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2. Kapitel

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Natürlich hatte Jo keine Ahnung davon, daß es noch ein paar Leute in New York gab, die haargenau dieselbe Einladung bekommen hatten. Und noch viel weniger wußte er, daß diese so harmlos aussehende karte in einigen feudalen Landhäusern von Brooklyn Heights und Long Island beträchtliche Unruhe gestiftet hatte.

Gegen sieben Uhr warf er sich in den Smoking. Er pfiff leise vor sich hin, während er nach drei Anläufen den schwarzen Querbinder in die richtige Form gebracht hatte. Die Dinger gab es ja auch fertig mit Betoneinlage, aber das hielt er für unfein.

„Just walkin’ in the rain“ — drauβen regnete es tatsächlich. Ein grauer, naßkalter Schleier hing über der Stadt; die wahre Hallo-Tristesse-Stimmung.

Immer noch pfeifend, fuhr er in die Kellergarage und holte den SL aus dem Stall. Brave Mühle, dachte er anerkennend, bekommst auch bald einen Ehrenplatz im Kriminalmuseum in der Center Street.

Die flache Sportflunder schob sich die Rampe hoch, bog in die Gun Hill Road ein, und fuhr in Richtung Manhattan. Es regnete von oben und von unten. Wie Wasserwerfer stiegen Schlammfontänen nach beiden Seiten hoch. Das Wetter war ein gebrochenes Versprechen vom schönen Frühling.

Bellmore war ein kleiner Flecken auf Long Island, an der Südküste zwischen Long Beach und Bay Shore gelegen. Das Nest hatte achttausend Einwohner und, grob geschätzt, dreihundert Millionäre. Die hatten sich auf einem Hügel etwas außerhalb der eigentliche Ortschaft niedergelassen, im Volksmund „Dollar Hill“ genannt. Mister O’s Owes Castle lag hier.

Der Dollar Hill lag im trüben Licht der altertümlichen Gaslaternen, die man nach einem unerfindlichen Kodex hier für feiner hielt als Neonleuchten. Die meisten Häuser waren im vergangenen Jahrhundert entstanden, wahre Burgen teilweise, mit falschen Erkern, Zinnen und gotischen Fenstern.

Der Regen wurde immer heftiger. In langsamer Fahrt kurvte Jo durch die Straßen. Der Suchscheinwerfer wanderte über die pompösen Portale. Hausnummern gab es hier nicht; die galten als unfein. Jedes Haus hatte eine wohlklingende Bezeichnung, White Pillars — weiße Säulen — beispielsweise oder Black Rose Building. Owes Castle war eine vergleichsweise bescheidene Benennung dagegen.

Es dauerte eine Weile, bis Jo hinfand. Er kannte zwar das Haus von früher, aber hier sah sich alles gleich.

Dann stoppte der SL vor einem baufälligen Portal. Jo stieg aus, stellte den Kragen hoch und sah sich um. Kein Wagen war zu sehen, der auf andere Gäste hinwies. Es war kurz nach acht. Sollte er sich geirrt haben? Nein, da war ein dunkel angelaufenes Kupferschild und, kaum erkennbar, das Wort „Owes Castle“. Er war also richtig.

Hinter dem Portal lag trostlos und ertrunken im Regen der Park. Ein massiger Umriβ deutete das Gebäude an. Kein Lichtschimmer war zu sehen.

Jo zog nochmals die Einladung aus der Tasche und vergewisserte sich, daß das Datum stimmte. Ein unbehagliches Gefühl überkam ihn.

Das große schmiedeeiserne Tor hing zwar lose in den Angeln, wurde aber durch eine verrostete Kette zusammengehalten. Die kleine Pforte daneben gab kreischend nach.

Zögernd trat er ein. Der Regen prasselte auf ihn herunter, Wasser lief ihm in den Kragen; er achtete nicht darauf. Draußen war kein Mensch zu sehen, auch kein parkender Wagen. Wie Wattebäusche zeichneten sich die Gaslampen gegen die verschleierte Dunkelheit ab. Ihn fröstelte.

