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2. Kapitel

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Ob zohn Tage eine lange Zeit oder eine kurze Zeit sind, das hängt von den Umständen ab. Jemand, der zu zehn Tagen Gefängnis verurteilt ist, wird es als eine Ewigkeit empfinden. Jemand, der bereits vierzehn Jahre gesessen hat und in zehn Tagen herauskommen soll, wird es als ein Nichts empfinden Es hängt ganz von dem Blickwinkel ab, unter dem man die Sache betrachtet.

Pritchie Hutchkins jedenfalls hatte ganz präzise Vorstellungen von diesen letzten zehn Tagen. Allerdings sprach er mit niemandem darüber, und so war es nicht möglich, ihm etwas zu beweisen, denn was am folgenden Tag geschah, sollte sich zu der größten Pleite auswachsen, die die Polizei im Zuchthaus von Scranton jemals erlebt hatte.

Es begann ganz harmlos.

Mittags um zwölf Uhr war Essenausgabe. Die Gefangenen rückten, von Aufsehern geführt, aus den verschiedenen Werkstätten in geschlossenen Blocks an und reihten sich nach einem sorgsam ausgeklügelten Schema in die Schlange ein, die sich durch den zentralen Gang des Hauptgebäudes an der Essenausgabe vorbei zum Speisesaal bewegte. An allen strategisch wichtigen Punkten standen Aufseher. Leutnant Stonewall Jackson hatte von der Zentrale aus das Kommando. Er gab seine Befehle über Lautsprecher.

Trotz aller Bemühungen der Aufseber war dies der Augenblick, an dem die Sträflinge den günstigsten Kontakt zueinander fanden. Tauschgeschäfte wurden abgewickelt, Nachrichten wurden weitergegeben. Jedesmal wenn der Leutnant das Kommando zum Abrücken gab, entstand ein sorgsam geplantes Durcheinander, in dem diese Dinge abgewickelt wurden.

Obwohl es unmöglich war, hieran etwas zu ändern, regte sich der Leutnant jedesmal von neuem auf. Sein Fluchen kam scheppernd über den Lautsprecher; er jagte die Aufseher hin und her, bis sich das Durcheinander wieder zu einer Schlange formiert hatte, die, mit den Eßgeschirren klappernd, am Tresen vorbeirückte.

An diesem Tag — es war ein Montag, und montags gab es erfahrungsgemäß das schlechteste Essen der Woche — war die Unruhe besonders groß und setzte auffallend früh ein.

Noch bevor die Häftlinge sich aufgestellten hatten, hatte der Leutnant sich bereits die Kehle heiser gebrüllt. Die Aufseher waren nervös und nicht ansprechbar. Irgendeine Parole lag in der Luft, etwas, das sich jedem Gefangenen mitteilte und das jeder Zuchthausaufseher sofort mitbekam. Keiner wußte, worum es ging, aber sie alle spürten, irgend etwas war im Gange Das machte sie alle unruhig.

Endlich kam der schrille Pfiff, und die Schlange setzte sich in Bewegung. Sie rückte den Mittelgang entlang und erreichte den Schalter der Essenausgabe, wo schwitzende Kalfaktoren mit den großen Kesseln hantierten.

In diesem Augenblick geschah es.

Weiter hinten entstand ein Streit. Erst sah es ganz harmlos aus. Zwei Mann stürzten sich aufeinander. Aber das war das Signal für die übrigen. Mit wildem Geheul stürzten sie aufeinander los, und binnen Sekunden entwickelte sich eine Schlägerei jeder gegen jeden. Keiner hatte mitbekommen, was der Anlaß des Streites war.

Im Glaskasten der Zentrale jaulte die Alarmsirene hoch. Überall verriegelten sich automatisch die Gitter. Die Aufseher stürmten mit gezogenen Holzknüppeln auf den Unruheherd zu und prügelten auf die Männer ein. Vom Verwaltungsbau her näherte sich keuchend der Direktor. Er lief Jackson über den Weg und hielt den Leutnant an der Schulter fest.

„Was, zum Teufel, ist da los?“ schrie er.

Jackson sah ihn wild an.

