritten hatte er den Dachrand erreicht und zögerte sekundenlang vor der gähnenden Tiefe, die sich unter ihm auftat. Dieses Zögern wurde ihm zum Verhängnis. Es nahm ihm den Schwung, mit dem er es vielleicht bis zum Nachbarhaus geschafft hätte. Er sprang, und seine Hände erreichten die Dachkante des Nachbarhauses und krallten sich daran fest. Joe sah, wie das Weiße in den Knöcheln hervortrat, sah, wie der Mann Zentimeter um Zentimeter abrutschte. Es gab keine Möglichkeit, einzugreifen.
Der Hut rutschte ihm vom Kopf und segelte davon. Der Mörder drehte den Kopf zur Seite. In diesen Sekunden mochte er für seine Tat büßen.
Dann ging alles sehr schnell. Die Finger wurden kraftlos, öffneten sich und verloren den Halt. Der Gangster segelte in die Tiefe. Ein gellender Schrei entrang sich seiner Brust.
Jo schloß die Augen. Und dann erstarb der Schrei tief unten in der Tiefe, erstarb in einem häßlichen Geräusch, einem dumpfen Aufschlag.
Für Sekunden herrschte absolute Stille. Und dann setzte der unvermeidliche Tumult ein. Fenster wurden geöffnet, Stimmen wurden laut.
*
Jo kletterte müde und erschöpft nach unten. Er fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen. Er achtete nicht auf die Menschen, die sich ihm in den Weg stellten, die erregten Zurufe, die ihm entgegenschwirrten.
Erst als er im Begriff war, seine Wohnungstür aufzuschließen, fiel ihm ein, daß unten in der Halle die Leiche des Offiziers lag. Er wandte sich um und ging zur Treppe. Sein Wohnungsnachbar stellte sich ihm im Morgenmantel in den Weg und redete auf ihn ein, aber Joe schob den Mann zur Seite und stieg nach unten.
In der Halle begegnete ihm Mac. Der Hausmeister steckte in einem rosa geblümten Pyjama und sah ihn genauso fassungslos an wie die übrigen Hausbewohner. Im Hintergrund wurde Macs bessere Hälfte sichtbar, den Kopf voller Lockenwickler.
„Was ist passiert, Joe?“ rief Mac, „Ich hörte das Geräusch und sah nach. Wer ist da abgestürzt? Wer ein verdammt böser Anblick!“
„Hast du schon drüben am Fahrstuhl nachgesehen?“ fragte Joe.
„Am Fahrstuhl? Was, zum Teufel, soll da los sein?“
Jo wandte sich um, und dann erlebte er die nächste Überraschung.
Holmes’ Leiche war verschwunden. Spurlos verschwunden. Nichts deutete darauf hin, daß an dieser Stelle ein Mord passiert war. Nicht einmal Blutflecke waren auf dem Boden.
Für Sekunden stand Joe wie erstarrt. Erst jetzt begriff er, daß hier ein teuflisches Spiel getrieben wurde, in dem der Killer nichts weiter als eine unbedeutende Schachfigur gewesen war, die geopfert worden war, weil sie ihre Funktion erfüllt hatte.
Die Männer, die dahintersteckten, hatten sich alles sehr genau überlegt gehabt. Und Joe selbst hatte ebenfalls die Rollo einer Schachfigur gespielt. Er war dem Burschen gefolgt und hatte versucht, ihn zur Strecke zu bringen. Inzwischen hatten die Bosse in aller Ruhe Holmes’ Leiche beseitigt. Und in New York gab es ein Gesetz, wonach ein Mord nicht bestraft werden konnte, wenn die Leiche unauffindbar blieb.
*
„Jedenfalls bringst du neue Varianten ins Spiel“, sagte Tom Starr sarkastisch, der zusammen mit der Mordkommission angerückt war. „Einen Ermordeten haben wir diesmal nicht, dafür aber einen Mord und einen Toten, der zugleich der Mörder ist. Den Ermordeten brauchen wir aber, um den Mörder anklagen zu können. Da der uns sowieso nicht mehr zuhören kann, können wir auf den Ermordeten verzichten. Also brauche ich überhaupt keinen Akt mehr anzulegen. Der Fall ist schon abgeschlossen.“
„Und was willst du in die Spalte Motiv schreiben?“ erkundigte sich Joe.