Die kiesbestreute Auffahrt war seit Jahren bestimmt nicht mehr gejätet worden. Sie war von braunem abgestorbenem Unkraut überwuchert. Jo erinnerte sich, daß vor vier Jahren der Park Owes’ ganzer Stolz gewesen war. Längs der Auffahrt hatten immer strahlend helle Lampen gebrannt. Die Lampen waren noch da, aber das Kugelglas war gesprungen oder blind.

Langsam ging er weiter; seine Schritte knirschten auf dem Kies.

Auch der Park bot ein Bild der Verwahrlosung. Der Rasen war lange nicht mehr gemäht worden. Die abgestorbenen, silbrig glänzenden Halme lagen wie Greisenhaar über dem sumpfigen Boden. Die Blumenrabatten waren längst vom Unkraut erstickt; ein modernder Geruch hing unter den riesigen alten Bäumen.

Immer deutlicher zeichnete sich jetzt das Haus ab. Es war damals ein imponierendes Gebäude gewesen, weiß gestrichen, mit einem säulengetragenen Vorbau, mit Konsolen über jedem Fenster und blitzenden Fensterscheiben.

Jetzt war der Putz in großen Flächen abgeblättert, die Scheiben waren gesprungen oder fehlten ganz. Die Haustür stand offen und knarrte in dem leichten Wind, der sich erhoben hatte.

Das ist kein Haus, schoß es ihm durch den Kopf, das ist eine Ruine.

Er blieb stehen. Ich bin doch nicht abergläubisch, ging er gegen seine Beklemmung an. Was ist hier los? Er glaubte nicht an Gespenster. Gespenster waren eine englische Einrichtung. Die gab es nicht in Amerika.

Außer dem monotonen Prasseln des Regens und dem Knarren der Tür war nichts zu hören. Entschlossen stieß er die Tür ganz auf.

Die große Halle lag vor ihm. Damals war sie mit teuren Stilmöbeln ausgestattet gewesen. Mister O. war ein geselliger Mensch und liebte den großen Pomp aufwendiger Partys.

Die Halle war leer. Seine Schritte hallten auf den Steinfliesen. Nur ein schwacher Lichtschein drang von draußen herein.

Er holte die Kugelschreiberlampe aus der Tasche und ließ den dünnen Lichtstrahl durch den Raum wandern. Überall Verwahrlosung. Die Wände waren kahl, die Holzfurnierung war herausgerissen. Der Marmorkamin, übermannshoch, war gesprungen.

Dann sah er Mister O. Er hing über dem Kamin. Das Ölbild, einst der ganze Stolz des Spekulanten, war fleckig und teilweise zerstört. Nur das Gesicht war einigermaßen gut erhalten. Ein großflächiges, leicht schwammiges Gesicht mit einem verfetteten, aber starken Kinn. Das war Mister O.

Jo ging zur Treppe. Das Geländer hing herunter. Er rüttelte probeweise daran. Etwas Dunkles wurde vor ihm aufgeschreckt und flatterte mit hartem Flügelschlag durch die Halle: Fledermäuse.

„Wie es scheint, findet die Party nicht statt“, brummte er. Da stand er nun im Smoking. Was, zum Teufel, sollte das alles bedeuten? Er fand keine Erklärung.

Im oberen Stockwerk sah es nicht besser aus. Da in den meisten Fenstern die Scheiben fehlten, hatten Wind und Wetter freien Zutritt. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß das baufällige Gemäuer über seinem Kopf zusammenbrechen würde.

Mister O’s Arbeitszimmer — damals die Bibliothek genannt — war noch verhältnismäßig gut erhalten, wenn man davon absah, daß der Fußboden einen Zoll hoch unter Wasser stand. Das Dach war undicht. Der große Schreibtisch stand noch da, wenn auch die Furnierung teilweise abgeplatzt war. In den Wandschränken waren lange Bücherreihen völlig verschimmelt.