„Das Ganze ist gelenkt!“ schrie er. „Kann verdammt ins Auge gehen.“

Ebenso schnell wie sie ausgebrochen war, wurde die Schlägerei erstickt. Rücksichtslos knüppelten die Aufseher alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Der ganze Spuk hatte keine dreißig Sekunden gedauert, dann herrschte wieder Ruhe. Alle, die an der Schlägerei beteiligt gewesen waren — etwa zwanzig Männer — mußten sich mit den Gesichtern zur Wand aufstellen. Der Leutnant schoß heran. Seine Stimme überschlug sich.

„Wer, zum Teufel …“ Er brach ab.

Aus der Schlange der Häftlinge hatte sich einer gelöst. Er taumelte ihm entgegen.

Es war Dan Reno.

Der Zuchthäusler stolperte auf den Leutnant zu und ging vor ihm in die Knip.

„Mr. Jackson“, ächzte er, „sie …“

Der Leutnant beugte sich über ihn.

„Was ist passiert?“ schnaubte er.

„Sie haben herausgekriegt, daß ich für Sie arbeite“, keuchte er. „Sie …“ Er brach ab und fiel vornüber.

Der Leutnant, fing ihn auf, aber der Mann rutschte ihm durch die Finger Der rauhe Stoff der Drilljacke glitt durch seine Hände, und plötzlich waren sie blutbeschmiert.

Dann sah er auch das Messer, das in Dan Renos Rücken steckte. Es war ein Klappmesser, beidseitig geschliffen. Bis zum Heft war es in den Rücken von Hutchkins Zellengenossen gedrungen.

Der Leutnant kniete sich neben den Sterbenden. Er achtete nicht darauf, daß Hunderte von Augenpaaren auf ihn gerichtet waren, teils haßerfüllt, teils hämisch.

„Dan!“ schrie er. „War es Pritchie?“

Dan Reno wollte mit letzter Kraft etwas sagen, aber die Worte erstarben ihm auf den Lippen.

„Ich habe — ich habe herausgefunden, was er vorhat“, keuchte er.

Der Leutnant packte seine Schultern fester.

„Dan, reden Sie!“

Er mußte sich tief niederbeugen, um die letzten Worte des Sterbenden zu verstehen.

„Privatdetektiv Joe Barry“, keuchte der Sterbende. „New York, Bronx. Sie wollen ihn …“

Sein Kopf fiel zur Seite. Dan Reno war tot.

*

Wenn Joe Barrysich überhaupt an Pritchie erinnern konnte, dann nur ganz schwach.

Sicher ist, daß er ihn zu diesem Zeitpunkt vergessen hatte. Aber die Erinnerung sollte wiederkehren — drastischer, als Privatdetektiv Joe Barry sich dies je vorgestellt hätte.

Es war einer jener Tage, an denen die gnadenlose Augustsonne New York in eine einzige riesige Asphaltkocherei verwandelte. Die Stadt stöhnte unter einer Hitzeglocke. Wer irgend konnte, hatte New York verlassen. Wer nicht, hatte Grund, mit seinem Schicksal zu hadern.

Joe Barry war allerdings viel zu sehr mit Arbeit überlastet, um sich über die Hitze große Gedanken zu machen. Allem im Juli hätte er soviel Aufträge bekommen können, daß er für den Rest des Jahres damit versorgt gewesen wäre.

Er hätte natürlich längst ein großes Detektivbüro eröffnen können mit zwei Dutzend Angestellten und allen innenarchitektonischen Schikanen, aber dem stand eins im Wege: Die Art Aufträge, die Privatdetektiv Joe Barry übernahm, konnte in der Regel doch nur er selbst bewältigen.

Der schwere, äußerlich neutrale Chevrolet mit der frisierten Spezialmaschine, stoppte vor dem Apartment Building in den Gun Hill Road 234, Bronx. Zwei massige Männer kletterten heraus und durchquerten die weitläufige Halle.

Als Mac, der Hausmeister, die Besucher erkannt, kam er eilig aus seinem Glaskasten heraus.