„Mir fällt schon etwas Passendes ein“, erwiderte Tom. „Wer soviel menschliche Niedertracht erlebt hat wie ich, ist da um eine Antwort nicht verlegen. Was glaubst du, wer unser Killer ist?“
„Einer von der Sorte, die man in der Bowery für ein paar hundert Dollar mieten kann. Er hat vermutlich nicht einmal gewußt, warum er Holmes töten sollte.“
„Das erklärt auch sein ziemlich kopfloses Verhalten nach der Tat. Nun, wir werden herauskriegen, wer der Bursche war. Das dürfte kein Problem sein. Aber jetzt zu der viel wichtigeren Frage. Hast du eine Ahnung, wer hinter diesem Killer steckte und welches Motiv er hatte?“
Jo nickte und erzählte Tom von Janes Anruf und von seinem Zusammentreffen mit Holmes bei Jane. Er schloß mit der Bemerkung, daß Toms Anruf gerade in eine entscheidende Phase seiner Unterhaltung mit Holmes hineingeplatzt sei. Der Captain hörte gespannt zu.
„Das ist ein Ding!“ sagte Tom. „Jetzt bin ich also daran schuld, daß wir nicht wissen, auf welcher heißen Spur Holmes war?“
„In gewisser Weise, ja“, sagte Joe. „Aber wenn einer sich deswegen Vorwürfe machen muß, dann bin ich das. Verdammt, woher sollte ich wissen, daß dieser Holmes wirklich im Begriff war, eine Blase aufzustechen? Er hat sich von ein paar gerissenen Gangstern hereinlegen lassen und bekam deshalb mit seinen Vorgesetzten Schwierigkeiten. Ich dachte, wegen dieser Schwierigkeiten wollte er meinen Rat.“
„Und jetzt stellt sich heraus, daß er dabei war, den Fall aufzuklären!“
„Und das offensichtlich mit einigem Erfolg. Wenn ich ihn doch nur angehört hätte!“
„Jetzt ist es jedenfalls zu spät”, sagte Tom. „Wer käme auch auf die Idee, daß ein Captain der Home Guard sich als Detektiv betätigen könnte?“
„Ein Wunder ist es nicht“, sagte Joe. „Die Gangster haben ihn in seiner Ehre getroffen. Aber daß er Erfolg haben würde, konnte niemand vorhersehen.“
Der Arzt trat dazu und unterbrach ihr Gespräch. Er hatte die Leiche des Killers untersucht und für den Transport freigegeben. Der Captain gab seine Weisungen für die Feststellung der Personalien und wandte sich dann wieder an Joe.
„An der ganzen Geschichte gefällt mir noch etwas nicht“, sagte er. „Diese Sache draußen in Morehouse Camp wird von der CIA und der Home Guard in eigener Regie bearbeitet. Sie wittern politische Hintergründe — ausländische Drahtzieher, verstehst du? Dazu kommt, daß sie in der Öffentlichkeit schwer blamiert wurden. Das heißt, sie bearbeiten den Fall allein und unter strengster Geheimhaltung.“
„Du witterst Kompetenzschwierigkeiten?“
Der Captain nickte.
„Ich weiß aus Erfahrung, daß die Geheimdienste uns als eine Art Dorfpolizei ansehen. Wir betrachten eben nicht die globalen Zusammenhänge, sondern bemühen uns um konkrete Aufklärung konkreter Verbrechen. Ich fürchte, da wird es noch erhebliche Schwierigkeiten geben.“
„Nun“, sagte Joe, „zunächst sind wir einmal am Zuge. Dieser Mordfall hier fällt ganz eindeutig in deine Zuständigkeit. Und ein paar Anhaltspunkte haben wir immerhin.“
„Du meinst das Mädchen?“ fragte Tom. „Sie steht schon auf meiner Liste.“
„Ja, aber ich denke noch an etwas anderes. Holmes muß eine Beobachtung draußen im Camp gemacht haben. Irgend etwas ist ihm bei der Ausführung des Verbrechens aufgefallen; etwas, was die offizielle Untersuchungskommission nicht bemerkt hat. Er wollte mir seine Beobachtung mitteilen und wurde deshalb ermordet. Das beweist, daß er als einziger etwas Wichtiges bemerkt hat.“
„Nehmen wir mal an, wir wüßten genausoviel über den Waffenraub wie Holmes … “
„Dann müßten wir imstande sein, denselben Schluß zu ziehen wie er.“ „Vorausgesetzt, wir schalten so wie er.“
„Das sollte uns gelingen“, brummte Joe. „Schließlich sind wir auf diesem Gebiet keine Milchgesichter. Holmes war eins, aber ihm saß ein Disziplinarverfahren im Nacken, und das hat seinen Verstand geschärft.“
„Mit anderen Worten: Wir müssen soviel über den Hergang des Waffenraubes in Erfahrung bringen wie möglich. Die Kollegen von der CIA werden sich über ihre neuen Mitarbeiter sicher freuen!“
„Sie werden sich damit abfinden müssen“, knurrte Joe. „Dieser Fall geht mich ganz persönlich an. Holmes wurde ermordet, weil er zu mir wollte, vielleicht sogar meinen Schutz wollte. Vergiß das nicht. Das geht unter die Haut.“ „Kann ich mir vorstellen.“ Tom nickte. „Also erst das Mädchen und dann Camp Morehouse.“