Mechanisch ging er daran, die Schubladen aufzuziehen. Sie waren leer. In der untersten Schublade fand er jedoch eine Patronenhülse. Er blies den Staub weg. Gelbe Pappe auf einer Messinghülle — eine leere Schrotpatrone. Er steckte sie in die Tasche.

Plötzlich fuhr er zusammen. Draußen, auf der Straße, hatte eine Wagentür geklappt.

Ein Motorengeräusch hatte er nicht gehört. Sollte da jemand an seinem SL herumfingern? Eilig stieg er wieder nach unten.

Die Halle war finster, die Tür geschlossen. Er hatte das nicht getan. Vielleicht der Wind, überlegte er.

Dann hörte er ein seltsames Geräusch in der Halle, ein Schlurfen, als bewege sich da jemand. Seine Lampe leuchtete auf. Nichts.

Wieder das Geräusch. Und da — blitzartig, instinktiv erfaßte er die Situation. Mit einem Hechtsprung warf er sich nach vorn. Keine Sekunde zu früh. Mit ohrenbetäubendem Krachen donnerte hinter ihm der riesige Kronleuchter zu Boden, knallte auf die Steinfliesen, zersprang in tausend Einzelteile. Die Halle bebte unter dem Aufprall. Staub wirbelte auf.

Hustend richtete Jo sich auf. Da, wo er eben noch gestanden hatte, befand sich jetzt ein Trümmerhaufen.

Das war kein Zufall, schoß es ihm durch den Kopf. Zu mehr kam er nicht.

Ein harter Stoß traf ihn in den Rükken. Er stolperte vorwärts, bekam einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Die Lampe fiel zu Boden. Vor seinen Augen kreisten glühende Feuerräder.

Die Lampe brannte weiter, bis ein Fuß in ihrem Lichtkreis erschien und sie austrat. Der Fuß steckte in einem glänzenden Lackschuh, darüber zeichnete sich eine messerscharf gebügelte Smokinghose ab.

Jo hatte sich geirrt. Er war nicht der einzige Gast auf der Party.

Howard Dawson und Stearn Eliot Kearns — die beiden Uraltaristokraten — verbrachten eine unangenehme halbe Stunde in Judy Benjamins Haus. Sie saßen im Vorzimmer und wurden im ungewissen darüber gelassen, ob Judy sie empfangen würde.

Kearnie, dessen Vorfahren auf allen denkbaren Gebieten alle denkbaren Auszeichnungen gewonnen hatten, war Sportsmann. Er war es geworden, weil er entdeckt hatte, daß dies das einzige Gebiet war, auf dem ein Kearns noch keine Lorbeeren errungen hatte. So war er ein höchst mittelmäßiger Polospieler geworden, ein noch mäßigerer Tennisspieler und ein — bescheiden ausgedrückt — miserabler Segler. In den letzten Jahren neigte er in zunehmendem Maße zur Fettsucht; bis zu diesem Abend war das sein einziger Kummer.

Leise fluchend hatte er sich in einen zierlichen Sessel gequetscht.

„Diese hochnäsige Person“, brummte er zum dritten Male. „Dieses Arbeiterbalg. Uns hier warten zu lassen!“

Dawsons drückte sich vornehmer aus.

„Sie gehört zwar nicht unserer Gesellschaftsfvklasse an, aber das ändert nichts. Wir brauchen sie.“

„Das ist wahr“, sagte Kearnie seufzend. „Sie hängt genauso in der Geschichte drin wie wir.“

Dawson hatte die goldbedruckte Einladung herausgenommen und betrachtete sie nachdenklich.

„Ich möchte wirklich herausfinden, was da dahintersteckt“, murmelte er.

„Auf jeden Fall eine Schweinerei.“ Kearnie war stolz auf seine direkte Ausdrucksweise.

Das weißbeschürzte Hauskätzchen kam herein.

„Miß Benjamin läßt bitten!“

„Na also“, sagte Kearnie. „Wurde auch allmählich Zeit.“

Sie wurden in ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer geführt.