„Hallo, Captain“, krächzte er, „Mr Barry hat mir zwar gesagt, ich solle ihm jeden Besucher vom Hals halten, aber ich denke, bei Ihnen mache icheine Ausnahme.“

„Du denkst richtig“, erwiderte Lieutenant Antony Starr trocken.

Der Captain war Chef der Mordkommission Manhattan und Barrys bester Freund. Er schob sich den Hut in den Nacken und fuhr sich über die Stirn.

„Wir sind keine Besucher, Mac, sondern Amtspersonen. Du kannst uns also durchlassen, ohne gegen Barrys Anweisungen zu verstoßen.“

Neugierig musterte Mac den zweiten Kleiderschranktyp.

„Den Gentleman kenne ich nicht“, sagte er. „Wen darf ich also außer Ihnen melden, Captain?“

Das war keine Frage, sondern ein Vorwand. Macs Neugier war in der Gun Hill Road sprichwörtlich.

Lieutenant Antony lächelte.

„Den Gentleman ist Leutnant im Staatszuchthaus von Pennsylvania. Es lohnt sich also, sich mit ihm anzufreunden. Man weiß nie, was wird, Mac.“

Der Hausmeister grinste und salutierte.

„Hab ich im Bürgerkrieg gelernt“, verkündete er. „Damals, als ich unter General Lee Fort Sumner verteidigt habe.“

„Endlich weiß ich, warum das Fort damals gefallen ist“, brummte Antony und wandte sich dem Lift zu.

Sie fuhren in die vierte Etage und betraten gleich darauf das Appartement, das einer Menge Leute in New York der geeignetste Ort zur Zündung einer 50-Megatonnen-H-Bombe erschien.

Jo machte auf. Er war in Hemdsärmeln.

„Altes Nashorn“, sagte er nur, „deine Versuche, meinen Alkoholvorrat zu dezimieren, überschreiten langsam jedes erträgliche Maß.“

Der Captain wehrte ab.

„Nichts zu trinken“, sagte er. „Ich bin dienstlich hier. Das hier ist Leutnant Stonewall Jackson vom Zuchthaus Scranton, Pennsylvania.“

Jo schüttelte dem Leutnant die Hand.

„Sehr erfreut, Leutnant. Ich dachte immer, bevor ich eingeliefert werde, würde man mir ein ordentliches Verfahren zubilligen.“

Der Leutnant grinste.

„In Ihrem Fall hat man darauf verzichtet, Barry. Das Todesurteil ist bereits unterzeichnet; wir wollten uns nur erkundigen, wann es Ihnen am besten paßt.“

„Keinesfalls vor Montag“, sagte Jo. „Eine Verabredung, die ich ungern versäumen möchte, aber danach stehe ichIhnen ganz zur Verfügung.“

Die Männer setzten sich, und Antony packte ein dickes Aktenbündel auf den niedrigen Rauchtisch. Jo sah ihn an und verstand.

„Ärger?“ fragte er nur.

Antony nickte.

„Das kann man wohl sagen. Ich habe das komische Gefühl, als wäre es aus mit der geruhsamen Sommerpause. Bei meinem sprichwörtlichen Pech konnte das nur mir passieren. Die großen Bandenbosse sitzen alle in Miami, Florida oder Kalifornien, aber das bedeutet keineswegs, daß ich mal Daumen drehen kann, wie jeder normale Schreibtischbürger in diesem Lande. Weit gefehlt. Daß der Fall dich betrifft, ist zwar keine Entschuldigung, aber eine Erklärung.“

„Was ist los?“ fragte Jo.

„Ist dir der Name Pritchie Hutchkins ein Begriff?“

Jo dachte nach.

„Ich müßte mal überlegen. — Irgendwann habe ich mit dem Burschen zu tun gehabt, aber es muß eine ganze Weile her sein.“

Der Captain nahm einen dünnen Aktenordner von dem Stoß auf dem Tisch und blätterte darin.

„Pritchie Hutchkins wurde im Jahre 1949 wegen Bankraubes in Philadelphia zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Er wurde damals nach dem Raub von Zeugen in Philadelphia erkannt. Seine Beschreibung ging an alle Polizeistationen des Landes. In New York wurde er schließlich gefaßt von einem jungen Detektiv-Sergeant der New Yorker Kriminalpolizei. — Erinnerst du dich noch, wer dieser Grünschnabel war?“

Jo nickte.

„Es war der Grünschnabel Jo Louis Barry. Damals war ich genau drei Monate bei der Polizei. Es war mein erster großer Fall. Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Der Fall hat ziemliches Aufsehen erregt.“

Joe Barry war mit achtzehn Jahren in die New Yorker Polizei eingetreten. Er hatte ursprünglich vorgehabt, ganz bei der Polizei zu bleiben. 1952 hatte man ihn mit den Ledernacken nach Korea geschickt. Dort hatte er Sergeant Antony Starr kennengelernt. — Als Jo vom Feld der Ehre zurückkam, konnte er bei der Polizei nicht mehr landen. Seine Arbeitsmethoden waren zu eigenwillig, fand man. Zu eigenwillig vielleicht für einen einfachen Sergeant. Nicht aber für einen Detektiv. — Jedenfalls lag das alles schon eine ganze Weile zurück.

„Was ist aus Pritchie geworden?“ erkundigte sich Jo aus seinen Gedanken heraus.

„Er bekam sechs Jahre“, berichtete Antony. „Während dieser Zeit unternahm er einen Fluchtversucht, dabei verletzte er einen Aufseher schwer. Er bekam ein neues Verfahren, und seine Strafe wurde auf insgesamt zwölf Jahre verlängert. Die sind jetzt um.“

„Fast“, warf der Leutnant ein. „In genau vierundzwanzig Stunden wird Pritchie Hutchkins entlassen.“

„Okay, und was habe ich damit zu tun“, erkundigte sich Jo.

„Du warst der Mann, der ihn damals geschnappt hat.“

„Ja, aber in zwölf Jahren sollte Pritchie damit fertig geworden sein.“

„Anscheinend ist er es nicht“, knurrte der Leutnant aus Seranton grimmig. „Jedenfalls benimmt er sich wie ein Wilder.“

„Um es genau zu sagen“, fuhr Antony sachlich fort, „vor zwei Wochen wurde in Scranton einer der Häftlinge, ein gewisser Dan Reno, ermordet. Dan Reno war V-Mann. Man hatte ihn in Pritchies Zelle verlegt, weil man glaubte, auf diese Weise erfahren zu können, was Pritchie nach seiner Entlassung vorhat. Irgendwie hat der Knabe herausbekommen, daß Dan Reno für uns arbeitete. Ja, und jetzt ist Dan Reno tot.“

„Trägt ziemlich eindeutig Pritchies Handschrift, dieser Mord“, meinte Jo.

„Allerdings.“ Antony nickte, „Nur mit der feinen, kleinen Besonderheit, daß ihm nicht das geringste nachzuweisen ist. Im Gegenteil. Dan Reno wurde während einer Schlägerei erstoohen. Pritsehie hat für diesen Zeitraum ein hundertprozentig sicheres Alibi. Als Fachmann würde ich sagen: Einer, der unschuldig ist, kann so ein gutes Alibi gar nicht haben. Pritchie befand sich zur Zeit der Schlägerei etwa fünfzig Meter von Dan Reno entfernt. Er hatte sich so aufgebaut, daß nicht nur ein halbes Zuchthausinsassen bezeugen konnten, daß er dort war — nein — er hat sich so hingestellt, daß sogar zwei Aufseher bestätigen konnten, daß Pritchie mit dem Mord nichts zu tun hatte“

„Es gibt ein Delikt, das heißt ,Anstiftung zum Mord‘“, hielt Jo dem Freund entgegen.

Der Captain nickte.