Judy Benjamin war eher mittelgroß als klein. Sie war nicht nur gut aussehend, sie war bildschön. Sie hatte eine Figur, von der man die Augen nicht lassen konnte, schwarzes Haar, ausdrucksvolle Augen von unbestimmbarer Farbe — schwarz wie der Grund eines Bergsees. Sie trug einen blauseidenen Hausanzug.

Der Raum war mit Stilmöbeln kostbar eingerichtet. Im Kamin prasselte ein Feuer, davor, auf einem Kissen, thronte ein weißer Zwergpudel.

Sie musterte die beiden Männer kühl.

„Nun? Was gibt es?“

Dawson räusperte sich. „Judy …“

„Miß Benjamin, wenn ich bitten darf.“

„Schön, Miß Benjamin, ist es denn so ungewöhnlich, daß ich mich einmal nach Ihnen erkundige. Schließlich haben wir lange zusammengearbeitet. Sie waren meine Sekretärin.“

„Das wurde auch nie bezweifelt. Deswegen kommen Sie aber nicht.“

„Stimmt.“

„Also bitte, reden Sie. Ich habe nicht unbeschränkt Zeit.“

„Nett haben Sie’s hier“, sagte Kearnie plump und sah sich um. „Sie haben sich ganz schön gemausert, Judy.“

„Wenn es Ihnen darum geht, möchte ich diese Unterredung lieber als beendet ansehen“, sagte sie, unberührt von seiner Bemerkung. „Ich glaube, Mr. Kearns, Ihnen fehlt das Talent, über Fragen des Geschmacks etwas Gültiges auszusagen.“

Kearnie wollte aufbrausen, aber Dawson hielt ihn zurück. „Sie haben recht, Miß Benjamin. Wir sind nicht gekommen, um Konversation zu machen. Wir sind deswegen gekommen.“

Er legte die Einladungskarte auf den Tisch. Judy las sie durch und lachte dann hellauf.

„Eine Einladung von Orville O. Owes? Das ist köstlich. Warum gehen Sie nicht hin?“

„Das ist kein Grund zum Lachen“, wies Dawson sie zurecht. „Ich habe eine Frage an Sie: Haben Sie auch so ein Ding bekommen?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Miß Benjamin, ich möchte nicht über gewisse Dinge reden, die schon lange zurückliegen. Es wäre uns allen peinlich, Ihnen wohl auch.“

„Wieso mir?“

„Sie will nicht begreifen“, schnaufte Kearnie. „Aber sie wird begreifen. Sie wird es müssen.“

Judy sah belustigt erst zu Kearns und dann zu Dawson.

„Mr. Dawson, warum sind Sie nicht allein gekommen. Sie sind zwar auch ein Schuft, aber Sie zeigen es nicht so deutlich, wie Mr. Kearns.“

Dawson blieb unbewegt.

„Judy …“, und diesmal stieß sie sich nicht an der Anrede — „Judy, Sie wissen so gut wie ich, was diese Karte bedeutet. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste: Jemand hat sich einen Scherz gemacht. Die zweite: Es ist kein Scherz, es ist ernst, vielleicht eine Warnung, was weiß ich. Vielleicht will man, daß wir einen Fehler machen. Judy, diese Geschichte ist tot und begraben, und so soll es bleiben. Wir müssen unsere Maßnahmen abstimmen, damit sich an diesem Zustand nichts ändert. Wir saßen damals alle drei in einem Boot. Deshalb dürfte es auch in Ihrem Interesse liegen, wenn wir jetzt zusammenarbeiten. Ich hätte Sie nicht belästigt, aber diese Geschichte geht auch Sie an. Begreifen Sie das bitte.“

Es war sehr eindrucksvoll vorgebracht.

Judy zögerte einen Augenblick, dann zog sie eine Schublade auf und holte eine Karte heraus.

„Sie sehen, ich habe ebenfalls eine Einladung bekommen.“

„Dachte ich mir’s doch gleich“, schnaufte Kearnie.