„Und wie jedes Delikt muß man dieses auch beweisen können. Es gibt in Scranton genug Mörder. Du weißt, wie sie über Spitzel denken. Die Chance, je herauszufinden, wer unter dem Haufen Dan Reno ermordet hat, ist tausend zu eins. Wir wissen alle ganz gut, daß Pritchie dahintersteckt, und der Bursche kann sich an beiden Pfoten abzählen, daß wir’s wissen. Aber das allein genügt noch nicht. Seit zwei Wochen wird Pritchie pausenlos verhört. Natürlich kommt nicht das geringste dabei heraus. Und da ihm nichts anzuhängen ist und der Untersuchungsrichter die Einleitung eines Verfahrens bei dem ungenügenden Beweismaterial verweigern mußte, wird nichts weiter übrig bleiben, als Pritchie morgen mittag Punkt zwölf Uhr zu entlassen. Das ist die Lage.“

„Das ist zwar Pech für die Polizei“, meinte Jo achselzuckend, „aber ich sehe nicht ein, was ich damit zu tun habe“

„Eine Kleinigkeit“, brummte Antony. „Eine ganze Kleinigkeit. Dan Reno lebte nämlich noch, als er gefunden wurde. Er konnte noch ein paar Sätze sagen. — Interessierst du dich dafür?“

„Ich nehme an, sie haben mit mir zu tun?“ mutmaßte Jo.

Leutnant Jackson räusperte sich.

„Ich habe Dan Reno aufgefangen, als er umsackte“, berichtete er. „Seine letzten Worte waren etwa: ,Privatdetektiv Joe Barry — sie wollen ihn …‘ Dann ist er gestorben. Mir war sofort klar, wer gemeint ist. In ganz Amerika gibt es nur einen Mann, der unter dem Spitznamen Privatdetektiv Joe Barry bekannt ist. Dag sind Sie, Mr. Barry. Ich habe sofort. Erkundigungen eingezogen, und als ich feststellte, daß Sie derjenige waren, der Pritchie seinerzeit hinter Gitter brachte, war mir alles klar. — Wollen Sie jetzt wissen, was ich denke?“

„Ich weiß es auch so.“ Jo nickte nachdenklich. „Sie meinen, Pritchie wird, wenn er herauskommt, versuchen, sich an mir zu rächen.“

„Genau“, bestätigte der Leutnant mit Nachdruck. „Und deshalb sind wir hier.“

Jo hob die Schultern.

„Gentlemen, ich danke Ihnen für die Warnung, aber sonst wüßte ich nicht, was da zu tun ist. Ich erlebe das nicht zum erstenmal. Es gibt in den Zuchthäusern dieses Landes einige Burschen, die wahrscheinlich ganz präzise Vorstellungen davon haben, was sie mit mir machen, wenn sie ’rauskommen. Das gehört zu meinem Berufsrisiko. Da komme ich nicht daran vorbei. Bisher bin ich ganz gut damit fertig geworden.“

„Du kannst um Polizeischutz bitten“, schlug Antony vor.

„Danke“, brummte Jo. „Seit meinem achten Lebensjahr habe ich gelernt, allein auf mich aufzupassen. — Was ist eigentlich los mit dir, Alter? Bist du sicher, daß du in deinem Arbeitsschuppen keine Langeweile hattest?“ Fragend sah er den Captain an. „Daß Pritchie sich an mir rächen will, hättest du mir auch telefonisch mitteilen können. Ich hätte dir für den Tip gedankt und mich entsprechend vorgesehen. Da gibt’s doch noch einen Pferdefuß, oder?“

Antony nickte.

„Wie es scheint, ist deine hohe Denkerstirn nicht nur ein äußerliches Attribut“, frotzelte er. „Der Pferdefuß ist folgender: Dan Reno hat nicht gesagt, was Pritchie mit dir vorhat. Er hat nur gesagt, sie wollen ihn …‘ Mehr wissen wir nicht. Wir wissen nicht, was sie vorhaben. Wir wissen aber, daß es mehrere sind.“

„Well, Gangster sind wie Schmeißfliegen“, brummte Jo, „sie treten immer im Verband auf.“

„Ja, aber da liegt der kleine Haken“, sagte Antony beharrlich. „Wenn es stimmt, daß es mehrere sind, dann ist die Erkenntnis, daß Pritchie sich an dir rächen will, nicht umfassend genug, findest du nicht? — Ein Mann, der zwölf Jahre im Zuchthaus sitzt, hat keine Komplicen mehr, es sei denn, es gibt gemeinsame Interessen, die ihn mit Leuten außerhalb des Zuchthauses verbinden. —

Wenn Pritchie sich an dir rächen will, dann ist das allein seine Sache. Dafür würde er sich kaum neue Komplicen suchen. Abgesehen davon, daß er auch kaum welche finden würde.“

„Meinst du?“ warf Jo skeptisch ein.

„Er müßte sich jemanden engagieren“, fuhr Antony nachdenklich fort, „denn zum Privatvergnügen wird sich kaum jemand mit dir amlegen wollen. Andererseits ist Leutnant Jackson ganz sicher, sich nicht verhört zu haben.“

„Bestimmt nicht“, versicherte Jackson. „Dan Reno sagte: ,Sie wollen ihn … ‘Und das ist eindeutig wie ein geplatzter Wechsel.“

„Wenn Pritchie Komplicen hat, dann außerhalb des Zuchthauses“, ließ Jo sich vernehmen. „Es muß sich um Leute handeln, die er noch aus der Zeit vor zwölf Jahren kennt, bevor er eingeliefert wurde. Freundschaft unter Gangstern pflegt gemeinhin nicht so lange zu dauern. Was verbindet die Burschen also miteinander?“

„Wir haben eine Theorie“, sagte Antony. „Eine ziemlich wahrscheinliche Theorie. Vielleicht erinnerst du dich daran, daß Pritchie damals einen ziemlich großen Betrag, fast eine halbe Million, erbeutete. Das Geld ist seither spurlos verschwunden. Es wurde nie gefunden. Pritchie hat nie ein Geständnis abgelegt, und deshalb konnte man ihn nie festnageln. Er hat auch seine volle Strafe verbüßt, so daß man ihn jetzt nicht mehr unter Polizeiaufsicht stellen kann.

Das einzige, was man tun kann, ist, ihn zu beschatten, um auf diese Weise vielleicht herauszufinden, wo er das Geld hat. Auch das wäre kein Problem. Natürlich ist fraglich, ob wir damit Erfolg haben. Wenn nicht, ist es auch nicht weiter schlimm. Die Frage ist nur, was hat das alles mit dir zu tun.“

„Wir müssen davon ausgehen, daß Pritchie sich an mir rächen will“, sagte Jo gelassen.

„Ja, sicher, zum Kaffeeplausch will er dich bestimmt nicht besuchen. Zum Schatzheben braucht er dich ebenfalls nicht. Und jetzt kommt meine Theorie.“

„Und die wäre?“ erkundigte sich Jo.

„Pritchie wurde damals geschnappt“, führte Antony Starr aus, „seine Komplicen nicht. Es konnte ihm nicht einmal nachgewiesen werden, daß er Komplicen hatte. Er hat jedenfalls dicht gehalten und den Kodex der Branche nicht verletzt. Aber natürlich hat er damit gerechnet, daß, wenn er rauskommt, sein Anteil an der Beute noch da ist. Pritchie ist ein schwerer Junge, der damals in der Unterwelt einigermaßen gefürchtet war. Wenn nun seine Komplicen das Geld in der Zwischenzeit durchgebracht haben, was ich stark annehme, dann müssen sie damit rechnen, daß Pritchie, sobald er herauskommt, ihnen aufs Dach steigt. Und wenn ein Mann wie Pritchie einem aufs Dach steigt, dann ist das in der Regel ein Fall für den Leichenwagen.“

„Ich verstehe“, sagte Jo langsam. „Du bist überzeugt davon, die Burschen haben das Geld durchgebracht. Das ist wahrscheinlich. Wenn jemand von dieser Gemütsart zwölf Jahre lang eine halbe Million hüten soll, dann ist die Versuchung, den Zaster anzuknabbern, ziemlich stark. Umgekehrt ist jetzt die Angst, von Pritschie zur Verantwortung gezogen zu werden, ebenfalls da.“

„Den Burschen flattert jetzt die Muffe“, warf Jackson weise ein.