„Und was haben Sie getan?“ erkundigte sich Dawson. „Nichts. Ich habe auch nicht vor, etwas zu tun.“

„Werden Sie aussagen?“

„Aussagen? Wo?“

„Falls die Polizei bei Ihnen erscheint. Es ist sehr wichtig, daß wir unsere Aussagen untereinander abstimmen. Ich glaube, diese Karte ist der Auftakt zu allerhand Ärger. Jemand weiß anscheinend, was damals gespielt wurde. Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren. Wenn wir uns einig bleiben, kann uns nichts passieren. Ich würde vorschlagen …“

„Mr. Dawson“, unterbrach sie ihn und drückte auf den Klingelknopf. „Was Sie hier Vorhaben, scheint mir ein Fall unzulässiger Zeugenbeeinflussung zu sein. Ich weigere mich, Ihnen länger zuzuhören. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich nicht bereit bin, in irgendeiner Form länger mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Das habe ich Ihnen schon vor ein paar Jahren gesagt, und heute wiederhole ich es. Gerade Ihr heutiges Verhalten zeigt mir, wie richtig dieser Entschluß war.“

Das Dienstmädchen kam.

„Sie haben geläutet, Miß Benjamin?“

„Die Herren möchten gehen.“

Wutschnaubend fuhr Kearnie hoch.

„Das werden Sie bereuen.“

Dawson bremste ihn.

„Kein Grund zur Aufregung, Kearnie. Noch werden die Karten gemischt. Kann gut sein, daß wir die Trümpfe bekommen. Das Spiel hat noch nicht begonnen. Judy, ich warne Sie. Wir sind gute Spieler.“

Draußen machte Kearnie seinem Ärger Luft.

„Dieses Balg, dieses hochnäsige Miststück. ,Nehmen Sie bitte zur Kenntnis‘“, äffte er sie nach, „,Ihnen fehlt das Talent, über Geschmack etwas Gültiges zu sagen‘. Einem Mann hätte ich alle Knocher gebrochen!“

Der Cadillac rauschte heran. Der Chauffeur sprang heraus und öffnete die Tür.

„Ruhe bewahren, Kearnie“, sagte Dawson und stieg ein. „Sie hat guten Grund, zu schweigen. Wenn sie das nicht einsieht, werden wir dafür sorgen, daß sie trotzdem den Mund hält. Darauf kannst du Gift nehmen!“

„Besser Whisky“, knurrte Kearnie und bediente sich aus der im Wagen eingebauten Tiefkühlbox.

Feuchte Partys haben immer ein hinterhältiges Ende; das Erwachen am anderen Morgen. In dieser Hinsicht fühlte Jo sich durchaus erwartungsgemäß. Sein Schädel brummte wie eine Rotte Starfighter beim Tiefflug. Irgendwo da drin saß ein kleiner Mann und bearbeitete ihn im Rhythmus seines Pulsschlages mit einem Holzhammer. Der kleine Mann war nicht so ohne weiteres zu einem Kompromiß zu bewegen.

Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Er lag immer noch an der Stelle, wo es ihn erwischt hatte. Nur drang jetzt ein fahles Grau in die Halle; es war Morgen geworden.

Nachdenklich massierte er sich den Hinterkopf. Sein Blick fiel auf die Trümmer des Kronleuchters. Benommen richtete er sich auf.

Warum? überlegte er, und diese Frage enthielt das ganze Problem.

Bei Nacht hatte das Haus unheimlich gewirkt; jetzt, bei Tageslicht, war es grau und schmutzig. wie eine verblühte Barschönheit, die sich aus Versehen bei Tage zeigt.

Eine Weile beschäftigte er sich mit den Überresten des Kronleuchters, Er wollte nicht glauben, daß der schwere Apparat zufällig heruntergerauscht war, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als er darunter stand.

„Solche Zufälle gibt’s nicht mal bei der Polizei“, überlegte er laut. Das Echo seiner Stimme brach sich an den Wänden.

Er fand nichts außer einer Theorie. Der Kronleuchter hatte ein großes Stück Deckenputz mit heruntergerissen, Er konnte schon so weit locker gewesen sein, daß er mit einem Seil völlig zu lösen war. Anschließend hatte man ihm noch einen aufs Haupt gegeben, damit das Seil in aller Ruhe entfernt werden konnte. Keine Spuren waren zurückgeblieben.