„Sie werden bestimmt bereit sein, allerhand zur Wiedergutmachung zu tun“, folgterte Jo. „Sie können ihm zwar das Geld nicht wieder beschaffen, aber sie werden bereit sein, ihm jeden Gefallen zu tun, um seinen Zorn nicht wie glühende Kohlen auf ihren Schädeln spüren zu müssen!“

„Und dieser Gefallen bist du“, ergänzte Antony. „Sie werden versuchen, dich zu beseitigen, nur um Pritchie zu beschwichtigen. Für ihn ist das ein fast risikoloses Geschäft. Gelingt es den Burschen, dann hat er das bekommen, was er wollte. Gelingt es ihnen nicht, wird es kaum möglich sein, Pritchie etwas nachzuweisen. Genau wie im Fall Reno.“

„Umgekehrt werden die Burschen alles tun, ihren Auftrag auszuführen“, brummte Jo. „Sie haben praktisch keine Wahl. Sie gehen damit ein erhebliches Risiko ein — ohne Belohnung, aber das Risiko für sie ist kaum geringer, wenn sie es nicht tun, denn dann sitzt Pritchie ihnen im Nacken. — Sie sind etwa in der Lage von Leuten, die zwischen dem elektrischen Stuhl, der Gaskammer und dem Galgen zu wählen haben.“

„Eine solche Lage soll die Erfindungskraft ungemein schärfen“, sagte Antony. „Jedenfalls werden sie sich anstrengen. Und daß sie nicht ganz mindere Qualität sein können, beweist die Tatsache, wie sie sich damals, als Pritchie hochging, aus der Feuerlinie gezogen haben.“

„Wenn ich es nur mit Pritchie zu tun habe, weiß ich, auf wen ich achten muß und vor wem ich mich vorzusehen habe“, spann Jo den Gedankengang weiter, „wenn das Sperrfeuer aus dem. Dunkel kommt, liegt die Sache anders.“

„Immer vorausgesetzt, daß meine Theorie richtig ist“, betonte der Captain. „Jedenfalls wollte ich dich gewarnt haben.“

„Danke“, sagte Jo. „Du scheinst recht zu behalten; mit dem geruhsamen Sommer ist es vorbei. Wann kommt Pritchie heraus?“

„Morgen mittag. Viel Zeit hast du also nicht mehr. Es ist natürlich möglich, daß ich mich irre. Meine ganze Theorie basiert auf ein paar höchst vagen Tatsachen. Genaugenommen auf dem Wörtchen ,sie‘, das der sterbende Dan Reno röchelte. Aber ich habe schon viel unwahrscheinlichere Sachen erlebt. Jedenfalls würde ich mich entsprechend vorsehen. Wenn ich recht habe, hast du eine schöne Aufgabe an der die Polizei von Pennsylvania gescheitert ist: auszuschnüffeln, wer vor zwölf Jahren Pritchies Komplicen waren.“

„Wir haben Ihnen alle Unterlagen mitgebracht“, knurrte Leutnant Jackson mißmutig. Er hörte es nicht gern, daß er gescheitert war. „Sowohl die Akte aus Pennsylvania als auch die Akten, die hier in New York geführt wurden. Und wenn Sie sonst noch eine Unterstützung brauchen, wenden Sie sich nur an uns. Die geschädigte Bank hat damals eine ziemlich hohe Belohnung ausgesetzt, und soviel ich weiß, ist die noch immer nicht verfallen.“

„Es besteht also sogar die Chance, etwas zu verdienen“, stellte Antony spöttisch fest.

„Immer vorausgesetzt, ich werde überleben.“ Jo seufzte. „Ich werde mir — also den Kram durchsehen. Ist das nicht schandbar? Ich wollte heute nachmittag mit dem Boot in den Long Island Sound hinausfahren.“

„Dann sind wir ja gerade rechtzeitig gekommen“, sagte Lieutenant Antony anzüglich. „Auf diese Weise lernst du endlich einmal kennen, was es bedeutet, bei diesem Wetter täglich acht Stunden Dienst als schlichter Polizeicaptain zu tun. Und wenn das Ganze blinder Alarm war —, well, dann darfst du mich im nächsten Frühjahr in den April schicken. Einverstanden?“

„Ich werde Pritchie darauf aufmerksam machen, daß du viel dicker und daher ein viel lohnenderes Ziel bist“, brummte Jo.

Privatdetektiv Joe Barry - Quittung in Blei

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