Draußen regnete es noch, gleichmäßig und monoton wie bei einer Kuh, die vor einem flachen Stein steht. Jo trat an die Tür und stutzte.

Auf dem verwilderten Kiesweg näherte sich eine Gestalt, ein alter Mann im Overall, dem die Pfeife im zahnlosen Mund hing. Der Alte starrte ihn entgeistert an. Die Pfeife fiel zu Boden.

Jo trat ins Freie wie unter eine Dusche.

„Hallo“, sagte er, „schöner Morgen heute!“

„Wer, in aller Welt, sind Sie?“ ächzte der Alte.

Jo sah an sich herunter. Er sah schlimmer aus als ein Kanalreiniger. Wenn man im Dreck landet, bleibt das eben nicht ohne Folgen.

„Ich bin bei Mr. Owes zum Gabelfrühstück eingeladen“, brummte er. „Aber wie’s scheint, ist der Hausherr noch nicht empfangsbereit!“

„Was sind Sie?“ Der Alte hatte sich gebückt, um seine Pfeife aufzuheben, aber jetzt erstarrte er wieder. „Sagten Sie Owes?“

„Das sagte ich.“

„Hören Sie, wenn Ihnen nicht gut ist, hier in der Nähe wohnt ein Arzt.“

„Ich fühle mich prächtig“, sagte Jo wahrheitswidrig. „Reden Sie schon, Mann. Was ist mit Mr. Owes?“

„Er ist tot“, krächzte der Alte.

„Tot?“

„Wußten Sie das nicht? Sie, das kommt mir aber komisch vor. Überhaupt …“ Der Alte war drauf und dran, wegzulaufen, aber Jo kam ihm zuvor.

„Keine Sorge, ich bin völlig ungefährlich. Aber das müssen Sie noch einmal wiederholen. Owes ist tot?“

„Ja, schon seit Jahren.“

Es wurde immer spannender. Jo hatte eine Menge Fragen auf der Zunge, aber er sortierte sie, bevor er sprach.

„Wer sind Sie?“

„Ich bin der Hausmeister von nebenan. Ich hörte heute nacht einen ziemlichen Krach hier. Da ich schon lange darauf warte, daß diese Ruine einstürzt, wollte ich nachsehen. Und jetzt …“

„Wann starb Mr. Owes?“

„Vor etwa drei Jahren!“

„Woran?“

„Er beging Selbstmord. Er hat sich mit seinem Gewehr erschossen.“

Es war, als hätte der kleine Mann in Jos Kopf seine nächsten zehn Hammerschläge auf einmal absolviert. Die Einladung und der Anruf gestern fielen Jo schlagartig wieder ein. Er hatte noch deutlich die etwas heisere Stimme im Ohr: „Ich äußerte damals den Verdacht, man wolle mich ermorden. Ich hatte recht. Kommen Sie heute abend, und ich werde es beweisen.“ Was, zum Teufel war jetzt bewiesen? Tote telefonieren nicht. War der Anrufer Owes gewesen, dann konnte er nicht gut Selbstmord begangen haben. War es ein anderer gewesen, dann — ja, dann!

Der Alte hier machte nicht den Eindruck, als ob er Unsinn redete.

„Und das Haus hier?“ fragte Jo.

Der Mann verstand ihn sofort.

„Das fiel nach Mr. Owes Tod an eine entfernte Verwandte, die an der Westküste lebt. Sie ließ alles, was wertvoll war, abtransportieren. Um den Rest kümmerte sie sich nie. Das Haus steht seit Mr. Owes Tod leer und verfällt langsam. Ein Jammer, Sir; es war einmal ein schönes Anwesen.“

„Ja“, murmelte Jo geistesabwesend, „ich habe es gekannt.“

Und er dachte dasselbe wie Howard Dawson beim Empfang der Einladungskarte: ein Witz, den sich jemand mit mir gemacht hat; ein schlechter Witz.

Privatdetektiv Joe Barry - Party für Tote

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